KAPITEL 2
Alte Feinde, neue Freunde
Eisiger Wind wehte über die Ebenen von Catharga. Dunkle und bedrohlich wirkende Wolkenberge hingen unheilverkündend am Himmel. Die sieben Gestalten in ihren Umhängen konnte man bei diesem Schneesturm kaum erkennen. Nur ihre Pferde fielen auf, wie sie mit gesenkten Köpfen gegen den Wind ankämpften. Sie waren jetzt auf der Flucht, ausgerechnet hier in den verschneiten Ebenen Cathargas in der Eiseskälte eines viel zu früh einsetzenden Winters.
 
»Wir schlagen uns nach Errindale durch«, schrie Broderick, als sie kurz anhielten, um sich im Kreis zu versammeln. »Dort könnten wir den Winter verbringen und uns anschließend mit Brogan treffen.«
Resigniertes Nicken machte die Runde, obwohl man das unter den Kapuzen gar nicht wirklich sehen konnte. Da keiner widersprach, ging es weiter durch den Sturm, der an ihren Kleidern riss. Zum Glück besaßen alle einen wärmenden Elfenumhang.
Noch bis zur einsetzenden Dunkelheit ritten sie weiter durch den tiefen Schnee. Schließlich hielten sie in einem kleinen Eichenwäldchen an und rutschten von ihren Pferden. Endlich hatte es aufgehört zu schneien, aber es war noch immer bitterkalt. Ariac holte gleich aus seiner Satteltasche einige Kräuter und rührte damit eine Paste an, die er Nawárr auf die vielen Wunden an der Seite, den Flanken und am Maul strich. Dabei redete er beruhigend auf das Pferd ein, das immer wieder zusammenzuckte. Ariacs Gesicht war hart und angespannt.
Rijana ging zu ihm und streichelte Ariacs schwarzen Hengst traurig am Hals.
»Ich bringe Worran um«, knurrte Ariac, während er den Rest der Paste Nawárr vorsichtig ums Maul strich.
Rijana verstand Ariac und wollte ihn umarmen, aber der schüttelte sie ab. »Tut mir leid, Rijana, aber ich muss jetzt allein sein. Ich habe Spuren von Wild gesehen, ich gehe jagen.« Damit packte er seinen Bogen und verschwand in der Dunkelheit.
Seufzend umarmte Rijana das Pferd, das mit hängendem Kopf im Schnee stand. Sie kannte es nur als gut genährten, kräftigen und stolzen Hengst, aber jetzt war es struppig, abgemagert und hatte überall Verletzungen.
»Alles wird wieder gut, Nawárr, jetzt bist du bei uns.«
Rudrinn stellte sich neben Rijana. Als er den Hengst streicheln wollte, wich der schnaubend und panisch zurück. Rudrinn seufzte. »Jetzt hat dieser verfluchte Worran auch noch Ariacs Hengst misshandelt, das ist doch nicht zu fassen. Wo hatte der ihn bloß her?«
»Ich weiß es nicht. Aber es erinnert Ariac an die furchtbare Zeit, die er in Ursann erlebt hat«, sagte sie traurig. »Und er will sich nicht mal trösten lassen.«
Rudrinn lächelte seine Freundin an. Vor vielen Jahren war er mit ihr gemeinsam nach Camasann gekommen, daher war Rijana für ihn wie eine Schwester.
»Wenn Ariac etwas Dampf abgelassen hat, wird er das schon noch.« Er blickte mit gerunzelter Stirn zu einem Baumstumpf, auf dem Falkann saß, den Kopf in die Hände gestützt. »Viel mehr Sorgen mache ich mir um ihn. Gerade hat er erkannt, dass seine ganze Familie ein Haufen hinterhältiger Bastarde ist.«
Rijana stieß Rudrinn in die Seite, der zog jedoch nur die schwarzen Augenbrauen zusammen.
»Ist doch wahr.«
Noch einmal streichelte Rijana Nawárr und ging anschließend zu Falkann. Die anderen waren gerade damit beschäftigt, trockenes Holz für ein Lagerfeuer zu finden, was bei diesem Schnee nicht so einfach war.
Langsam hockte Rijana sich vor Falkann in den Schnee und legte ihm ihre Hand auf den Arm.
Falkann hob den Kopf und sah Rijana aus betrübten Augen an. Vorsichtig streichelte sie ihm über die bärtige Wange.
»Sei nicht traurig, du kannst nichts dafür.«
Falkann schnaubte. »Verdammt, dass Hyldor ein Verräter ist, damit könnte ich noch leben, aber mein Vater?« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ihm hätte ich mehr Ehre zugetraut. Er verrät ganz Catharga.«
Im Augenblick wusste Rijana nicht, was sie dazu sagen sollte.
Noch immer fassungslos fuhr sich Falkann über das Gesicht. »Sie haben sich mit König Scurr verbündet, ich kann das nicht glauben. Sie helfen, ihre Nachbarn zu vernichten, nur damit Scurr sie in Ruhe lässt.«
Rijana setzte sich neben ihn auf den Baumstumpf und legte ihm einen Arm um die breiten Schultern.
»Scurr wird sich nicht an irgendwelche Abmachungen halten«, sagte sie vorsichtig. »Wenn es ihm gefällt, wird er auch Catharga und euer Königshaus vernichten. Ich hoffe, es ist nicht zu spät, wenn dein Bruder das erkennt.«
Falkann stieß einen bitteren Laut aus. »Soll er doch! Ich hoffe, sie brennen das ganze verdammte Schloss nieder und hängen meinen Bruder an den Zinnen auf.« Er spannte den Unterkiefer an. »Ich bin keiner von ihnen mehr, ich hasse sie.«
»Ich verstehe dich. So ging es mir, als ich im letzten Jahr bei meinen Eltern war.« Sie streichelte Falkann über die etwas wirren, halblangen Haare. »Weißt du, wir konnten uns unsere Eltern nicht aussuchen. Ariac hat damals gesagt, ich soll nicht traurig sein, meine Eltern wären dumm und charakterlos. Wie es aussieht, ist es bei deiner Familie ähnlich.« Sie lächelte ihn aufmunternd an. »Wir halten zu dir, wir sind deine Freunde, und die kann man sich zum Glück selbst wählen.«
Mit einem halbherzigen Lächeln legte Falkann seinen Kopf auf Rijanas schmale Schulter. »Ich bin froh, dass ich euch habe«, sagte er leise. Sollte er jetzt sagen, dass er damals einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte? Andererseits war Rijana ihm so nah, und das kam nicht mehr häufig vor, seitdem sie mit Ariac verlobt war. Er genoss es, dass sie bei ihm war. Falkann seufzte und verschob sein Geständnis auf ein anderes Mal.
 
Ariac kam mit einem Reh auf den Schultern zurück. Er hatte es bis weit in den Wald hineinverfolgt und auf der anstrengenden Jagd durch den tiefen Schnee ein wenig von seiner Wut verrauchen lassen. Aber trotzdem wurde er den Gedanken einfach nicht los, dass Worran so nah in seiner Reichweite gewesen war und er ihn trotz allem nicht hatte umbringen können. Er sah Rudrinn, Tovion und Saliah am Feuer sitzen. Broderick kam durch den Schnee auf ihn zugestapft. Er war von allen zwar der Kleinste, aber gleichzeitig der Kräftigste. Sein breites, freundliches Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»Komm, ich helfe dir.«
Ariac ließ das tote Reh in den Schnee fallen und zog die Augenbrauen zusammen, als er in der Dämmerung zwei Gestalten nicht weit entfernt auf dem Baumstumpf sitzen sah.
»Was soll das denn?«, fragte er gereizt, denn er erkannte jetzt, dass Rijana Falkann den Arm um die Schultern gelegt hatte.
Broderick schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Keine Angst, sie tröstet ihn nur. Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein.«
»Bin ich nicht«, knurrte Ariac und machte sich wütend daran, das Reh auszunehmen.
Mit breitem Grinsen kniete sich Broderick neben ihn in den Schnee, um ihm zu helfen.
»Was ist?«, fragte Ariac ungehalten.
