KAPITEL 13
Der Bund der
Flammen
Der Tag vor dem Aufbruch
war gekommen, herzzerrei ßende Abschiedsszenen spielten sich ab.
Kalina wollte Broderick nicht gehen lassen, Lady Melinah machte
sich Sorgen um ihren Mann. Tovion und Nelja stritten sich die ganze
Zeit über, weil Nelja mit ihm gehen wollte, während Tovion sie
lieber in Sicherheit zusammen mit seinem Vater zurücklassen
wollte.
»Ich wurde genau wie du auf Camasann ausgebildet«,
schimpfte Nelja, und ihre dunklen Locken flogen im kalten Wind.
»Außerdem kann ich zaubern und du nicht!«
Tovion raufte sich die Haare, und sein sonst so
ruhiges und besonnenes Gesicht verzerrte sich vor Wut und
Hilflosigkeit. »Wir haben keine Ahnung, was geschehen wird. Thalien
hat gesagt, das Donnergebirge ist einer der wenigen sicheren Orte.
Bitte, bleib hier.«
Nelja nahm ihn am Arm und zwang ihn, sie
anzusehen.
»Tovion, ich kämpfe an deiner Seite, egal was
geschieht. Entweder wir werden beide überleben, oder wir sterben
gemeinsam.«
»Aber ich werde immer wiedergeboren, und du? Was,
wenn ich dich in meinem nächsten Leben nicht finde?«
Sie schluckte, dann fuhr sie ihm durch die Haare.
»Ich weiß es nicht, ob ich wiedergeboren werde. Ich kann mich nicht
an frühere Leben erinnern, so wie du. Aber ich weiß, dass ich in
diesem Leben an deiner Seite bleiben möchte.«
Schließlich nickte Tovion und drückte sie fest an
sich. Nelja bedeutete ihm alles auf dieser Welt.
Auch Rijana war unruhig. Schon seit Tagen hatte sie
Albträume. Immer wieder sah sie Ariac, wie er mit König Scurr
kämpfte, aber an den unterschiedlichsten Orten. Und jedes Mal
wachte sie schweißgebadet auf, bevor sie verfolgen konnte, wie es
ausging.
Ariac saß am Feuer und polierte sein Schwert. Das
Schwert, das König Scurr töten sollte. Thalien, der König vom
Mondfluss, der älteste Elf, der jemals gelebt hatte, hatte einen
Zauber darauf gesprochen. Ein Zauber, der durch die Freundschaft
und das Vertrauen der Sieben gefestigt wurde. Die ganzen letzten
Tage war Ariac nervös gewesen, aber jetzt war er plötzlich ganz
ruhig. Was geschehen würde, würde geschehen, er hatte keinen
Einfluss mehr darauf. Nun saß er mit seinen Eltern, den Schwestern
und dem kleinen Bruder am Feuer und versuchte, sich möglichst
unbekümmert mit ihnen zu unterhalten.
»Wenn du zurückkommst, wirst du mir dann weiterhin
Unterricht im Schwertkampf geben?«, fragte Ruric mit leuchtenden
Augen.
»Mir auch!«, krähte Norick sogleich. Er und Ruric
waren in der letzten Zeit zu unzertrennlichen Freunden geworden,
auch wenn der Steppenjunge viel älter war.
»Natürlich werde ich euch unterrichten.«
Doch in den Augen der Erwachsenen konnte man die
Frage ablesen, die alle beschäftigte: Würde es Ariac tatsächlich
gelingen, König Scurr zu besiegen?
Nach einer Weile trat Rijana zu ihnen, blass und
traurig sah sie aus.
Ariac stand auf und lächelte ihr zu. »Komm, setz
dich zu uns.«
Doch sie schüttelte den Kopf. »Kannst du
mitkommen?«, fragte sie mit dünner Stimme.
»Natürlich.«
Die beiden gingen Hand in Hand vom Lärm und der
Aufregung des Lagers fort. Schweigend bahnten sie sich ihren Weg
durch die Felsenlandschaft, und Rijana führte Ariac zu einem
Abhang, von dem aus man bis über die Steppe blicken konnte.
Gewitterwolken hingen drohend am Himmel.
»Ich liebe die Steppe, aber ich kenne sie kaum«,
begann Rijana zögernd. »Eines Tages werden wir dorthin
zurückkehren. Ob nun in diesem Leben oder in einem anderen.«
Ariac drückte ihre Hand und wusste nicht, was er
ihr sagen sollte.
