KAPITEL 14
Die Schlacht von
Balmacann
So schön und ausgelassen
die Feier am Vorabend gewesen war, umso schwerer fiel am Tag danach
der Abschied. Wie es die Elfen vorausgesagt hatten, zogen breite
Regenfronten über das Land.
Lonrinn, Tovions Vater, und die Zwerge hatten
wunderbare Rüstungen und Waffen geschmiedet, die nun an alle
Verbündeten verteilt wurden. Die besten und prächtigsten Rüstungen
bekamen die Sieben, was ihnen ein wenig peinlich war, doch Bocan
meinte mit seiner direkten Art: »Wenn ihr nicht überlebt, sind wir
alle verdammt, also zieht sie an!«
»Wir werden die von Saliah und Rudrinn mitnehmen«,
versprach Broderick schließlich und bedankte sich für das wunderbar
leichte Kettenhemd und die prächtig verzierten Armschienen.
Gruppen von etwa hundert Kriegern, bestehend aus
Steppenmännern, ehemaligen Kriegern aus Camasann und sonstigen
Widerständlern, zogen mit einigem Abstand voneinander durch das
Donnergebirge.
Lynns Mann Narinn hatte sich vor seiner Abreise
noch heftig mit seinem Vater Krommos gestritten. Der alte Anführer
des Wolfsclans wollte es sich trotz seines fortgeschrittenen Alters
nicht nehmen lassen, an der bevorstehenden Schlacht
teilzunehmen.
Finn, Brodericks Ziehvater, Lonrinn, Thyra, Lady
Melinah, Kalina, Lynn und ihre Mutter blickten ihren Männern,
Kindern
und Freunden hinterher. Sie, die mit den Kindern und Alten
zurückblieben, wurden von Ängsten geplagt, schluckten jedoch tapfer
ihre Tränen herunter.
Wie viele von ihnen werden wir
wiedersehen?, dachte wohl nicht nur Lynn.
Die Tage waren düster, nass und kalt. Rijana und
die anderen Kinder Thondras ritten gemeinsam mit Brogan, Rudgarr,
Leá, Lord Bronkar und einer Gruppe von zehn vertrauenswürdigen
Kriegern nach Süden. Unter allen Umständen mussten sie gesund in
Tirman’oc ankommen, denn auf sie allein kam es an. Elli’vin, die
hübsche junge Elfe, ritt an ihrer Seite und führte sie im Schutz
der Bäume und Büsche, der Hügel und Schluchten durch das Land. Ihre
Verbündeten aus dem Donnergebirge würden folgen, sich in der Nähe
des Donnerflusses verstecken und auf ein Zeichen warten.
Die kurzen Pausen verliefen ruhig, kaum jemand
redete. Ariac und Rijana ließen sich kaum noch aus den Augen,
ebenso wie Tovion und Nelja. Auch Falkann und Leá kamen sich
näher.
Eines Abends saß Broderick zusammen mit Ariacs
Vater am Feuer und stocherte in der Glut herum. Nebel bedeckte das
Land und verstärkte die bedrückte Stimmung noch zusätzlich.
»Fast bin ich neidisch, wenn ich die beiden sehe«,
seufzte Broderick und nickte zu Ariac und Rijana hinüber, die in
eine Decke gewickelt engumschlungen an einem Felsen saßen und sich
leise unterhielten. »Ich hätte Kalina auch gern bei mir.
Andererseits bin ich natürlich froh, dass sie nicht hier, sondern
in Sicherheit ist.«
»Du sprichst meine Gedanken aus.« Rudgarr strich
sich die hüftlangen schwarzen Haare aus dem Gesicht. »Ich wünschte,
Thyra wäre bei mir, denn ich weiß nicht, ob ich sie noch einmal
wiedersehen werde. Und gleichzeitig bin ich unendlich erleichtert,
dass sie im Donnergebirge ist.«
»Was ist, wenn wir nicht gewinnen?« Panik spiegelte
sich in Brodericks Augen wider. »Was geschieht, wenn Scurr und
Greedeon die Oberhand gewinnen? Die Welt wird im Chaos versinken,
und niemand wird unsere Familien und Freunde retten können.«
Bevor Rudgarr etwas erwidern konnte, setzte sich
Elli’vin zu ihnen.
»Auch wir wissen nicht, was geschieht«, die Worte
der Elfe klangen wie leiser Gesang, »aber wenn es in der Macht der
Elfen steht, werden wir auf eure Lieben aufpassen, selbst wenn ihr
nicht mehr lebt. Das ist das Einzige, was ich euch versprechen
kann.«
»Das bedeutet mir sehr viel«, antwortete der
Steppenmann heiser. Er drückte Elli’vins zarte Hand und erhob sich.
Jetzt wollte er allein sein.
Nun war es nur noch ein Tagesritt bis Tirman’oc.
Während sie am Rand des Elfenreiches entlanggereist waren, hatten
sich wie durch Zauberhand Wege vor ihnen aufgetan, sodass sie
unentdeckt geblieben waren. Das hatten sie Elli’vin und der
Elfenmagie zu verdanken. Immer wieder hatten sie auf die
Handelsstraße blicken können, und sie hatten gesehen, dass dort
Blutrote Schatten, Orks und Trolle dicht gedrängt marschierten.
Heute Nacht begann der wohl gefährlichste Teil ihrer Reise. Sie
mussten über die Ebene bis zum Donnerfluss reiten. Auf dieser
Strecke waren sie nicht mehr durch die Magie der Elfen geschützt.
Alle hofften, dass die Nacht ihnen ein wenig Schutz gewähren
würde.
Rijana stand bei Lenya und redete leise mit dem
Pferd, während sie es aufsattelte. Gerade kam Ariac mit Nawárr am
Zügel auf sie zu.
»Bist du fertig?«
Sie nickte und steckte ihr Schwert in die Scheide
an ihrem Gürtel. »Es ist wohl bald so weit. Selbst ich spüre
das.«
Ariac blickte in den sternenklaren Himmel. Er legte
eine Hand auf sein silbernes Schwert. »Ich werde Scurr töten, das
verspreche ich dir.«
»Aber bitte, sei vorsichtig, riskiere nicht dein
Leben …«, begann sie, und eine Träne tropfte ihre Wange
hinab.
Ariac wischte sie fort und nahm Rijana in den Arm.
»Es muss beendet werden, und das weißt du.«
»Aber warum musst gerade du es sein?«, schluchzte
sie und klammerte sich an ihm fest.
»Das weiß ich auch nicht.«
Leise Huftritte ertönten in der Nacht, mehr war
nicht zu hören. Im Licht des Mondes und der Sterne überquerten sie
die grasbewachsene Ebene.
»Wir werden nicht über die Brücke kommen«, murmelte
Brogan unbehaglich. »Wir werden schwimmen müssen.«
»Keine Sorge«, erwiderte Elli’vin, und ihr blasses
Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt. »Der Fluss wird uns
helfen.«
Zwar wusste Brogan nicht, was sie damit meinte,
aber er musste ihr wohl vertrauen. Alles blieb ruhig, dennoch waren
sie angespannt. Der Feind lauerte in der Nähe, dessen waren sich
alle bewusst.
Lord Bronkar kam gerade zurück, er hatte den Weg
zur Brücke ausgekundschaftet. »Die Brücke wird schwer bewacht«,
erzählte er leise, »und auch rundherum und an den schmaleren
Stellen des Donnerflusses patrouillieren Wachen.«
Das Rauschen des breiten und reißenden Flusses war
inzwischen ganz deutlich zu hören.
Elli’vin ritt mit ihrem schlanken Elfenpferd
geradewegs auf den Fluss zu. Am Ufer blieb sie stehen, hob die
Hände und sprach leise ein paar Worte.
Nicht nur diejenigen, die eine Begabung für Magie
hatten, so wie Brogan und Nelja, spürten, dass etwas geschah. Man
konnte die Energie, die in der Luft lag, geradezu spüren.
Plötzlich nahmen sie alles viel deutlicher wahr: den Geruch der
Pflanzen, das Rauschen des Wassers, die Berührung des Windes.
Elli’vin redete weiter, und der Fluss begann, sich
zurückzuziehen, bis sich eine breite Furt vor ihnen auftat.
»Beeilt euch«, flüsterte sie.
Verwundert trabten sie durch das nur noch
fesselhohe Wasser des Donnerflusses. Nachdem alle das andere Ufer
erreicht hatten, löste Elli’vin den Bann, und donnernde
Wassermassen bahnten sich erneut ihren Weg hinunter zum Meer.
»Wie hast du das gemacht?«, flüsterte Nelja
ehrfürchtig.
Elli’vin zuckte die Achseln. »Der Fluss ist mein
Freund, ich respektiere ihn, und deswegen hat er mir einen Gefallen
getan.« Bei ihr klang das ganz selbstverständlich, aber keiner der
Menschen konnte das wohl wirklich begreifen.
Nach kurzer Zeit tauchten sie in den Wald von
Tirman’oc ein. Erneut nahm sie die Magie gefangen. Die Bäume
schienen sich vor Elli’vin zu verneigen, und weiche Waldwege taten
sich vor ihnen auf. Beinahe glaubte man, dieser Wald hätte Augen
und würde sprechen. Ein leises, mystisches Wispern lag in der Luft.
In den Gesichtern der Krieger aus Camasann und vor allem in denen
der Steppenleute spiegelte sich Angst wider. Für sie war das alles
neu und unheimlich.
Ariac versuchte, seinen Vater und seine Schwester
zu beruhigen. »Ich war bereits hier. Es ist ungewohnt, aber hier
geschieht uns nichts.«
»Ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen«,
keuchte sein Vater, »ich brauche die Weite.« Dann blickte er sich
unbehaglich um. »Ich glaube, wenn dieser Wald entscheiden würde,
uns nicht gehen zu lassen, dann wären wir gefangen.«
»Damit könntest du Recht haben«, gab Ariac
zu.
Den ganzen Tag führte Elli’vin sie durch dieses
magische Reich. Als es hell wurde, bewunderten sie die Schönheit
des verwunschenen Hügels, der mitten im Reich der Menschen
stand. Die letzte Erinnerung daran, dass ganz Balmacann einst den
Elfen gehört hatte. Sprudelnde Wasserfälle ergossen sich aus
Felsen, kleine, mit Seerosen bedeckte Seen waren zwischen den
Bäumen zu erkennen, und die buntesten Blumen blühten auf
sonnenbeschienenen Lichtungen.
Diesmal ritten sie nicht zum Schloss. Auf einer
großen Lichtung, zwischen gewaltigen Monolithen, wartete Thalien,
der König vom Mondfluss, auf sie.
Wie alle Elfen strahlte auch er eine unglaubliche
Kraft aus, die durch die Präsenz der alten Steine nur noch
verstärkt wurde. Seine weisen und melancholischen Augen fielen auf
die Neuankömmlinge. Als Elli’vin ihn umarmte, lächelte er
traurig.
»Das Ende dieses Zeitalters naht. Trotzdem bin ich
froh, euch zu sehen.«
Unwillkürlich fielen alle vor dem Elfenkönig auf
die Knie. Seine Stimme war ihnen durch Mark und Bein gegangen. Sie
war so alt wie die Zeit selbst, weise wie wohl sonst kein Wesen und
gleichzeitig so gütig, dass man sich seltsam getröstet
fühlte.
»Erhebt euch, ich bin nicht euer Anführer«,
verlangte der Elf und blickte jedem Einzelnen in die Augen. »Ihr
seid hier, weil ihr für eure Überzeugung kämpft und für die, die
ihr liebt.«
Er trat zu Rijana, Ariac, Broderick, Falkann und
Tovion.
