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»In einer Mausefalle gefangen«

Vera Inber traf am 24. August mit dem Zug in Leningrad ein. Sie war einundfünfzig Jahre alt und, obwohl Trotzkis Cousine, erstaunlicherweise eine prominente Vertreterin des literarischen Establishments. Sie schrieb, ohne in den Schund des voll entwickelten sozialistischen Realismus abzugleiten, Kurzgeschichten, die von der Zensur genehmigt wurden. Ihr Mann war gerade zum Direktor des Leningrader Erisman-Lehrkrankenhauses ernannt worden, einer Anlage aus roten, im neunzehnten Jahrhundert entstandenen Backsteingebäuden gegenüber dem Botanischen Garten an der Petrograder Seite. Inber hatte ihre Tochter und ihren neugeborenen Enkel von Moskau aus in die Evakuierung begleitet und kehrte nun zu ihrem Mann zurück.

Die Reise, die in Friedenszeiten mühelos über Nacht zu bewältigen war, dauerte zweieinhalb Tage. Frische Bombenkrater säumten die Gleise, und lange Fabrikzüge mit massigen Maschinen unter Leinwandbezügen ratterten in die entgegengesetzte Richtung. Wie lange einer der Züge bereits unterwegs war, ließ sich, wie Inber bemerkte, an der Frische der Birkenzweige ablesen, die zur Tarnung an die Waggondächer gebunden waren. Ihr eigener Zug, der sich Leningrad durch baufällige Dörfer mit malerischen Provinznamen näherte, hielt häufig an. »Wir kamen im Morgengrauen zum Stehen«, notierte sie in ihrem Tagebuch,

und wir sind immer noch hier … Der Waggon ist ziemlich leer, und niemand redet viel. In einem Abteil ist ein endloses Kartenspiel in Gange; ein General flötet, wenn er seine Trumpffarbe erklärt; ein Pionier schlägt mit seiner Pfeife an die Tischecke, wieder und wieder. Es ist ein regelmäßiges Geräusch, und es erinnert mich an einen Specht, der an einen Baum pocht. Der Pfeifenrauch weht hinaus auf den Korridor, bewegt sich in Schichten, verdünnt sich und bleibt an den Sonnenstrahlen hängen. Alles ist so still, als ruhe der Zug auf Moos.1

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und durchquerte einen Wald, der heftig bombardiert worden war. Bäume lagen verkohlt und gespalten da; Wurzeln ragten in die Höhe, der Boden war ockerfarben versengt. Bei der Durchfahrt durch einen Bahnhof fiel Inber der Name auf: Mga. Dies war nicht die übliche Strecke, denn die Deutschen hatten die Direktverbindung von Moskau bereits zerstört.

Inber stieg in einer Atmosphäre gespannter Erwartung aus. Das Erste, was sie beim Verlassen des Bahnhofs sah, war ein drei Tage altes Plakat mit einem Aufruf, den Schdanow, Woroschilow und Popkow, der Vorsitzende des Stadtsowjets, unterzeichnet hatten. Es handelte sich um das erste offizielle Eingeständnis, dass die Deutschen vor den Toren Leningrads standen:

Genossen! Leningrader! Teure Freunde! Unsere geliebte Heimatstadt ist von der unmittelbaren Gefahr eines Angriffs durch deutsch-faschistische Soldaten bedroht. Der Feind versucht, nach Leningrad durchzubrechen. Er will unsere Wohnungen zerstören, unsere Fabriken und Anlagen ergreifen, unsere Straßen und Plätze mit dem Blut unschuldiger Opfer durchtränken, unser friedliches Volk beleidigen, die freien Söhne unseres Vaterlands versklaven. Aber das wird nicht geschehen. Leningrad war nie und wird nie in feindlicher Hand sein …

Lasst uns wie ein Mann zum Schutz unserer Stadt, unserer Heime, unserer Familien, unserer Ehre und unserer Freiheit aufstehen. Lasst uns unsere heilige Pflicht als Sowjetpatrioten erfüllen und unbeugsam im Kampf gegen den brutalen und verhassten Feind, wachsam und gnadenlos im Kampf gegen Feiglinge, Bangemacher und Deserteure sein; lasst uns die strengste revolutionäre Ordnung in unserer Stadt errichten. Bewaffnet mit eiserner Disziplin und bolschewistischer Entschlossenheit, werden wir dem Feind mutig entgegentreten und ihm einen vernichtenden Schlag versetzen!2

In den acht Tagen seit Inber beschlossen hatte, aus Moskau abzureisen, hatte sich die Situation in Leningrad nach ihrem Eindruck drastisch verschlechtert. Trotzdem war es richtig gewesen, sich ihrem Mann anzuschließen. »Er sagte immer: ›Wenn Krieg ausbricht, sollten wir zusammen sein.‹ Und hier sind wir nun – zusammen.«

Im Lauf der nächsten Tage bekam sie ihn selten zu Gesicht. Er hatte im Krankenhaus enorm viel zu erledigen, sie selbst trat im städtischen Rundfunk auf (»Moskau und Leningrad, Bruder und Schwester, strecken einander die Hände entgegen«) und faulenzte, sich seltsam überflüssig fühlend, in ihrer luftigen neuen Wohnung. Aus den hohen Fenstern sah sie, wie die Sonne auf der Karpowka und den mit Palmen gefüllten Treibhäusern des Botanischen Gartens funkelte. An den Wänden der Wohnung hingen feine alte Porzellanteller »in Hülle und Fülle«; die Rosen darauf waren so frisch wie an dem Tag, als sie unter Zarin Elisabeth gemalt worden waren. Was um Himmels willen würde sie mit ihnen anfangen, wenn die Luftangriffe begannen? Obwohl täglich zehn bis fünfzehn Luftalarme gegeben wurden – es war wie »ein einziger Alarm mit kurzen Pausen« –, schien sich alles »irgendwo in der Ferne, hinter dem Horizont« abzuspielen:

Bei Alarmen gehe ich hinaus auf den Balkon. Die Pessotschnaja-Straße, ohnehin ruhig, leert sich völlig. Nur die Luftschutzwarte mit ihren Blechhelmen stehen da und schauen zum Himmel hinauf. Gelegentlich läuft ein Fabrikschuljunge vorbei – ihr Wohnheim befindet sich in einem der Gebäude im Botanischen Garten. Die Straßenbahnfahrerin hatte Folgendes über die Jungen zu sagen: »Sie führen sich auf, als gehörten ihnen die Straßenbahnen; sie halten sich auf dem Trittbrett fest, drängen sich auf die Plattform. Aber es berührt mich nicht mehr – schließlich werden sie bald an die Front reisen, um Schützengräben zu buddeln.«3

