KAPITEL 5
Scurrs List
Als Ariac aufwachte,
konnte er sich an nichts mehr erinnern. Weder an den fürchterlichen
Knall, der ihn vom Pferd geschleudert hatte, noch an das
einstürzende Haus, unter dem er begraben worden war. Er wusste
nichts mehr von den Feuerkugeln, die auf das Fischerdorf
niedergegangen waren, und den Qualm und die Flammen hatte er auch
vergessen. Das alles war wie aus seinem Gedächtnis gelöscht.
Einer von Scurrs Soldaten, der nach Überlebenden
gesucht hatte, war auf ihn gestoßen. Eigentlich war ihm nur das
silbern leuchtende Schwert aufgefallen, das unter den Trümmern
hervorgelugt hatte. Aber dann hatte er Ariac gesehen und sofort
erkannt. Der Steppenkrieger, der zum Feind übergelaufen war, den
kannten alle. Also hatte er den übel zugerichteten und mehr tot als
lebendig wirkenden Ariac auf sein Pferd geworfen und zu seinem
Hauptmann gebracht. Der war ein intelligenter Mann und wusste, dass
ihm das die Achtung von König Scurr einbringen würde. Er hatte
seine Untergebenen angewiesen, das silberne Schwert zurückzulassen,
damit die anderen Sieben Ariac für tot halten würden.
Dann hatten sie den abtrünnigen Krieger auf das
Schloss gebracht, wo ihn nur König Scurrs Zaubertränke hatten
überleben lassen. Nach vielen Tagen der Bewusstlosigkeit wachte
Ariac in einem Kellerverlies auf, ohne zu wissen, wo er war. Seine
linke Schulter schmerzte, sie war verbrannt. Sein ganzer Körper tat
ihm weh. Ächzend richtete er sich auf und
schwankte zu dem Tisch, auf dem ein Krug mit Wasser stand. Durch
einen Schlitz in der Wand fiel Licht, aber zu hoch, um
hinauszusehen.
»Verdammt, wo bin ich?«, flüsterte er und lehnte
sich an die kalte Wand.
Seine Kleidung war zerrissen, schmutzig, und sein
eigenes Blut klebte daran. Ariac tastete hektisch nach Rijanas
Stein, fand ihn jedoch kurz darauf in seiner Tasche. Neljas
magischer Anhänger war hingegen fort.
Die Tür öffnete sich knarrend, und Ariac wich ganz
an die hinterste Mauer zurück. Eine wohlbekannte hagere Gestalt
stand in der Tür. Ariac schloss die Augen. Jetzt wusste er nur zu
gut, wo er war. Er war in Ursann, und vor ihm stand König
Scurr.
»Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt«, spottete
der König mit seiner kalten, zynischen Stimme. »Ich hoffe, du hast
uns nicht vergessen?«
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte Ariac mühsam
beherrscht. »Warum habt Ihr mich nicht gleich getötet?«
Der große, hagere König kam langsam näher. Er war
so, wie Ariac in Erinnerung gehabt hatte, unheimlich, Ehrfurcht
gebietend, und von ihm ging eine finstere Macht aus. Ariac hatte
das dringende Bedürfnis, geradewegs durch die Wand zu springen.
Aber er riss sich zusammen und versuchte, den unheimlichen Augen
des Königs standzuhalten.
»Dich sterben zu lassen, wäre zu einfach«, zischte
Scurr. »Du wirst mir helfen und sagen, was deine merkwürdigen neuen
Freunde vorhaben.«
»Niemals«, presste Ariac hervor, und Scurr drückte
ihn mit einer magischen Fessel gegen die Wand.
»Doch, das wirst du.« Scurr drehte sich um und
löste den magischen Bann erst, als er an der Tür war.
Ariac krachte hart auf den Boden und konnte ein
Stöhnen nicht unterdrücken.
»Dein alter Freund Worran wird dich auch noch
besuchen.« Damit schloss Scurr die Tür hinter sich.
Ariac lehnte den Kopf gegen die Wand und
umklammerte Rijanas Stein.
»Bitte holt mich hier raus«, flüsterte er kaum
hörbar.
Zwei weitere Tage ließ man Ariac im Dunkeln und in
der Ungewissheit, dann tauchte Worran mit einem triumphierenden
Grinsen auf. Er wurde von zwei Wachen begleitet, die sich Ariac
griffen und festhielten.
»Na, hast du mich vermisst?« Der grobschlächtige
Ausbilder schlug Ariac mit voller Wucht in den Magen.
Er würgte und klappte zusammen, brachte allerdings
noch ein zynisches »Und wie!« heraus.
Worran lachte nur teuflisch und ließ ihn nach
draußen bringen. Ariac blinzelte in die ungewohnt helle Sonne – er
war in Naravaack, nicht auf König Scurrs Schloss, wie er zunächst
gedacht hatte.
