KAPITEL 12
Drohender Krieg
Mit der Zeit trafen noch
mehr Steppenkrieger ein. Sie brachten beunruhigende Nachrichten.
Auf der Handelsstraße zogen tausende von König Scurrs Kriegern in
den Süden, genauso wie Trolle, Orks und andere finstere Wesen.
Außerdem seien viele Menschen aus dem Norden auf der Flucht, weil
die Berge Feuer spuckten.
Diese Neuigkeiten beunruhigten sie alle, sodass an
diesem Abend niemand Lust auf Geschichten oder Musik hatte.
Falkann war ein Stück weit in die Berge
hinaufgestiegen und saß nun auf einem Felsen, von dem aus er über
die Steppe blicken konnte. Es war dunkel, und er konnte nur
undeutliche Schemen wahrnehmen. Aber er wusste, dass dort in der
Ebene Horden von Feinden entlangzogen.
Als sich eine schmale Hand auf seine Schulter
legte, zuckte er zusammen. Er hatte Leá gar nicht kommen
hören.
»Das sollte mir als Krieger nicht allzu oft
passieren.«
Die schlanke Steppenfrau setzte sich mit einer
geschmeidigen Bewegung neben ihn und lächelte.
»Man sagt uns Steppenleuten nach, wir hätten ein
klein wenig Elfenblut in uns und könnten mit der Umgebung
verschmelzen.«
Nun lächelte Falkann zurück und betrachtete sie im
schwachen Abendlicht. Leá wirkte meist ernst, und auf ihrem
schmalen Gesicht zeigte sich nur dann ein Lachen, wenn sie mit
ihrer Zwillingsschwester herumalberte.
»Du denkst an deine Freunde, nicht wahr?«, fragte
sie plötzlich.
Falkann nickte seufzend. »Wie sollen sie denn zu
uns durchdringen, wenn Scurrs Leute überall sind?«
»Wir haben Männer ausgeschickt, die ihnen helfen
werden. Die Steppe ist unsere Heimat, sie werden deine Freunde auf
verborgenen Pfaden zu uns bringen.«
»Danke, Leá.«
»Wofür?«
»Dafür, dass du mir Mut machst.«
»Ich sage nur die Wahrheit.«
Falkann lehnte sich gegen einen Felsen und zog
seinen Umhang fester um sich. Ein kalter Wind wehte durch die
Berge.
»Möchtest du mir ein wenig von eurem Volk
erzählen?«
Auch Leá machte es sich bequem und erzählte die
halbe Nacht hindurch von Geschichten und Legenden des
Steppenvolkes. Für kurze Zeit konnte Falkann die bevorstehende
Schlacht vergessen und begann, Rijana ein wenig zu verstehen – die
Arrowann waren ein besonderes Volk.
Schneeflocken wirbelten in der Dunkelheit. Eine
kleine Gruppe von etwa zwanzig Mann ritt im Schutze der Nacht durch
die Steppe. Alle waren aufs Äußerste angespannt. Jeden Augenblick
erwarteten sie einen Angriff.
»Der Schnee wird unsere Spuren verraten«, knurrte
Broderick und warf einen besorgten Blick auf seine Frau, die ihren
kleinen Sohn vor sich auf dem Sattel hatte.
»Nicht, wenn es weiterschneit«, erwiderte Brogan,
doch auch er hatte sein Schwert fest in der Hand.
Viele Tage waren sie nun schon unterwegs in
Richtung der Berge. Zum Glück hatte ihnen Bali’an mitgeteilt, dass
es Falkann, Rijana und Ariac gut ging, außerdem wussten sie nun, wo
sie sich versteckt hielten.
Broderick und Brogan hatten ihre Verbündeten in
Gronsdale abgeholt und reisten nun in kleinen unauffälligen Gruppen
zum Donnergebirge.
Es war gefährlich, denn Scurrs Männer waren
überall, mehr als einmal wären sie beinahe entdeckt worden. Einer
Gruppe vor ihnen war es weniger gut ergangen. Leider hatten sie nur
noch deren Leichen begraben können. Angst hatte sich daher
besonders bei Frauen und Kindern breitgemacht.