»Dieses Mal sind die Sieben vereint, dieses Mal
habt ihr euer Schicksal selbst in die Hand genommen. Verlasst euch
aufeinander, dann habt ihr Aussicht auf Sieg.«
»Geht es Saliah und Rudrinn gut?«, fragte Tovion
beunruhigt.
Der Elf drehte sein Gesicht in den sanften Wind und
schien eine Weile wie in Trance zu sein. Dann lächelte er.
»Sie sind auf dem Weg.«
Ein starker Westwind ließ Saliahs langen blonden
Haare fliegen, als sie neben Rudrinn am Steuer des Segelschiffes
stand. Gerade segelten sie nördlich der Insel Silversgaard in
Richtung Küste. Hinter ihnen brach eine Flotte von zwanzig
gestohlenen Kriegsschiffen und dreiundfünfzig Piratenschiffen durch
die Brandung.
Im Hinblick auf die mehr als dreihundert
Kriegsschiffe, die König Scurr besaß, war es natürlich lächerlich,
aber Rudrinn kannte die Unerschrockenheit der Piraten, und er
vertraute ihnen.
Vor einigen Nächten hatte es eine blutige Schlacht
auf Silversgaard gegeben, doch nun war die Insel in der Hand der
Piraten. Die Sklaven waren befreit und kämpften ebenfalls auf ihrer
Seite.
Heute würde es zur ersten Seeschlacht kommen. In
der Nacht war ihm Thalien erschienen, und Rudrinn wusste, dass es
nicht nur ein Traum gewesen war. Der Elfenkönig hatte gesagt, dass
die Piraten sich nun zeigen sollen und dass Rudrinn mit Saliah nach
Tirman’oc kommen müsse.
»Vater, es ist so weit!«, schrie Rudrinn in den
Wind und zwinkerte Saliah aufmunternd zu.
Mit langen Seemannsschritten kam Kapitän Norwinn
auf seinen Sohn zu. Der alte Pirat umarmte ihn fest. Bei Saliah war
er ein wenig vorsichtiger.
»Möge Rammatoch, der Gott des Meeres, euch
schützen.«
»Euch ebenfalls«, erwiderte Rudrinn, dann nahm er
Saliah an die Hand und sprang auf ein kleineres, älteres
Piratenschiff.
»Rudrinn!«, kreischte Fizzgan. »Wenn Rammatoch dich
holen kommt, kümmere ich mich um dein Mädchen, hihi!« Auf seinem
Gesicht zeigte sich ein zahnloses Grinsen.
»Dann habe ich ja noch einen Grund mehr zu
überleben«, rief Rudrinn zurück und lachte übers ganze Gesicht.
»Das kann ich Saliah nicht antun.«
»Rudrinn! Du bist der verflucht beste Hurensohn von
einem Piraten, den die Meere jemals gesehen haben!«, grölte
Kapitän Norwinn, und die Piraten sämtlicher Schiffe stimmten in
seinen Jubel ein und schrien Rudrinns Namen.
»Er bezeichnet seinen eigenen Sohn als Hurensohn«,
stöhnte Saliah kopfschüttelnd. Sie als Adlige konnte sich noch
immer nicht ganz an den rauen Piratenhumor gewöhnen.
Doch Rudrinn nahm sie in den Arm. »Das könnte daran
liegen, dass meine Mutter tatsächlich eine Hure war!«
Saliah blickte schockiert hoch. Natürlich wusste
sie mittlerweile, dass es bei den Piraten üblich war, dass der Sohn
einer Hure an den Piraten gegeben wurde, den sie für den Vater
hielt, doch wirklich gutheißen konnte sie dies nicht. Aber dann
wurde sie schon abgelenkt, denn fünf Schiffe mit blutroten Segeln
hielten direkt auf sie zu.
»Jetzt wird es spannend«, verkündete Rudrinn. Man
konnte beinahe glauben, dass er sich darauf freute. Er brachte das
Segel des schmalen, wendigen Piratenschiffs in die richtige
Position und stellte sich ans Steuer.
Die anderen Piraten sollten Scurrs Männer so lange
aufhalten, bis Saliah und Rudrinn sicher an Land waren.
Schon bald ertönte der erste Knall, und
Feuerkugeln, von gewaltigen Katapulten geschleudert, versenkten
eines von Scurrs Schiffen im Meer.
»Ha!«, rief Rudrinn. »Das war mein Vater!«
Saliah schluckte. Ihr war nicht wohl bei der Sache,
vor allem da man bald erkannte, dass auch das Ufer schwer bewacht
wurde.
Die Piraten hielten Scurrs Schiffe gut in Schach,
und Rudrinn steuerte immer weiter auf den Strand zu.
»Rudrinn, wir schaffen es nicht«, rief Saliah
besorgt, denn auf dem Landesteg standen jede Menge bewaffneter
Männer. Sie hatten Bögen, Schwerter und Lanzen griffbereit in den
Händen. Zwar war Saliah eine von Thondras Kindern, doch dies waren
eindeutig zu viele Gegner.
»Lass mich nur machen«, versprach Rudrinn, und sein
sonnengebräuntes Gesicht verzog sich zu einem jungenhaften
Grinsen.
Die Wachen am Ufer gestikulierten wild herum, und
Warnpfeile zischten durch die Luft, jedoch ohne Schaden
anzurichten.
Nach kurzer Zeit holte Rudrinn ein Seil heraus und
begann, es um das Steuer zu wickeln.
»Was tust du?« Saliah zog gerade das Segel ein
wenig herum, so wie Rudrinn es gesagt hatte.
»Das wirst du gleich sehen.«
Er prüfte den Wind, dann nahm er Saliah an die Hand
und zog sie zur Reling.
Nun waren sie nur noch wenige Längen vom Landesteg
entfernt. Die Soldaten in roten Umhängen riefen, sie sollten das
Schiff wenden.
Doch Rudrinn gab Saliah einen Kuss und rief:
»Spring!« Damit zog er sie ins Wasser.
Rechts von ihnen hörten sie, wie das Schiff mit
voller Fahrt in den Landesteg krachte und Soldaten
aufschrien.
Rudrinn und Saliah schwammen, so schnell sie
konnten, ans Ufer. An Land zog Rudrinn gleich sein Schwert, als
einer der wenigen überlebenden Soldaten auf ihn zugerannt
kam.
»Hol die Pferde, Saliah, sie haben immer welche bei
den Türmen.«
»Du bist ein verfluchter …«
»Jetzt geh schon!«, schrie er und griff den ersten
Soldaten an.
Auch Saliah musste sich ihren Weg freikämpfen, denn
vom Turm aus hatten wohl einige Wachen mitbekommen, was los war.
Aber schließlich hatte sie zwei große Kriegspferde gestohlen und
galoppierte zu Rudrinn zurück, der mittlerweile in arger Bedrängnis
war.
»Ich hätte doch lieber Fizzgan nehmen sollen«,
sagte Saliah mit zornig funkelnden Augen, als es Rudrinn gelungen
war, sich auf das Pferd zu schwingen.
Rudrinn lachte nur und trieb sein Pferd an. Sie
stürmten weiter in Richtung Osten und hofften, Tirman’oc
rechtzeitig erreichen zu können.
König Scurr schritt erhaben und siegessicher
durch sein Schloss von Balmacann – ja, nun war es sein Schloss,
nicht mehr das von König Greedeon, sosehr es diesem auch
widerstreben mochte. In den einst kunstvoll angelegten Gärten
kampierten nun Soldaten. Orks hatten die Blumen und Büsche
zertrampelt, die Bäume waren zu Feuerholz zerhackt worden. Südlich
des Schlosses lagerte seine Armee, die in etwa fünftausend Orks,
Trolle und andere finstere Wesen umfasste sowie schätzungsweise
dreitausend Soldaten, die er aus Ursann mitgebracht hatte. Doch
jeden Tag wurden es mehr, die über die Brücke aus dem Norden ins
Land strömten. Außerdem verfügte er über etwa zweitausend von
Hawionns Männern aus Camasann, die Scurr jedoch insgeheim
verachtete. Er merkte ihnen an, dass sie nicht die harte Ausbildung
des Nordens genossen hatten. Sie kamen ihm verweichlicht vor, und
in ihren Augen hatte er bereits während der letzten Schlacht
Skrupel gesehen. Daher verließ er sich lieber auf seine eigenen
Männer, die dem Bösen durch und durch ergeben waren.
Als Scurr sich gerade auf seinen Thron gesetzt
hatte und seinen Wein genoss, betrat der grobschlächtige Worran den
Raum und verbeugte sich flüchtig.
»Noch immer keine Spur der Sieben, mein
Herr.«
Scurr fluchte innerlich, ließ sich jedoch nichts
anmerken. »Vernichtet noch mehr Dörfer, lasst weitere Bauern
hängen, denkt euch etwas aus, dann werden sie schon kommen.«
Auf Worrans narbigem, hässlichem Gesicht zeigte
sich
ein böses Lachen. Das war eine Aufgabe nach seinem
Geschmack.
»Sehr wohl, mein Herr, und wenn diese Ratte aus der
Steppe …«
»Die Steppenratte ist ganz allein meine
Angelegenheit«, zischte Scurr.
Worran schluckte und trat rasch den Rückzug an. Vor
Scurr hatte er wirklich Angst. Doch zum Glück traf er unterwegs auf
König Greedeon, der mit missmutigem Gesicht durch sein Schloss
lief. Es machte ihm immer wieder Spaß, den Mann zu verhöhnen.
»König Greedeon!« Worran verbeugte sich
übertrieben. »Wie fühlt man sich als Gast in seinem eigenen
Schloss?«
Augenblicklich lief Greedeon rot an und zog seinen
kostbaren blauen Mantel noch fester um sich.
»Ich rede nicht mit Euch … Abschaum.« Angewidert
verzog er das Gesicht.
Worran war mit einem Sprung bei ihm und hielt ihm
seinen Dolch an die Kehle. »Ihr habt keinen Wert mehr für meinen
Herrn. Ein Wort von mir und Ihr könnt in Thondras Hallen
einziehen.« Dann tat Worran so, als würde er stutzen. »Oh, wobei,
der wird Euch auch nicht mehr wollen!« Er ließ den König los, und
sein dreckiges Gelächter hallte in den Fluren wider.
König Greedeon wusste nicht mehr ein noch aus.
Scurr hatte sein wahres Gesicht gezeigt, und Hawionn war auch keine
Hilfe. Niemand wagte es, sich mit ihm gegen Scurr zu verbünden,
weder Lord Regold noch Lord Geodorn oder einer der anderen
Edelmänner von Balmacann. Alle hatten sie sich wie eine Fahne im
Wind gedreht, als Scurr die Macht für sich beansprucht hatte.
Ich sollte verschwinden,
dachte er. Nur wohin?
In der Nacht vor dem nächsten Halbmond redete
Thalien lange mit allen Menschen, die sich in Tirman’oc versteckt
hielten.
Er versuchte, ihnen Mut zu machen und ihnen Hoffnung zu geben,
obwohl er selbst nicht wusste, ob es welche gab.
»Fünfhundert Elfen halten sich versteckt, die
Zwerge sind unter der Erde bereit, und eure Leute halten sich an
der Grenze des Landes der tausend Flüsse versteckt. Es ist nicht
aussichtslos.«
»Aber Scurr ist in der Überzahl«, wandte Falkann
ein, der an diesem Tag zu den Grenzen geritten war.
