KAPITEL 11
Thaliens Vision
In der Zwischenzeit hatte
Thalien Ariac gebeten, noch einmal mit ihm zur Quelle zu kommen, wo
er lange und eindringlich auf den jungen Steppenkrieger eingeredet
hatte.
»Du hast viel Schlimmes erlebt, Ariac. Trotzdem
hast du deine Ehre und deine Menschlichkeit bewahrt.«
»Ich weiß nicht«, murmelte Ariac. »Ich habe
furchtbare Dinge getan.« Er dachte daran, wie er damals, als er
Scurr geglaubt hatte, kaltblütig Krieger aus Camasann getötet
hatte.
»Vielleicht.« Der alte Elf legte ihm seine Hand auf
den Arm. »Doch nun stehst du auf der richtigen Seite. Dein Hass und
der Gedanke an Rache gegen Scurr und Worran haben dich sehr weit
und oft über die Grenzen deiner Kräfte gebracht, aber nun musst du
diesen Hass loslassen, sonst kannst du nicht siegen.«
»Wie soll ich jemals vergessen, was sie mir angetan
haben?« Ariacs dunkle Augen funkelten zornig.
»Nicht vergessen, loslassen.« Thaliens Stimme war
sanft. »Du hattest eine wunderbare Kindheit in der Steppe. Und nun
hast du wahre Freunde, die zu dir halten und dich unterstützen.
Dafür musst du kämpfen.«
Nachdenklich fiel Ariacs Blick auf die Gemälde an
der Wand. Auf die Schlachten, die er tausende von Jahren zuvor
geschlagen hatte. Sicher wusste er in seinem Inneren, dass Thalien
Recht hatte. Aber gleichzeitig war er sich nicht sicher, ob sein
brennender Hass nicht wieder an die Oberfläche kommen würde, wenn
er Scurr oder Worran gegenüberstand.
»Ich werde mich bemühen«, versprach Ariac, und
Thalien nickte weise. Fürs Erste reichte ihm dieses
Versprechen.
Als Rijana in den großen Raum kam und so strahlend
lachte, wie es schon seit langer Zeit niemand mehr bei ihr gesehen
hatte, wunderten sich ihre Freunde sehr.
»Wo ist Ariac?«, rief sie und blickte sich
um.
Brogan deutete auf die Tür zu dem Saal mit der
magischen Quelle.
»Er ist mit Thalien dort. Du kannst nicht einfach
…«, rief er, doch Rijana war bereits hineingestürmt.
Thalien und Ariac standen an der Quelle und
unterhielten sich leise. Rijana lief einfach drauflos, warf sich
Ariac an den Hals und bedeckte ihn mit Küssen.
Ariac wusste nicht, wie ihm geschah, und blickte
erschrocken zur Tür.
»Was tust du denn da? Wenn Falkann uns sieht
…«
Aber sie schüttelte lachend den Kopf und nahm
seinen Kopf in ihre Hände.
»Er hat mich freigegeben.«
Verdutzt runzelte Ariac die Stirn und taumelte
zurück. Er konnte nicht glauben, was er da hörte.
Nur Thalien lächelte wissend. Er hatte es Falkann
schon angesehen. Der junge Mann hatte Fehler gemacht, viele Fehler,
aber nun war er auf dem richtigen Weg.
»Wie kann er denn … aber das geht doch nicht … und
warum auf einmal«, stammelte Ariac, doch es breitete sich ein
ebenso strahlendes Lachen auf seinem Gesicht aus, als Rijana mit
Freudentränen in den Augen nickte und sagte: »Es ist wahr, wir
dürfen endlich wieder zusammen sein.«
»Ich bin sehr froh, dass Falkann ein so großes
Opfer gebracht hat«, sagte Thalien ernst. »Ihr beiden seid sehr
stark. Mit eurer Liebe habt ihr es sogar geschafft, König Scurrs
Bann zu brechen.«
»Könnte die Sache mit der Quelle noch kurz
warten?«, fragte Ariac grinsend, und als Thalien sich lächelnd
abwandte, gab er Rijana den längsten und leidenschaftlichsten Kuss,
den sie jemals bekommen hatte.
Der Elfenkönig ließ die beiden für einen Moment
allein, schließlich wollte er Rijana und Ariac ihr wiedergewonnenes
Glück gönnen. Als er erneut in den Raum trat, saßen die beiden
engumschlungen am Boden und redeten leise miteinander.
»Bist du bereit?«, fragte er lächelnd.
Ariac nickte und gab Rijana noch einen Kuss.
Beschwingt und so glücklich wie schon lange nicht mehr stand er auf
und nahm sein Schwert. Er folgte Thalien zu der magischen
Quelle.
»Was soll ich tun?«
»Nichts, bleib einfach hier stehen.« Der Elfenkönig
konzentrierte sich und begann in der Sprache der Elfen
geheimnisvolle Verse zu rezitieren.
Nebel bildete sich um ihn und Ariac. Rijana konnte
die beiden nicht mehr sehen, erst nach einiger Zeit tauchten sie
wieder auf.
»Ich habe keine Ahnung, was das war, aber es war
ergreifend«, murmelte Ariac.
Thalien wirkte vollkommen entrückt. »Ich muss
darüber nachdenken.« Der Elfenkönig verließ den Raum.
Rijana und Ariac wussten nicht, was das zu bedeuten
hatte, und wollten nun zu den anderen zurückkehren. Bevor er die
Tür öffnete, wirbelte Ariac Rijana noch einmal herum.
»Ich bin so glücklich, dass ich platzen könnte!«,
rief er.
Sie lachte und umarmte ihn. »Bitte nicht, sonst
habe ich nichts mehr von dir.«
Falkann war bereits bei Brogan und seinen
Freunden, die gar nicht verstehen konnten, warum Rijana so
glücklich gewirkt hatte und Falkann auf einmal so traurig
war.
Falkann ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich habe
sie freigegeben«, erklärte er.
»Du hast was?«, fragte Broderick verständnislos.
»Aber du hast doch so lange um sie gekämpft, und jetzt …«
Resigniert hob Falkann eine Hand. »Es ist besser
so. Sie gehören zusammen, und ich möchte jetzt auch nicht mehr
darüber reden.«
Seine Freunde blickten sich ungläubig an. Kurz
darauf kamen auch Rijana und Ariac herein. Die beiden wurden ein
wenig verlegen, als sie Falkann erblickten, aber er bemühte sich zu
lächeln. Um seine Gefühle nicht noch mehr zu verletzen, setzten sie
sich nicht einmal nebeneinander. Eine ganze Weile herrschte ein
ungemütliches Schweigen.
Brogan versuchte gerade krampfhaft, ein
unverfängliches Thema zu finden, als Thalien hereinkam. Das Gesicht
des Elfen wirkte ernst, als er sich an den Kopf des Tisches
setzte.
»Ich hatte eine Vision«, begann er. »Und die
bestätigt mir eigentlich nur, was ich schon seit langer Zeit
weiß.«
Alle blickten gespannt auf den weisen alten
Elfen.
»Die Welt, wie wir sie kennen, wird sich wandeln,
das ist gewiss. All die vielen Erdbeben und die Vulkanausbrüche im
Norden. Scurrs Orks, die alles vernichten, und die Zwerge, die in
den Süden kommen. Das sind Zeichen der Veränderung.« Niemand wagte,
Thalien zu unterbrechen. »Ich habe gesehen, dass noch in diesem
Jahr vor dem Herbstfest eine gewaltige Schlacht auf den Ebenen von
Balmacann stattfinden wird. Orks, Trolle und Scurrs Männer werden
die Länder überrennen. Sie werden Verwüstung, Tod und Unheil
bringen.«
»Aber wir werden sie aufhalten«, warf Broderick
ein.
Thalien zuckte die Achseln. »Nein, das werdet ihr
nicht. Diesmal sind es nicht nur Waffen, die den Ausschlag geben
werden. Ariac hat zwar gesehen, wie er mit Scurr kämpft, aber das
sagt nichts über den Ausgang der Schlacht.«
Rijanas Blick wanderte zu Ariac. Was Thalien da
erzählte, jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken.
»Aber was wird denn dann geschehen?«, fragte
Rudrinn ungeduldig.