Der kleine, runzelige Zauberer Tomis, der auf einem
viel zu großen Pferd ritt, nieste lautstark und schimpfte vor sich
hin. Auch er machte sich Sorgen um Rijana, Ariac, Falkann und um
die vielen Männer und Frauen, die ihnen folgten. Aber er musste
auch immer wieder mit Sorge an Rudrinn und seine Freunde denken,
die im Westen unterwegs waren.
»Er ist zwar ein verfluchter Pirat, aber er wird
auf sie achten«, grummelte er vor sich hin und nieste erneut.
Rijana und Ariac waren zusammen mit seinem Vater
und einigen Steppenkriegern hinunter in die Steppe geritten. Alle
waren unruhig, denn sie erwarteten Broderick und Brogan schon seit
Tagen. Ein schneidend kalter Ostwind ließ ihre Gesichter frieren.
Ariac legte Rijana einen Arm um die Schultern, als sie etwas
abseits der anderen standen.
»Willst du nicht zurückreiten, es ist kalt
heute.«
Doch sie schüttelte den Kopf und zog sich ihr Tuch
weiter über die Nase. Sie hielt das Warten im Lager nicht mehr aus
und wollte lieber da sein, wenn ihre Freunde kamen, und ihnen
helfen, falls sie ihr Schwert benötigten.
Es war schon dunkel. Rijana und Ariac hatten sich
in eine Decke gewickelt und in den spärlichen Schutz eines Felsens
zurückgezogen, als ein langgezogenes Heulen wie das eines
Steppenwolfes ertönte – der Warnruf der Steppenkrieger.
Sofort sprangen die beiden auf und ergriffen ihre
Schwerter. Kampfgeist erwachte in ihnen. Wurden sie
angegriffen?
In der Dunkelheit durch die wirbelnden
Schneeflocken waren schemenhaft Gestalten zu erkennen. Ariac und
Rijana umklammerten mit kalten Händen ihre Schwerter.
»Falls es zu viele sind, musst du Hilfe holen«,
flüsterte Ariac.
Nach einigen bangen Augenblicken erschienen zur
grenzenlosen Erleichterung der beiden Brogan, Broderick und
weitere, erbärmlich frierende Begleiter.
Die Neuankömmlinge stiegen von ihren Pferden, und
Broderick nahm Rijana in den Arm.
»Ich bin so froh, dass ihr hier seid«, rief sie
aus. Dann fiel ihr Blick auf Brodericks Frau. »Kalina, geht es dir
gut?«
»Es ist kein Vergnügen, tagelang durch die Steppe
zu reiten, wenn man schwanger ist, aber ich denke, ich bin in
Ordnung«, antwortete sie mit halb eingefrorenen Lippen und schnitt
eine Grimasse.
»Komm, nimm meinen Umhang«, bot Rijana sofort
an.
Doch Kalina winkte ab. Broderick hatte ihr seinen
bereits gegeben. Doch auch der Elfenumhang änderte nichts an
steifgefrorenen Fingern, Eisfüßen und einem fast vor Kälte
erstarrten Gesicht. Der kleine Norick schlief noch im Sattel, und
Ariac hob ihn vorsichtig herunter.
»Unser Lager ist zwei Tagesritte entfernt in den
Bergen«, erklärte er.
Das rief ein allgemeines Aufstöhnen hervor.
»Eigentlich sollte es Sommer sein, aber ich friere mir hier noch
sämtliche Körperteile ab«, knurrte Zauberer Tomis.
»Wir sollten weiter in die Berge ziehen, solange es
dunkel ist«, schlug Brogan vor. »Wir haben nicht weit entfernt eine
Gruppe Blutroter Schatten gesehen.«
Die anderen nickten resigniert und machten sich
widerwillig auf den Weg.
Nach zwei Tagen hatten sie endlich das Lager
erreicht. Einige Steppenmänner waren unten in der Ebene geblieben,
um
auf die anderen Gruppen zu warten, die Brogan folgen würden.