Am anderen Ufer der Newa, in der Sadowaja-Straße, verbrachte Juri Rjabinkin die strahlenden Spätsommertage damit, Schach zu spielen, mit seinem Freund Finkelstein Studienpläne für den Fall zu schmieden, dass ihre Schule geschlossen wurde, und mehr Arbeiten in der Wohnung zu verrichten, da seine Mutter das Dienstmädchen entlassen hatte. Niemand nahm viel Notiz von seinem sechzehnten Geburtstag, aber er kaufte sich als Geschenk für sich selbst ein Schachbuch und für fünf Rubel ein Abendessen in der Dienststellenkantine seiner Mutter. Über militärstrategischen Werken brütend, entwickelte er einen Plan zur Rettung seiner Stadt. Man solle »die Bevölkerung in die Wälder treiben«, und die Rote Armee werde einen Rückzug vortäuschen und die Deutschen in die Falle locken:

Ganz plötzlich, blitzartig und unerwartet (noch unerwarteter, als der 22.6. für uns kam) gehen unsere Panzereinheiten zu einer grandiosen Offensive über und zwingen die Deutschen, sich eng zusammenzuziehen. Dann stürzt sich die Artillerie, die während des Rückzugs die bestmöglichen Stellungen bezogen hat, mit aller Macht auf die zusammengedrängten Einheiten. Nach einer halben Stunde wird das Geschützfeuer einige Kilometer vorverlegt, und unsere Truppen besetzen das bislang beschossene Gelände. Die gesamten Luftstreitkräfte werden über den Feinden konzentriert. Sie schießen pausenlos Angriffe und zerbomben die Reste des Feindes. Kaum kommt dieser ins Wanken, weicht zurück, muss man ihn aus der Luft, zu Wasser und zu Land verfolgen, immer neue Truppen schicken und ihm keine Atempause gönnen.

Rjabinkin wusste jedoch, dass dies reines Wunschdenken war. »Ja, aber das alles ist ein nicht zu verwirklichender, phantastischer Traum«, vertraute er seinem Tagebuch an.

Niemand kann eine solche Offensive durchführen. Außerdem haben wir wenig Panzer … Jeder Leitartikel in den Zeitungen schreit: Wir geben Leningrad nicht auf! Wir verteidigen es bis zum letzten Blutstropfen! … Aber unsere Armee siegt nicht, es fehlt ihr vermutlich an Waffen. Die Milizionäre auf den Straßen, ja sogar Volkswehrangehörige und manche Rotarmisten sind mit Mausergewehren weiß der Teufel welchen Alters ausgerüstet. Die Deutschen preschen mit Panzern vor, und uns bringt man bei, Panzer nicht mit Panzern zu bekämpfen, sondern mit Handgranatenbündeln, manchmal auch mit Brandflaschen. Das sind Zustände.4

Die alte Künstlerin Anna Ostroumowa-Lebedewa spazierte durchs Stadtzentrum und prägte sich ein (Skizzieren war verboten), wie die öffentlichen Denkmäler Leningrads verborgen wurden. An der Anitschkow-Brücke hatte man Klodts Pferdeskulpturen bereits fortgerollt, um sie in den Gärten vor dem Alexandrinski-Theater (Alexandrinka) zu vergraben. Gegenüber der Isaakskathedrale war die Reiterstatue von Nikolaus I. noch unter den zahllosen Sandsäcken sichtbar, die sie wie dicke Tropfen von oben nach unten zu bedecken schienen. Die Alexandersäule auf dem Palastplatz war von einem Holzgerüst umstellt, doch die Stangen erreichten nicht den triumphierenden Engel, der sein Kreuz weiterhin dem blauen Himmel entgegenreckte. Man hatte darüber debattiert, wie Falconets berühmte Statue von Peter dem Großen, der »Eherne Reiter«, Symbol des alten St. Petersburg und Gegenstand von Puschkins gleichnamigem Gedicht, geschützt werden solle. Manche hatten vorgeschlagen, ihn in der Newa zu versenken, doch nun war er mit Brettern verkleidet. Ostroumowa-Lebedewa beobachtete, wie Freiwillige Sand aus einem in der Nähe vertäuten Kahn entluden, und wünschte sich, ihnen helfen zu können: »Es war heiß, die Sonne brannte. Ich stand da, schaute zu und schämte mich, weil ich nicht selbst arbeitete.« Obwohl ihre Schwester und ihre Nichten Leningrad verlassen hatten, wollte sie bleiben – teils weil es ihr widerstrebte, sich aus der vertrauten Umgebung zu entfernen, doch hauptsächlich aus Solidarität mit ihrer Stadt und reiner Neugier auf die kommenden Ereignisse. »Alle sorgen sich wegen derselben Frage«, schrieb sie am 16. August. »Sollten wir abreisen, und wenn ja, wohin und wie? Was mag die Zukunft bringen? Wie beginnt man ein ganz neues Leben an einem fremden Ort, nachdem man die tröstliche Zuflucht seiner eigenen Wohnung aufgegeben hat? Arme Leningrader! Ich möchte bleiben. Ich möchte unbedingt bleiben und all die schreckenerregenden Ereignisse miterleben.«5

Die überschüssige Bevölkerung nicht aus Leningrad hinauszuschaffen, bevor sich der Belagerungsring schloss, war einer der schlimmsten Fehler des Sowjetregimes in Kriegszeiten. Er führte zu mehr Todesfällen unter Zivilisten als jeder andere, mit Ausnahme des Versäumnisses, Barbarossa selbst vorherzusehen. Am 29. August, als der letzte Zug abfuhr, waren laut amtlichen Quellen 636283 Menschen aus Leningrad evakuiert worden (verglichen etwa mit 660000 Zivilisten, die man nach der britischen Kriegserklärung vom September 1939 innerhalb weniger Tage aus London ausgesiedelt hatte). Schließt man durchreisende Flüchtlinge aus dem Baltikum und von anderswo aus dieser Rechnung aus, sinkt die Zahl auf höchstens 400000. Knapp über 2,5 Millionen Zivilisten blieben in der Stadt zurück, dazu weitere 343000 in den umliegenden Orten innerhalb des Belagerungsrings. Über 400000 waren Kinder, und über 700000 andere nicht arbeitende Abhängige.6