Sie drehte sich um und blickte ihm in die Augen.
»Ich habe Angst, Ariac, ich will dich nicht verlieren, und ich will
keinen unserer Freunde verlieren.« Er wollte sie unterbrechen, aber
Rijana schüttelte den Kopf. »Trotzdem haben wir es noch sehr viel
besser als viele andere. Wir werden uns auch im nächsten Leben
wieder begegnen. Tovion und Nelja, Broderick und Kalina haben diese
Gewissheit nicht. Saliahs Vater hat keine Ahnung, ob er seine Frau
noch einmal wiedersieht. Auch Lynn und ihr Mann und so viele
andere.«
»Du hast Recht«, sagte Ariac leise und streichelte
ihr über die Haare. »Wir haben sehr viel Glück.«
»Ariac, ich möchte dich heute noch heiraten«, brach
es plötzlich aus ihr heraus, »ich weiß, wir wollten es tun, wenn
der Kampf vorüber ist, wenn wir zurück in der Steppe sind und all
unsere Freunde bei uns haben. Aber ich will nicht warten«, sie
senkte den Blick, »nicht noch einmal.«
Für einige Zeit schwieg Ariac. Der Wind strich
sanft durch das Steppengras, das unter ihnen wie ein Meer
wogte.
»Ich möchte den Bund der Flammen mit dir eingehen,
damit sich unsere Seelen auch dann wiederfinden, wenn wir die
Schlacht nicht überleben.« Rijanas Stimme zitterte ein wenig, als
sie dies sagte, denn es war sehr wahrscheinlich, dass es genauso
kam.
»Gut«, sagte Ariac sanft und küsste sie zärtlich.
»Vielleicht
waren wir in all unseren Leben ein Paar, weil wir sehr häufig als
Steppenkrieger geboren wurden und den Bund der Flammen eingingen.«
Er dachte an das Ritual in Tirman’oc, als all seine Leben vor
seinem inneren Auge abgelaufen waren – Rijana war immer an seiner
Seite gewesen, auch wenn sie früher andere Namen getragen
hatte.
Rijana umarmte ihn fest, doch dann hielt sie inne.
»Ich hoffe, Saliah und Rudrinn werden es uns nicht übel
nehmen.«
»Wenn wir uns wiedersehen, werden wir eben noch
einmal feiern.«
Noch eine Weile standen sie engumschlungen in der
Dunkelheit, bevor Ariac seine Arme von Rijana löste.
»Dann werde ich meinen Eltern mal die Neuigkeit
verkünden. Vielleicht ist es eine gute Idee, es wird alle ein wenig
ablenken.«
Rijana biss sich auf die Lippe und hielt ihn fest,
als er gehen wollte. »Hast du keine Angst vor dem Kampf mit
Scurr?«
»Doch«, antwortete er, aber mit einem
Lächeln.
Die überraschende Hochzeit von Rijana und Ariac
verursachte einigen Wirbel. Eilig wurden Wachen in den Bergen
aufgestellt, ein verborgener Ort gesucht, wo man gefahrlos Feuer
entzünden konnte, und die Frauen versuchten mit den wenigen
Vorräten, ein Festessen zu zaubern.
Nachdem Rijana und Ariac ihren Freunden die
Neuigkeit erzählt hatten, kam Nelja zu Rijana.
Sie hielt der Freundin ein kleines Bündel entgegen.
»Ich hatte es schon damals fertiggestellt, als wir noch in den
Höhlen waren, aber nachdem wir gedacht haben, Ariac wäre tot,
wollte ich es dir nicht geben.«
Staunend packte Rijana ein weiches Lederband aus,
das mit Runen und anderen mystischen Verzierungen versehen war. In
der Mitte war eine Pfeilspitze – das Symbol der Arrowann – zu
sehen.
Nelja wirkte ein wenig verlegen. »Zauberer Tomis
hat mir geholfen. Ich hoffe, die Magie in dem Band reicht aus. Du
weißt, ich bin noch eine Zauberschülerin, aber …«
Voller Begeisterung fiel Rijana der Freundin um den
Hals. »Es ist wunderbar, Nelja. Ich bin mir sicher, dass es genau
richtig ist.« Fasziniert strich sie über die feinen Verzierungen
des Hochzeitsbandes, das sie sich so sehr von Nelja gewünscht
hatte. »Vielen, vielen Dank!«
Bevor Nelja etwas entgegnen konnte, drückte Rijana
ihr einen Dankeskuss auf die Wange.