»Es wird Schlachten geben. Auf dem Meer, auf dem
Land und überall. Aber auch die Natur wird kämpfen. Die Vulkane des
Nordens werden ausbrechen, die Erde beben und das Meer sich
erheben. Ihr müsst gegen Scurrs Männer in die Schlacht ziehen, aber
wenn Valwahir über dem westlichen Meer erscheint, dann müsst ihr
die, die euch vertrauen, in Sicherheit bringen.«
»Valwahir«, flüsterte Rijana und fuhr sich über die
Tätowierung auf ihrem Arm.
»Der mächtige Adler, der den Anbruch eines neuen
Zeitalters ankündigt«, murmelte Brogan, denn nun erinnerte er sich
an diese uralte Legende.
Der Elfenkönig nickte weise. »Vieles wird zerstört
werden, um neu entstehen zu können.«
»Aber was sollen wir tun?«, wandte Saliah atemlos
ein.
»Euer Kampf gegen Scurr ist unausweichlich, doch
wenn der Adler erscheint, müsst ihr eure Leute sammeln. Es gibt
einige wenige Stellen in den Ländern, die noch von Magie geschützt
sind.« Er machte eine ausladende Handbewegung. »Tirman’oc, das
Donnergebirge, das Reich der Elfen und die Insel Silversgaard, wo
die Menschen in diesem Zeitalter mal wieder ihrer Gier freien Lauf
gelassen haben. Dorthin müsst ihr fliehen, dann werden die, die
euch vertrauen, überleben.«
»Du meine Güte«, flüsterte Tovion und fuhr sich
über das Gesicht. »Was wird denn alles zerstört werden?«
»Das weiß auch ich nicht«, gab Thalien zu. »Aber
die heiligen Orte des Nordens sind ohnehin bereits zerstört,
vernichtet durch die Gier der Menschen. Und selbst der Zauber von
Silversgaard wurde durch Greedeons Hand beinahe ausgetilgt.
Aber noch lebt die Magie dort in dem uralten Gestein, auch wenn
Menschen sie nicht erkennen.«
»Das tut mir leid.« Saliah hatte Tränen in ihren
strahlend blauen Augen. Aber Thalien kam zu ihr und legte ihr
tröstend eine Hand auf den Arm.
»Nein, mein Kind, du kannst nichts dafür.« Der
Elfenkönig blickte alle der Reihe nach an. »Nun reitet aus und holt
all eure Freunde und Verbündeten. Ich werde die Elfen sammeln und
mich hier in den Wäldern bereithalten. Wenn der Zeitpunkt der
Schlacht gekommen ist, werde ich mich euch anschließen.«
Nun erhoben sich alle, obwohl sie noch ein wenig
unentschlossen wirkten. »Denkt an meine Worte«, rief der Elfenkönig
noch, bevor er davonging. »Ihr müsst euch alle wieder treffen. Nur
gemeinsam seid ihr stark.«
»Wir werden die Piraten holen!« Rudrinn nahm Saliah
in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Aber diesmal
werde ich besser auf dich aufpassen.«
»Ich würde dich gerne begleiten«, meinte Tovion,
Nelja warf Brogan einen unsicheren Blick zu.
Doch der nickte beruhigend. »Geht nur alle beide.
Wir können durch die Vögel in Kontakt bleiben. Ich werde nach
Gronsdale reiten und unsere Verbündeten holen.«
»Sag bitte meinem Vater liebe Grüße«, bat Saliah.
»Und er soll sich keine Sorgen machen.«
»Das wird er sowieso«, meinte Brogan kritisch. Dann
pfiff er seinen Falken zu sich, den er bei den Pferden
zurückgelassen hatte, und sagte schuldbewusst: »Ich habe ganz
vergessen, eine Nachricht an deinen Vater zu schicken.«
»Brogan, ich komme mit dir.« Broderick blickte
Falkann mitleidig an. »Kommst du auch mit?«
Der nickte mit gesenktem Kopf.
»Ihr werdet sicher in die Steppe gehen«, vermutete
Brogan zu Rijana und Ariac gewandt.
Die beiden bestätigten dies. »Aber wir können ja
ein Stück gemeinsam reisen.«
»Ja, und wir sagen gleich den Zwergen
Bescheid.«
Nun verabschiedeten sich alle Freunde. Brogan
umarmte jeden einzeln und sagte am Schluss eindringlich: »Kommt
gesund zurück. Wir haben eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.«
Saliah, Falkann, Nelja und Tovion nickten.
Anschließend verließen alle dieses seltsame und zugleich
märchenhaft schöne Schloss. Der Wald schien genau vor ihnen eine
breite Schneise zu öffnen, man konnte beinahe glauben, dass die
Bäume sich verneigten.
»Ob Thalien wirklich der Wolf war, den wir damals
als Kinder gesehen haben?«, fragte Rijana zu Rudrinn gewandt.
Rudrinn zuckte die Achseln, aber Bali’an, der wie
aus dem Nichts auf seinem Pferd hinter einem Busch hervorkam,
erklärte: »Thalien verwandelt sich manchmal in einen weißen Wolf.
Das ist beeindruckend, aber man erkennt ihn an den Augen.«
Rijana und Rudrinn blickten sich gleichzeitig und
überrascht an.
»Stimmt, die Augen waren dieselben«, meinte
Rudrinn.
Es dämmerte bereits, als sie den Waldrand
erreichten.
»Bitte seid vorsichtig«, ermahnte Brogan
diejenigen, die jetzt zu den Piraten aufbrachen.
»Natürlich, wir schicken dir regelmäßig Nachricht«,
versprach Nelja und streichelte ihrem Falken über das
Gefieder.
Brogan nickte halbwegs beruhigt und galoppierte mit
Bali’an, Rijana, Ariac, Broderick und Falkann in Richtung
Norden.
»Thalien hat mir erlaubt, euch zu begleiten«,
verkündete Bali’an unterwegs und wartete halb erwartungsvoll, halb
ängstlich ab, was der Zauberer dazu sagen würde.
»Natürlich, wir freuen uns«, meinte dieser jedoch
lächelnd, und Bali’ans Gesicht strahlte vor Stolz.
Die Reise durch Balmacann war nicht ganz
ungefährlich, da sehr viele Soldaten unterwegs waren. Doch Bali’an
wusste, wo man sich am besten verstecken und wie man die Natur zu
seinem Vorteil nutzen konnte. So brachte er eines Tages, als die
kleine Gruppe beinahe von einer Patrouille erwischt wurde, ein
Gebüsch nur mit einer Handbewegung dazu, sich so zu verdichten,
dass sie unentdeckt blieben. Der junge Elf war sehr stolz, und
seine menschlichen Begleiter schlossen ihn mit jedem gemeinsamen
Tag mehr ins Herz.
Rijana und Ariac waren unglaublich glücklich. Ganz
langsam und vorsichtig entdeckten sie die alte Vertrautheit
zueinander wieder. Falkann gegenüber bemühten sie sich,
zurückhaltend zu sein, und achteten darauf, dass er sie möglichst
nicht zu oft zusammen sah. Ihm war anzusehen, dass er litt, aber er
versuchte, es zu überspielen.
»Du wirst eines Tages ein wunderbares Mädchen
finden«, versuchte Broderick eines Abends, seinen besten Freund am
Lagerfeuer zu trösten. Mittlerweile waren sie bereits in den
Bergen.
Falkann seufzte jedoch nur tief und starrte weiter
in die Flammen.
»Falkann von Catharga«, rief Broderick übertrieben
aus, »es kann nicht angehen, dass ein dummer Bauerntrampel wie ich
eine Frau findet und du nicht!«
Falkanns Grinsen wirkte ein wenig halbherzig, er
konnte sich nicht vorstellen, jemals für eine andere Frau so viel
zu empfinden wie für Rijana, und noch immer spürte er Eifersucht in
sich.
»Mein Königreich existiert nicht mehr, außerdem
habe ich ein Talent dafür, alles falsch zu machen.« Voller
Schuldbewusstsein sah er den Freund an. »Broderick, ich hätte Ariac
und damit euch alle beinahe noch einmal verraten«, gab er zu.
»Was soll denn der Blödsinn schon wieder? Wir alle
haben dir verziehen, und Thondra …«
»Danach!«
Nun starrte Broderick den Freund entsetzt an.
Falkann fuhr sich durch die halblangen
dunkelblonden Haare und begann Broderick zu erzählen, welche
Gedanken er in jener Nacht nach der Befreiung von Saliah gehabt
hatte.