»Das ist er«, gab Thalien zu. »Aber warum kämpfen
seine Leute?«
»Aus blindem Gehorsam«, antwortete Ariac mit einer
Spur von Bitterkeit in der Stimme.
Thalien nickte weise. »Die Blutroten Schatten aus
Gehorsam, die Orks aus Dummheit und Blutgier. Und die Krieger aus
Camasann?«
Brogan blickte zu Boden, das schmerzte ihn am
meisten. Erneut würde er gegen seine eigenen Schüler in die
Schlacht ziehen müssen.
»Aus falsch verstandener Loyalität«, antwortete
Broderick stirnrunzelnd. »Auch wir haben eine Zeit lang geglaubt,
dass wir auf König Greedeon und auf Hawionn hören müssen, weil man
es uns beinahe unser ganzes Leben lang beigebracht hat.«
»Aber ihr habt den richtigen Weg gefunden und mit
euch eine ganze Menge anderer Menschen, Zwerge und Elfen«, Thalien
lächelte sie väterlich an, »das sind nun diejenigen, auf die ihr
euch verlassen könnt. Gemeinsam seid ihr stark.«
Nur zu gern wollten sie Thalien glauben, aber die
Zweifel ließen sich nicht so leicht ausräumen.
Mitten in der Nacht wachte Rijana auf. Sie war in
Ariacs Armen eingeschlafen, aber jetzt war er nicht mehr da, das
Fehlen seiner Körperwärme hatte sie wohl geweckt. Sie richtete sich
auf und sah, dass alle um sie herum schliefen. Leise ging
sie durch das Lager und fand Ariac schließlich bei den Monolithen.
Er hatte sein Schwert in der Hand und blickte in den Himmel.
Als er sie hinter sich hörte, drehte er sich nicht
um, sondern flüsterte kaum hörbar: »Es kommt nur auf mich an. Falls
ich versage, ist die Menschheit verloren.« Dann blickte er sie an,
und Rijana konnte die tiefe Verzweiflung in seinen Augen sehen.
»Ich kann diese Last nicht tragen.«
Sie trat zu ihm und legte ihre Hände auf die
seinen, die das magische Schwert hielten.
»Ich trage sie mit dir. Und Saliah, Rudrinn,
Broderick, Falkann, Tovion und all unsere anderen Freunde. Du bist
nicht allein.«
Ariac schloss seine Augen. »Aber ich muss Scurr
töten, nur ich kann es.«
»Wenn es dir in diesem Leben nicht gelingt, dann im
nächsten«, flüsterte Rijana, nahm seinen Kopf in ihre Hände und
küsste ihn. »Und auch dann werde ich an deiner Seite sein.«
»Oh, Rijana …«, keuchte er und ließ sich von ihr in
den Arm nehmen.
Thalien beobachtete die beiden aus der Ferne. Er
hatte gewusst, dass Ariac hier sein würde, und hatte ihm Mut machen
wollen. Doch dann erkannte er, dass Rijana dies wohl besser
gelingen würde. Leise zog er sich in den Wald zurück.
Noch vor dem Morgengrauen brachen sie auf. Je
weiter sie durch Tirman’oc ritten, umso mehr Elfen schlossen sich
ihnen an. Wie aus dem Nichts erschienen hunderte hochgewachsene,
anmutige Gestalten in schimmernden Rüstungen. Ihnen voran ritt
Thalien auf seinem silbergrauen Pferd.
Als sie aus dem Wald traten, hatten alle das
Gefühl, dass sie wieder in der Realität angelangt waren. Der
mystische Schutz der Elfen war verflogen. Die sommerlichen Ebenen
lagen im kalten Wind vor ihnen. Das Gras, das eigentlich hätte
saftig
und grün sein sollen, erstreckte sich bräunlich und bedeckt von
Raureif vor ihnen. In der Ferne sah man eine breite Front, die sich
wie ein blutroter Streifen von der Morgendämmerung abhob – Scurrs
Armee.
Ein wenig Trost brachten gegen Abend die
Verbündeten, die angeführt von Rittmeister Londov und Bali’an
eintrafen. Viele bekannte Gesichter aus Camasann waren dabei, die
die Sieben mit einer Mischung aus Bewunderung, Unglauben und
Respekt betrachteten. Lange Zeit waren sie nur ganz normale Kinder
in der Schule gewesen, doch nun waren sie Kriegsherren, ihre
Anführer und die Hoffnung aller Länder.
Plötzlich löste sich ein roter Haarschopf aus der
Mitte der Krieger. Mit unsicherem Grinsen stand plötzlich Ronda vor
den restlichen Sieben.
»Du liebe Güte, wo kommst du denn her?«, rief
Broderick überrascht aus, umarmte die große Frau jedoch sogleich
freundschaftlich. Ronda war einige Jahre älter als die anderen und
hatte die Schule lange vor ihnen verlassen.
Erleichtert, dass sich Broderick und seine Freunde
noch an sie erinnerten, fuhr sich Ronda durch den halblangen
Haarschopf. »Das Leben als Hofdame hat mir nie sonderlich behagt.«
Sie schnitt eine Grimasse. »Als ich erfahren habe, dass ihr die
Sieben seid, wäre ich beinahe aus meinen bestickten Pantoffeln
gekippt.« Sie musterte Ariac ein wenig argwöhnisch. Auch wenn sie
von überallher gehört hatte, dass er auf ihrer Seite stand, war ihr
jemand, der in Ursann ausgebildet worden war, nicht geheuer und
schon gar nicht, wenn er noch dazu ein Steppenmann war.
»Wir freuen uns über jeden, der an unserer Seite
kämpft«, sagte Tovion ernst.
»Es tut gut, wieder ein Schwert in der Hand zu
haben«, meinte sie nachdenklich und fuhr mit den Fingern über die
glatte Klinge. »Wo sind Saliah und Rudrinn?«
Rijana berichtete ihr vom Vorhaben der beiden und
dass sie
eigentlich jeden Augenblick mit ihnen rechneten. Eine Weile lang
unterhielt Ronda sich mit den restlichen Sieben darüber, wie sie
ihre letzten Jahre verbracht hatte, dann reihte sie sich wieder in
die Reihen der Krieger von Camasann ein.
Etwas später erschien Tja’ris zusammen mit Zauberer
Tomis und an die achthundert Steppenkriegern. Als die Dämmerung
einsetzte, war ein lautes Geräusch aus der Ferne zu hören, das die
meisten Menschen erschreckte. Doch Thalien beruhigte sie lächelnd
und deutete nach Osten. Es dauerte eine Weile, bis alle erkannten,
was seine scharfen Elfenaugen schon lange entdeckt hatten.
Schätzungsweise achthundert schwerbewaffnete Zwerge
in Rüstungen marschierten auf sie zu. Allen voran Bocan, ihr
schwarzhaariger Anführer. Nachdem sie überschwänglich begrüßt
worden waren, fragte Bocan: »Ist mein Vater hier?« Dann biss er
herzhaft in ein Stück geräucherten Schinken.
Als Brogan verneinte, fluchte der Zwerg laut und
warf den Schinken ins Feuer.
Von Spähern bekamen sie Nachricht, dass auf dem
Meer eine gewaltige Seeschlacht tobte. König Scurr hatte seine
meisten Krieger an Land eingesetzt und nicht mit einem Angriff auf
See gerechnet. Nun warteten alle ungeduldig auf Rudrinn und
Saliah.
»Dieser verfluchte Pirat konnte noch niemals
pünktlich kommen«, schimpfte Zauberer Tomis, »schon in meinem
Unterricht kam er immer zu spät.« Er schüttelte missbilligend den
Kopf. »Aber so waren auch schon alle anderen Piraten vor ihm
…«
»Tomis, halt den Mund«, schimpfte Rittmeister
Londov, dem das ewige Genörgel des kleinen Mannes auf die Nerven
ging. »Du machst dir genauso viele Sorgen wie wir alle. Und ich
weiß, dass du Rudrinn ganz besonders gern hast.«
Dem alten Zauberer blieb die Spucke weg. Er
schnappte nach Luft, sprang auf und verschwand in der Nacht.
»Einer musste es ja mal aussprechen«, rechtfertigte
sich Londov, als er das breite Grinsen in den Gesichtern von Brogan
und Rudrinns Freunden sah.
Bis zum Morgengrauen trafen noch etwa sechshundert
Mann ein. Die Elfen hatten sie nach und nach über den Fluss
geführt, und als die Sonne aufging, galoppierten zwei Gestalten auf
das Lager zu.
»Thondra sei gepriesen«, rief Brogan, und sein
Gesicht entspannte sich.
Tatsächlich kamen Rudrinn und Saliah in rasendem
Galopp herangestürmt. Sie sahen ein wenig abgekämpft aus, aber sie
lebten.
Mit seinem typisch frechen Lachen sprang Rudrinn
aus dem Sattel. Dann half er jemandem vom Pferd, den zunächst
niemand erkannte.
»Na zum Glück habt ihr auf uns gewartet, bis der
Spaß losgeht«, rief er fröhlich.
Als ihn jedoch Zauberer Tomis heftig umarmte,
entgleisten ihm doch etwas die Gesichtszüge. Der kleine Zauberer
hatte seine dürren Arme um seine Hüfte geschlungen, woraufhin
Rudrinn so verwirrt auf Tomis hinabblickte, dass alle schmunzeln
mussten.
»Ist er irgendwie krank oder von Scurr verzaubert
worden?«, fragte Rudrinn vorsichtig und zeigte mit dem Finger auf
Tomis, der ihm nicht einmal bis zur Schulter reichte.
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, schniefte
der Zauberer, dann straffte er die Schultern und rief streng: »Du
bist schon wieder zu spät gekommen, Rudrinn, Sohn von
Norwinn!«
Rudrinn lachte nur und deutete auf die Person neben
Saliah. »Wir haben eine Überraschung für euch. Seht nur, wen ich
mitgebracht habe.«
Im ersten Augenblick wussten sie nicht, wer die
Frau war, doch als sie Rijana an ihre Brust drückte, war es ihnen
klar.
»Birrna?«, fragte Broderick fassungslos.
Die sonst immer ordentliche, dicke Köchin von
Camasann war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Deutlich
abgemagert mit zerrissenen Kleidern und wirren grauen Haaren stand
sie nun vor ihnen.
»Ich bin so froh, dass es euch allen gut geht«,
weinte sie und umarmte alle nacheinander. Als sie Ariac erblickte,
hielt sie inne. Zwar hatte Rudrinn erzählt, dass Rijana mit einem
Steppenmann verlobt war, trotzdem konnte sie ihre Unsicherheit
jetzt nicht verbergen.
»Das ist Ariac, wir sind verheiratet«, erklärte
Rijana.
Nach kurzem Zögern nickte Birrna und drückte auch
Ariac an ihren – nun nicht mehr ganz so breiten – Busen.
»Ihr habt geheiratet?«, hakte Rudrinn nach, lief
dann auf Rijana zu und wirbelte sie herum. »Ich freue mich für
dich, kleine Schwester.«
Auch Saliah gratulierte den beiden von ganzem
Herzen.
»Und wenn wir diese lächerliche Anzahl von
Rotmänteln erledigt haben«, scherzte Rudrinn leichthin und machte
eine abfällige Bewegung zu Scurrs Armee hin, »dann wird gefeiert –
und zwar nach Piratenart.«
»Aber bitte nicht wieder dieser Piratenrum«,
protestierte Ariac und zog eine Grimasse.