»Ich muss noch was erledigen, Nelja!«, rief sie und
lief davon.
Brogan besprach gerade mit den Steppenleuten, wie
das Ritual ausgeführt werden sollte. Ihm war der Brauch der Clans
unbekannt. Mitten in die Unterhaltung hinein kam Rijana geplatzt.
Sie war ganz außer Atem und wirkte ein wenig unsicher.
»Brogan, kann ich mit dir sprechen?«
»Natürlich.« Der Zauberer folgte ihr. Etwas abseits
des allgemeinen Tumults betrachtete er die junge Frau lächelnd, die
unruhig von einem Bein aufs andere trat.
So schnell ist die Zeit
vergangen, dachte er. Gestern war sie noch
ein kleines Mädchen, das im Sattel hinter mir nach Camasann
geritten ist, und nun ist sie eine erwachsene Frau.
»Was hast du auf dem Herzen, Rijana?«
»Das Ritual der Arrowann … ich weiß nicht, ob du es
kennst … es ist nur, also Nelja hat ja jetzt auch das Hochzeitsband
für mich gemacht.« Brogan hob ihr Kinn mit einem Finger an und sah
ihr in die Augen. »Was möchtest du von mir?«
Nun biss sich Rijana auf die Unterlippe und sah mit
unsicherem Blick zu dem alten Zauberer auf. »Brogan, würdest du bei
dem Ritual die Stelle meines Vaters einnehmen?«
Einen Augenblick lang schwieg Brogan, und Rijana
befürchtete schon, dieser fremde Brauch wäre ihm unangenehm.
»Du musst nicht, ich werde Broderick fragen …«
Rasch wandte sie sich ab, doch da hatte Brogan sie schon zu sich
umgedreht und an seine breite Brust gedrückt.
»Ich würde nichts auf der Welt lieber tun, Rijana«,
erklärte er ergriffen, und sie sah zu ihrer Verwunderung, wie er
sich heimlich über die Augen wischte. »Das ist eine große Ehre für
mich!«
»Wirklich?« Nun strahlte sie ihn an und erwiderte
seine Umarmung. »Du warst ohnehin immer wie ein Vater für
mich.«
»Rijana, ich bin sehr stolz auf dich!«
Trotz der ernsten Lage und der drohenden Gefahren
stellte sich das kleine Hochzeitsfest von Rijana und Ariac als gute
Idee heraus. Tief in den Bergen hatten die Elfen eine heilige
Quelle entdeckt und diese mit wunderschönen Wildblumen und Zweigen
geschmückt. Lynn hatte für Rijana eines ihrer Kleider so
abgeändert, dass sie es tragen konnte, und die Arrowann hatten
alles für ihr Ritual vorbereitet.
Elli’vin, Bali’an und Tja’ris, einige der Zwerge,
die Rijana und Ariac gut kannten, natürlich die restlichen Sieben
und Ariacs Familie standen mit Fackeln in den Händen in dem kleinen
Tal, in dem sich eine nahezu magische Stimmung verbreitet hatte.
Der Mond beleuchtete durch die aufgerissene Wolkendecke alles mit
seinem sanften Licht.
Es war ein ungewöhnliches Ereignis, da zwei
verschiedene Kulturen aufeinandertrafen. Auch wenn Rijana eine
Arrowann geworden war, sie und Ariac gehörten ebenso zur restlichen
Welt.
Nun stand Brogan neben Rijana vor dem Kreis, der
aus Reisig markiert war, während Ariac bereits im Inneren auf sie
wartete.
Der alte Zauberer hätte nicht stolzer sein können,
wäre Rijana seine leibliche Tochter gewesen. Er war unendlich froh,
dass die Sieben ihre Schwierigkeiten überwunden hatten und Rijana
und Ariac nun ein Paar werden konnten.
Schweigend führte er sie in den Kreis, wo auch
Ariacs Eltern standen. Leá entzündete das Feuer, das kurz darauf
das Tal erstrahlen ließ.
»Ariac und Rijana, eure Zeit der Bewährung habt ihr
mehr als überstanden. Gegen alle Widrigkeiten und Schicksalsschläge
habt ihr eure Liebe bewahrt«, sprach Rudgarr, der Clanführer der
Arrowann, und alle Anwesenden hörten seine klare, kräftige Stimme.
»In diesen schwierigen Zeiten geht ihr den Bund der Flammen ein.