»Verdammt, Broderick, ich stand vor den Mauern von
König Greedeons Schloss und war kurz davor, den Wachen zu sagen, wo
sich Ariac aufhält.«
»Was?« Entsetzen zeichnete sich auf Brodericks
sonst so gutmütigem Gesicht ab.
»Eure Prügelei, die Wachen, war das …« Broderick
konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, doch Falkann
schüttelte bereits den Kopf.
»Nein, das war eine Ironie des Schicksals, denn so
etwas hätte ich geplant, hätte ich Ariac tatsächlich verraten
wollen.«
»Du hast es nicht?!« Erleichterung machte sich in
Broderick breit, zugleich war er jedoch misstrauisch. Er musterte
seinen Freund genau. Meist konnte er Falkann ansehen, wenn er etwas
verbarg.
Doch nun strahlte er Ehrlichkeit und
Schuldbewusstsein aus. »Ich stand vor den Mauern, und plötzlich
habe ich mich vor mir selbst geekelt.« Verzweifelt sah er den
Freund an. »Wie konnte ich nur so einen Gedanken haben? Ariac
gehört zu uns, er ist unser Freund. Verdammt, ich habe schon einmal
diesen Fehler gemacht und wäre daran fast zugrunde gegangen. Wie
hätte ich jemals mit Rijana glücklich werden können mit dem Wissen,
ihren Geliebten kaltblütig an Scurr ausgeliefert zu haben?«
»Ging es dir nur um Rijana?« Broderick sah Falkann
eindringlich an.
»Nein«, erwiderte Falkann entschieden. »Weißt du,
als die drei Wachen auf uns losgingen, hatte ich Angst, dass Ariac
durch meine Schuld stirbt – damit hätte ich nicht leben können.
« Traurig senkte er den Blick. »Thondra hat mir einmal eine Chance
gegeben, und beinahe hätte ich sie nicht genutzt und noch einmal
den gleichen Fehler gemacht.«
Broderick brauchte einige Augenblicke, um das zu
verdauen. Dann drückte er Falkanns Schulter. »Das ist furchtbar.
Aber aus Liebe und Eifersucht tut man manchmal schlimme
Dinge.«
»Warum habe ich nur so einen schlechten Charakter?
Wieso bin ich so schwach?«
»Du hast keinen schlechten Charakter, du hast dich
besonnen.«
»Broderick, ich hätte beinahe alle Länder ins Chaos
gestürzt, nur um Rijana für mich zu haben.« In Falkanns Augen sah
man Panik aufblitzen.
»Hast du aber nicht. Du hast dich besonnen, und du
hast wahre Stärke bewiesen, indem du Rijana freigegeben hast.«
Obwohl es ihn sehr schockierte, was Falkann ihm gestanden hatte,
glaubte er, dass der Freund nun endgültig seine Lektion gelernt
hatte.
»Thalien weiß es. Ich habe keine Ahnung, wie das
möglich sein kann, aber er hat davon gewusst.«
»Und was hat er gesagt?«
»Dass es nicht die Gedanken sind, die uns zu
Verrätern machen, sondern unsere Taten.«
»Na siehst du.«
»Broderick, wirst du mir helfen und auf mich
achten?«, fragte Falkann mit ängstlichem Blick. »Ich möchte nicht
noch einmal in die Versuchung kommen, Ariac zu verraten.«
Nachdenklich musterte Broderick den Freund. So
viele Jahre hatte er zu ihm aufgeblickt, ihn für den Stärksten und
Mutigsten von ihnen gehalten, aber jetzt brauchte Falkann seine
Hilfe. Mit einem nachdrücklichen Nicken versicherte er ihm nun, gut
auf ihn zu achten. »Ich denke, du hast deine Fehler eingesehen,
aber ich bin für dich da, falls du wieder Gefahr laufen solltest,
dich zu vergessen.«
»Danke.« Nun wirkte Falkann ein wenig erleichtert,
und er drückte dankbar Brodericks Schulter. »Was meinst du, soll
ich es den anderen sagen?«
»Nein, ich denke, das ist nicht nötig.« Plötzlich
erschien sein typisch breites Lächeln auf seinem Gesicht. »Wie ein
weiser alter Elf bereits sagte, es war ja nur ein Gedanke.«
Das Donnergebirge war dank der Zwerge bald
überquert. Sie versprachen, bei der bevorstehenden Schlacht an der
Seite der Sieben zu kämpfen. Angeblich sammelten sich ohnehin mehr
und mehr Zwerge in den Bergen.
Je weiter sie sich der Steppe näherten, umso
angespannter wurde Falkanns Gesicht. Nun würden Rijana und Ariac
sie bald verlassen.
»Glaub mir, es ist besser, wenn du sie eine Zeit
lang nicht siehst«, sagte Brogan, als sie über die letzten Hügel
des Donnergebirges auf die Steppe zuritten.
Falkann zuckte ertappt zusammen. Er musste Rijana
und Ariac, die mit glücklichen Gesichtern nebeneinanderher ritten,
wohl ziemlich auffällig angestarrt haben.
»Wahrscheinlich hast du Recht.«
»Selbstverständlich hat er Recht«, bestätigte
Broderick, der gleich hinter dem Zauberer ritt, »er ist schließlich
ein Zauberer von Camasann!«
»Nicht mehr«, widersprach Brogan fast wehmütig,
»Thalien hat das alles richtig erkannt. Unsere Welt ändert
sich.«
»Aber vielleicht wird es eines Tages eine neue
Schule für junge Krieger geben mit Lehrern wie dir, Rittmeister
Londov und Zauberer Tomis.«
»Das wäre schön, aber ich wage nicht, daran zu
glauben. Zunächst müssen wir Scurr besiegen.«
»Wir sind auf dem besten Weg dorthin«, verkündete
Broderick und versuchte wohl nicht zuletzt, sich selbst damit Mut
zu machen.
Die folgenden Tage waren ungewöhnlich kalt,
eigentlich war es Sommer, aber nun wehte ein eisiger Wind über das
Land, sodass einige Büsche und Bäume sich bereits bunt färbten.
Immer wieder erschütterten Erdbeben das Land, auch wenn man sie
hier in den ersten Ausläufern der Steppe nicht so deutlich spürte
wie weiter im Norden. Von dort sah man nur unheilverkündende
Rauchschwaden aufsteigen.
»Die Vulkane speien Feuer.« Brogan schlang seinen
Umhang fester um sich, denn der Ostwind war eiskalt.
Dann erreichten sie die Ruinen in der Nähe des
Myrensees.
»Wir werden die Steppenkrieger sammeln«, versprach
Ariac, als sie in dem alten Gemäuer saßen und ein mageres
Abendessen verspeisten. »Wenn ihr die restliche Armee, die in
Gronsdale wartet, nach Balmacann führt, schließen wir zu euch auf.«
Er blickte den Zauberer ernst an. »Und wir werden euch helfen,
falls Scurrs Männer die Handelsstraße besetzen.«
»Das weiß ich, und wir verlassen uns auf dich«,
antwortete Brogan und legte eine Hand auf Ariacs Arm.
»Ich wollte dir noch einmal danken«, sagte Rijana
später am Abend zu Falkann, der in der Dunkelheit seinem Hengst das
Fell striegelte.
»Das musst du nicht«, antwortete er nur
knapp.
Aber Rijana nahm seine Hand und blickte zu ihm auf.
»Ich wünsche mir so sehr, dass du eines Tages auch glücklich
wirst.«
Er nickte mit unbewegter Miene und fragte
vorsichtig: »Werdet ihr bei Ariacs Leuten heiraten?«
Verlegen blickte Rijana zu Boden. »Wir sind uns
nicht ganz sicher. Zunächst wollten wir das, aber eigentlich hätte
ich euch gerne alle dabei.« Sie sah ihn unsicher an. »Oder wäre es
dir lieber, wenn du nicht dabei wärst?«
Kurz zögerte Falkann, dann schüttelte er den Kopf.
»Das ist eure Entscheidung, auf mich brauchst du keine Rücksicht zu
nehmen.«
»Wer weiß, was die Schlacht gegen Scurr bringt«,
begann Rijana leise, aber Falkann streichelte ihr vorsichtig über
die Wange.
»Es wird alles gut werden. Ariac hat das magische
Schwert, und wir halten zusammen.«
»Danke, Falkann!« Rijana drückte seine Hand und
ging dann zu Ariac zurück, der bereits in seine Decke gewickelt am
Feuer lag.