»Die Guten halten das aus.« Rudrinn zwinkerte ihm
zu.
»So«, sagte Birrna entschieden, »jetzt, wo ich hier
bin, werde ich euch etwas Anständiges kochen.«
»Warum bist du eigentlich hier?«, fragte
Rijana.
Birrna schnaubte. »Auf Camasann war beinahe nichts
mehr für mich zu tun. Selbst die meisten der jüngeren Kinder müssen
nun aufs Festland, um mitzukämpfen.« Sie schnaubte missbilligend.
»Junge Männer von gerade einmal vierzehn oder fünfzehn Jahren. Als
Hawionn verkündete, dass nun gegen euch gekämpft wird«, sie blickte
ihre ehemaligen Schützlinge mütterlich an, »da habe ich mir gesagt:
Birrna, es ist Zeit, sich
auf die richtige Seite zu stellen. Und da bin ich eben von
Camasann geflohen.«
»Das ist gut so!« Rijana umarmte die Köchin. Dann
kam ihr ein erschreckender Gedanke, und sie blickte Brogan
hilfesuchend an. »Thaliens Prophezeiung – die Kinder, die noch auf
Camasann sind, sie werden alle sterben!«
Zauberer Tomis streckte sich, wobei er nicht viel
größer war als die Zwerge, die in der Nähe standen und ihre Waffen
überprüften. »Ich werde nach Camasann reisen und diejenigen holen,
die mir glauben. Hier bin ich ohnehin nicht viel von Nutzen.« Er
blickte Birrna fragend an. »Ich nehme an, dass Hawionn, diese
Schande von einem Zauberer, und Tharn nicht mehr auf Camasann
sind?«
Die Köchin bestätigte seine Vermutung.
»Aber beeil dich, das Ende dieses Zeitalters ist
nicht mehr fern«, warnte Brogan, woraufhin Birrna große Augen
bekam.
Als dann auch noch Bali’an erschien und anbot,
Zauberer Tomis auf seinem schnellen Elfenpferd nach Camasann zu
bringen, fiel sie endgültig in Ohnmacht.
»Ein Elf …«
Bali’an befragte Thalien, was er davon hielt, nach
Camasann zu reiten. Der König vom Mondfluss wirkte
unentschlossen.
»Ich bin mir nicht sicher, wie viel Zeit euch
bleibt. Ihr könnt es versuchen, aber sobald Valwahir, der große
Adler, am Himmel erscheint, müsst ihr einen der geschützten Orte
aufsuchen. Tirman’oc, das Land der tausend Flüsse, das
Donnergebirge oder Silversgaard. Denkt daran.« Er blickte Rudrinn
ernst an. »Hast du die Piraten gewarnt?«
Er versicherte es, hoffte jedoch inständig, dass
sie seine Warnung auch wirklich ernst genommen hatten, denn Piraten
nahmen selten etwas ernst.
Bali’an versprach, vorsichtig zu sein und sich sehr
zu beeilen. Dann stürmte er, mit Zauberer Tomis hinter sich im
Sattel, in Richtung Süden.
An diesem Morgen ließ König Scurr eine große Anzahl
Orks und Trolle vorrücken. Er, Worran, Zauberer Hawionn, König
Greedeon und auch Falkanns Bruder Hyldor saßen in sicherer
Entfernung auf ihren Pferden. Mit einiger Genugtuung sah König
Scurr, dass sie um ein Vielfaches überlegen waren, obwohl sie noch
viele Männer in der Hinterhand hatten.
»König Greedeon«, er verbeugte sich spöttisch, und
seine unheimliche Stimme ließ Greedeon das Blut in den Adern
gefrieren, »Ihr habt die Ehre, Eure Leute selbst anzuführen. Sie
werden als Nächste angreifen.«
Greedeon blieb die Luft weg. Ihm wurde abwechselnd
heiß und kalt – das konnte doch nicht Scurrs Ernst sein!
»Aber mein Herr, ich bin der König von Balmacann
…«
Scurrs hasserfüllte Augen bohrten sich in seine.
»IHR seid ein Nichts. Ihr werdet gehen.« Scurr hob die Hand,
zischte einige Worte, und schon stieg König Greedeon ergeben und
wie von Geisterhand geführt auf sein Pferd. Dann ritt er davon, bis
an die Spitze seiner Soldaten.
Hyldor, der, nachdem Scurr ihm das Schwert in den
Leib gerammt hatte, wieder genesen war, wurde angst und bange.
König Scurr würde mit jedem, den er nicht mehr benötigte, das tun,
was ihm beliebte. Auch in den Augen der anderen anwesenden Lords
sah Hyldor Panik, und zu seiner besonderen Beunruhigung auch in
denen von Zauberer Hawionn. Hyldor war sich sicher, dass sie siegen
würden, aber er musste vorsichtig sein. Scurr war eine nicht zu
unterschätzende Gefahr.
Schreiende Orks rannten über die verdorrten
Ebenen, noch waren sie weit weg.
Thalien hatte die Sieben zu sich gerufen.
»Auch wenn es euch schwerfällt, ihr müsst noch
warten. Wir können nicht riskieren, dass ihr von einem Ork getötet
werdet. Ihr müsst gegen die Blutroten Schatten kämpfen.
Ihr seid zwar Thondras Kinder, aber allein werdet ihr die
Übermacht nicht besiegen können. Ihr seid der winzige Stein, der
die Lawine auslösen wird, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen
bringen wird. Ihr müsst im richtigen Moment zuschlagen, nur der
Schlag eurer Schwerter zur rechten Zeit wird das Schicksal lenken.
Deswegen hat Thondra euch geschickt.«
»Wir können doch nicht die anderen vorschicken«,
regte sich Rudrinn auf, »dann sind wir doch nicht besser als
Scurr!«
Doch der Elf schüttelte den Kopf. »Die Zwerge
werden mit den Orks fertig. Ihr müsst dann eingreifen, wenn die
Schlacht aussichtslos scheint.«
»Nein«, rief auch Broderick, »wir lassen es erst
gar nicht dazu kommen.«
Der König vom Mondfluss packte ihn am Arm und
blickte ihm tief in die Augen. »So war es von jeher, und so wird es
immer sein. Ihr seid die letzte Hoffnung.«
Sosehr sich Broderick dagegen wehrte, er wusste,
dass Thalien die Wahrheit sprach.
Mit einem flauen Gefühl im Magen verabschiedeten
sich die Sieben von ihren Freunden, Verbündeten und Verwandten.
Saliah wollte ihren Vater nicht gehen lassen. Ariac zitterte am
ganzen Körper, als er Rudgarr ein letztes Mal umarmte.
»Ich vertraue dir, Ariac«, sagte der Anführer der
Arrowann, bevor er sich auf sein Steppenpferd schwang.
Im letzten Augenblick wendete Falkann sich noch
einmal an seinen Vater: »Ich verzeihe dir, auch ich habe Fehler
gemacht.« Er rechnete es dem bereits deutlich betagten Mann hoch
an, dass er selbst noch in der Schlacht mitkämpfen wollte.
»Danke, mein Sohn!« Auf König Hylonns von
Kummerfalten durchzogenem Gesicht zeigte sich ein erleichtertes
Lächeln, dann umarmten sie sich noch einmal. Selbst wenn er jetzt
starb, so geschah es in dem Wissen, dass Falkann ihm verziehen
hatte und er auf der richtigen Seite stand. Von neuem Mut erfüllt
setzte er sich an die Spitze seiner Krieger.
Die Zwerge wollten gerade schon losmarschieren, als
sie plötzlich von Osten her eine kleine Armee auf sie zustapfen
sahen. Zunächst glaubten sie, es wären Scurrs Orks, doch dann stieß
Bocan, ihr Anführer, ein raues Lachen aus.
»Mein Vater!«, rief er und rannte auf die Gruppe
von etwa sechshundert Zwergen zu.
Ein für einen Zwerg recht hochgewachsener Mann
umarmte zunächst Bocan, bahnte sich dann aber schnell seinen Weg zu
Thalien und den Sieben. Er war unglaublich breit gebaut und trug
einen langen, gekräuselten Bart, der die Farbe von Eisen hatte.
Eigentlich wirkte er wie ein uraltes Stück Fels. Seine Haut hatte
viele Runzeln und Falten, doch seine Augen strahlten noch immer
Kampfgeist aus.
»Wir sind ein wenig spät«, grummelte er, »mussten
noch ein paar Orks«, er spuckte auf den Boden, »im nördlichen
Gebirge erledigen. Allerdings wurde es ein wenig heiß dort
oben.«
Wie um seine Worte zu bestätigen, bebte die Erde,
und man sah eine Feuerfontäne in den Himmel schießen, viel näher
als jemals zuvor.
Der alte Zwerg streckte sich, sodass es knackte und
krachte. Ob dies nun an seiner mit Nieten besetzten Lederrüstung
lag oder ob es seine Knochen waren, konnte man nicht sagen.
Er ließ seinen Blick über die Sieben schweifen und
nickte anerkennend. »Also falls ihr ein paar Zwerge braucht, würden
wir uns euch anschließen.«
Thalien senkte anmutig den Kopf. »Ich danke Euch
vielmals, Skengaar, König der Zwerge. Ihr seid uns eine große
Hilfe.«
»Hmm«, grummelte der Zwergenkönig, dann schlug er
seinem Sohn, der nun sehr erleichtert wirkte, kräftig auf die
Schulter. »Wenn Bocan mit euch kämpft, werden meine Leute es
ebenfalls tun. Dieser Scurr war von jeher eine Plage.«
Plötzlich drehte Skengaar sich um, stieß einen
ohrenbetäubenden Schlachtruf aus und walzte durch seine eigenen
Männer hindurch direkt auf die Orks zu.
»Der alte Knochen ist noch immer vollkommen
verrückt«, knurrte Bocan und folgte seinem Vater, unterstützt von
sämtlichen Zwergen, vielen Steppenleuten und einigen ehemaligen
Kriegern aus Camasann.
Mit wildem Geschrei und Gepolter stürmten die
Zwerge auf die Orks und Trolle zu. Diese erwiderten das Gebrüll und
stürzten sich auf die Zwerge. Brogan, Thalien, Ariac, Rijana und
die anderen Gefährten sahen gespannt zu. Nur noch wenige
Herzschläge und die Angreifer würden mit einem fürchterlichen
Aufprall ineinanderkrachen. Dann jedoch geschah etwas
Außergewöhnliches. Im letzten Augenblick vor dem Zusammenprall
bildeten die Zwerge zwei Linien. Skengaar brüllte etwas
Unverständliches, und die erste Linie der Zwerge öffnete sich,
gerade in dem Moment, als die Orks und Trolle zuschlagen wollten.
Verdutzt und ungebremst stolperten die Ungetüme in die zweite Reihe
der Zwerge, wo sie schartige Äxte empfingen. Dumpfe Schläge und
schrilles Geschrei hallten durch die Luft. So hölzern und chaotisch
die Zwerge sonst auch waren, hier kämpften sie mit einer tödlichen
Präzision, die Brogan und den Kindern Thondras ein anerkennendes
Nicken entlockte. Schnell jedoch offenbarte sich ihnen die ganze
Grausamkeit der Schlacht. Rijana wandte angewidert den Kopf ab, als
der Geruch des Blutes in ihre Nase stieg und Erinnerungen an alle
vergangenen Schlachten hervorrief. Sie bemerkte, dass es Ariac und
den anderen ebenso erging. Alle zwangen sich ruhig zu bleiben.