Die Wachen fesselten ihn an zwei Pfähle, vor denen
Worran mit einem grausamen Lachen auf und ab schritt. In den Händen
hielt er die wohlbekannte Peitsche mit den langen Stacheln.
»König Scurr hat mir gesagt, dass ich dich ein
wenig bei Laune halten soll, bis er dich erneut befragen
wird.«
»Meine Laune wird nie besser sein als damals,
nachdem ich Morac getötet habe.«
Worran stieß einen Wutschrei aus und packte Ariac
hart am Unterkiefer. »Das ist nicht wahr.«
Als er Ariacs triumphierenden Blick sah, gab er ihm
eine schallende Ohrfeige und begann sofort, ihm den Rücken blutig
zu peitschen.
Ariac schloss die Augen und versuchte, an Rijana
und seine Freunde zu denken. Er hoffte, dass sie mitbekommen
hatten, dass er hier war, und ihm bald zu Hilfe kommen
würden.
Worran war mehr als wütend darüber, dass kein
einziger
Schmerzensschrei über Ariacs Lippen kam. Er ließ ihn zurück in den
Kerker werfen. Am nächsten Tag wurde Ariac von König Scurr befragt,
der wissen wollte, wo die Sieben sich aufhielten und was sie
vorhatten. Aber Ariac schwieg beharrlich und starrte Scurr nur
trotzig an.
Worran peitschte ihn also weiter aus, quälte ihn
und schlug ihn zusammen, bis er bewusstlos war, aber Ariac sagte
nichts. Er glaubte fest daran, dass Rijana und die anderen kommen
würden.
König Scurr war verärgert. Eigentlich hätte er sich
denken können, dass Ariac nichts verriet, er kannte den stolzen
Steppenkrieger schon lange genug.
»Irgendwann wirst du schon reden«, sagte er kalt
und verließ den Raum.
Worran schleifte Ariac hinter sich her und warf ihn
in eines der winzigen Kerkerlöcher, in das er Ariac schon als Kind
gesteckt hatte. Jetzt, wo er erwachsen war, konnte er sich dort
überhaupt nicht mehr rühren, und als er erwachte, glaubte er, den
Verstand zu verlieren. Ariac zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu
atmen. Er umklammerte das Armband, das Rijana ihm zur Verlobung
geschenkt hatte, und dachte an sie. Das war das Einzige, das ihn in
den folgenden Tagen am Leben hielt.
König Scurr lief unruhig in dem halb verfallenen
Thronsaal der Ruine von Naravaack herum. Er wusste nicht, was er
mit Ariac machen sollte.
»Ich könnte ihm eine Feuerechse in sein Loch
stecken«, schlug Worran mit bösem Lachen vor.
König Scurr winkte ab. »Das bringt nichts. Du hast
ihn schon als Kind beinahe zu Tode gequält, aber er hat sich
niemals unterworfen.«
Worran grummelte vor sich hin, Scurr hatte
Recht.
»Warum verzaubert Ihr ihn dann nicht?«
»Weil er mir dann nur widerwillig und nicht mit
voller Kraft dient«, zischte Scurr.
»Kann ich ihn dann endlich umbringen?«
»Nein.« Auf Scurrs hagerem Gesicht machte sich
Unwillen breit. Sicher konnte er Ariac töten, doch dann würden die
anderen Sieben umso wütender und entschlossener gegen ihn vorgehen.
Sosehr es ihn ärgerte, er hatte Angst vor ihnen, vor allem vor dem
Mann, der einmal Norgonn gewesen war. Ein Teil von ihm, Zauberer
Kâârs Geist, fürchtete ihn mehr als alles andere auf der Welt, und
vor allem wusste er nicht, wer der Sieben Norgonns Wiedergeburt
war. Es konnte Ariac sein, jedoch genauso gut einer der anderen.
Auf jeden Fall musste er ihre Gemeinschaft zerstören, denn in den
vielen Jahrtausenden, in denen es ihm gelungen war, einen von ihnen
zum Verräter zu machen, hatten sie nicht gesiegt.
Scurr hob die Hand. »Warte, vielleicht kann ich ihn
nicht dazu bringen, freiwillig für mich zu kämpfen, aber ich kann
ihm seine Unverschämtheiten heimzahlen und den Bund der Sieben
zerstören.« Ein irres Lachen entstieg seiner Kehle, das selbst
Worran die Haare aufstellte.
Also wurde Ariac einige Tage später aus dem dunklen
Loch gezerrt. Er konnte kaum laufen, alles tat ihm weh.
Mit ungebrochenem Blick sah er wütend zu König
Scurr auf, der vor ihm auf einem Podest stand.
»Ich frage dich ein letztes Mal: Kehrst du zu mir
zurück, zu mir, dem einzigen Herrscher über alle Länder?«
»Niemals«, erwiderte Ariac mit aller
Entschlossenheit.
Scurr sprang herab und packte Ariac am Kragen.