Um Falkann nicht unnötig wehzutun, gab sie Ariac
nur ganz verstohlen einen Kuss und legte sich dann etwas abseits
von ihm hin.
Am nächsten Morgen mussten sich Rijana und Ariac
von Brogan, Falkann, Broderick und Bali’an verabschieden.
Falkann und Ariac standen sich im kalten Wind
gegenüber.
»Ich möchte dir danken«, begann Ariac
zögernd.
Doch Falkann hob rasch die Hand, schüttelte den
Kopf und umarmte ihn flüchtig. »Pass auf sie auf und kommt gesund
zu uns zurück.«
Nachdem sich alle gegenseitig viel Glück gewünscht
hatten, ritten sie davon. Rijana und Ariac in Richtung des
Myrensees, die anderen nach Norden. Alle hofften, sich bald
wiederzusehen.
»Was denkst du denn, wo dein Clan ist?«, fragte
Rijana aufgeregt, als sie durch das hohe Steppengras trabten.
»Unser Clan«, stellte Ariac mit einem Lächeln
richtig.
Rijanas Augen strahlten.
»Ich denke, sie werden weiter im Osten sein, wo sie
sich gut verstecken können, aber sicher bin ich mir natürlich auch
nicht.«
»Wir werden sie schon finden.« Nun wirkte Rijana
fröhlich und optimistisch. »Ich freue mich schon so darauf, Leá
wiederzusehen und deine Eltern und den kleinen Ruric …«
»Ich auch!« Ariac ließ Nawárr angaloppieren, und
schon bald stürmten sie Seite an Seite über das weite Land.
Brogan, Falkann, Broderick und Bali’an kämpften
sich gegen den stärker werdenden Wind nach Norden. Es war nicht
ungefährlich, denn dieser Teil des Landes war ziemlich eben, und
sie konnten leicht entdeckt werden. So gut es ging, hielten sie
sich in Senken auf. Um ganz sicherzugehen, ritt immer wieder einer
von ihnen vorsichtig an eine erhöhte Stelle, um Ausschau zu
halten.
Diesmal war Falkann an der Reihe. Er trieb seinen
Fuchshengst ein Stück nach Osten und ließ ihn auf einen
grasbewachsenen Hügel traben. Was er dort sah, ließ ihm den Atem
stocken. Ganz in der Ferne konnte er zwei sich rasch entfernende
Gestalten erblicken – das waren wohl Rijana und Ariac -, weiter im
Osten lagerte eine große Anzahl Menschen mit Zelten und Pferden. Er
hoffte, dass dies Steppenleute waren; aber etwas weiter nördlich
näherten sich, in einer Senke versteckt, eine große Anzahl von
Männern mit roten Umhängen. Sie hielten direkt auf Rijana und Ariac
zu.
Falkann riss seinen Hengst herum und stürmte den
Hügel hinab.
»Rijana und Ariac sind in Gefahr. Scurrs Männer
kommen ihnen entgegen«, rief Falkann nur noch und galoppierte auch
schon davon.
»Was in Thondras Namen …«, schimpfte Brogan, doch
Falkann hörte ihn nicht mehr.
Der Zauberer und seine Begleiter blickten sich
unentschlossen an. Was sollten sie jetzt tun?
»Reitet weiter«, schlug Bali’an vor. »Ich helfe
Falkann, und wir folgen euch dann.«
»Aber wenn ihr Hilfe braucht?«, wandte Broderick
ein.
Doch der junge Elf schüttelte den Kopf. »Wir kommen
schon zurecht. Ich werde euch finden, schließlich bin ich der
schnellste Reiter von euch allen.«
»Also gut«, stimmte der Zauberer zu. »Aber pass
auf!«
Bali’an nickte und galoppierte Falkann
hinterher.
»Hoffentlich geht das gut«, murmelte Brogan, bevor
er mit Broderick weiterritt.
Falkann trieb seinen Hengst zu einem rasenden
Galopp, und das kräftige, ausdauernde Pferd stürmte wie ein roter
Blitz über die Steppe.
Ich muss sie vor Scurrs Männern
erreichen, dachte Falkann verzweifelt.
Schnell galoppierte er durch ein ausgetrocknetes
Flussbett, einen Hügel hinauf und schaffte es nicht mehr
rechtzeitig, seinen Hengst durchzuparieren. Vor ihm, hinter dem
Hügel verborgen, lagerte eine weitere Gruppe von etwa zwanzig
Soldaten.
Aufgeregte Rufe ertönten, und Falkann riss sein
Pferd so hart herum, dass es beinahe stürzte.
Die Soldaten, alle in rote Umhänge gekleidet,
stiegen eilig auf ihre Pferde und wollten Falkann schon einkreisen,
aber der zog sein Schwert und tötete gleich zwei von ihnen. Dann
wollte er fliehen, denn sein Hengst war höchstwahrscheinlich
schneller als die Tiere der Männer, aber sie waren schon bei ihm.
An den geschorenen Haaren erkannte er, dass es hauptsächlich
Soldaten aus Ursann waren, aber nicht nur, auch einige von König
Greedeons Kriegern waren unter ihnen.
Falkann hieb wild um sich, und sein für die
Schlacht ausgebildetes Pferd half ihm, so gut es konnte. Es gelang
ihm, einen Mann vom Pferd zu stoßen, einem weiteren trennte er den
halben Arm ab. Sein silbernes Schwert blitzte in der Sonne, und so
aussichtslos es auch schien, Falkann konnte noch weitere Blutrote
Schatten besiegen. Aber dann traf ihn ein Schwertknauf am
Hinterkopf. Falkann schwankte im Sattel, aber er kämpfte darum, bei
Bewusstsein zu bleiben. Eine Klinge
ritzte ihm den Arm auf, aber das bekam er nur noch ganz
verschwommen mit. Sein Blickfeld verengte sich immer mehr, und als
er plötzlich sah, wie die Männer um ihn herum von Pfeilen getroffen
aus dem Sattel kippten, glaubte er, er würde halluzinieren. Ganz am
Rande bekam er mit, wie dunkelhaarige tätowierte Männer auf
stämmigen Steppenpferden angaloppiert kamen, dann sah er nur noch,
wie der Boden näher rückte.
»Rijana und Ariac, ihr müsst sie warnen«, keuchte
er, als sich ein tätowiertes Gesicht über ihn beugte, aber dann
wurde ihm schwarz vor Augen.
Wogendes Gras und blauer Himmel – Falkann hörte
Stimmen, deren Worte er nicht erfassen konnte. Kurz schloss er
seine Augen wieder, doch dann erinnerte er sich. Rijana war in
Gefahr – er musste sie und Ariac warnen. Mit einem Ruck wollte er
sich aufsetzen, aber da fuhr ein stechender Schmerz durch seinen
Kopf, und ihm blieb die Luft weg. Flirrende Punkte tanzten vor
seinen Augen, und eine Hand drückte ihn zurück auf die Decke, auf
der er lag.
»Du musst liegen bleiben, wie oft soll ich das denn
noch sagen?«, drang eine verzerrt klingende Frauenstimme an sein
Ohr.
»Rijana?«, murmelte er.
Endlich bekam er die Augen einen Spalt breit auf.
Aber es war nicht Rijana, sondern eine schlanke junge Frau mit
rabenschwarzen Haaren. Sie war sehr hübsch und lächelte ihn
beruhigend an.
»Rijana … Ariac … Scurrs Soldaten, sie sind …«,
keuchte er, aber die Frau schüttelte den Kopf.
»Alles ist gut. Wir haben sie rechtzeitig gefunden.
Aber du sollst jetzt nicht so viel sprechen.«
Mit einem erleichterten Seufzen schloss Falkann die
Augen. Er hoffte, dass alles nicht nur ein Traum war, aber sein
Kopf dröhnte derart, dass er nicht weiter darüber nachdenken
konnte.
Sterne standen am Himmel, als Falkann wieder
aufwachte. Ihm war kalt. Ganz vorsichtig drehte er den Kopf,
bereute dies aber sofort und stöhnte leise auf.
»Liegen bleiben«, kam ein scharfer Befehl von
links.
Diesmal bewegte er nur die Augen. Es war wieder die
junge Frau.