Etwas in ihnen wollte vergessen, wollte sich selbst in den Kampf
werfen, um im Töten zu vergessen.
Rijana hielt die Luft an, als sie sah, wie ein
riesiger Troll eine gewaltige Keule auf Skengaar niedersausen ließ.
Sie sah Skengaar tot zusammenbrechen – doch nur vor ihrem inneren
Auge. Tatsächlich riss der alte Zwerg seine Axt nach oben und
blockte den Schlag mit brachialer Gewalt ab. Der Aufprall war so
heftig, dass seine alten Knochen knirschten. Seine Gesichtszüge
verzerrten sich vor Anstrengung, als der Troll die Keule weiter
nach unten drückte. Skengaar hielt für einige Atemzüge dagegen,
dann gab er nach. Jedoch nur, um mit einem Aufschrei seine Axt nach
vorn und oben zu stoßen. Die Spitze, die sich zwischen den beiden
Axtklingen befand, drang tief in die Kehle des Trolls ein, der wie
ein Sack zu Boden fiel. Rijana schüttelte erstaunt und zugleich
erleichtert den Kopf, während der alte Zwerg sich auf den nächsten
Gegner stürzte.
Elfen und menschliche Krieger kämpften Seite an
Seite mit den Zwergen, und so zogen sich die Kämpfe den ganzen Tag
hin. Die Orks und Trolle richteten zum Glück nicht allzu viel
Schaden an. Immer wieder zogen sich Trupps aus Zwergen, Elfen und
Kriegern zurück, um sich, wenn auch nur kurz, auszuruhen. Andere
Einheiten nahmen dann ihre Plätze ein. Diese Kampftaktik
verschaffte den Verteidigern etwas Erholung und sorgte bei den
Trollen und Orks für Verwirrung.
Auch wenn auf der Seite der Sieben deutlich weniger
Krieger standen, so waren es doch unglaublich gute Kämpfer.
Rittmeister Londov machte seinem Ruf als einer der besten
Schwertkämpfer Camasanns alle Ehre und streckte reihenweise Gegner
nieder. Auch die Steppenleute mit ihren ungewöhnlichen Waffen
hielten sich tapfer. Mit Bewunderung blickten viele der jüngeren
Leute auf Krommos, den alten Anführer des Wolfsclans. Mit
unglaublicher Geschicklichkeit führte der betagte Mann mit den
langen schwarzen Haaren und den zahllosen Tätowierungen seine
Lanze. Sein Sohn Narinn bewunderte ihn dafür, wie ausdauernd er
kämpfte und wie er selbst gegen die klobigen Orks oder Bergtrolle
standhielt.
Für die Sieben war es wohl das Schlimmste, untätig
zusehen zu müssen, wie hart ihre Verbündeten kämpften, doch Thalien
ließ sie nicht gehen, und auch Brogan achtete auf sie.
Als die Nacht hereinbrach, war der Boden mit
Leichen übersät. Viele, aber nicht alle, waren Scurrs Orks.
Ariacs Vater hatte eine tiefe Schnittwunde im Bein,
die die Elfen jedoch rasch behandeln konnten. Einige Zwerge waren
tot, viele verletzt, aber insgesamt hatten sie sich gut
gehalten.
»Morgen wird es härter werden«, warnte Brogan und
horchte in die Nacht. Von Ferne hörte man Scurrs Männer auf
Trommeln schlagen. Es klang wie eine schreckliche Warnung.
»Leá, willst du nicht lieber ins Donnergebirge
zurück?«, fragte Falkann an diesem Abend. »Oder nach Tirman’oc,
dort wärst du sicher.«
Doch Ariacs Schwester schüttelte entschieden den
Kopf. Zwar erfüllten sie die Kämpfe mit Entsetzen, aber sie wusste,
dass ihr Platz hier war. »Ich kann kämpfen, und ich bin eine
Heilerin, ich bleibe.«
In dieser Nacht hätte wohl niemand schlafen können,
doch Thalien hatte vorgesorgt. Die Sieben bekamen einen starken
Schlaftrunk sowie diejenigen, die nicht Wache halten mussten.
Schon im Morgengrauen erfolgte der nächste Angriff
der Orks und Trolle. Diesmal waren auch Greedeons Männer dabei. Die
Kämpfe wurden härter, und auf beiden Seiten gab es mehr Verluste.
König Greedeon starb bereits während des ersten Angriffs kurz nach
der Morgendämmerung, niemand trauerte um ihn. Überhaupt schienen
die Angriffe der Männer aus Camasann ein wenig halbherzig, so, als
würden sie zögern. In den Köpfen vieler waren schon seit langer
Zeit Zweifel aufgekommen. War es wirklich richtig, für König Scurr
zu kämpfen? Sollten sie nicht eigentlich auf der Seite der Sieben
stehen, anstatt hier zwischen schmutzigen Orks und Trollen gegen
die eigenen Leute zu kämpfen? Tharn, Schwertmeister von Camasann,
und Zauberer Hawionn trieben sie mit äußerster Härte und Strenge
immer wieder in die Schlacht. Als
sich der Tag dem Ende zuneigte, waren trotz allem beinahe
vierhundert Mann auf die Seite der Sieben übergelaufen.
Zauberer Hawionn bekam einen Tobsuchtsanfall, und
Tharn richtete einen der Überläufer, den er in die Finger bekommen
hatte, vor den Augen aller hin. Das sollte ihnen eine Warnung
sein.
Doch König Scurr blieb überraschend gelassen.
»Es war mir klar, dass einige überlaufen werden«,
verkündete er, und sein Blick war eine offene Drohung für alle, die
geblieben waren. »Die Männer auf Camasann wurden nicht halb so gut
ausgebildet wie meine Leute in Ursann. Hawionn, Ihr habt Weichlinge
hervorgebracht.« Seine Stimme triefte vor Verachtung.
Schwertmeister Tharn, der große schlanke Mann mit
den stechenden Augen, konnte so etwas selbstverständlich nicht auf
sich sitzen lassen. »Wir haben sie sehr gut ausgebildet, was fällt
Euch ein …«
König Scurr fuhr zu ihm herum und tötete ihn mit
einem Blitz. Von Tharn blieb nur noch ein rauchendes Häufchen Asche
übrig. Hawionn sprang entsetzt zurück.
»Er … er war ein guter Hauptmann«, stammelte
er.
»Es spielt keine Rolle. Von Westen her kommen
weitere zweitausend Blutrote Schatten. Ich habe genügend Orks, wir
werden sie vernichten.«
»Natürlich, König Scurr«, stammelte Hyldor
verängstigt. »Von meinen Kriegern aus Catharga ist beinahe keiner
übergelaufen.«
Scurrs Augen bohrten sich in die von Hyldor. »Auch
nur einer ist einer zu viel. Und viele Eurer sogenannten ›Krieger‹
sind bereits mit Eurem verräterischen Vater gegangen.«
Hyldor schluckte und bereute es, überhaupt den Mund
aufgemacht zu haben.
»Ich werde Euch den Kopf meines Bruders bringen«,
versicherte Hyldor.
Doch Scurr winkte gereizt ab. Falkann interessierte
ihn nicht sonderlich.
»Wo ist die Steppenratte?«, knurrte Worran und ließ
die Finger knacken.
»Ariac gehört mir«, stellte Scurr richtig.
Der grausame Ausbilder knirschte mit den Zähnen.
»Dann darf ich wenigstens das Mädchen töten – vor seinen
Augen.«
Scurr zuckte die Achseln. »Von mir aus.«
Fünf Tage zogen sich die Kämpfe hin. Die
Verbündeten der Sieben hielten sich gut, aber Scurrs Armee war
einfach zu groß, um wirklich besiegt zu werden. Auch auf dem Meer
fanden blutige Seeschlachten statt. Die Piraten setzten Scurrs
Männern hart zu und versenkten nach und nach immer mehr ihrer
Kriegsschiffe. Langsam gewannen sie die Oberhand. Es war ihre
verrückte, unerschrockene Art zu kämpfen, die Scurrs Männern zu
schaffen machte. Sicher waren die Blutroten Schatten unerschrocken
und grausam, aber ihre wahre Stärke lag an Land, nicht auf
See.
In Balmacann jedoch sah es anders aus. Die
Dunkelheit, die Scurr verbreitete, wurde größer, sein Hass, der
Hass von Kââr, fraß sich nach und nach an die Oberfläche von Scurrs
ohnehin schon bösartiger Persönlichkeit.
Noch immer waren die Sieben nicht zum Einsatz
gekommen. Außer an ein paar kleinen Randkämpfen hatten sie nicht
mitwirken dürfen. »Ich halte das nicht mehr aus«, schimpfte Rudrinn
eines Abends, »dieses Warten macht mich wahnsinnig!«
Damit sprach er aus, was alle dachten. Sie konnten
nur zusehen, aber nichts unternehmen. Die Untätigkeit wurde
unerträglich. Immer wieder fielen Männer, an deren Seite sie hätten
kämpfen müssen, mit schmerzverzerrten Gesichtern auf die
blutdurchtränkte Erde.
»Eure Zeit wird kommen«, versprach Brogan, aber das
half jetzt niemandem.
Eine freudige und vollkommen unvorhergesehene
Überraschung erwartete die Sieben gegen Abend. Zunächst wussten sie
nicht, weshalb sich die Menschen teilten, aber dann erschien eine
Gruppe von schätzungsweise fünfhundert kleinen, pelzigen Wesen. Sie
reichten den meisten Männern nicht einmal bis zur Hüfte, das
struppige, grau-braune Fell stand ihnen wirr von den Köpfen ab. Sie
wurden von Tja’ris und Elli’vin zu den Sieben geführt.
»Finstergnome!«, staunte Rijana, und ihre
Verwunderung wuchs, als sich der größte von ihnen, es war ihr
Anführer, direkt vor ihr aufbaute.
Er knurrte etwas in seiner kehligen Sprache,
deutete auf seine Keule, dann auf seine Gefolgschaft, woraufhin
sich zustimmende Schreie erhoben. Anschließend legten alle
Finstergnome ihre Waffen, meist Keulen oder kurze Speere, auf die
Erde und knieten vor den Sieben nieder.
»Sie sind gekommen, um für euch zu kämpfen«,
erklärte Tja’ris.
Elli’vin, die Rudrinns skeptischen Blick gesehen
hatte, ging zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Unterschätz sie
nicht, wenn es sein muss, sind sie gefährliche Krieger.«
Alle Blicke wanderten zu Rijana. Der Anführer der
Finstergnome kniete noch immer vor ihr, und seine dunklen,
kugelrunden Augen wirkten erwartungsvoll.
Nach einem zustimmenden Nicken von ihren Freunden,
beugte sich Rijana zu ihm hinab. Klar und deutlich sagte sie, denn
Finstergnome verstanden die Sprache anderer Völker nur
bruchstückhaft: »Es wäre uns eine Ehre, wenn ihr euch unserem Kampf
anschließt.«
Der Anführer der Finstergnome stieß einen kehligen
Schlachtruf aus, und schon stürmte seine gesamte Gefolgschaft aufs
Schlachtfeld. Zunächst riefen die kleinen Wesen bei den
Gegnern Spott und Hohn hervor, doch der verging Scurrs Männern
schnell, denn nicht wenige starben mit einer finstergnomischen
Keule in den Eingeweiden. Woher die kleinen Wesen so plötzlich
kamen, war jedoch ein Rätsel, das sich an diesem Tag nicht mehr
lösen sollte.