Warum konnten nicht mehr Menschen, die für die Verteidigung Leningrads unnötig waren, rechtzeitig abreisen? Verantwortlich war eine Mischung aus bewusster Regierungspolitik, Konfusion und den eigenen fehlerhaften Entscheidungen der Leningrader, verschlimmert durch eine alles durchdringende Atmosphäre der Furcht. Die politische Vorgabe bestand schon seit Kriegsbeginn darin, der Evakuierung von industriellen Anlagen und Institutionen Vorrang gegenüber der nichterwerbstätigen Bevölkerung einzuräumen. Am 3. Juli beschloss das neue fünfköpfige Staatliche Verteidigungskomitee (das höchste, von Stalin geleitete Entscheidungsgremium des Krieges), sechsundzwanzig Rüstungsanlagen – von Leningrad, Moskau und Tula – nach Osten zu transportieren. Das Leningrader Programm wurde am Monatsende beschleunigt, als die Wehrmacht die Luga-Linie erreichte. Bis Ende August hatte man zweiundneunzig Leningrader Rüstungsfabriken, zusammen mit 164320 ihrer Arbeiter, nach Osten verlagert. Die meisten wurden in die Industriestädte des Urals gebracht, wo sie die Produktion mit bemerkenswerter Geschwindigkeit in hastig improvisierten Gebäuden wieder aufnahmen. Dies war eine großartige Leistung, wenn auch nicht so erfolgreich, wie es in sowjetischen Darstellungen erscheint. Das Eisenbahnnetz wurde chaotisch überlastet, man transportierte identische Rohstoffe gleichzeitig in die Stadt herein und aus ihr hinaus, und einige Fabriken wurden demontiert, nachdem es für die Verlegung bereits zu spät war. Über zweitausend Waggons mit Maschinen warteten noch auf Güterbahnhöfen, als die letzte Eisenbahnverbindung aus der Stadt hinaus abgebrochen wurde. Die Waggons standen auch noch nach dem ersten Winter der Belagerung nutzlos herum.7

Das andere verhängnisvolle Evakuierungsprogramm der ersten Kriegswochen betraf die Kinder. Am 26. Juni gab der Leningrader Sowjet die Evakuierung von 392000 Kindern in die Landbezirke um Leningrad, Kalinin und Jaroslawl bekannt. Schulen, Kindergärten und Kinderheime wurden einbezogen, die Mütter blieben jedoch außen vor. Es war eine äußerst unpopuläre Maßnahme. »Mein Herz klopfte, alle Gedanken gingen wirr durcheinander«, schrieb Skrjabina, nachdem sie die Neuigkeit erfahren hatte. »Ich wußte nicht, was ich anfangen, welchen Entschluß ich fassen sollte. Der Gedanke einer Trennung von [dem fünfjährigen] Jurik war für mich so entsetzlich …, daß ich beschloß, mich mit allen Kräften dagegen zur Wehr zu setzen und den Jungen auf keinen Fall herzugeben.«8 Vielen Eltern gelang es, sich dem Befehl zu entziehen, doch andere setzten ihre Kinder in Züge, die Luga, Gattschina, Staraja Russa und andere traditionelle Sommerlager im Süden und Westen von Leningrad zum Ziel hatten. Die ersten zehn Züge – mit 12192 Reisenden – fuhren am 29. Juni ab. Jelena Kotschina beobachtete, wie die Kleinen zu den Bahnhöfen gebracht wurden:

Wie verängstigte Tiere drückten sie sich auf den Straßen, gingen dem Bahnhof, der Trennungslinie ihrer Kindheit, entgegen: Auf der anderen Seite würde das Leben ohne Eltern beginnen. Die kleinsten Kinder wurden mit Lastwagen befördert; ihre Köpfchen ragten wie goldene Pilze hervor. Wahnsinnige Eltern rannten hinter ihnen her.9

Drei Wochen später hatte die Wehrmacht die Luga-Linie erreicht, und den Eltern wurde klar, dass die Behörden ihre Kinder keineswegs in Sicherheit, sondern vielmehr in das Gebiet des deutschen Vormarsches gebracht hatten. »Als wir in dem Dorf eintrafen, erhielten wir Unterkunft in einer Hütte«, schrieb die fünfzehnjährige Klara Rachman aus Staraja Russa. »Ach ja, ich habe ganz vergessen, dass ein deutsches Flugzeug direkt über uns hinwegflog, als wir im Lastwagen saßen. Eine schöne Evakuierung ist das!«10 Es war nicht leicht, die Kinder zurückzuholen, zumal es seit Verhängung des Kriegsrechts ein Verbrechen war, sich unerlaubt von seinem Arbeitsplatz zu entfernen (der Archivar Georgi Knjasew missachtete das Verbot und gestattete einer seiner Stenotypistinnen, ihre beiden Töchter, neun und zwölf Jahre alt, aus Borowitschi zu holen11). Lidia Ochapkina wurde durch einen Säugling gehindert, zu ihrem kleinen Sohn zu reisen, konnte jedoch eine zufällige Bekannte in einer Warteschlange für Brot, eine Frau von etwa sechzig bis dreiundsechzig Jahren mit Brille – »sie sah intelligent aus« –, überreden, ihr die Aufgabe abzunehmen: »[Sie] erklärte, sie kaufe für zwei Tage im voraus Brot und wolle ihren Enkel zurückholen. Ich fragte sie, wohin man ihn evakuiert hatte. Sie antwortete, mit dem 21. Kindergarten (ich entsinne mich der Nummer genau), d.h. dorthin, wohin wir auch unseren Jungen geschickt hatten … Sie … fragte, wie alt der Junge sei. Ich sagte, er werde bald sechs (das war gelogen), sei kräftig, könne gut laufen und notfalls weite Strecken zu Fuß zurücklegen.« Am folgenden Tag musste sich Ochapkina im Bezirkssowjet eine Bescheinigung für die Rückkehr des Kindes ausstellen lassen; dort fand sie sich in einer Schar zorniger Mütter wieder: »Alle waren aufgeregt, redeten laut, und einige schrien sogar: ›Bringt unsere Kinder zurück! Sie sollen bei uns bleiben; wenn wir sterben, dann zusammen, dann wissen wir wenigstens, wie und wo.‹« Nachdem sie die Vollmacht erhalten und diese ihrer neuen Freundin mit ihrem gesamten Brotvorrat übergeben hatte, wartete sie ungeduldig auf deren Rückkehr. Zwei Wochen später sah sie die Frau plötzlich mit zwei kleinen Jungen auf dem Hof stehen. Sie stürzte hinaus, umarmte ihren Kolja und erfuhr, dass der Zug bombardiert worden sei. Danach hätten die drei den langen Weg zu Fuß zurückgelegt und seien hin und wieder von Lastwagen oder Pferdefuhrwerken mitgenommen worden.12