»Ich wollte mich nicht bewegen«, verteidigte er
sich schnell. »Mir ist nur die Decke runtergerutscht.«
»Oh.« Die junge Frau deckte ihn zu und betrachtete
ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Wer bist du?«
»Leá, Ariacs Schwester.«
»Dann geht es ihnen wirklich gut?«, fragte Falkann
erleichtert und wollte sich auf die Unterarme stützen.
»Verdammt«, fluchte er.
»Jetzt bleib doch endlich liegen«, schimpfte Leá.
»Dieser Elf«, in ihren Worten schwang noch immer Unglaube darüber
mit, dass sie tatsächlich einen Elfen gesehen hatte, »wollte
irgendein Heilkraut suchen. Meine Kräuter haben nicht sehr viel
genützt. Der Soldat hat dir den halben Schädel
eingeschlagen.«
»So fühle ich mich auch. Aber was war denn los?«
Das Sprechen fiel ihm schwer.
Leá legte ihm beruhigend eine Hand auf die
Schulter. »Ich erzähle es dir später, es ist besser, wenn du jetzt
schläfst.«
»Nein … bitte gleich …«, presste er heraus.
»Aber du bleibst ruhig liegen und redest
nicht!«
Falkann deutete ein Nicken an.
»Gut.« Leá setzte sich im Schneidersitz neben ihn.
»Schon vor einigen Monden haben sich alle Clans der Steppe in
Richtung der Berge aufgemacht. Es wurde zu gefährlich für uns.
Überall schwärmten Blutrote Schatten herum, und es gab immer
wieder Kämpfe. Frauen und Kinder sollten in ein Versteck im
Donnergebirge gebracht werden. Das ist zwar nicht unsere Art zu
leben, aber es war sicherer. Die Krieger und Heilkundigen der Clans
wollten sich am Ufer des Myrensees treffen, um gemeinsam gegen
Scurrs Männer zu kämpfen.«
Falkann wollte etwas sagen, aber Leá blickte ihn
scharf an.
»Wir haben so sehr darauf gehofft, dass Ariac zu
uns kommt und uns sagt, was los ist. Auf jeden Fall waren wir
gerade auf dem Weg zum See, als einige unserer Krieger dich durch
Zufall entdeckt haben, wie du ganz allein gegen Scurrs Männer
gekämpft hast. Sie waren schwer beeindruckt von deiner Kampfkunst.«
Sie lächelte ihm zu. »Auf jeden Fall hat einer unserer Männer dann
noch ›Ariac und Rijana‹ verstanden, und wir haben die beiden
gefunden. Jetzt kämpfen sie gemeinsam mit den Kriegern meines Clans
und denen des Wolfsclans gegen die Blutroten Schatten. Du hast uns
zum Glück rechtzeitig gewarnt.«
»Hmm«, murmelte Falkann und bemühte sich, die Augen
offen zu halten.
»Aber jetzt ist es genug«, sagte Leá leise. »Schlaf
jetzt.«
Er hielt sie an der Hand fest. »Danke.«
Vorsichtig legte Leá ihm eine Hand auf die Stirn.
»Tut es sehr weh?«
»Das war es wert«, murmelte er, bevor er
einschlief.
Kurz vor der Morgendämmerung kamen Rijana und Ariac
zurück, in Begleitung von Fodrac, Ariacs Cousin. Sie sahen
erschöpft aus und hatten alle kleinere Schnittwunden, aber nichts
Ernstes.
Rijana sprang von ihrer Stute und kniete sich neben
Falkann, der einen dicken Verband um den Kopf hatte.
»Wie geht es ihm denn?«
»Ich denke, besser«, beruhigte Leá sie. »Bali’an
hat irgendwelche Wurzeln geholt und Wasser aus einer heiligen
Quelle, das soll Falkann nachher trinken.« Die hübsche junge
Steppenfrau
zog ihre dunklen Augenbrauen zusammen. »Ich wusste gar nicht, dass
es in der Steppe solche Quellen und Pflanzen gibt. Ich hätte mich
zu gern noch ein wenig mit dem Elfen unterhalten.«
Bali’an war sofort aufgebrochen, nachdem er sich
versichert hatte, dass sich die junge Steppenfrau gut um Falkann
kümmern würde, um Brogan und Broderick Bescheid zu geben.
Dann zeichnete sich ein Lächeln auf Leás Gesicht
ab, und sie umarmte Rijana. »Wir haben uns noch gar nicht richtig
begrüßt.«
Rijana entspannte sich ein wenig, da sie sah, dass
Falkann ruhig schlief, und umarmte Ariacs Schwester ebenfalls. Auch
ihren Bruder begrüßte Leá herzlich.
»Ihr wart lange fort. Wir haben auf euch gewartet.
Alle haben sich darauf gefreut, eure Hochzeit zu feiern.«
Rijana und Ariac blickten betreten zu Boden. Dann
legte er seinen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.
»Das war alles nicht so einfach, aber jetzt ist es
gut.«
Sie erzählten ihr, was vorgefallen war. Leá konnte
vieles gar nicht glauben. Ihr Blick fiel auf Falkann, der ruhig
schlief, und dann auf Rijana, die sehr verlegen wirkte.
»Es war alles meine Schuld«, sagte Ariac betreten,
aber Rijana schüttelte den Kopf und legte ihm einen Finger auf die
Lippen.
»Nein, meine auch. Aber jetzt ist es vorbei.«
»Dann hatte Warga damals Recht«, sagte Leá
nachdenklich. »In deinem Leben gab es tatsächlich zwei Männer, und
du wirst wohl auch zweimal heiraten.«
Ariac blickte die beiden Mädchen verwirrt an.
»Warum hast du mir nie etwas davon gesagt, Rijana?«
»Weil es mir furchtbare Angst gemacht hat. Ich
hatte Angst, dass du vielleicht sterben könntest oder dass du mich
vielleicht doch nicht willst.«
Er drückte sie fest an sich. »Ach, Rijana.«
»Aber jetzt könnt ihr ja zusammen glücklich
werden«, meinte Leá und lächelte die beiden an.
»Der Kampf gegen Scurr und Greedeon steht bevor«,
wandte Ariac düster ein, aber Rijana drückte seine Hand.
»Wir schaffen es. Dein Cousin hat gesagt, es sind
beinahe tausend Steppenkrieger, das hilft uns sehr.«
»Sicher«, gab Ariac zu, wirkte jedoch ein wenig
unsicher. Zu viel lastete auf seinen Schultern. Er war es, der
Scurr töten musste.
Rijana schien ihm seine Gedanken anzusehen und
umarmte ihn fest. »Ich bin bei dir, ich helfe dir.«
Er lächelte zögernd und unterhielt sich
anschließend leise mit seinem Cousin. Nach einer Weile gingen die
beiden davon, um nach weiteren Soldaten Ausschau zu halten.
Als Falkann sich langsam bewegte und die Augen
aufschlug, saß tatsächlich Rijana an seiner Seite.
»Danke, Falkann, du hast uns und wahrscheinlich
einer Menge Steppenkriegern das Leben gerettet.«
»Es war mir eine Ehre«, sagte er und brachte ein
verzerrtes Grinsen zustande. Dann blickte er sich vorsichtig um.
»Ist Ariacs Schwester in der Nähe? Ich würde mich gerne ein wenig
aufsetzen, aber dann reißt sie mir wahrscheinlich auch noch den
Rest von meinem Kopf ab.«
Ein helles Lachen ertönte hinter ihm, und Leá
packte ihn unter den Achseln, damit er sich aufrichten konnte.
»Jetzt darfst du. Dieser Bali’an hat eine wunderbare Wurzel
mitgebracht, die habe ich zu einer Paste verarbeitet und auf deinen
Kopf geschmiert.«
Mit einiger Anstrengung setzte sich Falkann auf.
»Ich merke es, es tut nicht mehr so weh«, rief er verwundert
aus.
Leá reichte ihm eine Schale mit Wasser, die er
durstig austrank. Erst jetzt verschaffte er sich einen Überblick.
Sie waren am Ufer des Myrensees, versteckt auf einer von Schilf
umgebenen Halbinsel.
»Warum sind wir denn nicht in den Bergen?«, fragte
Falkann verwirrt. »Sind denn keine Soldaten mehr in der
Nähe?«
Rijana blickte ihn besorgt an. »Wir haben dich
nicht transportieren können. Aber die Steppenkrieger halten Scurrs
Männer von hier fern.«
»Aber jetzt können wir ja verschwinden.« Falkann
wollte aufstehen, was er allerdings bitter bereute. Die Welt um ihn
begann, sich augenblicklich zu drehen.