Falkann war sehr froh, seinen besten Freund wohlauf
zu sehen. Die Steppenfrauen brachten Kalina und Norick sogleich in
eines der Zelte, wo sie sich aufwärmen konnten. Kalina war noch
immer ein wenig unwohl zumute, wenn sie in die tätowierten
Gesichter der Steppenleute blickte, aber sie war so froh, endlich
im Warmen zu sein, dass sie ihren Argwohn rasch aufgab.
Nachdem Broderick mehrere Teller mit Eintopf
gegessen hatte, setzte er sich neben Falkann, der etwas abseits in
einem der Zelte saß.
»Ich soll dir Grüße von deinem Vater ausrichten. Er
führt die dritte Gruppe an und sollte bald eintreffen.«
»Vielleicht sollte ich ihm entgegenreiten«, meinte
Falkann.
Broderick sah seinen Freund an. »Geht es dir
wirklich gut? Bali’an hat mir ziemlich üble Sachen erzählt, dass
dir Scurrs Soldaten beinahe den Schädel eingeschlagen
hätten.«
Seufzend fuhr sich Falkann über die inzwischen
verkrustete Wunde. »Mir geht es gut. Allerdings hätte ich das Ganze
ohne Bali’ans und Leás Hilfe nicht überlebt.« Sein Blick fiel auf
die junge Steppenfrau, die neben ihrer Mutter stand und in einem
Kessel mit Eintopf rührte.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte sich Leá
um und lächelte ihm zu.
»Ariacs Schwester«, sagte Broderick grinsend und
hob die Augenbrauen. »Sie ist sehr hübsch, nicht wahr?«
Augenblicklich lief Falkann rot an und blickte
rasch auf seine leere Schüssel. »Findest du?« Er bemühte sich
krampfhaft, einen gleichgültigen Tonfall anzuschlagen.
Broderick schlug seinem Freund auf die Schulter.
»Ich glaube nicht, dass der Schlag auf den Kopf deine Wahrnehmung
so weit getrübt hat, dass dir das entgangen sein kann. Es freut
mich, mein Freund.«
Falkann schnaubte. Dann gab er auf, er konnte
Broderick ohnehin nichts vormachen.
»Schön, ich mag sie. Aber was nützt mir das?« Er
machte ein verzweifeltes Gesicht. »Ihre Schwester hält mich für ein
bärtiges Ungetüm. Und Steppenleute lassen sich ja bekanntlich nicht
auf andere Völker ein.«
Broderick musste über das ›bärtige Ungetüm‹ lachen.
»Sieh dir doch Rijana und Ariac an. Die beiden haben auch einen Weg
gefunden.«
»Aber ich will kein Arrowann werden«, wandte
Falkann ein, »das könnte ich mir einfach nicht vorstellen. Ich
verliebe mich einfach immer in die falschen Frauen.«
»Gib nicht gleich auf!«
Nach einer Weile kam Norick zu ihm.
»Na, hast du gegessen?«
Der Kleine nickte und sagte mit einem Blick auf
Ariacs jüngeren Bruder: »Vater, darf ich mit Ruric hinausgehen? Er
will mir sein Pferd zeigen.«
»Natürlich, geh nur.«
Wie der Blitz waren die beiden Jungen verschwunden
und ließen sich auch nicht von Kalinas empörtem Schrei aufhalten.
Die bahnte sich ihren Weg durch die am Boden sitzenden Menschen und
stemmte die Hände in die breiten Hüften.
»Gerade habe ich es ihm verboten. Er soll sich ein
wenig ausruhen. Es war ein langer Ritt …«
Broderick nahm sie an der Hand und zog sie zu sich
hinunter.
»Er findet das alles sehr aufregend. Lass ihn
nur.«
Kalina schnaubte und warf einen Blick auf die
vielen Steppenleute. »Aber sie sind so … anders. Und dann auch noch
die vielen Zwerge.«
»Ihm wird nichts geschehen. Das hier sind nun alles
unsere Freunde und Verbündeten. Wir müssen ihnen trauen und uns auf
sie verlassen.«
Kalina seufzte tief.
Um sie auf andere Gedanken zu bringen, erkundigte
sich Falkann, wie es Finn, Brodericks Ziehvater, ging.