»Du siehst aber verdammt eifersüchtig aus.«
Ariac schnaubte, dann blickte er erneut zu Rijana und Falkann. Broderick nahm ihn am Arm. »Rijana ist treu«, versicherte er. »Sie liebt dich, sonst hätte sie nicht so viel für dich getan und solche Gefahren auf sich genommen.«
Daraufhin entspannte sich Ariac ein wenig. »Das weiß ich. Aber ich sehe es nicht gern, wenn sie mit einem anderen Mann so vertraut ist. Schließlich waren sie und Falkann ja einmal …«
Broderick unterbrach ihn kopfschüttelnd. »Das ist lange her.« Dann grinste er sein typisches breites Grinsen. »Allerdings, wenn meine Kalina einen Mann in den Arm nehmen würde, würde ich erst ihn verprügeln und dann sie übers Knie legen.«
Nun musste Ariac gegen seinen Willen grinsen. »Aha, das heißt, ich soll zuerst Falkann niederschlagen und dann Rijana?«
Lachend schüttelte Broderick den Kopf. »Nein, sonst würdest du es mit mir zu tun kriegen.«
Ariac seufzte, aber Broderick hatte es mit seiner lustigen und unkomplizierten Art mal wieder geschafft, ihn abzulenken. »Aus euch ›zivilisierten‹ Menschen soll man klug werden«, knurrte er scherzhaft.
»Ja, das ist für einen Wilden wie dich wohl etwas schwierig«, erwiderte Broderick augenzwinkernd.
Die beiden machten sich daran, das Reh übers Feuer zu hängen, und bald lag ein verlockender Duft in der Luft. Auch Rijana und Falkann kamen zurück. Rijana setzte sich lächelnd neben Ariac auf einen umgekippten Baum und gab ihm einen Kuss.
»Schön, dass du wieder da bist.«
Er nickte und blickte Falkann nachdenklich an, der den Kopf hängen ließ und nichts essen wollte.
»Komm schon, das Reh schmeckt gut«, sagte Saliah, deren hellblonde Haare im Schein des Feuers glänzten.
Falkann lehnte ab und starrte kummervoll in die Flammen.
Nach dem Essen stand Tovion als Erster auf. »Ich halte Wache«, verkündete er.
»Ich komme mit«, meldete Rudrinn sich daraufhin.
Ariac ging noch mal zu dem Hengst, der im Schnee nach etwas Gras suchte.
»Ihm geht es sicher bald wieder gut«, versicherte Rijana, die ihm gefolgt war.
Nachdenklich streichelte Ariac Nawárr am Hals.
»Die Narben an seinem Körper werden bald verheilt sein«, sagte er leise. »Aber die auf seiner Seele, die werden bleiben. Keinem Menschen wird er mehr vertrauen können.«
Rijana umarmte ihn fest. Sie wusste, dass Ariac nicht nur von dem Hengst, sondern auch von sich selbst gesprochen hatte.
»Jetzt ist er bei uns und wird merken, dass wir ihm nichts Böses tun.« Sie blickte traurig zu ihm auf. »Und auch er wird eines Tages wieder vertrauen können.«
Liebevoll streichelte Ariac Rijana über die weichen hellbraunen Haare. Er würde sie vor allem Bösen dieser Welt beschützen.
 
Am nächsten Tag brachen die sieben Freunde schon vor der Morgendämmerung auf. Ihre Stimmung war immer noch gedrückt, da alle befürchteten, verfolgt zu werden. Falkann grübelte weiterhin über seine Familie nach, und Ariac beschäftigten unablässig Rachegedanken. Die anderen versuchten, die beiden, so gut es ging, abzulenken.
Als der Schnee endlich wieder zu schmelzen begann, ging die Reise zum Glück wieder rascher voran. Catharga war ein weites Land mit vielen Seen, kleinen Hainen und einer Menge Äcker und kleinerer Dörfer, die die Sieben allerdings, so gut es ging, mieden. Immer wieder mussten sie sich vor König Scurrs Patrouillen in roten Umhängen, deshalb auch die Blutroten Schatten genannt, oder den Kriegern aus Balmacann verstecken, die ebenfalls auf der Jagd nach ihnen waren.
Die ersten Boten des Winters hatten sich wieder zurückgezogen, die letzten Herbstblätter hingen noch bunt an den Bäumen, als sich die Sieben nach vielen Tagen endlich der Grenze zu Errindale näherten. Hier war alles noch viel bewaldeter und hügeliger. Brodericks Laune jedenfalls wurde von Tag zu Tag besser. »Bald sind wir in der Schenke zum Finstergnom, und dann sehe ich endlich meinen Sohn.« Er konnte das gar nicht oft genug wiederholen. Broderick richtete gerade sein Lager in einer Höhle, die sie für die Nacht gefunden hatten, als ihm der Satz wieder einmal über die Lippen kam.
Rudrinn biss herzhaft in ein Stück gebratenen Fasan, den er zuvor erlegt hatte. »Ha, ich hoffe, er kommt mehr nach seiner Mutter und ist nicht so hässlich wie du.«
Ein empörtes Knurren ausstoßend stürzte Broderick sich auf Rudrinn, der nur abwehrend die Hände hob.
»Du verfluchter Bastard eines dreimal verfluchten Piraten«, knurrte Broderick und drosch halbherzig und eher zum Spaß auf den Freund ein.
Lachend schüttete Rudrinn Broderick seinen Trinkschlauch über den Kopf. »Das ist für einen Piraten keine Beleidigung.«
Rijana saß neben ihrer Freundin Saliah, die gerade ihr Schwert polierte, das, wie die der anderen auch, mit Runen verziert war und ihr durch seine Magie ungewöhnliche Kräfte verlieh.
»Wenn wir die beiden nicht hätten, wäre es eine ganz schön traurige Reise.« Rijana lachte leise.
Ariac saß mal wieder mit finsterem Gesicht in einer Ecke, genau wie Falkann. Beide sahen sehr bedrückt aus. Auch Tovion war nicht in bester Laune, denn er machte sich schon seit einiger Zeit Sorgen um seine Gefährtin Nelja, von der er so lange nichts mehr gehört hatte.
Saliah schnaubte missbilligend und strich sich mit einer anmutigen Bewegung die langen Haare aus dem Gesicht. »Es sind schon ziemliche Rüpel.« Sie war wohlerzogen und hatte für derbe Späße wenig Verständnis. Trotz allem scheute sie sich nicht, Gefahren, Anstrengungen und Entbehrungen auf sich zu nehmen. Sie konnte ebenso tapfer und kämpferisch sein wie jeder von ihnen, wenn es darauf ankam.
Rijana grinste. Ihr machten solche Dinge weniger aus. Sie war in einem kleinen Dorf in Northfort aufgewachsen und etwas robuster veranlagt. Wenn man die beiden jungen Frauen nebeneinander sitzen sah, konnte man kaum sagen, wer die Schönere war. Die elegante, gebildete und hochgewachsene Saliah mit ihren strahlenden Augen und den langen blonden Haaren oder die zwei Jahre jüngere Rijana, die auf ihre Art ebenso hübsch war mit dem schmalen Gesicht, den langen Wimpern und den dichten, etwas dunkleren Haaren. Ariac sagte immer, dass ihre Haare die Farbe von Steppengras im Herbst hatten. Rijana hatte etwas Natürliches, Wildes an sich, das auf viele Männer beinahe noch anziehender wirkte als die wohlerzogene und immer perfekt wirkende Saliah.
Endlich schienen Broderick und Rudrinn voneinander abzulassen und sich dem Essen zu widmen. Rudrinn riss eine Keule aus dem Fasan.
»Hier, fang«, rief er und warf sie Rijana zu.
Die reagierte zu langsam, sodass das fetttriefende Fleisch auf Saliahs Lederhose landete.
Saliah schrie empört auf. »Du Idiot!«
Rudrinn zog die Augenbrauen zusammen und verbeugte sich übertrieben. »Oh, verzeiht, Mylady. Habe ich Euch etwa das Festgewand verdorben?«
Wutschnaubend sprang Saliah auf. »Du bist ein verfluchter, rüpelhafter Pirat.«
»Solch derbe Worte aus deinem Munde?«, fragte er spöttisch.