Unglaublicherweise versuchten die städtischen Behörden sogar, solche Rettungsaktionen zu unterbinden. Die Sekretäre der Bezirksparteikomitees sollten Betriebsdirektoren verbieten, Angestellten Urlaub zu geben, damit sie ihre Kinder heimholten. Eltern müsse vielmehr versichert werden, dass ihre Kinder ungefährdet seien, und es gelte, »die gegenteiligen provozierenden Gerüchte auszumerzen«.13

Anfang August wurde eine zweite Welle von Evakuierungen, für Mütter und Kinder unter vierzehn Jahren, angekündigt. Wie nicht überraschen dürfte, zogen Familien es nun häufig vor, sich lieber zu Hause mit dem Risiko abzufinden. »Jetzt ist es schon erlaubt«, schrieb Skrjabina,

daß Mütter zusammen mit ihren Eltern fahren. Eingeschüchtert jedoch durch die ersten mißlungenen Evakuierungsversuche, weigern sich die Mütter zu fahren, sie reden sich mit allen möglichen Krankheiten heraus, bloß um eine Verzögerung zu erreichen … Auch kommt die Angst vor Epidemien hinzu, denn unterwegs grassieren Typhus, Cholera und andere Magen- und Darmerkrankungen. Überdies werden die Evakuierungszüge mit Bordwaffen beschossen und aus der Luft bombardiert. Die Familie des Direktors der Fabrik, in der Sergej bis zu seinem Einberufungsbefehl arbeitete, hat sich evakuieren lassen. Bald danach traf die Nachricht ein, daß ihr vierzehnjähriger Sohn an Typhus abdominalis gestorben ist.14

Ochapkina hingegen wollte unbedingt abreisen, wurde jedoch aufgehalten, als sie Kolja bei einem Luftschutzalarm aus den Augen verlor. Da sie ihn erst einen Tag später auf einem Polizeirevier fand, verpassten beide ihren Zug. »Ich konnte nicht anfangen, die Evakuierungspapiere von neuem zu beantragen. Durch diesen Vorfall entschied es sich: Ich blieb in Leningrad.«

Sie könnte Glück gehabt haben, denn die Evakuierungszüge wurden, statt in die Provinz Wologda im Osten zu fahren, immer noch nach Süden geschickt, direkt in die Arme von Buschs 16. Armee. Bomber erschienen vor den Panzern und griffen Straßen, Eisenbahnen und Telegrafenlinien an. Die schlimmste der daraus resultierenden Tragödien ereignete sich in Lutschkowo, einer Kleinstadt knapp südlich des Ilmensees. Ein Konvoi aus Jungen und Mädchen im Kindergartenalter erlebte gerade die Begrüßungszeremonie in einem vierzig Kilometer entfernten Kolchos, als die Nachricht eintraf, dass deutsche Fallschirmjäger in der Nähe landeten. »Uns wurde Tee angeboten«, erzählt eine Überlebende, »als der Kolchosdirektor herbeieilte. Ich erinnere mich noch an seine Worte: ›Vor uns sind Nazi-Fallschirmjäger!‹«15 Man lud die Kinder in Lastwagen und fuhr sie zurück zum Bahnhof Lutschkowo, wo mehrere Tausend weitere Evakuierte schon in einen Zug stiegen. Während die Kinder in der Schlange warteten, tauchte ein Stuka über ihnen auf. »Wissen Sie, der Pilot flog ganz niedrig«, erinnerte sich eine Lehrerin, »sah sich alles an, zog hoch – da explodierte die Bombe auch schon. Später behaupteten sie, sie hätten es nicht gewußt. Unsinn! … Es war herrliches Wetter. Die Kinder waren schön angezogen. Er sah sehr genau, wen er bombardierte.«16 Der Stuka flog die Plattform entlang und beschoss sie methodisch und präzise. Dann folgte eine gewaltige Explosion, und als sich der Rauch lichtete, lagen die Waggons des Zuges verstreut »wie von einer Riesenhand«.

Es gibt (heftig geleugnete) Berichte über erwachsene Leiter von Evakuierungsgruppen, die inmitten des Chaos flohen oder mit ihren eigenen Kindern nach Leningrad zurückkehrten und die übrigen im Stich ließen. »Der Bahnhof stand in Flammen. Wir konnten niemanden finden. Es war einfach grässlich!«, erzählte eine Mutter über die Durchfahrt durch Mga. »Der Chef des Evakuierungszuges saß, den Kopf in den Händen, auf einem Baumstumpf. Er hatte seine eigene Familie verloren und wusste nicht, wer wohin geraten war.« Herumirrende Kleinkinder, die ihren Namen nicht nennen konnten, fanden ihre Angehörigen nie wieder.17 Scharen verzweifelter Eltern fuhren zu entlegenen Bahnhöfen, um auf die zurückkehrenden Züge zu warten. Dabei benahmen sie sich so bedrohlich, dass Vertreter von Bezirkssowjets gewarnt wurden, nicht auszusteigen.

Andere Evakuierungsgruppen blieben zwar von Luftangriffen verschont, mussten jedoch endlose, umständliche Reisen, unterbrochen von langen Stopps und Hungerpausen, ertragen. Ein Zug, der gegen Ende August in Richtung der sibirischen Stadt Omsk abfuhr, hatte 2700 Kinder zwischen sieben und sechzehn Jahren an Bord. In Friedenszeiten hätte die Reise drei Tage gedauert, nun jedoch nahm sie sieben Wochen in Anspruch. Die meisten Kinder hatten, wie sich eine sie begleitende Ärztin erinnerte, Reiseproviant bei sich, doch nach ein paar Tagen war er verdorben und musste weggeworfen werden. Evakuierungsstützpunkte an der Strecke stellten lediglich Mehl und Wasser bereit, die sie bei Aufenthalten zu einer Art Brot aufkochten. »Manchmal erhielten sie etwas Milch, aber nicht regelmäßig. Oft litten sie Hunger. Hin und wieder konnten wir Dinge aus einem Feld besorgen – Tomaten oder Karotten –, aber es war unmöglich, sie ordnungsgemäß zu waschen.« Masern und Läuse breiteten sich in den überfüllten Waggons aus, und fünf Kinder fielen ihnen zum Opfer.18