»Er kommt mit einer der nächsten Gruppen«, erzählte
sie und lehnte sich anschließend müde an Brodericks breite
Schulter. Wenige Augenblicke später war sie eingeschlafen.
Immer mehr Menschen trafen ein. Zum Teil waren es
Krieger aus Camasann, aber auch Flüchtlinge aus den nördlichen
Ländern. Bald wurde das Lager zu eng, und die Zwerge zeigten den
menschlichen Verbündeten Höhlen, in denen sich die Familien mit
Kindern verstecken konnten. Zum Glück tauchten auch bald Finn,
wenig später Falkanns Vater und auch Rittmeister Londov auf. Londov
war sehr erleichtert, alle bei guter Gesundheit vorzufinden.
Brogan war nervös. Er spürte, wie wohl die meisten
im Lager, dass die Schlacht bevorstand. Durch die Botenvögel hatte
er hin und wieder Nachrichten von Rudrinn und Saliah erhalten. Umso
mehr beunruhigte es ihn, dass er nun schon seit längerer Zeit
nichts mehr von ihnen gehört hatte.
Vielleicht sind sie auf dem
Meer. Vielleicht können sie keine Nachricht schicken, dachte er
hoffnungsvoll.
Eines Tages kam ganz unverhofft Bali’an ins Lager
galoppiert, zwei kleine Kinder vor sich auf dem Pferd. Es handelte
sich um ein kleines, mageres Mädchen mit zotteligen strohblonden
Haaren, das vielleicht zehn Jahre alt war, und einen Jungen, dem
die Nase lief. Er war höchstens fünf.
Rijana lief auf Bali’an zu, da sie hoffte,
Neuigkeiten von ihrer Familie zu hören.
»Hier, seht ihr, das ist eure Tante Rijana, sie ist
eine mächtige Kriegerin«, sagte er stattdessen, und die beiden
Kinder blickten Rijana mit großen Augen an.
Zunächst war Rijana verblüfft: »Bali’an, was hat
das zu bedeuten?«
Der Elf zeigte sein typisches, jungenhaftes Grinsen
und sagte zu den Kindern: »Seht ihr dort drüben die hübsche junge
Frau mit den schwarzen Haaren? Bei ihr könnt ihr euch etwas zu
essen holen.«
Das Mädchen blickte den Elfen mit einer Mischung
aus Misstrauen und Bewunderung an. Die großen ängstlichen Augen und
die Unsicherheit erinnerten Rijana an sich selbst, als sie in
diesem Alter gewesen war.
Rijana kniete sich neben die beiden. »Wie heißt
ihr?«
»Selja, das ist Bjon«, antwortete das Mädchen kaum
hörbar.
Mit einem freundlichen Lächeln nahm sie die beiden
an den Händen. »Ich freue mich sehr, dass ihr hier seid. Die Frau
am Feuer ist die Schwester meines Verlobten. Ich werde euch zu ihr
bringen, dann kann sie euch etwas zu essen geben, und ich
unterhalte mich so lange mit Bali’an.«
Die beiden folgten Rijana, und Lynn nahm sie sofort
auf ihren Schoß. Ihre eigenen Kinder betrachteten die
Neuankömmlinge neugierig, und nachdem Selja und Bjon ein wenig
gegessen hatten, wurden sie sofort zum Spielen aufgefordert.
Rijana war zufrieden und setzte sich neben Bali’an
auf einen Stein. »Was ist passiert?«
»Deine Eltern haben nicht mehr in dem Dorf gewohnt.
Sie leben nun auf einem Landsitz vor der Stadt. Ich habe mein
Gesicht nicht gezeigt, weil ich dachte, es könnte sie erschrecken,
wenn ein Elf vor ihnen steht. Später wünschte ich mir, ich hätte es
getan.« Nun sah er sehr empört aus. »Sie haben unhöfliche Dinge
über dich gesagt!«
Rijana senkte traurig den Blick. »Ich weiß.«
»Nun ja, dann habe ich versucht, ihnen zu erklären,
dass es Krieg geben wird und dass sie sterben werden, wenn sie
nicht fortgehen.«
Erwartungsvoll blickte Rijana zu dem jungen Elfen
hinüber, der ein unglückliches Gesicht machte.