Daraufhin stolzierte Saliah hocherhobenen Hauptes hinaus und würdigte Rudrinn keines Blickes mehr.
Broderick wunderte sich mal wieder über die beiden. Eigentlich waren sie immer Freunde gewesen, doch während des letzten halben Jahres hatten sie sich ständig wegen irgendwelcher Kleinigkeiten gestritten. Er konnte das nicht verstehen.
Auch Rijana schüttelte den Kopf. Rudrinn war zwar ihr Freund, aber manchmal verhielt er sich Saliah gegenüber wirklich unmöglich. Sie sah, wie er ihr hinterherblickte und dann abwinkte, bevor er sich wieder seinem Fleisch zuwandte.
Rijana setzte sich zu Ariac, der mit seinem Dolch neue Pfeile schnitzte. Er lächelte, als er sie sah.
»Möchtest du nichts essen?«, fragte sie.
»Später«, erwiderte er und schnitzte weiter.
»Ich freue mich auf Errindale.« Rijana lehnte sich an Ariacs Schulter.
Er nickte und legte den Pfeil zur Seite. Dann nahm er sie in den Arm und zog sie an sich. »Und ich freue mich darauf, wenn wir im Frühling in die Steppe zurückkehren, dann können wir endlich heiraten.«
Lächelnd blickte Rijana zu ihm auf und fuhr ihm über die feinen, verschlungenen Tätowierungen an der Schläfe. »Darauf freue ich mich ebenfalls. Hoffentlich geht es allen gut.«
König Scurr hatte im letzten Jahr Jagd auf alle Steppenleute gemacht, da er Ariac hatte finden wollen. Einige Clans waren beinahe vollständig ausgelöscht worden.
Ariac seufzte und drückte Rijana einen Kuss auf die Stirn. »Die Arrowann halten sich sicherlich gut versteckt. Wir werden alle wiedersehen.«
»Ich vermisse Leá und all die anderen.«
»Ich auch.« Ariac war ein wenig wehmütig. »Wer weiß, wahrscheinlich hat Lynn jetzt schon ihr Kind und ist am Ende schon wieder schwanger.«
Rijana grinste. Lynn und Leá waren Ariacs zwei Jahre ältere Zwillingsschwestern. Leá war die sanftmütigere, ruhigere von beiden, Lynn dagegen ziemlich wild und ungestüm. Sie hatte den Sohn des Clanführers eines anderen Steppenclans geheiratet und mittlerweile bereits drei Kinder. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, Jagden und wilde Ritte über die Steppe zu machen.
»Ruric ist sicherlich gewachsen«, vermutete Rijana und kuschelte sich an Ariacs Schulter. Langsam wurde sie schläfrig. Es war mal wieder ein anstrengender Tag gewesen.
»Ja, mein kleiner Bruder«, sagte Ariac nachdenklich und zog seine Decke über Rijanas Schulter.
Ariac hatte gar nicht gewusst, dass seine Eltern, nachdem er selbst mit zwölf Jahren mit Brogan, dem Zauberer von Camasann, fortgegangen war, noch einmal ein Kind bekommen hatten. Ariac war damals aber nicht bis Camasann gekommen. Die Blutroten Schatten hatten den Wagen überfallen und alle Krieger Camasanns getötet. Außer Rijana, die Ariac damals versteckt hatte, waren die Kinder nach Ursann auf die Ruine der Festung von Naravaack entführt worden. Die grausame Ausbildung unter Worran hatte den Willen eines jeden Kindes schnell gebrochen, sodass sie König Scurrs willenlose Sklaven wurden – alle bis auf Ariac. Der hatte sich trotz Folter niemals vollständig bezwingen lassen, zumindest so lange nicht, bis König Scurr ihn durch einen gemeinen Trick glauben gemacht hatte, dass König Greedeons Krieger seinen Clan ausgelöscht hatten. Von da an hatte Ariac Scurr gedient, war ein ebenso gnadenloser und rücksichtsloser Krieger geworden wie die anderen und hatte nur durch Rijanas Hilfe Scurrs Lügen durchschaut. Gemeinsam mit ihr war er in die Steppe zurückgekehrt und hatte seine Familie lebend vorgefunden. Erst dort hat er seinen kleinen Bruder Ruric kennen gelernt, der nun an seiner Stelle Clanführer der Arrowann werden sollte. Ariac streichelte Rijana, die an seine Schulter gelehnt schlief.
»Ich habe dir so viel zu verdanken«, flüsterte er. Behutsam und darauf bedacht, sie nicht zu wecken, berührte er die kleine Pfeilspitze, die er ihr vor vielen Jahren als Zeichen ihrer immerwährenden Freundschaft geschenkt hatte, als sie mit Brogan auf dem Weg nach Camasann gewesen waren. Außerdem hing an der Lederkette der Anhänger mit den verschlungenen Symbolen, den er Rijana zur Verlobung geschenkt hatte. Beim Steppenvolk hieß es eigentlich nicht Verlobung, sondern wurde als ›das Jahr der Bewährung‹ bezeichnet. Man musste mindestens ein Jahr lang zusammenleben und sich während dieser Zeit mindestens zwei Monde lang trennen, erst dann durfte man heiraten. Durch ihre Flucht war nun schon mehr als ein Jahr vergangen, aber Ariac hoffte, dass sie im Frühjahr oder zumindest zum nächsten Herbstfest in die Steppe zurückkehren konnten. Er betrachtete das lederne Armband mit den verschlungenen Verzierungen, das er von Rijana geschenkt bekommen hatte und das er stets am linken Arm trug. Noch immer besaß Ariac zudem den kleinen Stein, den ihm Rijana als Kind geschenkt hatte. Er hatte die Form eines Adlerkopfes. Ariac hatte ihn immer als Glücksbringer bei sich getragen.
Nie hätte er geglaubt, in seinem Leben noch einmal so glücklich sein zu dürfen. Die Zeit in Ursann war so furchtbar gewesen, aber hier, mit seinen Freunden und der Frau, die er liebte, glaubte er manchmal, diese vergangene Zeit endgültig hinter sich gelassen zu haben.
 
Mitten in der Nacht bebte die Erde. Alle, die in der Höhle schliefen, fuhren erschrocken hoch. Rudrinn und Falkann, die draußen Wache gehalten hatten, kamen hereingerannt, als bereits Erde und kleine Steine von der Decke herabfielen.
»Sollten wir nicht lieber nach draußen gehen?«, rief Saliah ängstlich.
Rudrinn ging rasch zu ihr und nahm sie vorsichtig und zögernd in den Arm. »Lieber nicht, draußen kippen reihenweise die Bäume um.«
Glücklich darüber, ihn bei sich zu haben, vergrub Saliah ihr Gesicht an seiner Schulter.
Es bebte eine lange Zeit. Einmal krachte ein größerer Gesteinsbrocken nicht weit von Broderick und Tovion herunter, die sich rasch zur Seite warfen. Angst breitete sich aus, falls der Eingang verschüttet wurde, wären sie gefangen. Aber schließlich wurde es wieder ruhig, und die ersten Boten der Morgendämmerung zeigten sich.
Ariac zog Rijana, die noch immer ein ängstliches Gesicht machte, auf die Füße. »Komm, wir sehen mal nach den Pferden.«
Alle Sieben kletterten über die heruntergefallenen Steine und traten nach draußen, wo sie heilloses Chaos vorfanden. Felsbrocken waren überall verstreut, zerschmetterte Bäume lagen kreuz und quer herum, und ihre Pferde schienen geflüchtet zu sein.
Falkann zog wütend die Augenbrauen zusammen. »Ohne Pferde brauchen wir doppelt so lange.«
»Vielleicht sollten wir den Winter über in der Höhle bleiben«, schlug Tovion vor. »Wenn es wieder anfängt zu schneien, kommen wir nicht weit.«
Dieser Vorschlag stieß zwar nicht auf große Begeisterung, aber es schien der sinnvollste Plan zu sein.