Nächtlicher Regen hatte die Ebenen aufgeweicht.
Nun hing Nebel über dem Land wie ein Leichentuch für die vielen
Toten, deren Blut mittlerweile Balmacanns Boden tränkte.
»Heute schlagen wir zu, heute vernichten wir sie«,
verkündete Scurr. Seine zweitausend Blutroten Schatten waren nicht
mehr fern und warteten auf ihren Einsatz.
»Worran, hol sie.«
Auf dem Gesicht des Ausbilders zeigte sich
Blutdurst. »Aber denkt daran, das Mädchen gehört mir.«
»Dir gehört überhaupt nichts«, zischte Scurr. Hier,
im Angesicht seiner Feinde, der Widersacher, die ihm seit
Jahrtausenden das Leben schwer gemacht hatten, war sein wahres Ich
wiedererwacht – Kââr, der Zauberer von Ursann, der mächtigste und
furchteinflößendste Mann seiner Zeit. Norgonn, einer der Sieben,
hatte es beinahe geschafft, ihn zu vernichten. Damals, in den
Bergen von Ursann. Lange verdrängter Hass flammte in Kââr auf. Er
war viele Jahrhunderte lang als Geist durch Ursann geirrt, hatte
sich irgendwann in die Köpfe der herrschenden Könige
eingeschlichen, ihnen etwas von Macht und Reichtum zugeflüstert,
bis er auch ihre Körper ganz beherrscht hatte. Viele Leben hatte er
gelebt, viele Schlachten gewonnen, doch immer war er an Ursann
gebunden gewesen. So lange, bis König Scurr aufgetaucht war. Ein
von Natur aus grausamer und herrschsüchtiger Mann mit der Begabung
zur Magie. Von ihm war nicht mehr viel übrig, nur sein magisches
Talent und sein Hass, der sich mit dem von Kââr verbunden hatte.
Nun waren sie eins, und ihre Macht war so stark wie nie
zuvor.
Scurr war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass
Ariac Norgonn gewesen war, doch genau wusste er es nicht.
Vorsichtshalber würde er eben alle Sieben töten müssen. Aber
zuallererst den Steppenkrieger, den hasste er am meisten. Er hatte
sich ihm so lange widersetzt, selbst seinen Bann hatte er
gebrochen. Niemals hätte Scurr es zugegeben, aber solche Dinge
machten ihm Angst. Er hatte in seinen Büchern und Schriftrollen
nachgesehen und einen noch stärkeren Zauber gefunden. Diesmal würde
Ariac ihm nicht entkommen.
»Angriff«, befahl Scurr ganz leise, doch ein jeder
hörte es, und tausende von Soldaten und Orks stürmten auf die
Feinde zu. Die Reihen der Feinde wurden um die Blutroten Schatten
und weitere Orks verstärkt. Wie eine gigantische Welle rollten sie
über die ermüdeten Schwerter und Äxte der Elfen, Zwerge und Krieger
hinweg.
Thalien spürte es als Erster. Etwas hatte sich
geändert. Die Kämpfe der letzten Tage waren hart gewesen, aber
immer noch zu bewältigen. Noch hatte Scurr nicht all seine Kräfte
eingesetzt, denn zuerst wollte er sie wohl zermürben. Aber heute
herrschte eine eigenartige Stimmung, die durch den Nebel noch
verstärkt wurde, gerade so, als wollte dieser sich verdichten, um
ihnen die Luft zu nehmen.
»Macht euch bereit«, befahl der Elfenkönig, und die
Sieben sprangen auf.
Nelja umarmte Tovion ein letztes Mal, dann stiegen
sie auf ihre Pferde. Auch Leá schloss sich ihnen an. Als sie
Falkanns besorgten Blick sah, sagte sie augenzwinkernd: »Ich bleibe
in deiner Nähe. Wo kann ich besser aufgehoben sein als neben einem
der Kinder Thondras.«
»Mögen die Götter mit euch sein.« Brogan blickte
die jungen Leute an. Auch er würde mit ihnen kämpfen und sich seine
magischen Fähigkeiten zunutze machen.
Thalien ritt mit seinem silbernen Hengst auf einen
kleinen
Hügel. Sein Wesen strahlte Macht und Weisheit aus. Ganz in der
Ferne hörte man Hufschläge, die Tritte vieler Füße und das Rasseln
von Waffen, seltsam und unheimlich durch den Nebel gedämpft.
Der Elf hob die Hände zum Himmel und sprach einige
machtvolle elfische Worte. Ein leiser Wind erhob sich. Kurz sah es
so aus, als ob der Nebel mit dem Wind ringen würde, dann riss der
Nebel auf, und man konnte die Heerscharen von Gegnern, die sich von
Norden und Westen her miteinander vereinigten, sehen. Eine
unfassbar große Streitmacht kam geradewegs auf sie zu, gewaltig
und, wie es schien, unaufhaltsam.
»Du liebe Güte«, keuchte Saliahs Vater, der wegen
einer Verletzung nicht mehr kämpfen konnte und nun in einiger
Entfernung neben Nelja stand, die ebenfalls reichlich blass wirkte.
»Möge Thondra mit ihnen sein.«
Lenya tänzelte unter Rijana auf der Stelle. Auch
die Stute war von der allgemeinen Unruhe ergriffen. Gerade prallten
Steppenkrieger, Zwerge und Elfen auf eine Wand aus Blutroten
Schatten und Orks.
Die Sieben und Leá standen auf einer kleinen Anhöhe
und warteten auf Thaliens Zeichen. Ganz in der Ferne konnte man
eine große, hagere Gestalt sehen, die, von Soldaten eskortiert,
langsam näher rückte.
»Scurr.« Ariac umfasste sein silbernes Schwert
fester.
»Wir sind bei dir«, versprach Rudrinn, aber auch er
war sehr aufgeregt und warf einen besorgten Blick auf Saliah, die
mit großen Augen auf ihrer Schimmelstute saß.
»Diesmal bin ich auf deiner Seite.« Falkann ritt zu
Ariac und sah ihm in die dunklen Augen. Er hatte das Gefühl, dies
noch einmal versichern zu müssen.
»Ich weiß.« Der junge Steppenkrieger lächelte
vorsichtig. Er traute Falkann so wie jedem seiner Freunde.
Das Ende des heutigen Kampfes schien vorhersehbar.
Sie würden von Scurrs Männern überrannt werden. Selbst die Zwerge
und Finstergnome begannen, sich widerstrebend zurückzuziehen.
Da hob Thalien die Hand, und ein Lichtstrahl fuhr
durch den bleigrauen Himmel, der den Elfen in einem überirdischen
Licht erscheinen ließ.
Nun ist es an dir, Ariac,
ertönte eine Stimme im Kopf des Steppenkriegers, und die weisen
Augen des Elfen schienen trotz der Entfernung unglaublich nah.
Zügle deinen Hass, nur so kannst du
gewinnen.
Von Aufregung ergriffen, jedoch zugleich froh,
endlich handeln zu können, setzte sich Ariac mit Nawárr an die
Spitze seiner Freunde. So schnell sie konnten, galoppierten sie
zunächst durch ihre eigenen Leute, die ihnen respektvoll Platz
machten. Anschließend sprengten sie eine Schneise durch die Reihen
von Scurrs Männern. Endlich konnten die magischen Klingen von
Thondras Kindern ihren tödlichen Tanz beginnen.
Ariac hielt direkt auf seinen Widersacher zu. Zwar
konnte er Scurr selbst nicht sehen, aber sein Instinkt leitete ihn.
Rijana galoppierte schwertschwingend nur wenige Schritte hinter
ihm.
Hoffentlich passiert ihr
nichts, dachte er immer wieder. Doch dann zwang er sich, diese
Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. So etwas würde ihn nur von
seiner Aufgabe abhalten.
Nach und nach kämpften sich die Sieben mit Hilfe
ihrer Verbündeten durch die feindlichen Reihen. Es waren harte
Kämpfe, jeder einzelne Sieg der Sieben musste regelrecht erzwungen
werden. Doch letzten Endes waren sie Thondras Kinder, die besten
Krieger, die es jemals gegeben hatte, und immer wieder fielen ihre
Gegner tot zu Boden. Jeder von ihnen kämpfte mit eisernem Willen.
Viele ihrer Verbündeten, die müde und verzagt waren, schöpften
neuen Mut, als sie die Sieben
kämpfen sahen, ihre Anführer, ihre Hoffnung. Noch einmal stürzten
sie sich mit aller Kraft in den Kampf und schrien Schlachtrufe über
die Ebenen.
Besonders Falkann hielt Ariac den Rücken frei. Er
hatte das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen. All seine Fehler,
seine verräterischen Gedanken – die aus diesem Leben und die aus
den vorherigen. Er steckte einen harten Treffer am Bein ein, um
Ariac vor der Keule eines Orks zu bewahren. Stumm dankte er Tovions
Vater für die hervorragend gearbeitete Beinschiene, die das
Schlimmste abhielt.
Tovion wurde von einem Blutroten Schatten mit
dessen Pferd beinahe gerammt. Im letzten Augenblick gelang es ihm,
sein Pferd zur Seite zu lenken. Gleichzeitig rauschte seine Klinge
durch die Luft und trennte den Kopf seines Angreifers von dessen
Schultern. Saliah geriet in Bedrängnis, als sie mit ihrem Pferd
stürzte und aus dem Sattel geschleudert wurde. Nun war sie von den
anderen abgeschnitten. Schwerter sausten auf sie nieder, sie duckte
sich, rammte ihr eigenes einem Angreifer in den Bauch und zog es
sofort zurück, um sich zu drehen und einen Schlag von oben zu
parieren. Für einen Gegenangriff blieb ihr keine Zeit, da bereits
zwei Orks auf sie zustürmten. Wieder einmal war sie von der Wucht,
mit der die großen, klobigen Wesen zuschlugen, überrascht. Ihre
dicke, gräulich-braune Haut konnte man kaum mit dem Schwert
durchdringen. Boshafte kleine Augen fixierten sie aus derben
Gesichtern, die meist kaum Kopfbehaarung aufwiesen. Mit einigen
gezielten Schlägen brachte Saliah den einen der Orks zwischen sich
und den anderen Ork und tötete ihn, ehe dieser begriff, was
geschah, indem sie ihren Dolch aus dem Gürtel zog und direkt in
sein Auge warf. Der zweite Ork war vorbereitet, täuschte einen
Schlag von oben an, zog die Waffe jedoch seitlich an Saliahs Kopf
vorbei nach unten. Hätte sie in diesem Augenblick nicht einen Speer
abwehren müssen, der aus dem Schlachtgetümmel direkt auf sie
zugeflogen kam, hätte sie der
Keule des Orks womöglich ausweichen können, so traf sie diese
jedoch am Oberschenkel. Saliah schrie auf. Zwar war ihr Bein nicht
sehr schwer getroffen, doch der Schmerz lähmte sie. Der Ork grinste
boshaft und entblößte dabei scharfe Reißzähne. Speichel sabberte
aus seinem Mund. Wieder schwang er die Keule mit einem bösartigen
Grunzen, doch dieses Mal sauste sie direkt auf Saliahs Kopf herab.
Saliah riss ihr Schwert nach oben und sprang blitzschnell zur
Seite. Die Keule sauste vorbei, doch der Ork riss sie zurück und
ließ sie wieder auf seine Gegnerin heruntersausen.
Doch plötzlich fiel die Keule zu Boden und mit ihr
der abgetrennte Arm der unglücklichen Kreatur.