»Sie wollten mir nicht glauben. Sie haben gesagt,
König
Scurr würde sie verschonen, da sie seine treuen Diener sind. Sie
wollten einfach nicht verstehen, dass es Dinge gibt, auf die auch
Scurr keinen Einfluss hat.« Bali’an runzelte die Stirn. »Ich
glaube, sie sind ziemlich dumm.« Dann hob er die Achseln. »Dein
Vater hat mich hinauswerfen lassen. Aber ich bin ein Elf, ich habe
mich in den Park geschlichen und mit den Kindern geredet. Die
meisten hatten Angst vor mir, aber diese beiden«, er blickte zu
Selja und Bjon, »die haben mir zugehört. Ihre Mutter ist wohl schon
lange tot, und ihre Großeltern kümmern sich nicht um sie.«
»Dann sind sie die Kinder meiner ältesten
Schwester«, murmelte Rijana.
»Auf jeden Fall«, fuhr Bali’an fort, »habe ich
ihnen von ihrer tapferen Tante erzählt und von den vielen
Abenteuern, die du erlebt hast. Sie wollten mitkommen – und nun
sind wir hier.«
»Du hast sie einfach mitgenommen?«, fragte Rijana
ungläubig.
»Ja, warum nicht, sie haben mein Pferd gemocht.
Außerdem, wenn sie geblieben wären, dann wären sie bald tot. Und
ich glaube, aus ihnen könnte etwas Vernünftiges werden.«
Rijana konnte es kaum glauben. Dann lächelte sie
Bali’an an. »Ich danke dir, dass du die beiden gerettet
hast.«
Der Elf verbeugte sich elegant. Dann trat ein
betrübter Ausdruck auf sein Gesicht. »Die beiden alten Frauen
konnte ich allerdings nicht finden. Dort oben im Norden war alles
zerstört.«
Das machte Rijana sehr traurig. Elsa und Muria
hatten ihr und Ariac damals sehr geholfen. Nachdem sie Bali’an noch
einmal gedankt hatte, lief der Elf beschwingt davon.
Als Ariac kam, war Rijana noch immer in Gedanken
versunken. Schließlich erzählte sie ihm alles. Ariac musste über
den jungen Elfen lachen.
»Das ist typisch Bali’an.«
»Aber meine restliche Familie …«, begann Rijana
unglücklich.
Ariac nahm sie in den Arm. »Du hast mehr für sie
getan, als sie verdient haben.« Sein Blick wanderte zu den Kindern,
die nun ganz selbstverständlich mit den anderen spielten. »Die
beiden werden dank deiner Hilfe leben. Denk lieber daran.«
Sie nickte und drückte ihren Kopf an Ariacs
Schulter. Wahrscheinlich hatte er Recht.
Später gingen sie gemeinsam zu Lynn. »Sie können
bei mir bleiben, wenn ihr in die Schlacht zieht.«
Die kleine Selja blickte staunend auf Ariacs
Tätowierungen.
»Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben, er ist
ein guter Mensch«, versuchte Rijana ihre Nichte zu beruhigen.
Selja nickte zögernd, und der kleine Bjon sagte
unschuldig: »Großvater hat gesagt, Rijana ist eine Hure.«
Selja hielt die Luft an und versetzte dem kleinen
Bruder einen Stoß in die Seite. Wahrscheinlich hatte sie Angst,
dass sie nun mit ihrem Bruder fortgeschickt wurde.
»Das sagt man nicht«, schimpfte sie und war selbst
den Tränen nahe, während der Kleine weinte: »Aber Großvater sagt,
Steppenleute sind Mörder und …«
Rijana zog ihn zu sich auf den Schoß. »Das, was
dein Großvater gesagt hat, ist nicht wahr. Die Steppenleute sind
gute Menschen. Ihr könnt bei ihnen bleiben, wenn ihr
möchtet.«
Selja nickte, und auch der kleine Bjon, der das
alles wohl gar nicht verstand, klatschte in die Hände.