Doch plötzlich überzog Ariacs sonst meist so ernstes Gesicht ein Lächeln. Er deutete auf Nawárr, der gefolgt von den anderen Pferden auf sie zu galoppierte. Das Pferd stellte sich schnaubend vor seinen Herrn, der ihn stolz streichelte.
»Du bist ein kluges Tier«, sagte er leise, und Nawárr drückte seinen Kopf an seine Schulter.
Alle Pferde schienen das Beben gut überstanden zu haben, nur Saliahs Stute hatte eine Wunde an der Flanke.
Rijana betrachtete Nawárr genau. »Ich glaube, bald kannst du ihn wieder reiten«, meinte sie. »Die Wunden verheilen gut, und er hat etwas zugenommen.«
»Worran wird dafür bezahlen«, knurrte Ariac nicht zum ersten Mal.
»Sicher, aber versuch nicht, dauernd an Rache zu denken.« Sein Blick wurde hart und kalt. »Aber ich kann nicht anders. Scurr und Worran müssen vernichtet werden.«
Rudrinn trat zu den beiden und schlug Ariac freundschaftlich auf die Schulter. »Sicher, und wir helfen dir dabei. Aber jetzt sollten wir weiterreiten. Broderick hat schon so große Entzugserscheinungen, dass er kurz davor ist, einem Bergschaf eine Liebeserklärung zu machen, wenn er seine Kalina nicht bald wiedersieht.«
Knurrend stürzte sich Broderick auf Rudrinn. »Wenn du verfluchter Pirat nicht bald dein Schandmaul hältst, dann wirst DU niemanden mehr beglücken können.« Er deutete auf den grauen Wallach, den er ritt. »Dann wirst du nämlich enden wie der arme Kerl hier.«
Rudrinn lachte nur und schwang sich auf sein Pferd.
Die Wälder, die in Richtung Errindale immer lichter wurden, waren schlimm zugerichtet worden. Überall lagen umgestürzte Bäume und einzelne Felsen. Aber das Beben schien noch nicht ganz vorbei zu sein. Im Laufe des Tages wurde die Erde immer wieder von leichten Nachbeben erschüttert, was die Pferde nervös machte. Sie waren ständig drauf und dran durchzugehen. Rijana ritt neben Ariac, der Nawárr am Strick mit sich führte.
»Hoffentlich geht es Lenya gut.« Rijana hatte ihre Stute in Balmacann zurücklassen müssen.
»Vielleicht bekommst du sie ja eines Tages wieder«, meinte Ariac aufmunternd.
Das glaubte Rijana kaum, denn ihr Pferd war sicher wieder in König Greedeons Obhut.
Gegen Abend fiel erneut leichter Schnee. Daher zogen sie sich ihre Kapuzen tiefer ins Gesicht, während sie durch Wälder und über mit Steinen und Felsen übersäte Wiesen ritten. Ihre Pferde ließen sie aus eiskalten Bächen trinken. In dieser Nacht fanden sie keinen vernünftigen Unterschlupf. Im dichten Schneefall kauerten sich alle unter einen überhängenden Felsen. Ariac zog seinen Elfenumhang aus und reichte ihn Saliah, die mit vor Kälte fast bläulichem Gesicht in ihre Decke gewickelt dasaß.
»Nimm meinen, der von Rijana reicht für uns beide.«
Zunächst wollte Saliah ablehnen, aber ihr war zu kalt. Also wickelte sie sich dankbar in den neuen Elfenumhang, der sehr viel mehr wärmte als ihr eigener.
»Rudrinn würde dich sicher gern wärmen«, alberte Broderick ohne böse Absicht herum.
Doch Saliah fand das gar nicht lustig, und Rudrinn verpasste dem überraschten Broderick eine Ladung Schnee ins Gesicht.
»Du spinnst wohl«, schimpfte dieser und klopfte sich den Schnee ab. »Es ist ohnehin schon kalt genug.«
»Dann erzähl nicht so einen Mist«, knurrte Rudrinn und versuchte zum wiederholten Male, ein Feuer in Gang zu bringen.
»Vielleicht ziehst du ja auch ein Bergschaf vor«, zog Broderick ihn weiter auf und deutete auf ein kleines weißes Schaf, das zwischen den Steinen umherlief.
»Halt dein Maul«, fuhr Rudrinn den Freund mit unangemessener Schärfe an, während Saliah knallrot anlief.
»Ihr versteht aber auch gar keinen Spaß mehr«, motzte Broderick und zog sich zum Schutz gegen die eisige Kälte seine Decke über den Kopf.
Die Nacht war kalt und windig. Sie hielten abwechselnd Wache, und am Morgen waren alle steif gefroren und kaum ausgeruht. Ein dichter Schneeteppich, der den Pferden bereits weit über die Fesseln reichte, bedeckte das Land und machte ihnen den Weg noch schwerer.
Die Sieben hatten gerade um die Mittagszeit Rast gemacht, als wie aus dem Nichts eine Gruppe von König Scurrs Soldaten auftauchte. Falkann stieß als Erster einen Warnschrei aus, als auch schon zwei der zehn Soldaten auf ihn losgingen. Sofort griffen alle nach ihren Waffen, und es brachen gnadenlose Kämpfe aus. Die sieben Freunde kämpften jedoch wie eine Einheit und hielten sich gegenseitig den Rücken frei. Ihre silbernen, mit Runen verzierten magischen Schwerter blitzten in der Sonne auf, und bald lagen bereits fünf tote Soldaten im Schnee. Rijana streckte gerade mit einiger Anstrengung einen Soldaten nieder, als sie sah, dass Rudrinn und Falkann zwei weiteren ihre Schwerter in den Leib trieben.
Saliah strauchelte, da sie von einem feindlichen Krieger bedrängt wurde. Sofort wollte Rijana der Freundin zu Hilfe kommen, doch da traf Rudrinns Dolch den Mann genau im Genick, und er fiel in den Schnee. Saliah erhob sich erleichtert.
»Wir dürfen niemanden entkommen lassen!«, rief Ariac. Doch da galoppierte der letzte Überlebende bereits panisch davon. Bevor jemand etwas unternehmen konnte, war Ariac auf Nawárr gesprungen. Er ritt ihn nun seit einigen Tagen und hatte das gestohlene Pferd aus dem Schloss freigelassen. So stürmte er hinter dem Soldaten aus Ursann her. Die anderen standen beieinander, wischten ihre Schwerter ab und beobachteten, wie Ariac in vollem Galopp auf das Pferd seines Gegners sprang und ihn zu Boden riss. Rijana zuckte zusammen. Der rote Krieger schien ein gut ausgebildeter Gegner zu sein. Die Männer umkreisten sich, beobachteten die Bewegungen des anderen und versuchten, eine Schwäche auszumachen. Der Krieger aus Ursann griff als Erster an. Ariac wehrte ab, wich aus und konnte sogar den einen oder anderen Treffer landen.
»Wir müssen ihm helfen«, sagte Rijana und stapfte durch den Schnee los. Die anderen folgten ihr, doch dann sahen sie, dass Ariac seinen Gegner mit unglaublicher Gewandtheit und Präzision in Grund und Boden drosch. Sein silbernes Schwert zischte einem Tanz gleich durch die Luft, während Ariac den Gegenangriffen beinahe mühelos auswich. Dann gelang dem Steppenkrieger der letzte tödliche Schlag. Der Soldat lag bereits tot am Boden, aber Ariac stach immer wieder mit dem Schwert zu. Rijana war ihm zur Seite geeilt und packte ihn am Arm. Sie erschrak, als er mit wildem und entrücktem Blick herumfuhr.
»Er ist tot!«
Ariac keuchte und blickte auf den Boden, so, als würde er das erst jetzt bemerken. Dann ließ er sich heftig atmend in den Schnee sinken.
»Du liebe Zeit«, flüsterte Broderick Tovion ins Ohr. »Er hat gekämpft wie ein Berserker.«
Tovion nickte ernst und kniete sich neben Ariac, der jetzt mit starrem Blick sein Schwert säuberte.
»Was war denn los?«
Schuldbewusst blickte Ariac auf. »Ich weiß auch nicht, aber mich hat plötzlich der blanke Hass gepackt. Ich musste an Worran denken und an Ursann.«
»Na hoffentlich passiert das nicht irgendwann mal beim Training«, witzelte Rudrinn mit einem komischen Grinsen.