Leá stieß einen sehr undamenhaften Fluch aus und
drückte ihn auf die Decken zurück. »Er will sich mit Gewalt
umbringen«, schimpfte sie und funkelte ihn zornig aus ihren dunklen
Augen an.
»Wir könnten auch noch ein klein wenig warten«,
murmelte Falkann, nachdem er wieder Luft zum Sprechen hatte.
Wie ganz aus der Ferne konnte er noch Rijanas
Stimme hören, aber dann wurde wieder alles dunkel um ihn.
»Es geht ihm doch wieder besser, oder?«, fragte
Rijana erschrocken an Leá gewandt und nahm seine Hand in
ihre.
Die nickte und runzelte die Stirn. »Eigentlich
sollte er sich noch einige Tage ausruhen, aber ich befürchte, wir
müssen in der Nacht aufbrechen.« Sie winkte einen ihrer Cousins zu
sich und bat ihn, aus Schilfrohr eine Trage zu bauen.
Bei Einbruch der Dämmerung hatten sich alle
Steppenkrieger versammelt. Sie begrüßten Ariac und Rijana, dann
machten sie sich im Schutz der Dunkelheit auf, in die Berge zu
reiten.
Falkann wachte nicht auf, als zwei Steppenkrieger
ihn auf die Trage hoben. Leá hatte ihm einen starken Schlaftrank
gebraut, so bekam er in den folgenden zwei Tagen gar nicht mit, wie
sie sich wieder dem Donnergebirge näherten.
Kalte Luft strich über sein Gesicht, und er fragte
sich, warum es so schaukelte. Zunächst glaubte er, auf einem Boot
zu sein. Langsam öffnete er die Augen, aber das helle Licht tat ihm
weh, und sein Kopf begann zu dröhnen.
Eine schlanke Hand legte sich auf seinen Arm. »Wir
sind gleich da, keine Angst«, versprach Leá.
Seufzend ließ sich Falkann wieder zurücksinken. Er
biss die Zähne zusammen und versuchte, den Schmerz in seinem Kopf
zu ignorieren. Als die Steppenkrieger ihn dann endlich auf den
Boden ließen, war er allerdings mehr als erleichtert. Ganz
vorsichtig hob er den Kopf. Er fand sich in einem Felsenkessel
wieder, in dem jede Menge Zelte aufgebaut waren. Steppenmänner,
Frauen und Kinder liefen umher und sogar einige Zwerge.
Leá reichte ihm einen Trinkbeutel mit Wasser aus
der heiligen Elfenquelle, welches Falkann gern annahm, und
wechselte den Verband um seinen Kopf.
»Wie geht es dir?«
»Gut«, antwortete er, obwohl ihm immer noch
schwindlig war.
Nun kamen auch Ariac und Rijana zu ihm.
»Ich habe dir noch gar nicht gedankt«, sagte Ariac
verlegen und packte ihn am Unterarm. Er blickte seine Schwester an.
»Der Transport hat ihm doch hoffentlich nicht geschadet?«
Sie machte ein unsicheres Gesicht, doch Falkann
versicherte, dass es ihm gut ging.
»Was ist mit Brogan?«, fragte er.
»Bali’an ist ihnen nachgeritten, er weiß, wo wir
uns versteckt halten«, erklärte Ariac.
Falkann blickte sich angespannt um. Die vielen
Steppenleute mit den unterschiedlichsten und wildesten
Tätowierungen verunsicherten ihn ein wenig.
»Sie sind sehr nett«, versicherte Rijana, die wohl
seine Gedanken gelesen hatte, und reichte ihm dann eine Schüssel
mit Suppe.
Nach einer Weile kamen zwei kleine, sehr stämmige
Gestalten auf sie zu. Es waren Roock und Breor, wie Rijana und
Ariac verwundert feststellten. Die beiden grinsten breit, und
der schwarzhaarige Roock, dessen Bart seit ihrem letzten Treffen
noch weiter gewuchert war, rief so laut, dass Falkann
zusammenzuckte: »Ha, ihr zwei verrückten Menschen habt es
tatsächlich geschafft.«
Er umarmte Ariac heftig, dann Rijana etwas
vorsichtiger. »Ihr wart tatsächlich in Scurrs Burg und seid lebend
herausgekommen?«, fragte Roock ungläubig.
Rijana nahm Ariacs Hand. »Ja, wir haben es
geschafft, allerdings nur knapp.« Sie blickte Ariac an und dachte
schaudernd an ihre Reise durch Ursann.
Roock staunte nicht schlecht. Er hatte bereits
Geschichten gehört, aber Thondras Kinder nun vor sich zu sehen, war
noch einmal etwas anderes.
»Wir sind mit etwa einhundert Zwergen
hierhergekommen, weitere werden folgen«, erklärte Breor und
runzelte seine lederartige Stirn. »Unser Zwergenkönig, Bocans
Vater«, er deutete auf den dunkelhaarigen Bocan, der in einiger
Entfernung saß und eine Hirschkeule verspeiste, »der ist noch immer
im Norden unterwegs. Jagt mit seinen Männern Orks, Trolle und
Blutrote Schatten.« Er spuckte auf den Boden. »Er hat zwar
versprochen, ebenfalls ins Donnergebirge zu kommen, aber wenn er
sich nicht beeilt, dann wird es wohl zu spät für ihn sein.«
»Warum?«, wollte Ariac wissen.
Der Zwerg spuckte erneut auf den Boden. »Der ganze
Norden wimmelt von finsteren Kreaturen. Die Berge spucken Feuer.
Wahrscheinlich wird er bald geröstet werden.«
Roock lachte laut auf. »Der alte, zähe Zwerg hat
eine so dicke Haut, dass ihm wahrscheinlich nicht einmal flüssige
Lava etwas ausmacht.«
Breor sah jedoch besorgt aus, und auch Bocans Miene
war finster.
Falkann wurde ziemlich schnell wieder müde, und die
anderen ließen ihn schlafen.
»Ohne die Elfenmedizin hätte er wohl nicht
überlebt«, sagte Leá leise, als sie mit Ariac, Rijana und ihrer
Zwillingsschwester am Feuer saß.
Lynn hatte erst vor kurzem erfahren, dass Leá
ebenfalls hier war, und war froh, endlich wieder neben ihrer
Schwester sitzen zu können. Sie waren immer glücklich, wenn sie
zusammen waren.
»Tja, da haben wir wohl noch etwas gemeinsam«,
murmelte Ariac und warf einen Blick auf den schlafenden
Falkann.
Rijana drückte seine Hand, und ihr Blick
versicherte ihm, dass sie nun nichts mehr auseinanderbringen
würde.
»Ich würde eure Freundin, diese Nelja, gern kennen
lernen«, meinte Leá und trank einen Schluck von dem
Beerenwein.
»Du wirst sie, hoffe ich, bald alle treffen.«
Rijanas Blick wandte sich nach Westen. Wie mochte es Rudrinn,
Saliah, Tovion und Nelja ergehen? Würde es ihnen ebenfalls
gelingen, Verbündete zu finden?
»Sie werden auf sich aufpassen«, flüsterte Ariac in
ihr Ohr und zog sie fest an sich.
Als eine der jüngeren Steppenfrauen begann, ein
wunderschönes und auch irgendwie traurig klingendes Lied zu singen,
wachte Falkann erneut auf. Er stützte sich auf die Unterarme und
blickte zum Feuer, dann stöhnte er jedoch auf, und Rijana kniete
sich erschrocken neben ihn.
»Was hast du denn?«
»Ich glaube, der Schlag war doch ziemlich übel.
Jetzt sehe ich schon doppelt.« Leá und Lynn begannen zu lachen, und
auch Rijana schmunzelte. Sie tippte Falkann auf die Schulter.
»Ariac hat Zwillingsschwestern.«
Vorsichtig öffnete Falkann die Augen und blickte
auf zwei schwarzhaarige Frauen, die ihn angrinsten. Erst auf den
zweiten Blick erkannte er, dass die eine offensichtlich schwanger
war.
»Oh, Verzeihung«, stammelte er.