Die schrecklichen Gerüchte über die Evakuierung der Kinder waren nicht der einzige Grund dafür, dass Teile der Zivilbevölkerung Leningrad nicht verlassen wollten. Viele waren durch Verwandte mit der Stadt verbunden oder fürchteten, dass ein kriegsvermisster Sohn oder Ehemann in eine leere Wohnung heimkehren könnte. Irina Bogdanowa, eine Überlebende der Besatzung, schildert, wie ihre Großmutter die Evakuierung bewusst durchkreuzte. Die Familie sollte mit dem Geologischen Institut, an dem Irinas Mutter arbeitete, die Stadt verlassen. Irina, ihre Mutter und ihre Großmutter hatten die Ausreisegenehmigung erhalten, ihre Tante Nina, die im Verteidigungssektor tätig war, jedoch nicht. Während die Familie mit dem Lastwagen des Instituts zum Bahnhof fuhr, fiel der Großmutter plötzlich ein, dass sie einen Koffer vergessen hatte. Sie bestand darauf, nach Hause zurückzukehren, um ihn zu holen. Danach behauptete sie, es gebe im Lastwagen nicht mehr genug Platz und sie werde mit Irina die Straßenbahn zum Bahnhof nehmen. Dadurch verpasste die ganze Familie den Zug. Wieder zu Hause, berichtet Irina, »saßen wir auf dem Sofa; Mama umarmte mich und sagte: ›Also gut, dann werden wir alle zusammen sterben.‹« Und so kam es. Großmutter, Mutter und Tante fielen alle im Februar und März 1942 dem Hunger zum Opfer. Die achtjährige Irina überlebte und war zehn Tage lang mit zwei Leichen allein, bevor sie von einer Zivilschutzbrigade in ein Waisenhaus gebracht wurde. Siebzig Jahre später – in ihrer Sonntagskleidung an einem Tisch sitzend, der sich unter herrlich zubereiteten Häppchen biegt – erklärt sie im Interview: »[Ich] habe mein ganzes Leben lang mit Vorwürfen an meine Großmutter gelebt. Ich glaube, sie wollte bei Nina bleiben, vergaß absichtlich den Koffer und weigerte sich aus demselben Grund, hinten auf dem Lastwagen zu sitzen.«19

Für Menschen ohne Arbeitsplatz kam theoretisch eine individuelle Evakuierung in Frage, aber die bürokratischen Erfordernisse waren abschreckend, und ohne gastfreundliche Verwandte in unbesetzten Gebieten konnten sie nicht sicher sein, eine Unterkunft zu finden. In der Praxis gelang es ihnen oft, sich dem Personal von Institutionen anzuschließen, deren Evakuierung vorgesehen war, doch das setzte Beziehungen und Einfluss voraus. Eine Freundin Skrjabinas, die Frau eines Fabrikdirektors, bot ihr einen Posten als »Erzieherin« im Werkskindergarten an, der ins Moskauer Gebiet gebracht werden sollte. Einen Tag später meldete sich die Frau erneut. »Mit weinerlicher Stimme teilte [sie] mit, alles sei gescheitert. Die Fabrikarbeiterinnen seien empört gewesen, es habe nicht viel gefehlt und sie hätten das ganze Fabrikkomitee zum Teufel gejagt, als sie erfuhren, daß mit dem Kinderhort auch sozusagen die Fabrikintelligenz verschickt werden sollte.« Skrjabina war sogar erleichtert: »Das Problem, welches mich die ganze Zeit bedrückte, ist durch Umstände gelöst worden, die von mir unabhängig waren. Ich brauche die Alten nicht zu verlassen …«20

Valerian Bogdanow-Beresowski, der heute vergessene Komponist von Piloten und Ballade von den Männern der Baltikflotte, beschloss zu bleiben, weil er seine Mutter nicht zurücklassen wollte, doch auch weil sich ihm nun die Chance bot, die Leningrader Abteilung des Komponistenverbandes zu leiten, nachdem der vorherige Amtsinhaber nicht aus dem Sommerurlaub zurückgekehrt war. Andere bezweifelten insgeheim, dass die deutsche Besatzung so schlimm sein würde, wie die Propaganda es darstellte. »Ist es möglich«, fragte Skrjabina ungläubig, »daß sie [die Juden] von den Deutschen nur deshalb vernichtet werden, weil sie Juden sind?« Mitte August schlug sie eine zweite Chance zur Evakuierung aus, weil sie, wie sie in ihrem Tagebuch subtil andeutet, die baldige Kapitulation von Leningrad erwartete. »Wenn der Krieg wirklich mit so halsbrecherischer Geschwindigkeit voranschreitet, wird er wahrscheinlich bald enden. Warum sollen wir einen Ort verlassen, an dem wir so verwurzelt sind? Vielleicht wäre es klüger, in der Wohnung zu bleiben. Was soll ich tun?« Trotzdem vermutete sie eine Provokation, als ein alter Schulfreund auf einer Bank neben ihr Platz nahm: »Ohne Umschweife begann er ein Gespräch mit uns und ließ sich darüber aus, wie glücklich er sei, daß die Deutschen schon vor der Stadt stünden, daß sie in der Übermacht seien, und die Stadt sich, wenn nicht heute, dann morgen werde ergeben müssen … Er lobte mich, daß ich in Leningrad geblieben sei. Dann zeigte [er] mir einen kleinen Revolver und sagte: ›Dies ist für den Fall, daß mich die Erwartungen enttäuschen sollten.‹« Im Puschkinhaus erschien ein jüdischer Kollege von Dmitri Lichatschow – es war der von Olga Gretschina wegen Scheinheiligkeit kritisierte Professor Gukowski – in der Kantine mit »einer Schirmmütze (ein wenig schräg getragen) und einem Hemd mit einem Gürtel im kaukasischen Stil. Er begrüßte uns mit einem Salut und ließ uns im Vertrauen wissen, dass er sich, wenn die Deutschen kämen, als Armenier ausgeben werde.«21

Der Kunsthistoriker Nikolai Punin, Achmatowas einstiger Mann, überließ sich dem Fatalismus. In der Verdunkelung und Stille nach der Ausgangssperre setzte er sich am Abend des 26. August – desselben Tages, an dem die Baltikflotte endlich die Genehmigung erhielt, aus Tallinn auszulaufen – an seinen Schreibtisch, um sein Tagebuch nach einer Pause von fünf Jahren im Licht einer Lampe weiterzuführen, deren Schirm aus einem Stück blauer Tapete bestand. Für Menschen seiner Generation, schrieb er, sei der Tod nie fern gewesen. »In Wirklichkeit haben sie uns in diesen vergangenen fünfundzwanzig Jahren eingeladen, rasch zu sterben. Viele sind gestorben, der Tod rückt heran, kommt uns so nahe wie möglich. Warum sollten wir an ihn denken, da er doch so ernsthaft an uns denkt?« Das Gefühl des bevorstehenden Unheils erinnerte ihn an den Terror von 1937, als er und all seine Freunde jeden Tag in den frühen Morgenstunden ein Klopfen an der Tür und einen Gefängniswagen erwarteten. Als er die Akademie der Wissenschaften (»Konfusion und Chaos«) früher am Tag besuchte, hatten Kollegen ihm zugeredet, mit ihnen nach Samarkand aufzubrechen.