Dieses uralte Ritual des Steppenvolkes wird euch für immer
aneinander binden. In eurem Falle sogar über die Ewigkeit hinaus.
Möge eure Liebe wie dieses Feuer für immer glühen und möge sie
allen Völkern Hoffnung bringen.«
Dann nickte er Brogan zu, und der Zauberer legte
Rijanas Hand in die von Ariac, der sie voller Liebe ansah.
Anschließend umwickelte er die Hände der beiden mit dem von Nelja
gefertigten Lederband. Der Zauberer warf einen unsicheren Blick zu
Rudgarr, aber Ariacs Vater nickte beruhigend. Brogan hatte alles
richtig gemacht.
»Es ist das falsche Holz«, murmelte Leá
unzufrieden, die außerhalb des Kreises stand. Hier im Gebirge
hatten sie keine Althenen-Büsche gefunden.
»Na und?« Lynn blickte auf ihren glücklichen
kleinen Bruder mit Freudentränen in den Augen.
»Der Kreis wird nicht auflodern, und dann werden
sie sich Gedanken machen und …«
Doch da stockte ihr der Atem. Wenige Augenblicke
nachdem Brogan die Hände der beiden mit dem Lederband umwickelt
hatte, erhob sich ein leichter Wind, und die Flammen loderten höher
auf, als es die meisten Arrowann jemals gesehen hatten.
Erstaunte Rufe ertönten, und Leá schüttelte
verwirrt den
Kopf. Doch dann lächelte sie. »Diesmal hat Nawárronn sie
tatsächlich gesegnet.«
Nachdem das Feuer ein wenig heruntergebrannt war,
sprangen die beiden über den noch immer brennenden Kreis – wie die
Steppenleute glaubten, in ein neues Leben.
Nun wurden sie von all ihren Freunden
beglückwünscht und umarmt. Die Zwerge hatten den beiden zwei Dolche
aus dem besten Stahl der nördlichen Berge geschmiedet, und Bocan
murmelte ebenfalls einen Hochzeitssegen.
Elli’vin nahm Wasser aus der Heiligen Quelle und
ließ es auf die Köpfe der beiden fließen. Dabei sang sie ein so
schönes Lied, dass selbst von den ledrigen Wangen der Zwerge Tränen
auf die Erde tropften.
»Euer Schicksal ist mit dem aller Völker
verbunden«, sang sie beinahe. »Auch Thaliens Segen ist mit euch,
selbst wenn er heute nicht hier sein kann.«
Die beiden waren so ergriffen, dass sie kaum
sprechen konnten. Schließlich gab Ariac Rijana einen zärtlichen
Kuss.
Broderick, der neben Falkann stand, legte seinem
Freund einen Arm um die Schultern und drückte ihn tröstend. Falkann
betrübte es zwar etwas, Rijana so zu sehen, aber er versuchte sein
Bestes, mit diesem Teil seines Lebens abzuschließen. Sein Blick
fiel immer wieder auf Leá, die ergriffen neben ihrer
Zwillingsschwester stand.
Nach einer Weile wanderten sie wieder zum
Hauptlager zurück, wo alle dem jungen Paar gratulierten. Dann wurde
gegessen und getrunken.
Bis spät in die Nacht dauerte die Feier an, und für
eine kurze Zeit konnten Menschen, Elfen und Zwerge den drohenden
Krieg vergessen.
Falkann hatte die ganze Nacht mit Leá getanzt.
Keinen der jüngeren Steppenmänner hatte er an sie herangelassen.
Nun saß er mit ihr etwas abseits am Feuer, und sie tranken den
schweren, süßen Wein der Steppenleute.
»Rijana war einmal deine Frau«, sagte Leá plötzlich
und blickte ihn mit ihren dunklen Augen an. »Ist es nicht sehr
schlimm für dich?«
»Du weißt davon?«, fragte Falkann entsetzt.
»Rijana ist meine beste Freundin.«
Seufzend stellte Falkann seinen Becher zur Seite.
»Sie und Ariac haben schon immer zusammengehört. Es ist gut, so wie
es ist.«
»Ich möchte an deiner Seite reiten, wenn es zur
Schlacht kommt«, platzte Leá plötzlich völlig unerwartet
heraus.
Falkann war überrumpelt und flüsterte heiser: »Wenn
du möchtest, werde ich bärtiges Monster aus Catharga auf dich
achten.«
»Ich habe dich niemals für eines gehalten«,
erwiderte sie und gab ihm einen sanften Kuss.