Ariac erhob sich und schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe mich unter Kontrolle.«
»Wir sollten weiterreiten«, meinte Tovion und blickte sich nervös um. »Möglich, dass noch mehr Soldaten in der Nähe sind.«
Die anderen stimmten ihm zu und stiegen eilig auf ihre Pferde. Mehrere Tage ritten sie weiter durch die eisige Kälte. Währendessen bebte die Erde immer wieder. Rijana musste oft an die Elfen denken, die vorhergesagt hatten, dass die Erde sich gegen die Machenschaften der Menschen wehren würde. Je weiter die sieben Freunde durch Errindale ritten, umso nervöser wurde Broderick. Er hatte seinen kleinen Sohn Norick noch nie gesehen und bis vor kurzer Zeit gar nicht gewusst, dass es ihn überhaupt gab. Zauberer Hawionn und König Greedeon hatten alles dafür getan, dass niemand Nachrichten von außen bekam.
»Meinst du, Kalina freut sich, wenn ich komme?«, fragte Broderick mal wieder, als er neben Rijana ritt.
»Sicher. Sie hat dich sehr vermisst, und seitdem sie von mir weiß, dass du ihr immer wieder geschrieben hast und die Briefe nie bei ihr ankamen, weil sie abgefangen wurden, ist sie auch nicht mehr wütend auf dich.«
Noch immer wirkte Broderick unsicher. »Erzähl mir von meinem Sohn«, verlangte er wie schon so häufig.
Und wieder berichtete Rijana geduldig, dass der kleine Norick ein fröhliches Kind sei und Broderick zum Verwechseln ähnlich sähe. Broderick seufzte sehnsüchtig und fuhr sich nervös durch die borstigen dunkelblonden Haare. Er konnte es kaum noch abwarten.
 
Ein bitterkalter Wind wehte durch die weit auseinanderstehenden Bäume, als sich die kleine Gruppe der Schenke zum Finstergnom näherte. Durch die geschlossenen Fensterläden konnte man Licht sehen. Broderick, der sich frisch rasiert und ein halbwegs sauberes Hemd angezogen hatte, hielt seinen Wallach an und blickte mit einem dicken Kloß in der Kehle auf das kleine Gebäude. Hier war er aufgewachsen. Seine Eltern waren gestorben, als er noch sehr jung gewesen war. Finn, der Wirt, und seine Frau, die allerdings auch schon lange nicht mehr lebte, hatten ihn aufgezogen, bis er von den Zauberern Camasanns entdeckt und auf die Insel gebracht worden war. Das kleine Lehmgebäude, die alten Holzbalken und das strohgedeckte Dach, das alles war ihm vertraut und zugleich fremd.
»Komm, sie wird sich freuen«, munterte Falkann Broderick auf.
Der stieg zögernd vom Pferd und ging mit wackeligen Schritten auf das Gebäude zu. Falkann, Rijana und Ariac folgten ihm, die anderen blieben bei den Pferden und behielten die Gegend im Auge. Broderick stand mit erhobener Faust vor der Tür, doch er zögerte. Er hatte sich so sehr gewünscht, seine Familie wiederzusehen, aber jetzt traute er sich nicht.
Schließlich drückte Falkann gegen die uralte Eichentür, aber die war von innen verriegelt.
»Es ist geschlossen«, sagte Broderick und wirkte sogar ein wenig erleichtert. Er wollte schon gehen, doch da schlug Falkann kräftig gegen die Tür. Nach einer Weile hörte man schlurfende Schritte, und ein alter Mann öffnete. Sein müdes, wettergegerbtes Gesicht überzog sich plötzlich mit einem strahlenden Lachen, als Broderick seine Kapuze zurückschlug.
»Du liebe Zeit, Broderick!«, rief er und umarmte seinen Ziehsohn glücklich.
Der entspannte sich und lachte erleichtert auf, als sich ihm plötzlich eine rothaarige junge Frau an den Hals warf und halb lachend, halb weinend auf ihn einschlug.
»Broderick, du verfluchter Mistkerl. Ich hatte nicht gedacht, dich wirklich noch mal wiederzusehen«, schluchzte sie und umarmte ihn dann überglücklich.
Broderick hatte selbst Tränen in den Augen und wollte seine Kalina gar nicht mehr loslassen. Die beiden redeten wild durcheinander und mussten schließlich beide lachen.
Rijana, Ariac und Falkann standen in der Tür und beobachteten die Szene schmunzelnd.
Plötzlich sagte Finn: »Jetzt kommt erst mal rein, ihr seid sicher ganz durchgefroren.« Er stutzte und deutete auf Rijana und Ariac. »Oh, euch beide kenne ich doch. Ihr wart vor etwa einem Jahr hier!«
Die beiden nickten, und Rijana stellte die anderen vor. »Das ist Falkann. Draußen sind noch drei weitere Freunde von uns, sie warten bei den Pferden.«
Finn betrachtete Broderick, der jetzt Kalina fest im Arm hielt, noch immer ungläubig. »Ich werde ihnen den Stall zeigen«, versprach Finn und umarmte Rijana. »Danke, dass du Broderick hergebracht hast, das macht mich sehr glücklich.«
»Ich gehe mit hinaus«, sagte Ariac zu Rijana. »Nawárr wird sich von ihm nicht anfassen lassen.«
Falkann stieß Rijana an und sagte erfreut, als Broderick und Kalina zurückkamen: »Wie glücklich sie sind!«
»Das wirst du auch eines Tages sein, da bin ich mir sicher«, meinte Rijana und blickte lächelnd zu ihm auf.
Falkann wandte rasch den Blick von ihr ab. Er war noch lange nicht über sie hinweg.
Doch da kam Broderick bereits zu ihm und sagte mit dem breitesten Lachen, das man jemals bei ihm gesehen hatte: »Falkann, Rijana, ich muss euch meinen Sohn zeigen!«
Die beiden folgten ihm und traten zu dem kleinen Bett, in dem Norick fest schlief.
»Man kann wirklich nicht bezweifeln, dass er Brodericks Nachkomme ist«, flüsterte Falkann grinsend. Der Kleine hatte exakt die gleichen Gesichtszüge wie sein Vater.
Kalina stieß Falkann in die Seite. »Du denkst wohl, ich lüge?«
Falkann hob abwehrend die Hände. »Du liebe Güte, natürlich nicht!«
Sie schnaubte und stemmte die Hände in die relativ breiten Hüften. Sie war wie Broderick recht klein, rundlich veranlagt und hatte ein hübsches, freundliches Gesicht. Broderick fuhr ihr zärtlich durch die roten Locken.
»Es ist so schön, hier zu sein.«
Inzwischen waren auch die anderen mit halb erfrorenen Gesichtern ins Haus gekommen und hatten sich ans Feuer gesetzt. Finn brachte Brot, Eintopf und den gewärmten Schnaps, der in Errindale im Winter häufig serviert wurde. Rudrinns Gesicht überzog ein glückliches Grinsen.
»Der würde sogar meinem Vater schmecken!«
»Er ist ein Pirat«, erklärte Broderick, der Kalina im Arm hatte und sie auch nicht mehr loslassen wollte. Dann räusperte er sich, blickte unsicher in die Runde und sagte: »Ich muss euch etwas gestehen.«
»Wenn du jetzt sagst, dass du gleich wieder verschwindest, dann werde ich …«, begann Kalina mit aufgeregter Stimme, aber Broderick unterbrach sie.
»Das ist es nicht.« Er begann zu erzählen. Weder Kalina noch Finn hatte er gesagt, dass er eines der Kinder Thondras war, als er vor vielen Jahren zu Besuch hier gewesen war. Er hatte Angst gehabt, dass Kalina sich dann von ihm abwenden würde. Die beiden machten große Augen und brachten keinen Ton heraus, als Broderick alles erzählte. Angefangen von seiner Ausbildung in Camasann, den gemeinsamen Jahren, den Kämpfen gegen Scurrs Krieger, dem Verrat von König Greedeon bis zum Bruch mit Zauberer Hawionn und Camasann. Dann berichtete er von ihrer Flucht, der Überquerung des Gebirges und dass sie nun vor Falkanns Bruder flohen. Falkanns Gesicht wurde bei diesen Worten hart. Saliah nahm seine Hand und lächelte ihm aufmunternd zu.