»Rudrinn«, rief Saliah erleichtert. Der Pirat
tötete den Ork kurzerhand und verschaffte seiner Geliebten somit
einige wertvolle Atemzüge, in denen sie sich wieder auf ihr Pferd
schwingen konnte. Kurz darauf war auch Falkann bei ihr, und
gemeinsam bezwangen sie einen Gegner nach dem anderen. Rasch
kämpften sie sich zu Broderick und Tovion durch, deren Klingen rot
glänzten. Die Schlacht um die Sieben herum tobte unvermindert
weiter. Immer wieder warfen Elfen, Zwerge, Steppenkrieger und
verbündete Menschen einen Blick auf sie. Zwar war es ein
schrecklicher, fürchterlicher Tag, aber Thondras Kinder waren an
ihrer Seite. Das spornte sie an.
Brogan musste sich gewaltsam davon abhalten,
ständig nur auf die Sieben zu starren, denn auch er musste hart um
sein Leben kämpfen. Wenn er neben sich blickte, sah er, dass es
Nelja ebenso erging.
»Vorsicht«, schrie er, als die junge Frau beinahe
von einem riesigen Bergtroll überrannt worden wäre.
Im letzten Augenblick gelang es ihm, das Ungetüm
mit einem Feuerblitz aus seinem Stab aufzuhalten. Er packte Nelja
hart am Arm.
»Tovion nützt es nichts, wenn du stirbst, also reiß
dich zusammen!«
Mit erschrocken aufgerissenen Augen nickte die
junge Zauberin, sosehr sie sich auch um Tovion sorgte, jetzt musste
sie auf sich selbst aufpassen.
Nelja war eine gute Zauberin, und ihre magischen
Blitze rissen große Löcher in die Reihen der Feinde. Sie und Brogan
glichen die Übermacht des Feindes ein klein wenig aus, doch leider
hatten auch die Gegner Zauberkräfte. Immer wieder sah man gewaltige
tödliche Blitze, die wohl von Hawionn und Scurr stammten.
Mittlerweile näherten sich die Sieben Scurr immer
weiter. Dabei drohten sie ständig getrennt zu werden.
Nun sah Ariac Scurr aus nächster Nähe, wie der mit
siegessicherem Blick auf einem großen Fuchshengst saß. Noch einmal
drückte er Nawárr die Fersen in die Flanken, und das Pferd rammte
einen riesigen Ork, der zu Boden ging, dann stand er vor
Scurr.
Langsam und erhaben stieg Scurr von seinem Pferd
und befahl seinen Männern zurückzuweichen.
Ariacs Freunde stellten sich hinter Ariac auf und
schlugen nach Scurrs Blutroten Schatten – eine Kriegerelite gegen
die andere.
»Du kommst immer wieder zu mir zurück.« Scurrs
Stimme triefte vor Hohn.
Ariac stieg ebenfalls von seinem Pferd. »Um dich zu
vernichten.«
»Nicht doch, du bist doch schließlich ein Sohn
Ursanns«, erwiderte Scurr zynisch.
Mit einer Handbewegung ließ Scurr einen Lichtblitz
vor Rijanas Stute fahren. Lenya stieg, sodass Rijana abgeworfen
wurde.
Erschrocken fuhr Ariac herum und wollte ihr schon
helfen, aber sie stand zum Glück bereits wieder und umfasste ihr
Schwert fest.
Scurr lachte teuflisch. »Das Mädchen wird dein Ende
sein.«
Ariac wusste, dass er sich nun nicht um Rijana
kümmern durfte, so schwer es ihm fiel. Aber Rudrinn und die anderen
würden auf sie achten, da war er sich sicher.
»Ich werde dein Ende sein, Kââr«, erwiderte Ariac
und wurde nun ganz ruhig. Er begann, den König zu umkreisen. »Ich
war in meiner ersten Schlacht Norgonn, und schon damals hast du
mein Schwert gespürt.«
Unwillkürlich und kaum sichtbar zuckte Scurr
zurück. Sein Gefühl hatte ihn also doch nicht getrogen. Ariac war
Norgonn. Als der Steppenkrieger seine glänzende Klinge hob, fühlte
sich Scurr, als griffe eine eiskalte Hand nach seiner Kehle.
Tatsächlich konnte sich ein Teil von ihm an den Schmerz erinnern.
Doch dann hatte er seine Angst wieder unter Kontrolle.
König Scurr zischte einen Zauberspruch, der Ariac
wie ein Schlag traf. Er taumelte ein wenig, doch Thaliens Amulett
schützte ihn. Nur ganz schwach hörte er Scurrs, oder wohl eher
Kâârs, unheimliche Stimme in seinem Inneren. Töte das Mädchen, du musst mir dienen.
Einen winzigen Augenblick lang überlegte Ariac,
dann täuschte er vor zu taumeln. Dabei bemühte er sich, seinen
Augen einen starren Blick zu verleihen, und verbeugte sich
schließlich vor Scurr, bevor er auf Rijana zuging.
Rijana gefror das Blut in den Adern. Auch sie hatte
Scurrs Magie gespürt, aber sie hatte gehofft, dass Ariac durch den
Elfenzauber geschützt war. Hektisch blickte sie sich nach ihren
Freunden um, aber die waren im Moment alle in Kämpfe
verwickelt.
»Ariac, nicht, du musst dagegen ankämpfen«, schrie
sie, als er auf sie zugewankt kam, begleitet von Scurrs
unheimlichem Gelächter.
Dann, für den Bruchteil eines Augenblicks, sah sie,
wie er ihr zulächelte und kaum merklich nickte.
»Spiel mit, Rijana«, flüsterte er, als er seinen
Dolch zog und so tat, als würde er ihn ihr in die Seite
rammen.
Sie schrie sehr überzeugend auf und sackte dann in
sich zusammen.
»Rijana!«, schrie Rudrinn entsetzt, als er sah,
wie sie scheinbar getötet wurde. Sofort wollte er zu ihr eilen. Ein
Blitz von Scurr ließ allerdings auch sein Pferd zu Boden gehen, und
Rudrinn wurde in die Menge geschleudert.
Ariac hatte Rijana aufgehoben und ging nun mit
starrem Blick auf König Scurr zu. Zum Glück hatte Rijana überall
auf ihren Kleidern Blutspritzer, sodass es nicht sofort auffallen
würde, dass sie gar nicht verletzt war.
Langsam legte der Steppenkrieger sie vor Scurr auf
den Boden und senkte den Kopf.
»Gut, Ariac, nun weißt du endlich, wer dein Herr
ist«, triumphierte der dunkle Herrscher. »Nun sieh, was du
angerichtet hast, bevor du stirbst.« Er hob die Hand und wollte den
vermeintlichen Bann lösen, doch da sprang Ariac nach vorn und
stürzte sich mit seinem silbernen Schwert auf Scurr. Auch Rijana
sprang wieder auf und brachte sich rasch hinter Ariacs Rücken in
Sicherheit.
Für einen Augenblick war König Scurr überrascht. Er
konnte nicht verstehen, dass sein Zauber nicht gewirkt hatte. Nur
seine Reflexe retteten ihn noch, als Ariacs Schwert auf ihn
niedersauste. Daher wurde er nicht tödlich verletzt, nur ein langer
roter Riss zeigte sich auf seiner Brust. Scurr war irritiert, doch
sofort loderte Boshaftigkeit in seinen Augen auf, und erneut
sammelte er die Magie in sich und warf sie Ariac entgegen. Wieder
taumelte der Steppenkrieger zurück, doch das Amulett bot nach wie
vor Schutz.
Dann folgte ein weiterer Blitz, doch Ariac blieb
unverletzt. Allerdings merkte er, wie jeder Angriff von Scurr ihn
schwächte. Daher beschloss er anzugreifen. Blitzschnell bewegte er
sich auf Scurr zu und deckte ihn mit Schlägen ein, die dieser
zunächst parierte. Ein erneuter magischer Angriff des dunklen
Zauberers blieb ohne Wirkung.
Scurr war fassungslos, doch er sammelte sich und
sandte einen magischen Strahl in den Boden, der die Erde aufriss,
und taumelte dann zurück. Ariac hatte ihn verletzt, und es war ihm
gelungen, den Bann zu überwinden. Scurr konnte es nicht fassen. Für
ihn war es Zeit, sich zurückzuziehen.
»Worran«, schrie Scurr und schwang sich auf seinen
Hengst.
Der grobschlächtige Ausbilder schlug sich seinen
Weg zu ihm frei. Zu seiner Überraschung sah er, dass König Scurr
verletzt war, und blickte ihn ein wenig dümmlich an.
»Du kannst ihn haben, bring ihn um«, zischte
Scurr.
Worrans Blick fiel auf Ariac, der gerade gegen
einen der Blutroten Schatten kämpfte, und auf das hübsche Mädchen,
das ihm den Rücken freihielt.
»Aber gerne doch.« Worran schlängelte sich
geschickt durch die Kämpfenden, stieß einen seiner eigenen Männer
zu Boden, weil er im Weg war, und stand plötzlich vor Ariac.
Weil dieser einen Augenblick lang unachtsam war, da
er Scurr hinterherblickte, gelang es Worran, einen Hieb zu
platzieren. Sein schartiges Schwert riss Ariac den Unterarm
auf.
»Na endlich«, knurrte Worran und deckte ihn mit
Schlägen ein.
Ariac wich zurück und versuchte, sich Platz zu
schaffen. Er duckte sich unter einigen von Worrans kraftvollen
Schlägen hinweg, dann gelang es ihm, den Ausbilder am Bein zu
treffen. Worran grunzte, schlug aber weiter auf Ariac ein. Der war
etwas unkonzentriert, denn er dachte darüber nach, wie er sich
Scurr schnappen konnte. Als er sich kurz umdrehte, sah Worran seine
Chance. Er trat Ariac gegen das Knie, und
der Steppenkrieger strauchelte. Doch bevor Worran nachsetzen
konnte, traf ihn plötzlich ein heftiger Schlag im Rücken, der ihm
die Luft aus den Lungen drückte. Nawárr stand auf den Hinterbeinen,
die Augen blutunterlaufen und die Ohren flach an den Kopf angelegt.
Worran fiel vor Ariacs Füßen hin und schnappte nach Luft.
Nun war Rijana an Ariacs Seite und half ihm
auf.
»Bist du in Ordnung?«
Er nickte und blickte etwas unentschlossen von
Worran auf Scurr.
Worran, sein ärgster Feind, endlich konnte er ihn
erledigen. Erinnerungen an all die Grausamkeiten Worrans kamen ihm
in den Sinn, und brennender Zorn flammte auf.
Du musst deinen Hass zügeln,
sonst wird er dir im Weg sein. Kurz zögerte Ariac, so viele
Jahre lang hatte er den Wunsch gehabt, Worran für seine Gräueltaten
bezahlen zu lassen, doch dann wanderte sein Blick zu dem fliehenden
Zauberer.
Ariac straffte die Schultern. Plötzlich waren seine
Rachegedanken wie weggeblasen. Worran war bedeutungslos und ein
Nichts, er musste Scurr erledigen, das war seine Aufgabe.
»Übernimmst du ihn?« Ariac sah Rijana auffordernd
an.
»Natürlich, geh!«
Ariac saß bereits auf Nawárrs Rücken und sprengte
Scurr hinterher, als Rijana ihr Schwert zog und es Worran in die
Brust trieb.
»Du hast ihn niemals brechen können!«
Plötzlich war Rijana unglaublich müde. Sie ließ ihr
Schwert sinken und zuckte nur kurz zusammen, als Rudrinn sie am Arm
packte. Endlich hatte er sich zu ihr durchgekämpft.