Später erzählte Rijana ihrer Nichte, wie sie, etwa
im selben Alter, von Brogan gefunden worden war. Die Kleine
lauschte fasziniert und war von dem Zauberer, der später zu ihnen
stieß, offensichtlich beeindruckt.
Es war späte Nacht, die meisten schliefen schon,
als Rijana in Ariacs Armen über ihre Familie nachdachte.
»Lynn wird sich um die beiden kümmern«, sagte er
plötzlich.
Eigentlich hatte Rijana vermutet, er würde bereits
schlafen. Sie drehte ihr Gesicht zu ihm und fuhr ihm über die
tätowierten Linien an den Schläfen.
»Ich liebe dich.«
»Und ich dich«, flüsterte er. Seine Hand fuhr sanft
über ihre Wange. »Wenn wir diese Schlacht mit König Scurr hinter
uns gebracht haben, dann können wir Bjon und Selja bei uns
aufnehmen. Sie werden dann mit unseren Kindern aufwachsen.« Dann
blickte er sie ernst an. »Und falls ich den Kampf mit Scurr nicht
überlebe …«
Rijana legte ihm einen Finger auf die Lippen, und
Tränen traten in ihre Augen. »Bitte sag das nicht. Alles wird gut
ausgehen.«
Mit ernstem Blick drückte er ihre Hand. »Aber es
kann sein, dass ich getötet werde. Ich möchte, dass du weißt, dass
du für immer bei meiner Familie bleiben kannst. Sie werden sich um
dich kümmern und um die beiden Kleinen auch.«
»Ich weiß«, antwortete sie heiser, »aber ich will
nicht ohne dich leben.«
»Das will ich auch nicht«, seufzte er und blickte
in den klaren Nachthimmel.
Am nächsten Morgen, noch bevor alle aufgewacht
waren, trafen zur Freude aller Nelja und Tovion ein. Sie waren
schmutzig, sichtlich erschöpft und hatten beide zum Glück nur
leichte Verletzungen.
Sofort versammelten sich Brogan, Rittmeister
Londov, Zauberer Tomis und die restlichen Sieben ums
Lagerfeuer.
»Saliah und Rudrinn geht es gut«, erklärte Tovion
und ließ sich mit schmerzenden Muskeln am Feuer nieder. Erleichtert
nahm er einen Becher mit Suppe entgegen. »Wir haben sie bis ans
Meer begleitet. Es war gefährlich, aber wir konnten
uns immer wieder verstecken. Rudrinn hat die Piraten aus den
Tavernen gesammelt und sie überredet, eines von Scurrs Schiffen zu
entern.«
»Verfluchter Pirat«, knurrte Zauberer Tomis, aber
in seinen Augen war ein Lachen zu sehen.
»Es war ein heftiger Kampf, aber schließlich sind
sie in Richtung Teufelskralle entkommen.«
Nelja grinste. »Sie haben ein Kriegsschiff mit
diesen Feuerkatapulten geentert, und Rudrinn hat gleich fünf von
Scurrs Schiffen versenkt. Er will seinen Vater suchen und die
restlichen Piraten, damit sie mit uns kämpfen.«
»Es wird ihm gelingen«, vermutete Londov, ein
Lächeln erschien auf seinem knochigen Gesicht. »Der Junge ist
verrückt, aber er hat Mut für zwei.«
Nachdem die beiden gegessen hatten und Leá ihre
Wunden versorgt hatte, berichteten Nelja und Tovion von ihrer
gefährlichen Reise durch Balmacann.
»Die Brücke ist dicht«, erzählte Tovion, »nur noch
Orks und Blutrote Schatten dürfen hinüber. Wir waren die Letzten,
die über die Brücke reisen durften. Und in Balmacann war es auch
sehr gefährlich.«
»Wie konntet ihr unentdeckt bleiben?«, wollte
Broderick wissen.
Lächelnd deutete Tovion in die Dunkelheit, aus der
sich nun zwei schlanke Schatten lösten.
»Elli’vin und Tja’ris haben uns vor einer
Patrouille gerettet.« Nun sprangen alle auf. Die beiden Elfen, die
blonde Elli’vin und der dunkelhaarige Tja’ris, standen vor
ihnen.