Stille herrschte, als Broderick geendet hatte. Im Kamin knackte das Feuer, und der Wind pfiff durch die Ritzen des alten Hauses.
»Wenn nicht vor kurzem Soldaten aus Camasann hier gewesen wären und sich nach dir erkundigt hätten, dann würde ich dich für einen verdammten Lügner halten«, sagte Kalina nach einer Weile, und ihre grünen Augen glänzten im Licht des Feuers.
»Sie waren hier?«, fragte Falkann erschrocken.
Finn bestätigte dies. »Sie haben wohl gewusst, dass Broderick hier aufgewachsen ist.«
»Dann müssen wir gehen, sonst bringen wir euch in Gefahr.« Broderick war bereits aufgestanden.
Kalina erschrak. »Nein, bitte nicht. Bitte bleib.«
Er wollte widersprechen, doch Finn hob die Hand. »Warte, Kalina. Er hat Recht. Wenn die Sieben -«, er schüttelte den Kopf und blickte die jungen Leute ungläubig an, »hierbleiben, wäre es wirklich zu auffällig.«
»Finn!«, rief Kalina empört.
»Jetzt lass mich doch ausreden«, schimpfte der alte Mann.
»Das tut sie nie«, sagte Broderick grinsend, und Kalina verpasste ihm empört einen Seitenhieb.
»Also«, fuhr Finn unbeirrt fort. »In der Nähe gibt es ein altes, verlassenes Gut. Es gehörte früher Verwandten von mir, aber es wird schon seit Jahren nicht mehr benutzt. Die Kellergewölbe sind noch gut erhalten. Ihr könnt euch dort verstecken, und Kalina und ich werden euch mit Essen versorgen.«
Dieser Vorschlag fand Kalinas Zustimmung, sie seufzte erleichtert.
Broderick zögerte jedoch. »Trotzdem, wir werden auffallen. Ich möchte euch nicht in Gefahr bringen.«
»Wir werden ganz normal weitermachen. Jetzt im Winter haben wir ohnehin nur alle zwei Tage geöffnet. Kalina oder ich werden uns zu euch schleichen. Niemand kommt mehr zu dem Gut, es ist halb verfallen, aber ihr könnt dort sogar eure Pferde unterbringen.«
Unsicher blickte Broderick in die Runde, aber die anderen nickten.
»Es ist das Beste«, sagte Tovion. »Wir kommen jetzt im Winter nicht mehr weit, und hier sind Menschen, denen wir vertrauen können.«
Broderick hob resigniert die Arme. »Also gut. Wenn Tovion es sagt.« Er grinste. »Er ist nämlich der Vernünftigste von uns.«
»Aber heute Nacht bleibst du bei mir«, sagte Kalina bestimmt.
Broderick gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. »Ich hätte nichts anderes zu tun gewagt.«
»Unsere beiden Zimmer sind frei«, sagte Finn lächelnd und blickte Rijana und Ariac an. »Ihr wisst ja, wo sie sind.«
Bei diesen Worten zuckte Falkann kaum merklich zusammen, hatte sich jedoch gleich wieder unter Kontrolle. Dann bezogen Ariac und Rijana das eine der kleinen Zimmer, Saliah schlief allein im zweiten, und Falkann, Rudrinn und Tovion machten es sich in der Gaststube auf dem Boden bequem. Für alle war das seit langer Zeit die erste bequeme und warme Nacht.
Am nächsten Tag zogen sie noch im Morgengrauen zu dem verlassenen Gutshof mitten im Wald. Das Grundstück war verwildert und mit Ranken überwachsen. In der alten Scheune, die halbwegs trocken war, konnten die Pferde untergebracht werden. Finn wollte später Heu und Stroh bringen. Dann führte er die sieben Freunde durch das verfallene Gebäude eine alte Treppe hinunter. Es war bitterkalt in den alten Gemäuern, überall lag Schutt herum, und Spinnweben bedeckten die Wände. Aber schließlich erreichten sie ein gut erhaltenes Kellergewölbe.
»Hier könnt ihr sogar Feuer machen«, sagte Finn. »Es war früher ein Räucherraum, daher der Kamin.«
Er fegte alte Kohle aus dem Loch in der Wand.
»Wird man den Rauch nicht entdecken?«, fragte Ariac misstrauisch.
Finn schüttelte den Kopf. »Es kommt nie jemand her, schon gar nicht im Winter.«
Also machten sich alle miteinander daran, die seit vielen Jahren unbenutzten Räume so gut wie möglich zu säubern und Felle und Decken auszubreiten.
»Die Mädchen können auch bei uns im Gasthaus bleiben«, schlug Finn besorgt vor, als er die hübschen jungen Frauen bei der Arbeit sah. »Dort ist es etwas wärmer. Ich könnte sagen, ich hätte neue Mägde.«
Ariac fand die Idee gut, aber Rijana schüttelte den Kopf. »Nein, ich bleibe lieber hier.«
Auch Saliah wollte keine Schwäche zeigen und fegte hustend den Kamin aus, woraufhin sie eine schwarze Nase bekam.
Lachend wischte Rudrinn ihr den Ruß weg. Saliah wusste nicht, was das sollte, strich sich die mit Spinnweben bedeckten Haare anmutig aus dem Gesicht und fragte gereizt: »Was?«
»Du siehst gar nicht mehr wie eine Lady aus einem Adelshaus aus.«
»Adel ist nicht eine Sache des Aussehens, sondern der Bildung und des Anstands.«
Rudrinn schüttelte den Kopf und betrachtete sie lächelnd. »Ich finde dich aber sehr hübsch so.«
Das brachte Saliah scheinbar vollkommen aus der Fassung, sie lief davon und fegte wild mit dem Besen herum. Dabei wirbelte sie so viel Staub auf, dass alle fluchtartig den Raum verließen.
 
In den nächsten Tagen versuchten die Sieben, es sich so bequem wie möglich zu machen, wobei Broderick so häufig, wie es irgend ging, bei Kalina und dem kleinen Norick war. Finn war sehr hilfsbereit und versprach, vertrauenswürdige Männer zu suchen, die ihnen bei einem Kampf gegen König Scurr oder möglicherweise auch Balmacann zur Seite stehen würden.
In manchen Nächten war es so bitterkalt, dass selbst das Feuer des Kamins nicht genügend wärmte, und so mussten sie warten, bis alle Gäste aus der Schenke nach Hause gegangen waren, um die restliche Nacht im Warmen verbringen zu können.
In einer dieser Nächte hatte Ariac sich dicht an Rijana gedrückt, um sie mit seinem Körper zu wärmen. Trotz mehrerer Decken konnte er spüren, wie sie zitterte.
»Du hättest doch Finns Angebot annehmen und bei ihm als Magd bleiben sollen«, flüsterte er, um die anderen nicht zu wecken.
Aber bis auf Saliah und Tovion, die heute Rijanas und Ariacs Elfenumhänge hatten, welche selbst in der bittersten Kälte wärmten, schlief ohnehin niemand.
»Nein«, erwiderte Rijana und umarmte ihn fest. »Ich bin lieber bei dir, und Finn wird wohl ohnehin bald kommen.«
Ariac nahm ihre kalte Hand in seine. »Du bist einfach zu stur.«
Rijana seufzte. Ihr war zwar kalt, aber solange Ariac bei ihr war, machte ihr das nicht viel aus.
Broderick, Falkann und Rudrinn wälzten sich unruhig hin und her. Dann waren draußen Schritte zu hören. Broderick sprang sogleich auf, und nachdem Finn das verabredete Klopfzeichen gemacht hatte, öffnete er.
»Na endlich«, sagte Broderick mit klappernden Zähnen.
Finn war bis auf die Augen vermummt und hatte eine Fackel in der Hand.
»Tut mir leid, bei dieser Eiseskälte wollten viele nicht nach Hause«, sagte er bedauernd.
