ZWEI JAHRE NACH DER SCHLACHT VON BALMACANN
Rijana stand mit ihrer
kleinen Tochter auf dem Arm in der herbstlichen Steppe. Schon lange
war das Wasser abgeflossen. Die Steppe hatte sich ebenso gewandelt
wie die restlichen ehemaligen Königreiche. Nun war die Steppe mit
ungewohnter Fruchtbarkeit gesegnet. Fremde Blumen und Kräuter
wuchsen jetzt hier, und einige Bauern hatten sich sogar dazu
entschlossen, sich am Rande der Steppe anzusiedeln und Felder zu
bestellen.
Rijana winkte Ariac zu, der mit einigen Freunden
von der Jagd zurückgekehrt war. Seine langen dunklen Haare flogen
im Wind, als er von Nawárrs Rücken sprang und sie stürmisch in den
Arm nahm.
»Geht es euch beiden gut?«
Rijana nickte, und die kleine Thara streckte
lächelnd die Arme nach ihrem Vater aus.
»Tovion und Nelja haben einen Falken geschickt. Mit
der Schule von Gronsdale geht es gut voran.« Rijana lachte. »Und
Broderick hat uns auch schon wieder in seinen Gasthof eingeladen.
Er hat gesagt, Rudrinn und Saliah würden beim nächsten Vollmond mit
einer Lieferung Rum eintreffen.«
»Dann sollten wir bald nach Gronsdale aufbrechen.«
Ariac gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. »Es wird Zeit,
dass diese junge Dame hier lernt, auf einem Pferd zu sitzen.«
»Sie ist gerade einmal ein Jahr alt«, protestierte
Rijana.
»Na und, Steppenkinder reiten, bevor sie laufen
können.«
Wie um ihm zuzustimmen, lachte das Mädchen mit den
schwarzen seidigen Haaren laut auf und klatschte in die
Hände.
»Von mir aus«, seufzte Rijana, »ich bin wohl
überstimmt.«
Die beiden gingen Hand in Hand auf die Zelte zu.
Sie lebten nun wieder bei Ariacs Clan, der wie seit ewigen Zeiten
über die Steppe zog. Auch Rijanas Nichte und Neffe hatten bei den
Arrowann eine neue Familie gefunden.
Obwohl niemand mehr damit gerechnet hatte, tauchte
sogar eines Tages Warga, die alte Hexe, wieder auf. Niemand wusste,
wie sie den Wandel der Welt überstanden hatte, und sie verriet auch
nicht, wo sie die ganze Zeit über gesteckt hatte.
»Ihr habt ein wunderbares Kind«, krächzte sie, als
die kleine Thara auf sie zugekrabbelt kam.
»Siehst du etwas in ihrer Zukunft?«, fragte Ariac
leise. Er hatte Angst, dass die Hexe auch seiner Tochter ein
gefährliches Leben prophezeien würde, genauso wie ihm vor so langer
Zeit.
Warga holte den Beutel mit ihren Runen heraus und
warf sie auf den Boden.
»Sie ist die Tochter von zwei Steppenkriegern, doch
ich sehe ihre Zukunft auf dem Wasser«, sagte die alte Frau und
wirkte selbst ein wenig verwirrt. Um Ariac zu beruhigen, fügte sie
hinzu: »Aber sie wird glücklich werden.«
Rijana grinste. »Am Ende wird sie einen Sohn von
Saliah und Rudrinn heiraten.« Die beiden hatten kurz nach dem Sieg
gegen Scurr geheiratet, und Saliah hatte im darauffolgenden Sommer
Zwillinge bekommen.
»Damit lass dir aber noch ein wenig Zeit.« Ariac
nahm Thara auf den Schoß und gab ihr einen Kuss auf die
Stirn.
Wenn Rijana und Ariac nach Westen blickten, lief
ihnen noch immer ein Schauer über den Rücken. Ursann, Catharga,
halb Errindale und Northfort existierten nicht mehr. Von den einst
so reichen Ländern war nur eine verwüstete Kraterlandschaft
geblieben. Die Meerenge war nun ein schroffes
Gebirge aus erkalteter Lava, und nach Süden hin erstreckte sich
endloses Meer. Auch wenn das Meer nun ein wenig zurückgegangen war,
Tirman’oc war eine Insel geblieben. Einige Elfen lebten dort in
Frieden. Die Zwerge waren, wie sie angekündigt hatten, im
Donnergebirge sesshaft geworden. Die meisten Menschen hatten sich
in Gronsdale angesiedelt, wo sie mühsam neue Dörfer errichteten.
Die Elfen hatten den Finstergnomen einen Teil ihres Landes
angeboten, und so waren die kleinen, pelzigen Wesen nun im
buschreichen, verwunschenen Süden des Landes zu finden. Zauberer
Tomis war einige Zeit bei ihnen geblieben, um sie genauer zu
studieren. Er war es auch, der schließlich herausfand, dass Bali’an
die Finstergnome damals überredet hatte, an der Schlacht gegen
Scurr teilzunehmen.
Leá und Falkann hatten sich lange nicht entscheiden
können. Doch nun hatten sie die Ruine am Myrensee neu aufgebaut und
lebten dort mit einigen anderen Männern und Frauen. Falkann konnte
dort sein gewohntes Leben weiterführen, und Leá war es möglich, so
oft sie wollte, in die Steppe zurückzukehren.
Lächelnd hielt Rijana ihr Gesicht in den Wind – das
Leben war im Augenblick einfach wunderschön.
Viele Jahre später bekamen Tja’ris und Elli’vin ihr
erstes Kind. Es hatte weise blaue Augen, und als der kleine Junge
seine ersten unsicheren Schritte machte, verneigte sich die Natur
vor ihm. Alle waren sich sicher: Thalien war wiedergeboren.
Das erste Mal seit tausenden von Sommern war es den
Kindern Thondras gelungen, die große Schlacht zu überleben und
fortan ein friedvolles und glückliches Leben zu führen. Doch eines
fernen Tages würde der Kriegsgott sie wieder in die Welt entsenden.
Ob es ihnen dann vergönnt sein würde, die Dunkelheit zu verbannen,
bevor sich der große Adler Valwahir erneut erhob, stand noch nicht
einmal in den Sternen, die über allen Ländern leuchteten.