»Was sollte das denn vorhin?«
»Es war ein Trick«, erklärte sie und versuchte,
etwas von Ariac zu entdecken, doch der war nicht mehr zu
sehen.
»Wer war der Kerl?«, fragte Rudrinn angewidert und
stieß mit einem Fuß den toten Körper an.
»Worran.«
Er grinste, und für einen Augenblick kam unter dem
blutbespritzten, erschöpften Krieger der alte Rudrinn hervor.
»Na der wird aber frustriert sein, dass ein Mädchen
und ein Pferd für sein Ende verantwortlich sind. Er wird in den
Hallen der Götter fluchen wie ein Schmied.«
Gegen ihren Willen musste Rijana lachen, dann rief
sie nach Lenya.
»Was hast du vor?«, rief Rudrinn, während er einen
kleinen Ork kampfunfähig schlug.
»Ariac helfen.« Rijana schwang sich auf das
Pferd.
»Warte, ich …«, begann Rudrinn, doch da war sie
schon fort. »… habe kein Pferd«, beendete er den Satz. Anschließend
konnte er sich nicht mehr um sie kümmern, denn er sah, dass Saliah
in arger Bedrängnis war, und eilte ihr zu Hilfe.
Thalien spürte am ganzen Körper, dass das Ende
nahte. Die Sieben und ihre Verbündeten kämpften verzweifelt,
dennoch schien eine Niederlage unausweichlich. Nach und nach wurden
sie von Scurrs Männern überrannt. Der Wind nahm an Stärke zu, die
Berge im Norden spien unablässig Feuer, und immer stärker werdende
Erdbeben ließen den Boden erzittern. Thalien fühlte es. Mit aller
Macht und unabwendbar nahte ein neues Zeitalter.
Hoffentlich kann Ariac Scurr
vernichten, damit dieser böse Geist vom Angesicht unserer Erde
verschwindet, hoffte er und blickte sich nach dem
Steppenkrieger um. Zunächst konnte er ihn in dem Chaos aus Blut,
Schwertern und Körpern nicht sehen, doch dann entdeckte er mit
seinen scharfen Elfenaugen, wie er König Scurr
hinterhereilte.
Beeil dich, mein
Junge!
Wie ein Berserker kämpfte sich Ariac durch Orks,
Trolle und Blutrote Schatten, die König Scurrs Flucht zu decken
suchten.
Für ihn gab es nur ein Ziel: ihn zu töten. Die Zeit drängte, das
spürte er.
König Scurr dagegen war geschwächt und brauchte
Zeit, um sich zu sammeln. Seine ruhige Selbstsicherheit und
Überlegenheit war in sich zusammengefallen. Ariac und seine Freunde
hatten ihn erneut überlistet.
Auf seiner planlosen Flucht lief er Hyldor über den
Weg, der gerade wild um sich schlug.
»Halte den Steppenkrieger auf!«, schrie Scurr
panisch.
Hyldor drehte sich um und sah Ariac auf Nawárr
durch das Schlachtgetümmel sprengen. Als er den kopflosen Scurr
sah, erfasste ihn Panik. Hatte er sich doch getäuscht? Waren sie
doch nicht überlegen?
Bevor er etwas unternehmen konnte, war Ariac schon
an ihm vorbeigeprescht, dicht hinter Scurr her, der nun auf eine
Anhöhe zuhielt.
Endlich hatte Ariac seinen Feind erreicht. Nawárr
war schweißüberströmt und schnaufte heftig.
»Danke, mein Freund«, murmelte Ariac, dann sprang
er König Scurr von hinten an und riss ihn vom Pferd.
Der konnte so schnell nicht reagieren, rollte sich
dann jedoch zur Seite, als er auf dem Boden aufschlug. Durch Magie
entriss er einem überraschten Soldaten das Schwert und stellte sich
Ariac gegenüber. Scurr war ein guter Schwertkämpfer, jedoch kein
überragender. Seine Stärke lag in der Magie, doch die schien bei
Ariac im Moment kaum hilfreich zu sein. Bei Kââr war das anders
gewesen. Der abgrundtief böse Zauberer war ein hervorragender
Schwertkämpfer gewesen, und da sein Geist Scurrs Verstand nun
vollkommen durchtränkt hatte, stürzte Scurr sich plötzlich und
überraschend auf Ariac. Rasend schnell wirbelte er die Klinge, die
er dem verdutzten Soldaten entrissen hatte, nach vorn. Nur seine
Reflexe retteten Ariac das Leben. Den ersten zwei Angriffen Scurrs
entkam er durch rasches Ausweichen, was ihm beim dritten Hieb nicht
mehr gelang. Im letzten Augenblick brachte Ariac seine Klinge
zwischen die von Scurr und seine Kehle. Scurr drängte weiter nach
vorn. Er hatte den Vorteil, dass er ausgeruht war, während Ariac
schon viele Kämpfe in dieser Schlacht geschlagen hatte. Seine Arme
wurden schwerer, während die Schläge von Scurr immer rasender
wurden. Scurrs Klinge zuckte, Ariac machte einen Schritt nach
links, schlug die Klinge seines Feindes kurz zur Seite und zielte
auf dessen Kehle. Scurr duckte sich jedoch und rollte zur Seite,
nur um sofort wieder hochzuspringen und mit harten Schlägen
anzugreifen. Ariac parierte nur noch reflexartig. Zum Nachdenken
blieb keine Zeit.
Würde er wieder versagen? Wäre wieder alles
verloren? Er dachte an Rijana, an seine Freunde, an den Clan der
Arrowann und an diejenigen, die unter Scurrs Herrschaft zugrunde
gehen würden. Noch einmal sah er sich vor seinem geistigen Auge in
der letzten Schlacht von Catharga unterhalb des Teufelszahns, als
sein Name Dagnar gewesen war. Er sah die dunklen Wolken am Himmel
und die schreckliche Schlacht, erlebte, wie Nariwa einen
aussichtslosen Kampf ausfocht, spürte die Verzweiflung in ihren
Augen, dann den unheilvollen Augenblick, der sich für immer in sein
Herz, nein, in seine unsterbliche Seele gebrannt hatte. Er sah, wie
der Feind mit einem teuflischen Grinsen Nariwa das Schwert in den
Rücken rammte.
»Neeeiiin!« Dagnars Schrei hallte über die Ebene
von Catharga, durch die Zeit hinweg bis zum heutigen Tag, wo er zu
Ariacs Schrei wurde, während Scurrs Klinge bereits auf sein Herz
zuraste. Der Steppenkrieger riss sich aus seinen Gedanken, gerade
noch rechtzeitig, um das Schwert seines Gegners zu parieren. Zorn
funkelte in seinen Augen, und sein Schwert begann einen tödlichen
Tanz. Es zuckte schnell nach vorn, immer wieder, immer schneller.
Ariacs Schläge wurden immer härter, so, als hielte nicht nur er
sein Schwert fest, sondern auch noch Dagnar und Norgonn und all die
anderen, die
er einmal gewesen war. Vielleicht führte sogar Thondra selbst sein
Schwert.
Scurr wich zurück. Egal wie mächtig er oder Kââr
waren, er konnte nicht mehr dagegenhalten. Er begann zu stolpern
und musste schmerzhafte Verletzungen von Ariacs Klinge einstecken.
»Verschwinde, Ariac, du siehst, dass meine Krieger in der Mehrzahl
sind«, schrie Scurr plötzlich verzweifelt und sandte noch mal einen
gefährlichen Blitz auf Ariac.
Der taumelte allerdings nur ganz leicht zurück und
packte sein Schwert anschließend noch fester.
»Ich muss dich vernichten, das weißt du.«
»Du kannst mich nicht vernichten«, behauptete
Scurr, obwohl ihn mittlerweile die nackte Angst gepackt hatte. Ein
Gefühl, das er, oder eben Kââr, in Jahrtausenden der Herrschaft
noch niemals verspürt hatte.
»Doch, das kann ich.«
König Scurr sah sich nach Hilfe um, aber er stand
allein auf dem Hügel. Seine Blutroten Schatten waren in Kämpfe
verwickelt. Niemand konnte ihm zu Hilfe eilen.
Worran, komm sofort
hierher, befahl er in Gedanken.
Der konnte ihn natürlich nicht mehr hören, doch das
wusste Scurr nicht. Er hoffte, wenn er etwas Zeit schinden konnte,
würde sein getreuer Diener ihm zu Hilfe kommen.
Also deckte er Ariac erneut mit magischen Blitzen
ein und versuchte, ihn sich so zumindest so weit vom Leib zu
halten, dass er ihm nicht gefährlich werden konnte. Pausenlos
fragte sich Scurr, warum Ariac gegen seine Magie immun war.
Der Kampf schien ewig zu dauern, während die
Schlacht unter ihnen gnadenlos weitertobte und die Berge im Norden
ein einziges flammendes Inferno darstellten.
Rudgarr kämpfte gar nicht weit entfernt mit
einigen seiner Männer vom Stamme der Arrowann, als er seinen Sohn
auf der Anhöhe sah. Für einen Augenblick hielt er inne.
Noch niemals in seinem Leben hatte er jemanden so
kämpfen sehen. So viel Angst er um seinen Sohn hatte, so stolz war
er auch auf ihn.
»Ariac, sei vorsichtig«, flüsterte Rudgarr in den
Wind. »Möge Nawárronn mit dir sein!«
Dann streifte ihn ein Schlag an der Schulter, und
er wandte sich wieder seinen Gegnern zu. Jetzt konnte er für Ariac
nichts mehr tun.
Obwohl Ariac ein magisches Schwert hatte, merkte
er, wie er langsam ermüdete. Den ganzen Tag hatte er gekämpft,
keine Pause gemacht, nichts gegessen oder getrunken. Doch jetzt
durfte er einfach nicht aufgeben. Immer wieder spürte er, wie Scurr
ihn mit Magie angriff, aber Thaliens Amulett schützte ihn.
Die Schwerter klirrten aufeinander und sprühten
Funken. Wieder und wieder schlug er auf Scurr ein. Mit einiger
Genugtuung sah Ariac, dass Scurr aus vielen Wunden blutete.
Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
Ich kann es schaffen.
Menschen, Elfen, Zwerge, Orks und Trolle kämpften
auf den Ebenen von Balmacann um ihr Leben, während Kapitän Norwinn
und seine Männer inzwischen auf dem Meer gesiegt hatten. Grölende
Piraten lagen sich in den Armen und begannen bereits, auf ihren
Triumph zu trinken. Doch da verdunkelte ein Schatten den
Himmel.
Kapitän Norwinn blickte mit offenem Mund
hoch.
Nach einigen Augenblicken des Schreckens schrie er:
»Nach Silversgaard!« In Gedanken fügte er hinzu: Mögen Rammatoch und alle Götter mit dir sein, Rudrinn.
Mit dir und deinen Freunden.
Valwahir, der große Adler, war am Himmel
erschienen.
Mit mächtigen Flügelschlägen zog der gewaltige
Adler über alle Länder. Er streifte den Norden, wo die Berge
loderndes Feuer spien. Mächtige Lavafontänen schossen in den
Himmel. Dann flog Valwahir über das Meer, wo die Wellen sich zu
haushohen Wassermassen auftürmten. Auf der Steppe bebte der Boden,
als würde er ein Eigenleben führen. Dies war die letzte Warnung der
Götter, nun würde dieses Zeitalter enden.