»Tja’ris, geht es dir wieder gut?«, fragte Rijana
aufgeregt.
Der große, ruhige Elf verbeugte sich vor ihr. »Ja,
und ich möchte euch danken. Ohne eure Hilfe hätte ich nicht
überlebt.«
»Na hör mal, du hast ja dein Leben für eine von uns
riskiert«, stellte Broderick das Ganze richtig.
»Ihr seid nun unsere Freunde und Verbündeten«,
sagte der Elf ernst. »Die Völker werden sich gegenseitig helfen und
vertrauen müssen und …«
Mitten in seine Ausführungen kam Bocan, der
Anführer der Zwerge, geplatzt.
»Ha, die Elfen. Habt ihr etwas von meinem
verdammten Narren von einem Vater gehört?«
Elli’vin verneinte, ihnen waren keine Zwerge
begegnet.
Bocan fluchte derb in der Zwergensprache und
spuckte auf den Boden. »Dann soll ihn doch ein Ork verspeisen!«
Damit stapfte er wieder davon.
Die Elfen blickten dem Zwerg kopfschüttelnd
hinterher, dann erzählte Tja’ris weiter.
»Thalien hat gesagt, die Zeit ist reif. Beim
nächsten Halbmond sollen wir uns in Tirman’oc treffen.«
»Dann müssen wir in spätestens drei Tagen
aufbrechen«, murmelte Brogan. »Aber wir werden auffallen. Wir sind
inzwischen wohl über tausend Männer.« Er lächelte Rijana zu. »Na
ja, und auch ein paar Frauen.«
»In drei Tagen wird eine breite Regenfront über das
Land ziehen«, erklärte Elli’vin. »Anschließend wird Nebel das Land
bedecken. Wir werden in kleinen Gruppen reisen, dann bleiben wir
hoffentlich unentdeckt. Die Zwerge können unter der Erde bleiben,
bis die Schlacht beginnt.«
»Woher weißt du das mit dem Wetter?«
»Das können doch alle Elfen«, kam die fröhliche
Stimme von Bali’an, der wieder einmal wie aus dem Nichts
aufgetaucht war.
»Mein kleiner Bruder«, rief Elli’vin erfreut und
umarmte ihn. Dann warf sie einen Blick in die Runde. »Hat er sich
anständig verhalten?«
»Er ist ein großer Held«, erklärte Brogan ernst.
»Er hat uns gut geführt und Falkann das Leben gerettet.«
Bali’an war sichtlich stolz auf sich.
»Und er hat auch meine Nichte und meinen Neffen
gerettet«, fügte Rijana hinzu.
Als sie jedoch die genauen Umstände erklärt hatte,
nahm Elli’vins schönes Gesicht einen wütenden Ausdruck an. »Du
kannst doch nicht einfach Menschenkinder entführen!« Sie versetzte
Bali’an einen Klaps auf den Hinterkopf.
»Aber sie wollten freiwillig mit mir kommen«,
jammerte ihr Bruder, »und sie mochten mein Pferd.«
Elli’vin stieß so etwas wie einen elfischen Fluch
aus. »Nun wird es heißen, Elfen rauben Menschenkinder. Du meine
Güte, Bali’an!«
»Ich habe mein Gesicht nicht gezeigt«,
rechtfertigte er sich. Allerdings erinnerte Bali’ans
Gesichtsausdruck Broderick nun an seinen kleinen Sohn, wenn er
einen Suppenteller zerbrochen hatte.
»Lass ihn doch«, versuchte Rijana das Ganze zu
beenden. »Die beiden wären gestorben, wenn Bali’an sie nicht
mitgebracht hätte. Bitte, sei ihm nicht böse.«
Elli’vin schien noch immer wütend zu sein, aber
auch Tja’ris versuchte, sie zu beruhigen.
Schließlich ruhten sich Nelja und Tovion aus. Sie
waren erschöpft, genauso wie die beiden Elfen, die sich jetzt auch
hinsetzten.