»Darf ich vorstellen«, Leá verbeugte sich, »meine
Schwester Lynn. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dafür zu
sorgen, dass das Steppenvolk nicht ausstirbt, und bekommt ihr
viertes Kind. Ich dagegen bin eher so etwas wie eine
Heilerin.«
Lynn setzte sich neben ihn und betrachtete ihn von
oben bis unten. »Ich hätte dich mir zwar beeindruckender
vorgestellt, aber ich danke dir trotzdem. Du hast meinen Clan
gerettet.«
Ariac nahm sie in den Schwitzkasten. »Lynn ist
unglaublich frech.«
Sie kicherte und zappelte, um frei zu kommen. »Ist
doch wahr. Das soll der Königssohn von Catharga sein? Dabei sieht
er aus wie ein zotteliges Ungetüm mit einem dicken Verband um den
Kopf und einem grün-blauen Gesicht.«
Falkann fuhr sich über seinen ungepflegten Bart und
knurrte zu Leá gewandt: »Ich hoffe, du hältst mich nicht auch für
ein Ungetüm.«
»Ich könnte dir ein Messer holen«, erwiderte sie
nur.
Rijana lachte leise und drückte Falkanns
Schulter.
»Steppenmänner tragen normalerweise keine Bärte«,
erklärte sie.
»Und diese Tätowierungen sollen wohl schön sein?«,
brummte er beleidigt und zeigte auf einen Verwandten der
Zwillinge.
»Genau«, erwiderte Lynn mit dem ihr typischen
Selbstbewusstsein. »Sie zeigen an, dass der Mann, der sie trägt,
ein guter Jäger ist und schon eine Menge Schlachten geschlagen
hat.«
Seufzend legte er sich wieder hin. Das Steppenvolk
war für ihn eine andere Welt.
Nach zwei Tagen gelang es Falkann mit Ariacs
Hilfe, zum nächsten Bach zu schwanken und sich zu waschen. Er
blickte in das kleine natürliche Becken und runzelte die
Stirn.
»Deine Schwester hatte Recht, ich sehe ja furchtbar
aus.«
Leise lachend reichte Ariac ihm sein Messer. »Die
blauen Flecken werden noch heilen, aber deinen Bart kannst du jetzt
schon in Ordnung bringen.«
Falkann begann, sich zögernd zu rasieren und fragte
Ariac ein wenig über seine Schwestern, besonders über Leá, aus.
Ariac erzählte bereitwillig, was er wissen wollte. Er war froh,
dass sie nun wieder normal miteinander reden konnten.
Nach und nach trafen noch einige Steppenkrieger
ein, und einige Tage später kam sogar Bali’an wieder ins Lager
galoppiert. Die Steppenleute und Zwerge blickten ihn mit offenen
Mündern an. Kaum jemand hatte jemals einen Elfen gesehen.
»Brogan und Broderick sind gut in Gronsdale
angekommen. Sie nehmen so viele Menschen wie möglich aus den
umliegenden Ländern mit und werden dann hierher kommen«, berichtete
er mit leuchtenden Augen. Dann betrachtete er Falkann eingehend.
»Du hast überlebt.«
»Ja, so wie es aussieht.« Falkann lächelte dabei
Leá an, die zu ihrem Ärger ein wenig errötete.
Bali’an gab Falkann eine Pflanze, die angeblich
magische Kräfte haben soll, und riet ihm, sich diese auf die
Kopfwunde zu legen, was er auch gleich tat. Und obwohl Falkann es
kaum glauben konnte, war die Wunde nach zwei Tagen komplett
geschlossen, und er fühlte sich so gesund wie früher.
In den folgenden Tagen wurde das Wetter immer
kälter. Man konnte nicht merken, dass es Sommer war, denn eisige
Stürme fegten über das Land, und hier und da fiel sogar Schnee.
Immer wieder erschütterten Erdbeben die Länder, und im Norden
konnte man häufig den fernen Schein von Feuer sehen.
Bocan, der Sohn des Zwergenkönigs, fluchte heftiger
denn je. Er machte sich Sorgen um seinen Vater und die restlichen
Verwandten, die noch immer im nördlichen Gebirge ausharrten.
»Was will sich der alte Narr nur beweisen«, knurrte
er immer wieder und trainierte verbissen mit seiner Axt.
Viele Steppenleute, darunter auch Ariacs Vater
Rudgarr, beobachteten Ariacs Kampfkunst mit dem Schwert mit
gemischten Gefühlen. Einerseits bewunderten sie seine
Geschicklichkeit, wenn er mit Falkann, Rijana oder Bali’an
trainierte. Andererseits verunsicherte es sie aber auch. Die
Steppenleute kämpften nicht mit Schwertern. Ihre Waffen waren
Bögen, Speere oder Messer, so hatten sie es seit Generationen
gehalten.
Auch Ariac war unsicher und wollte zunächst nicht
vor seinen Verwandten trainieren, doch sein Vater überzeugte ihn
davon, dass er sich nicht zu schämen brauchte.
»Die Zeiten ändern sich«, meinte Rudgarr, der große
Mann mit den vielen Tätowierungen und den hüftlangen schwarzen
Haaren, eines Tages zu seinem Sohn. »Die Elfen haben wohl Recht,
ein neues Zeitalter bricht an.« Dann lächelte er seinen Sohn an.
»Deine Haare sind schon wieder gewachsen.«
Ariac fuhr sich durch die dichten dunklen Haare,
die er mit einem Lederband im Nacken zusammengebunden hatte.
»Vielleicht werde ich eines Tages wieder ein Arrowann sein.«
»Das warst du immer.« Rudgarr blickte ihm tief in
die Augen. »Und ich bin sehr stolz auf dich. Auf dich, auf deine
Rijana und auch auf deine Freunde, die ich noch nicht kenne.«
Ariac lächelte zögernd, doch er konnte spüren, dass
sein Vater es ernst meinte.
»Ruric möchte auch lernen, mit einem Schwert zu
kämpfen«, fuhr Rudgarr fort.
»Du hast es ihm aber verboten«, vermutete
Ariac.
»Nein, das habe ich nicht. Wenn er von selbst den
Wunsch äußert, dann soll er es erlernen.«
»Aber Ruric will mir doch nur nacheifern.« Ariac
war skeptisch,
besonders da er sah, dass sein Vater nicht ganz sicher bei seinen
Worten gewirkt hatte. »Er ist ein kleiner Junge, und es würde die
Tradition brechen.«
Rudgarr hob unentschlossen die Achseln. »Zunächst
hat es mir auch Unbehagen bereitet, aber ich denke, es ist
richtig.« Er fasste seinen ältesten Sohn fest an den Schultern. »Du
trägst ebenfalls ein Schwert, wirst aber dein Leben lang ein
Arrowann bleiben, egal, wo du lebst.« Nun blickte er auf Rijana,
die in einiger Entfernung an dem kleinen Bach saß und verträumt mit
einer Hand im Wasser spielte. »Stell dir nur vor, sie wäre keine
von uns geworden, dann hättest du sie nicht heiraten können, und
das, obwohl ihr schon seit tausenden von Jahren
zusammengehört.«
Ariac wollte schon etwas einwenden, aber Rudgarr
schüttelte den Kopf. »Du hättest freiwillig auf sie verzichtet,
weil du dich den Traditionen verpflichtet gefühlt hättest, aber du
wärst unglücklich geworden. Ich denke, es ist an der Zeit, einige
Dinge zu überdenken. Das habe ich auch den anderen Clanführern
bereits gesagt.«
»Und, wie ist ihre Meinung dazu?«
»Geteilt, aber ich denke, es muss sein. Falls alles
so eintrifft, wie es der Elfenkönig gesagt hat, wird sich ohnehin
vieles ändern.«
Aus einem Impuls heraus erzählte Ariac seinem Vater
nun, obwohl er es zuvor niemals getan hatte, dass er nicht auf
Camasann ausgebildet wurde, sondern vor vielen Jahren von Scurrs
Soldaten entführt worden war. Zwar brachte er es nicht fertig, ihm
von all den Qualen und Entbehrungen zu berichten, denn auch so
verlor Rudgarrs Gesicht jegliche Farbe. Nachdem Ariac geendet
hatte, war es dem Steppenmann für einige Zeit nicht möglich,
überhaupt zu sprechen.
»Ursann war schlimm, aber es ist vorbei«, meinte
Ariac beschwichtigend.