Aber das würde bedeuten, in den Krieg hineingezogen zu werden. Nein, ich fahre nicht. Es ist besser, gegen Windmühlen zu kämpfen, solange noch die Möglichkeit besteht. Die Lampe brennt, es ist ruhig. Herr, tröste die Seelen, die zum Himmel aufsteigen.

Vor nicht langer Zeit sagte ich jemandem: »Also, es gibt zwei beängstigende Dinge: Krieg und Evakuierung. Aber von den beiden ist die Evakuierung schlimmer.« Das ist nur eine Redensart, gewiss. Aber warum haben sie uns nicht während der jeschowschtschina [des Terrors] evakuiert? Damals war es genauso beängstigend.22

Den Hintergrund zu solchen qualvollen persönlichen Entscheidungsprozessen bildete die starke allgemeine und halbamtliche Missbilligung gegenüber denjenigen, die schnell die Stadt verlassen wollten. Evakuierte wurden als »Ratten« und beschenzy – »Flüchtlinge« – abgestempelt. Olga Gretschina erlebte einen peinlichen Abschied von einem Brüderpaar, zwei Kommilitonen, deren Mutter ihnen Plätze bei einer archäologischen Ausgrabung in Zentralasien verschafft hatte. »Ich konnte nicht verstehen, wieso gesunde junge Männer sich evakuieren ließen, obwohl alle anderen unbedingt an die Front wollten … Das Gespräch war schwierig. Ich machte ihnen keine Vorwürfe wegen ihrer Abfahrt, aber ich war so überrascht darüber, dass sie zugestimmt hatten.«23 Genauso schädlich und unvermeidlich war, dass einige Bezirkssowjets ihren Glauben an die Führung zur Schau stellten, indem sie die Evakuierung von Zivilisten in ihrem Bereich zu verhindern suchten. Wie Dmitri Pawlow, damals Chef der nationalen Lebensmittelversorgungsbehörde, es in dem besten sowjetischen Bericht über die Belagerung ausdrückte, »wurde die Weigerung von Bürgern, sich evakuieren zu lassen, als patriotischer Akt betrachtet, auf den man stolz sein konnte, was die Menschen indirekt ermutigte, in der Stadt zu bleiben«. Seiner Meinung nach hätte die Zahl derjenigen, die im Juli und August evakuiert wurden, zwei- oder dreimal höher sein können und müssen.24 Ironischerweise konnte auch die Weigerung, sich evakuieren zu lassen, als verdächtig gelten. Ein Tagebuchschreiber verzeichnete folgendes Gerücht:

Es heißt, dass P.S. Andrejew und S.P. Preobraschenskaja (vom Mariinski-Theater) die Abreise verweigert hätten. »Warum?«, wurden sie gefragt. »Wir sind sicher, dass Leningrad nicht übergeben wird«, antworteten sie. Aber bei der Verwaltung dachte man: »Wir kennen euch. Es steht bereits fest, dass Leningrad verlassen werden muss, und ihr wollt zu den Faschisten überlaufen! Wir sollten euch besser vernehmen, um herauszufinden, was für Sowjetmenschen ihr wirklich seid.«25

Am 25. August war Leningrad zu drei Vierteln umzingelt. Die Eisenbahnverbindungen nach Westen in die baltischen Staaten waren gekappt worden, genau wie die Direktrouten nach Moskau. Die einzige intakte Linie führte nach Osten und spaltete sich am Eisenbahnknotenpunkt Mga, der nun selbst Schauplatz schwerer Kämpfe war. Im Westen hatte die Rote Armee das gesamte baltische Küstengebiet – mit Ausnahme eines sechzig Kilometer langen Streifens am Finnischen Meerbusen westlich von Peterhof – verloren. Dieser sogenannte Kessel von Oranienbaum, benannt nach einem weiteren Sommerpalast der Zaren, wurde über Kronstadt versorgt und hielt die ganze Belagerung hindurch stand, was allerdings kaum einen strategischen Vorteil einbrachte und einen entsetzlichen Preis kostete. Im Norden hatte die finnische Armee unter General Carl Mannerheim die Grenzen aus der Zeit vor dem Winterkrieg zurückerobert, war nach Russisch-Karelien vorgedrungen und marschierte am nordöstlichen Ufer des Ladogasees entlang. Dies entsprach einem Hitler gegebenen Versprechen, der Wehrmacht am Fluss Swir »die Hände zu schütteln«.

Die Bedrohung Leningrads beanspruchte nun die ganze Aufmerksamkeit des Kreml. Seit Chruschtschows »Geheimrede« von 1956, die das politische Tauwetter ankündigte, wird die Meinung vertreten, Stalin habe Leningrad absichtlich umzingeln lassen. Er habe den liberalen Tendenzen der Stadt misstraut und ebenso ihrer Vergangenheit als Nährboden für charismatische Politiker wie die Altbolschewiki Kirow (1934 auf mysteriöse Art ermordet) und Grigori Sinowjew (1936 nach einem Schauprozess erschossen). Aber wenn man Stalins wütende – manchmal irrationale – Tiraden vom Spätsommer und Herbst 1941 liest, löst sich diese Theorie auf. Obwohl er tatsächlich darüber nachdachte, die Stadt aufzugeben, um seine Heere zu retten, so bedeutete dies unverkennbar auch für ihn nur einen verzweifelten letzten Ausweg.

Irgendwann zwischen dem 21. und dem 27. August, während deutsche Panzer bereits durch die Eisenbahnstädte südlich von Leningrad rollten, machte sich eine »Sonderkommission« vom Kreml nach Leningrad auf. Zu ihr gehörten Molotow sowie die Chefs der Luftwaffe, Marine und Artillerie, Handelskommissar Alexej Kossygin und, vor allem, Georgi Malenkow, der neununddreißigjährige aufsteigende Star, der kurz zuvor ins Staatliche Verteidigungskomitee, das fünfköpfige Entscheidungsgremium, berufen worden war. Missachtet von Schdanow, der Malenkow wegen seiner Birnengestalt den dienstmädchenhaften Spitznamen »Malanja« verliehen hatte, war der Mann mit dem glatten Kinn und der hohen Stimme ein Kumpan von Schdanows Erzfeind, dem NKWD-Chef Berija. Die Kommission sollte offiziell eine »Bewertung der komplizierten Lage« abgeben. In Wirklichkeit aber dürfte es um die Frage gegangen sein, ob Leningrad überhaupt verteidigt werden konnte. Allein die Reise bewies, wie nahe man der Katastrophe bereits gekommen war. Nachdem die Gruppe nach Tscherepowez, einem Eisenbahnort vierhundert Kilometer östlich von Leningrad, geflogen war, bestiegen sie einen Zug, der sie nach Mga brachte. Dort wurden sie von einem Luftangriff zum Halten gezwungen. Feuer erhellte den Nachthimmel, und Flugabwehrgeschütze hämmerten, als die Kreml-Größen ausstiegen und an den Gleisen entlang zu einer gewöhnlichen Straßenbahn stolperten; diese brachte sie zu einem zweiten Zug, mit dem sie schließlich in die Stadt gelangten.