»Ist mein Vater auch hier?«, fragte Tovion noch,
bevor ihm die Augen zufielen.
»Er ist schon seit Tagen bei den Zwergen«,
berichtete Broderick und grinste, »er sagt, er könne noch viel von
ihnen lernen.«
»Das ist schön«, murmelte Tovion, dann schlief er
ein.
Die nächsten Tage vergingen mit hektischen
Vorbereitungen. Frauen, ältere Leute und Kinder blieben im Lager
oder in den Höhlen. Saliahs Eltern, die erst vor kurzem mit einer
ganzen Gruppe von Kriegern eingetroffen waren, waren sehr froh, als
sie hörten, dass es ihrer Tochter und Rudrinn gut ging. Allerdings
machten sie sich Sorgen, denn auf dem Meer war es gefährlich.
»Nun segelt sie auf einem Kriegsschiff inmitten
einer Flotte von Blutroten Schatten«, murmelte Lord Bronkar.
Lady Melinah legte ihm ihre schlanke Hand auf den
Arm. »Rudrinn wird auf sie achten, da bin ich mir sicher.«
»Dass sie auch ausgerechnet diesen verfluchten,
ungehobelten Piraten erwählen musste«, kam es erwartungsgemäß von
Zauberer Tomis.
»Saliah ist so oder so eine Kriegerin«, verteidigte
Rijana ihre Freundin leidenschaftlich.
»Ich habe nicht das Geringste gegen meinen
Schwiegersohn«, stellte Lord Bronkar richtig. »Ich wollte nur
sagen, dass es gefährlich ist auf dem Meer.«
»Das ist es inzwischen überall«, erwiderte Brogan
seufzend. »Die einen kämpfen an Land, die anderen auf dem Wasser.
Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.« Sein Blick fiel auf
Ariac, der gedankenversunken neben Rijana und seinem Vater stand.
Brogan wusste, dass Ariac sich viele Sorgen machte. Vielleicht
weniger um sich oder um seinen Kampf mit König Scurr, sondern
vielmehr um Rijana.
Auch Leá saß in der Runde. Plötzlich erhob sie ihre
Stimme: »Ich werde ebenfalls mitkommen.«
Ihr Vater fuhr überrascht auf. »Warum das
denn?«
»Ich bin als Kriegerin ausgebildet worden, und ich
bin eine Heilerin, ihr werdet mich brauchen.«
Rudgarr, der dunkle Steppenmann, machte ein
besorgtes Gesicht. »Ich kann dich nicht aufhalten, das weißt du,
aber vielleicht werden wir auch hier eine Heilerin benötigen, für
diejenigen, die verletzt sind und zurückkommen.«
»Vater, du wirst ebenfalls kämpfen, und es war wohl
schon immer mein Schicksal, dass ich beides bin – Kriegerin und
Heilerin.«
Mit betretenem Gesicht nickte Rudgarr. Er hatte
schon genug Angst um Ariac, aber dass nun auch Leá in den Kampf
ziehen würde, das vergrößerte den Knoten, der sich in seinem Magen
gebildet hatte.
Bei Leás Worten war etwas Seltsames in Falkann
vorgegangen. Im ersten Augenblick war er sehr froh und glücklich
gewesen, dass Leá sie begleiten wollte. Aber gleichzeitig erfasste
ihn Panik, dass ihr etwas passieren könnte.
Als er sah, wie der Vater von Ariac und Leá mit
sorgenvollem Gesicht vom Lagerfeuer aufstand und ein wenig abseits
zu den Felsen lief, folgte Falkann ihm aus einem Impuls
heraus.
»Rudgarr«, rief er zögernd.
Der große Steppenmann mit den wilden Tätowierungen
im Gesicht drehte sich um.
»Wenn Ihr es erlaubt, werde ich auf Eure Tochter
achten.«
Nachdem es heraus war, kam sich Falkann ein wenig
dumm vor.
Eine ganze Weile sah Rudgarr ihn nur an, dann
nickte der Clanführer der Arrowann. »Ich denke, das wäre gut für
sie.« Ohne ein weiteres Wort lief er weiter und ließ einen
verwirrten Falkann zurück.