Auch die anderen standen nun auf und weckten Saliah und Tovion, die fest geschlafen hatten. Dann folgten sie Finn hinaus. Wenn sie geglaubt hatten, dass es in dem Kellergewölbe kalt war, dann wurden sie eines Besseren belehrt. Außerhalb der Mauern schien einem der Atem zu gefrieren.
»Beeilt euch«, flüsterte Finn und lief rasch voran über den Schnee, der so hart gefroren war, dass man zum Glück keine Fußspuren sah. Eigentlich war es nicht sehr weit bis zur Schenke zum Finstergnom, aber es kam allen wie eine Ewigkeit vor.
Saliah hielt irgendwann an und fragte mit halb erfrorenen Lippen: »Soll ich dir den Umhang zurückgeben?«
Rijana schüttelte den Kopf, brachte aber die Zähne nicht weit genug auseinander, um zu antworten. Sie und Ariac hatten darauf bestanden, dass die anderen abwechselnd ihre Elfenumhänge trugen, da sie der einzige Schutz gegen diese klirrende Kälte waren.
Ariac legte Rijana den Arm um die Schultern und schob sie weiter.
Endlich hatten sie das kleine Gebäude erreicht, und Finn klopfte an die Hintertür. Sofort öffnete Kalina mit mitleidigem Gesicht.
»Schnell, ihr müsst ja halb erfroren sein.«
»Eeehhherr ggganz«, stammelte Rudrinn und stellte sich gleich ans Feuer. Die anderen taten es ihm gleich.
Finn teilte heißen Schnaps aus, Kalina brachte Schüsseln mit Eintopf. Der kleine Norick, der sich standhaft geweigert hatte, ins Bett zu gehen, bevor Broderick kam, rannte auf diesen zu und schlang ihm die Arme um die Beine.
»Vater, du musst mir eine Geschichte erzählen!« Broderick grinste stolz und nahm einen weiteren Schluck aus dem Becher.
»Gut, jetzt bekomme ich die Zähne wieder weit genug auseinander.«
Kopfschüttelnd rieb sich Finn die kalten Hände warm. »So einen harten Winter, und vor allem so früh im Jahr, haben wir noch nie erlebt.«
Alle setzten sich ums Feuer herum und genossen die Wärme, die ihnen die Röte ins Gesicht trieb.
»Kalinas Eintopf ist einfach der beste«, seufzte Broderick und stellte die hölzerne Schüssel zur Seite.
Kalina lächelte zufrieden, während Norick auf den Schoß seines Vaters kletterte. »Eine Geschichte, eine Geschichte«, beharrte er.
Broderick seufzte und lehnte sich zurück. »Was willst du denn hören?«
»Von Camasann«, verlangte Norick mit strahlenden Augen.
Als er noch kleiner gewesen war, hatte Kalina ihm immer erzählt, dass sein Vater ein tapferer Krieger war, der in der besten Schule des ganzen Landes ausgebildet wurde.
Broderick schloss die Augen und begann, von den Jahren in Camasann zu erzählen, zumindest von denen, die sie alle als gut empfunden hatten. Norick hörte fasziniert zu.
»Und Rudrinn«, fügte Broderick grinsend hinzu, »der hat mir eins auf die Nase gehauen, als er beim Einweihungsritus in den Fluss geschubst wurde.«
Norick schnaubte empört, aber Rudrinn entgegnete: »Dein Vater hat sich oft genug gerächt. In den ersten Jahren hat er mich ständig besiegt.«
Rijana lachte hell auf. »Aber nur, weil du dich geweigert hast, mit etwas anderem als einem Säbel zu kämpfen.«
Rudrinn verzog das Gesicht. »Du meine Güte, Tharn hat mir so oft den Hintern versohlt, dass ich kaum noch sitzen konnte. Tharn war übrigens unser Schwertmeister.«
Saliah musste lächeln, als sie an früher dachte. »Rijana und ich hatten Glück, uns hat meistens Brogan unterrichtet.«
»Die Mädchen hatten ohnehin Vorteile«, knurrte Broderick. »Immer hat Birrna ihnen Kuchen und heiße Schokolade gebracht.«
»Na, bei zwei so hübschen Mädchen wundert mich das nicht«, sagte Finn lächelnd.
Ariac spielte nachdenklich mit Rijanas Haaren. Er konnte bei diesen Dingen wie immer nicht mitreden, aber mittlerweile machte es ihm gar nicht mehr so viel aus.
Broderick erzählte noch eine Weile weiter, bis Norick auf seinem Schoß eingeschlafen war.
»Ich bringe ihn ins Bett«, flüsterte Broderick und stand vorsichtig auf.
»Du brauchst nicht zu flüstern«, meinte Kalina mit einem Lächeln. »Wenn er mal schläft, dann schläft er. Selbst wenn die Gaststube gefüllt ist, kann ihn nichts wecken.«
»Das hat er von seinem Vater.« Finn wirkte jetzt ein wenig wehmütig. »Meine Frau hat Broderick immer in eine Wiege hinter dem Tresen gelegt. Dort hat er geschlafen wie ein Stein, aber das ist lange her.« Er betrachtete seinen Ziehsohn nachdenklich. »Nie hätte ich gedacht, dass du eines Tages eine so wichtige Rolle in unserer Welt spielen würdest. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Broderick nickte lächelnd, dann trug er Norick hinaus in das kleine Bett, in dem er immer schlief.
»Ich konnte zehn vertrauenswürdige Männer finden«, erklärte Finn, als Broderick zurück war. »Mehr konnte ich nicht treffen, der Schnee ist einfach zu hoch.«
»Das macht nichts«, beruhigte Broderick den älteren Mann. »Vor dem Frühling wird nichts geschehen, und dann sehen wir weiter.«
Betrübt stimmte Tovion ihm zu. Er hatte noch immer keine Nachricht von Nelja und Brogan, auch wenn er trotz der Kälte jeden Tag nach draußen ging und nach dem Falken Ausschau hielt.
Bald waren alle schläfrig und rollten sich in der Gaststube vor dem Feuer zusammen. Finn hatte die Tür fest verriegelt, daher musste niemand Wache halten. Doch viel Schlaf war ihnen nicht vergönnt, denn sie mussten noch vor der Dämmerung zurück in ihr Versteck. Da es so bitterkalt war, nutzten viele arme Leute die Schenke, um sich aufzuwärmen, wenn ihnen zu Hause das Holz ausgegangen war.
»Du kannst bei Kalina bleiben und dich in ihrem Zimmer verstecken, Broderick«, schlug Falkann vor, als sie sich alle seufzend möglichst warm einpackten, damit sie aufbrechen konnten. »Niemand wird dir das übel nehmen. Wer weiß, wann ihr euch wiederseht, wenn wir erst weitergezogen sind.«
Broderick zögerte. Es schien ihm nicht richtig, seine Freunde allein frieren zu lassen, während er gemütlich im Warmen wartete. Als die anderen ihm ebenfalls gut zuredeten, blieb er zwar mit schlechtem Gewissen, aber auch irgendwie glücklich, in der Schenke. Sein kleiner Sohn würde ihm Gesellschaft leisten können, wenn Kalina arbeiten musste.
 
Mehrere Tage ging es so weiter. An einem dieser bitterkalten Tage erhob sich Tovion von der Feuerstelle in dem Kellerraum und sagte seufzend: »Ich werde nach dem Falken sehen.«
Ariac reichte Tovion seinen Elfenumhang. »Nimm ihn, draußen ist es noch schlimmer.«
Tovion nickte und ging zur Tür.
»Warte, ich komme mit.« Rijana verzog das Gesicht. »Wenn ich noch länger sitzen bleibe, dann friere ich fest.«
Die beiden stiegen durch die halb verfallenen Gänge die Treppe hinauf in die Kälte eines klaren Wintertages.
»Finn wird bald das Futter für die Pferde ausgehen«, befürchtete Tovion. Er hielt den verzauberten Anhänger, der dazu diente, dem Falken seinen Standort anzuzeigen, in die Sonne. Wie so viele Tage zuvor wartete er vergeblich auf ein Zeichen. Als er schon resigniert zurückgehen wollte, hörte er plötzlich einen Schrei und zuckte zusammen.