Die Kommission blieb etwa eine Woche lang in Leningrad, und Stalin bombardierte Schdanow unablässig mit Befehlen, die der sich rasch wandelnden Realität nun völlig fern waren.26 Am 27. August rief er mit einem fantastischen Plan im Smolny an: Man solle Panzer »durchschnittlich alle zwei Kilometer, an manchen Orten alle 500 Meter, je nach dem Boden«, an einer neuen, hundertzwanzig Kilometer langen Verteidigungslinie von Gattschina bis zum Fluss Wolchow postieren. »Die Infanteriedivisionen werden direkt hinter den Panzern stehen und sie nicht nur als Kampftruppe, sondern auch als Verteidigungsmittel benutzen. Dafür werden 100–120 KWs [ein schwerer Panzertyp] benötigt. Ich glaube, diese Zahl von KWs kann in zehn Tagen produziert werden … Ich erwarte Ihre rasche Antwort.«27 Am folgenden Tag äußerte Schdanow sein übliches sklavisches Einverständnis. Stalins Plan für eine Verteidigungslinie »besonderer Art« sei »absolut korrekt«, weshalb er, Schdanow, um Erlaubnis bitte, die Evakuierung der Ischorsker und der Kirow-Waffenfabriken zu verschieben, damit ihre Panzerproduktion zur Verwirklichung des Projekts herangezogen werden könne.

Am 29. August eroberten die Deutschen Tosno, nur vierzig Kilometer von Leningrad entfernt an der Moskauer Straße. Zudem erreichten sie das Südufer der Newa und teilten dadurch die sowjetischen Kräfte, die Leningrad im Südosten verteidigten. Vor Wut und Paranoia schnaubend, telegrafierte Stalin ausschließlich an Molotow und Malenkow:

Mir ist gerade mitgeteilt worden, dass der Feind Tosno eingenommen hat. Wenn es so weitergeht, fürchte ich, dass Leningrad aus idiotischer Dummheit übergeben wird und dass alle Leningrader Divisionen in Gefangenschaft geraten. Was tun Popow und Woroschilow? Sie lassen mich nicht einmal wissen, wie sie planen, die Gefahr abzuwenden. Sie halten Ausschau nach neuen Rückzugslinien; so schätzen sie ihre Pflicht ein. Woher kommt ihre abgrundtiefe Passivität, diese bäuerliche Unterwerfung dem Schicksal gegenüber? Ich verstehe sie einfach nicht. Zurzeit sind zahlreiche KW-Panzer in Leningrad, eine Menge Flugzeuge … Warum werden all diese Geräte nicht im Ljuban-Tosno-Sektor eingesetzt? Was kann irgendein Infanterieregiment ohne Ausrüstung gegen deutsche Panzer vollbringen? … Scheint es Ihnen nicht auch so, dass jemand den Deutschen bewusst den Weg frei macht? Was für ein Mann ist Popow? Wie verbringt Woroschilow seine Zeit, was tut er, um Leningrad zu helfen? Ich schreibe diese Worte, weil die Nutzlosigkeit der Leningrader Befehlshaber so absolut unverständlich ist. Ich glaube, Sie sollten nach Moskau reisen. Bitte keine Verzögerung.28

Wie nahe Popow und Woroschilow tatsächlich daran waren, durch einen Nackenschuss getötet zu werden, können wir nicht wissen. Malenkow und Molotow sparten jedenfalls nicht mit Kritik und achteten darauf, Schdanow ebenfalls nicht zu verschonen. In ihrer Antwort an Stalin am selben Tag rühmten sie sich damit, Schdanows und Woroschilows Fehler scharf kritisiert zu haben, etwa die Gründung des Leningrader Verteidigungsrats, die Erlaubnis für Bataillone, ihre Offiziere zu wählen, die Verzögerung der Evakuierung von Zivilisten und das Versäumnis, brauchbare neue Befestigungen zu bauen. Schlimmer noch, Schdanow und Woroschilow sei anzulasten, dass sie »ihre Pflicht nicht begriffen haben, die Stawka unverzüglich über die Maßnahmen zur Verteidigung Leningrads zu unterrichten, dass sie sich ständig vor dem Feind zurückziehen, nicht die Initiative ergreifen und keine Gegenangriffe organisieren. Die Leningrader geben ihre Fehler zu, aber das ist natürlich ganz und gar unbefriedigend.«29 Stalins Entgegnung war knapp: »Antwort: Erstens, wer hält Mga in diesem Moment? Zweitens, lassen Sie sich von Kusnezow mitteilen, was für die Baltikflotte geplant ist. Drittens, wir wollen Chosin als Woroschilows Stellvertreter losschicken. Irgendwelche Einwände?« Als die Kommission nach Moskau zurückgekehrt war, habe Malenkow, laut Berijas Sohn, Stalin zu dem Schritt gedrängt, Schdanow verhaften und vor ein Kriegsgericht stellen zu lassen, doch Berija habe ihn davon abgebracht.30 Stattdessen machte Stalin Malenkow zu seinem Weichensteller in Leningrad, der Schdanow die Wünsche des Generalsekretärs übermitteln sollte und umgekehrt. Dieses außergewöhnliche Arrangement, in dem der Leningrader Parteichef mit Stalin durch einen Vermittler sprach, der versucht hatte, ihn ermorden zu lassen (wie Schdanow zumindest geahnt haben dürfte), dauerte bis zum Ende des Krieges an.