»Du liebe Güte, Ariac!« Rudgarrs Stimme war nur
noch ein
Flüstern. Ariac hatte ihn niemals zuvor so erschüttert gesehen,
und beinahe bereute er es, etwas gesagt zu haben. »Hätten wir
gewusst, dass du in Ursann bist, wären wir dir zu Hilfe gekommen –
jeder Clan hätte sich uns angeschlossen!«
»Ihr hättet es nicht geschafft«, widersprach Ariac
und versuchte noch eine ganze Weile, seinen Vater zu
beruhigen.
Noch immer aufgewühlt nahm Rudgarr seinen Sohn in
den Arm. Nun wurde ihm vieles klar. Die kurzen Haare, Ariacs
merkwürdig zurückhaltendes Verhalten, als er das erste Mal mit
Rijana bei ihnen gewesen war, und der häufig so harte Ausdruck in
seinen Augen.
»Mutter und Lynn wissen nichts davon, und ich
glaube, das sollte so bleiben.«
»Und Leá?«
»Sie hat es schon vor langer Zeit
herausgefunden.«
Voller Sorge betrachtete Rudgarr seinen Sohn. »Es
tut mir unendlich leid.«
Ariac lächelte beruhigend, doch er wurde
nachdenklich, während er zu Rijana ging, der es wohl gerade ebenso
ging und daher zusammenzuckte, als er sie an der Schulter
berührte.
»Denkst du an Brogan und Broderick?«, fragte er und
streichelte über ihr ernstes Gesicht.
»Nein.« Rijana begann, an ein paar kleinen Blumen
herumzuzupfen. Ein kalter Wind wehte durch die Felsen, und Ariac
legte ihr die Arme um den Oberkörper.
Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte sie sich an
ihn. Wenn er bei ihr war, fühlte sie sich sicher und
geborgen.
»Sag es mir«, flüsterte er in ihr Ohr, »ich möchte
alles mit dir teilen.«
Rijana zögerte dennoch, sie nahm einige Anläufe und
stammelte dann: »Weißt du, es ist wahrscheinlich dumm von mir … ich
meine … sie hätten es verdient, aber …« Rijana biss sich auf die
Lippe.
Lächelnd streichelte Ariac über ihre Wange. »Was
ist dumm?«
»Meine Eltern«, entfuhr es ihr, »meine Schwestern,
meine Nichten und Neffen, sie werden alle sterben, wenn Thalien
Recht behält.«
Daran hatte Ariac gar nicht gedacht. Nach einer
kurzen Weile sagte er: »Gut, wenn du möchtest, können wir noch
einmal zu ihnen reiten und sie warnen.«
»Wirklich? Du würdest wirklich noch einmal mit mir
nach Grintal gehen?«
»Sicher, sie mögen mich nicht, und ich könnte
deinen Vater dafür vierteilen, wie er dich behandelt hat, aber
deine Schwestern und deren Kinder können nichts dafür. Ich kann
verstehen, dass du sie warnen möchtest.«
Nun fiel Rijana ein Stein vom Herzen. Sie umarmte
Ariac glücklich. »Du bist wunderbar.«
»Ach was …«, begann er. Doch da sprang eine Gestalt
von der dicken Eiche herunter, unter der sich Rijana und Ariac
allein geglaubt hatten. Erschrocken fuhren die beiden auf.
Es war jedoch nur Bali’an, der nun grinsend vor
ihnen stand.
»Ihr könnt nicht gehen, ihr seid zwei der
Sieben.«
»Du hast gelauscht«, schalt ihn Rijana.
Für einen Augenblick wirkte er wie ein ertapptes
Kind, doch dann grinste er schon wieder. »Ich habe nur im Baum
gesessen und mit ihm geredet.«
»Du redest mit Bäumen«, stellte Ariac ungläubig
fest.
»Tut ihr das etwa nicht?« In Bali’ans Stimme war
eine Spur von Entsetzen zu hören, doch dann seufzte er. »Stimmt,
ihr Menschen seid ja seltsam.«
Daraufhin mussten Rijana und Ariac lachen.
Der junge Elf sagte jedoch ruhig: »Es ist mein
Ernst, ihr müsst gemeinsam mit euren Freunden bereit sein, nach
Tirman’oc zu gehen, und das wohl schon sehr bald.« Er drehte
sein Gesicht in den Wind, und die beiden Menschen überkam ein
eiskalter Schauer. »Das Ende dieses Zeitalters naht, da hat Thalien
schon Recht, selbst ich kann es jetzt spüren.«
Wie um Bali’ans Worte zu unterstützen, sah man weit
in den nördlichen Bergen eine Feuersäule zum Himmel aufschießen,
dann bebte der Boden. Rijana klammerte sich ängstlich an Ariac
fest, aber auch er war ein wenig bleich geworden.
»Aber meine Familie«, begann sie zögernd, doch
Bali’an strich ihr sanft über die Wange.
»Keine Sorge, Rijana, ich werde zu ihnen gehen,
wenn du mir den Weg erklärst«, nun überzog ein jungenhaftes Grinsen
sein Gesicht, »mit der Magie der Elfen bin ich sowieso
schneller.«
»Ich weiß nicht, ich glaube kaum, dass sie auf
einen Elfen hören werden. Sie glauben wahrscheinlich nicht einmal,
dass es euch gibt.«
Nun wirkte Bali’an wieder verwirrt, doch dann hob
er die schmalen Schultern und grinste. »Wenn sie mich sehen, werden
sie es glauben.«
»Wenn ich ihnen nur etwas geben könnte, damit sie
wissen, dass die Nachricht von mir kommt«, murmelte Rijana, »aber
sie können nicht einmal lesen.«
Doch Bali’an lachte nur auf, nahm einen flachen
Kieselstein in die Hand, sprach einige Worte in seiner Sprache, und
Rijanas Gesicht erschien auf dem Stein.
»Wie hast du das gemacht?«, staunte Rijana.
»Das ist doch nichts Besonderes«, der junge Elf
blickte sie aus großen Augen an, »das konnte ich schon mit
einhundertvier Jahren. Man muss den Stein nur fragen, ob er das tun
will.« Dann grinste er. »Bei so einem hübschen Mädchen tut er es
übrigens mit Vergnügen.« Bali’an wischte über die glatte
Oberfläche, und Rijanas Gesicht war wieder verschwunden.
Sie grinste ein wenig verlegen und nahm dann die
schlanke Hand des Elfen in ihre.
»Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du das für mich
tun würdest, aber du musst es nicht, es ist gefährlich.«
»Du bist meine Freundin«, erwiderte er leichthin.
Dann wollte er wissen, wo ihre Eltern lebten.
So gut es ging, beschrieb sie ihm den Weg nach
Grintal, obwohl sie sich gar nicht ganz sicher war, ob ihre Familie
noch dort lebte. Vor langer Zeit, als sie mit Ariac dort gewesen
war, hatte sie ihnen Gold geschenkt. Vielleicht waren sie in die
Stadt gezogen.
»Bali’an«, sagte Ariac plötzlich, »noch eine Bitte.
Vor längerer Zeit haben Rijana und mir zwei ältere Frauen in
Errindale geholfen. Ihre Namen sind Elsa und Muria. Falls es
möglich ist, dass du auch sie warnst …«
»Ich werde sie finden«, versprach der Elf, nachdem
Ariac ihm den Weg erklärt hatte, und rannte, so schnell wie der
Wind, davon. Schon nach wenigen Schritten konnte man ihn nicht mehr
sehen.
»Ich glaube, er ist auch in dich verliebt«, stellte
Ariac augenzwinkernd fest.
»Blödsinn«, schimpfte Rijana und boxte ihn in die
Seite. »Er ist über fünfhundert Jahre alt. Ich bin für ihn wie ein
Baby.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Ariac und nahm
sie fest in den Arm. »Aber keine Angst, ich lasse dich mir nie mehr
wegnehmen. Nicht einmal, wenn dich der König vom Mondfluss
persönlich haben wollte.«
Rijana lachte, wenn auch nicht so ausgelassen wie
früher, denn in ihr machte sich langsam die Angst breit. Die
Schlacht stand bevor, und es bestand immer die Gefahr, dass einer
von ihnen getötet wurde.
»Ich werde auf dich aufpassen«, versprach Ariac und
vergrub sein Gesicht in ihren nach Wildblumen duftenden
Haaren.
»Und ich auf dich.«