Es war sein Falke, endlich war er zurückgekehrt. Der Vogel stürzte geradezu vom Himmel auf seinen Arm. Tovions in letzter Zeit immer so ernstes Gesicht zeigte nun tiefste Freude, aber zugleich zögerte er, die Nachricht vom Bein des Falken zu nehmen.
»Jetzt lies schon«, drängte Rijana und rieb ihre Hände aneinander.
»Lass uns zuerst reingehen!« Tovion nahm den kleinen Zettel und lief die Treppe hinunter zu den anderen.
»Wir haben Nachricht«, rief Rijana schon von weitem und schlüpfte rasch zu Ariac unter die dicke Felldecke.
Mit zitternden Händen entfaltete Tovion den kleinen Zettel und starrte eine ganz Weile darauf.
»Auf dem kleinen Fetzen kann doch verdammt noch mal nicht so viel stehen«, drängte Rudrinn ungeduldig.
Tovion runzelte missbilligend die Stirn. »Das ist eine magische Schriftrolle. Ich darf dich daran erinnern, dass Nelja und Brogan Zauberer sind!«
Rudrinn knurrte etwas, aber auch die anderen konnten nicht länger warten.
Schließlich seufzte Tovion, ließ die Hände sinken und sagte erleichtert: »Es geht ihnen gut. Sie lagern in einem Tal im nördlichen Donnergebirge und kommen im Frühling an die Küste nach Northfort.«
Alle atmeten erleichtert auf, ein ganzes Gebirge schien ihnen vom Herzen zu fallen.
»Aber warum haben sie denn so lange nicht geschrieben?«, wollte Saliah wissen.
Tovion zuckte mit den Schultern. »Zunächst waren wir auf dem Meer, dort funktionieren die magischen Anhänger nicht. Und dann war das Wetter ständig so schlecht, dass die Vögel nicht fliegen konnten.« Er streichelte seinem Falken über das Gefieder. »Der arme Kerl war ziemlich zerzaust und erschöpft, als er bei Nelja ankam, und in letzter Zeit die ganzen Schneestürme …«
Das leuchtete allen ein, und Tovion erzählte nun, dass Brogan und Nelja gar nicht bis nach Camasann gekommen waren, nachdem sie sich von ihnen getrennt hatten.
»Und das war auch gut so. Rittmeister Londov hat sie schon vor Islagaard abgefangen, denn Hawionn hatte bereits veranlasst, dass Brogan sofort festgenommen werden sollte, sobald er Camasann betritt.«
»So ein Schwein«, knurrte Broderick.
Tovion stimmte ihm grimmig zu. »Londov konnte etwa hundertfünfzig Krieger überzeugen, sich gegen Hawionn zu stellen, ohne dass Hawionn selbst etwas davon mitbekommen hat. Er hat es so eingerichtet, dass sie nun bei den Türmen Wache halten, damit sie verfügbar sind, wenn Brogan sie braucht.«
»Hundertfünfzig«, sagte Falkann nachdenklich. »Das sind nicht sehr viele.«
»Aber besser als nichts«, wandte Saliah ein. »Wenn wir noch die Krieger meines Vaters bekommen, einige Leute aus Errindale, die Piraten …«
»Wir holen die Steppenleute«, fügte Ariac mit einem Blick zu Rijana hinzu.
Die nickte zustimmend. »Wir schaffen das schon«, sagte sie zuversichtlich.
»Wenn mein verfluchter Bruder …«, begann Falkann zu schimpfen, aber Broderick unterbrach ihn.
»Jetzt hör doch auf. Du bist nicht dafür verantwortlich.« Falkann seufzte, er fühlte sich trotz allem schuldig. Außerdem hatte er die Sache mit Flanworn noch immer nicht gestanden. Aber nun redeten alle aufgeregt durcheinander und schmiedeten Pläne, wie es im Frühling weitergehen sollte. Als Rijana und Ariac davon sprachen, beim Steppenvolk zu heiraten, wurde Falkanns Gesicht noch düsterer.
»Ich würde mich freuen, wenn ihr alle dabei wärt«, sagte Rijana lächelnd und blickte vor allem Falkann dabei an.
Der riss sich zusammen und nickte kaum merklich. »Natürlich.«
 
In den nächsten Tagen war die Atmosphäre deutlich entspannter, trotz der Kälte. Alle freuten sich, Nachricht von Nelja und Brogan erhalten zu haben. Sie und Tovion schrieben sich jetzt regelmäßig, sofern das Wetter nicht zu schlecht für die Vögel war, und meist waren ihre Nachrichten nicht für die Ohren der anderen bestimmt. Aber auf Tovions Gesicht sah man jetzt immer wieder das verträumte und glückliche Lächeln, das zu ihm gehörte.
»Die beiden schreiben sich wahrscheinlich feurige Liebesbriefe«, sagte Rudrinn eines Tages grinsend zu Broderick.
Der nickte schmunzelnd und schlang die Arme um seinen Oberkörper. Als er antwortete, bildeten sich vor Kälte weiße Wölkchen vor seinem Mund. »Ja, so etwas kann einen warm halten bei dieser Kälte.« Er grinste Rudrinn an. »Was ist denn jetzt eigentlich mit deinem Mädchen? Wird das noch was oder nicht?«
Plötzlich verfinsterte sich Rudrinns Gesicht. »Nein, das kann ich vergessen.«
»Jetzt sag doch endlich, wer ist sie?«, drängte Broderick. »Die kleine Blonde in Balmacann oder die Magd aus dem Schloss?«
»Das geht dich nichts an«, knurrte Rudrinn und erhob sich. »Ich gehe nach den Pferden sehen.«
Broderick schüttelte den Kopf, aus Rudrinn brachte man in dieser Beziehung einfach nichts heraus.
 
Der Winter blieb lang, aber nach dem zweiten Frühlingsmond war es zumindest nicht mehr ganz so bitterkalt. Doch dann setzte erneut Schneefall ein, und die Sieben, die eigentlich schon hatten aufbrechen wollen, mussten weiterhin in Errindale bleiben. Broderick und Kalina kam das natürlich sehr gelegen, aber Tovion war schon drauf und dran, allein in dem Schneegestöber loszureiten, um Nelja und Brogan zu suchen.
Zumindest hatte Finn jetzt etwa fünfzig Männer aus den umliegenden Dörfern zusammengetrommelt, die den Sieben bei einem Kampf beistehen wollten.
Dann endlich, als der dritte Frühlingsmond anbrach, war der Schnee so weit geschmolzen, dass sie aufbrechen konnten. Kalina bemühte sich verzweifelt, die Fassung zu bewahren. Sie wollte Broderick nicht gehen lassen, und auch Finn sah sehr besorgt aus.
»Passt gut auf euch auf«, sagte er zum Abschied, »die Blutroten Schatten sollen wieder gesehen worden sein und auch Krieger aus Balmacann. Wenn es zu gefährlich wird, dann versteckt euch lieber hier.«
Alle Sieben versprachen, vorsichtig zu sein. Ihnen allen war nicht ganz wohl in ihrer Haut. Kalina umarmte Broderick fest, Tränen liefen ihr rundliches Gesicht hinab. »Du kommst wieder, ja?«
Er versprach es ihr und drückte sie noch einmal an sich. Dann stieg er auf sein Pferd. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, wie Norick das kleine Holzschwert in die Höhe reckte, das er ihm vor einiger Zeit geschnitzt hatte. Broderick hob seines zum Gruß und wandte sich dann rasch ab.
»Es ist mir niemals schwerer gefallen zu gehen«, sagte er heiser zu Falkann, der neben ihm ritt.
Der drückte seinen Freund an der Schulter. Er konnte sich vorstellen, wie Broderick sich fühlte.
Bald hatten sie die Grenze zu Northfort überquert. Tovion war in regelmäßigem Kontakt mit Nelja, die erklärte, dass sie den Treffpunkt wohl bald erreicht hätten. Da der Schnee im Osten schon weitgehend getaut war, kamen die beiden gut voran.