Schdanow wurde verschont, doch gewöhnliche Leningrader hatten weniger Glück. Während die Kämpfe außerhalb der Stadt hin und her wogten, erhöhten Molotow und Malenkow den Terror im Innern. In einem Verzeichnis, welches das Leningrader NKWD am 25. August aufstellte, wird ein Ziel von 2248 Verhaftungen und Ausweisungen genannt, deren Opfer sich in neunundzwanzig Kategorien teilen: von Trotzkisten, Sinowjewisten, Menschewiki und Anarchisten über Priester, Katholiken, frühere zaristische Offiziere, »ehemals reiche Händler«, »weiße Banditen«, »Kulaken« und Personen »mit Beziehungen ins Ausland« bis hin zu den pauschal gefassten »Terroristen«, »Saboteuren«, »antisozialen Elementen« sowie einfachen Dieben und Prostituierten.31 Der Diensteifer zeitigte die üblichen Ergebnisse. An einem Sammelpunkt, bemerkte ein empörter Beobachter,

warteten ungefähr hundert Menschen auf die Reise in die Verbannung. Es waren hauptsächlich alte Frauen; alte Frauen in altmodischen Umhängen und abgetragenen Samtmänteln. Dies sind die Feinde, die unsere Regierung zu bekämpfen vermag – und, wie sich herausstellt, die einzigen. Die Deutschen stehen vor den Toren, die Deutschen sind bereit, in die Stadt einzuziehen, und wir haben nichts anderes zu tun, als alte Frauen zu verhaften und zu deportieren – einsame, schutzlose, harmlose Menschen.32

Unter den Opfern war Olga Berggolz’ bejahrter Vater, ein Arzt in einer Rüstungsfabrik. Am Mittag des 2. September vom Polizeirevier vorgeladen, erhielt er den Befehl, bis 18 Uhr am selben Abend abzureisen. »Papa ist Militärarzt und dient der Sowjetregierung seit vierundzwanzig Jahren treu und ehrlich«, schrieb Berggolz ungläubig in ihrem Tagebuch. »Er war während der ganzen Dauer des Bürgerkriegs in der Roten Armee und rettete Tausende von Menschen, ist russisch bis ins Mark … Es hat den Anschein – kein Scherz –, dass das NKWD einfach seinen Familiennamen nicht leiden kann.«33 Infolge des deutschen Vormarsches und dank seiner Tochter, die wie rasend ihre Beziehungen spielen ließ, gelang es ihm, bis zum folgenden Frühjahr in Leningrad zu bleiben. Dann wurde er halb verhungert nach Krasnojarsk in Westsibirien deportiert. Die Gründe? Sein Judentum, seine Weigerung, Kollegen zu bespitzeln, und wahrscheinlich seine Verwandtschaft mit Olga Berggolz, für deren Wohlverhalten er als Geisel diente, da sie durch ihre Kriegsdichtung zu einer populären Figur geworden war.

Ende August schlug das herrliche Spätsommerwetter um. Regenwasser gluckerte durch die dicken verzinkten Abzugsrohre, rann über die Pflastersteine, trübte die Grün- und Gelbtöne der Stuckfassaden. Außerhalb der Stadt gingen die Kämpfe immer noch in Schlamm und Nässe hin und her. Am 31. August fiel Mga endlich, nachdem es dreimal den Beherrscher gewechselt hatte, und damit war auch die letzte Bahnstrecke aus der Stadt hinaus abgeschnitten. »Die Stawka hält die Taktik der Leningrader Front für schädlich«, drohte Stalin. »Sie versteht nur eines: sich zurückzuziehen und neue Rückzugslinien zu finden. Haben wir nicht genug von diesen heldenhaften Niederlagen?«34

Vera Inber erfuhr die Neuigkeit von ihrem Mann, der gehört hatte, dass ein Lazarett, das seit einer Woche in Waggons auf die Abfahrt wartete, ausgeladen werden und in die Unterkunft zurückkehren musste. Der Zug, mit dem sie selbst eingetroffen war, schien als einer der letzten durchgekommen zu sein. Skrjabina, die gerade mit Hilfe eines ärztlichen Attests einem Evakuierungsbefehl entgangen war, hatte ein Vorgefühl, das sie erschauern ließ. »Der letzte Zug ist in der Nacht abgefahren … Leningrad ist umringt, und wir sind in einer Mausefalle gefangen. Was habe ich mit meiner Unschlüssigkeit bloß angerichtet?«35 Der Leningrader Georgi Knjasew, der um Mitternacht an seinem Schreibtisch saß, hörte das ferne Hämmern von Geschützen:

Wieder habe ich die Lampe mit dem grünen Schirm angezündet … Aber was in ein paar Tagen geschehen wird, entzieht sich jeder Vorstellung … Aus den lückenhaften Zeitungsmeldungen entstehen vor uns wie Alpträume Analogien der Vernichtung und des Untergangs Dutzender, ja Hunderter Städte. Aber alle Analogien taugen nichts, wenn man sie auf einen solchen Koloß wie Leningrad bezieht. Soll ich wirklich Zeuge seines Untergangs werden?

Er hatte einige Silhouetten aus dem achtzehnten Jahrhundert – von Akademiemitgliedern, die mit ihren Perücken und in Kniehosen unter Eichen debattieren – von den Wänden genommen und machte sich Sorgen wegen der jahrtausendealten ausdruckslosen Sphinxe, die man noch nicht mit Sandsäcken geschützt hatte. »Sie sind einfach vergessen worden … Man hat zu viel zu tun, um sich um sie zu kümmern! Und sie stehen dort ganz allein, außerhalb der Ereignisse.«

Vor den Toren der Stadt tobte die Schlacht weiter. Von Mga aus schob sich die 20. Motorisierte Division der 16. Armee langsam nach Norden vor, gegen den Widerstand einer Schützenbrigade und erschöpfter NKWD-Grenzposten. Am 7. September wurde sie durch Gefährte der 12. Panzerdivision verstärkt und spaltete die sowjetische Verteidigung, indem sie die Grenzposten nach Westen in Richtung Newa und die Schützenbrigade nach Osten zum Ladogasee abdrängte. Nach schweren Kämpfen besetzte sie die Sinjawino-Höhen, einen bewaldeten Kamm, der über von Häftlingen betriebenen Torfwerken lag und zum Schauplatz wiederholter sowjetischer Ausbruchversuche und zu einem der blutigsten Schlachtfelder der ganzen Ostfront werden sollte. Am 8. September schließlich nahmen die Deutschen die Festungsstadt Schlüsselburg ein, die am Schnittpunkt der Newa mit dem Ladogasee lag und seit dem vierzehnten Jahrhundert den Flussweg nach Moskau beschützte. Mit ihr verlor Leningrad die letzte Landverbindung zur unbesetzten Sowjetunion. In den folgenden siebzehn Monaten würden Leningrader das »Festland« nur über den Ladogasee oder durch die Luft erreichen können. »Ein grauer Dunst«, schrieb Knjasew an seiner nebligen Uferstraße, »verhüllt die klaren Konturen der Isaakskathedrale, der Admiralität, des Winterpalais, des Senats und der Rosse über dem Bogen des Generalstabs. Irgendwo, ein paar Dutzend Kilometer vor der Stadt, stehen die Deutschen. Es ist nicht zu glauben, scheint ein Fiebertraum zu sein und nicht Wirklichkeit. Wie konnte das geschehen? Die Deutschen vor den Toren Leningrads.«36