»Gut, trotzdem wirst du gegen deine Freunde kämpfen, und -«, Scurr
blickte Ariac mit seinen unheimlichen Augen bis in sein Innerstes,
»du wirst dieses Mädchen mit deinen eigenen Händen
umbringen.«
Für einen Augenblick stockte Ariac der Atem. »Das
werde ich niemals!«
»Doch, das wirst du.« Scurr hob seinen Zauberstab
und sandte einen gleißenden Blitzstrahl auf Ariac hinunter, der
zuckend auf den Boden fiel.
Noch niemals hatte Scurr gesehen, dass sich jemand
so standhaft gegen seine Magie wehren konnte, und am Ende glaubte
der König beinahe, dass Ariac tot wäre, aber dann sah er, dass er
noch ganz schwach atmete.
»Schafft ihn in ein Zimmer, säubert ihn und bringt
ihn morgen zu mir«, wies Scurr zwei Wachen an.
Worran hatte mit Unbehagen zugesehen. Mit Magie
konnte er nicht viel anfangen.
»Wird er Euch jetzt dienen?«, fragte der Ausbilder
dümmlich.
»Natürlich wird er das«, erwiderte Scurr
scharf.
»Und wenn Ihr mit ihm fertig seid, darf ich ihn
dann endlich töten?«
Scurr blickte Worran spöttisch an. »Wenn er das
getan hat, was ich von ihm will, und er gesehen hat, was er
angerichtet hat, dann kannst du mit ihm machen, was immer du
willst.«
Worrans Gesicht verzog sich zu einem bösen Lächeln,
und er ließ die Finger knacken. Endlich war der Tag nicht mehr
fern, an dem er den verhassten Steppenkrieger töten konnte.
Der Frühling schritt weiter voran, aber es gab
eine Menge Stürme, und die Bauern fürchteten um ihre Ernte. Rijana
war und blieb traurig. Sie redete kaum, aß nur, wenn man sie dazu
zwang, und nahm eigentlich an nichts mehr wirklich teil.
Irgendwann kehrten Broderick und Falkann mit
Kalina, Brodericks kleinem Sohn, seinem Ziehvater und über hundert
Männern aus Errindale zurück. Schon unterwegs hatten sie erfahren,
was passiert war.
Falkann sah Rijana, wie sie in der Höhle am Feuer
saß und in die Flammen starrte. Ihre langen Haare hingen zottelig
und stumpf vor ihrem Gesicht. Aber das Schlimmste waren ihre
Augen. Er glaubte, niemals einen traurigeren Menschen gesehen zu
haben. Dann nahm er sie einfach in den Arm.
»Rijana, es tut mir leid, das musst du mir glauben,
ja?«
Sie zuckte die Achseln und sagte mit gesenktem
Blick: »Er kommt zurück, ich weiß es.«
Falkann wirkte ein wenig verwirrt, aber Nelja
schüttelte nur traurig den Kopf. Niemand hatte Rijana bisher von
ihrer Hoffnung auf Ariacs Rückkehr abbringen können.
Als der Sommer schon den zweiten Mond erreicht
hatte, kehrten zur allgemeinen Erleichterung auch Saliah und
Rudrinn zurück. Sie hatten die Piraten gefunden, die nun versuchen
wollten, König Scurrs Schiffe zu entern.
»Diese Feuerkatapulte sind wirklich Teufelswerk«,
schimpfte Rudrinn und nahm einen tiefen Schluck Wasser. Er und
Saliah waren viele Tage beinahe ohne Pause geritten. »Selbst die
Piraten haben Respekt davor, und das will etwas heißen.«
»Werden sie es schaffen?«, schnarrte Tomis.
Rudrinn grinste. »Natürlich, nicht umsonst ist mein
Vater als Schrecken der Meere bekannt – der macht auch vor Scurr
nicht Halt.«
Er ging zu Rijana hinüber, die zusammengekauert in
einer Ecke saß. »Wie geht es dir?«
Sie zuckte die Achseln und sagte nur emotionslos:
»Schön, dass du wieder hier bist.«
Saliah erzählte den anderen gerade, wie freundlich
die Piraten sie aufgenommen hatten. »Sie sind wirklich herzlich,
wenn auch etwas rau, na ja, ich glaube, ich könnte mich an sie
gewöhnen.« Dann wurde ihr Blick nachdenklich. »Was ist denn mit
Rijana? Geht es ihr schon etwas besser?«
Traurig schüttelte Tovion den Kopf. »Nein, sie
wartet noch immer auf ihn. Wir wissen auch nicht mehr, was wir noch
machen sollen.«
Saliah seufzte. »Manchmal habe ich ein schlechtes
Gewissen, weil ich mit Rudrinn so glücklich bin.«
»Das brauchst du nicht.« Nelja legte der Freundin
einen Arm um die Schultern.
In den Höhlen in Gronsdale wurde es im Laufe des
Sommers immer enger, denn mittlerweile lebten hier etwa fünfhundert
Männer und Frauen.
Tovions Vater hatte Unterstützung erhalten und
arbeitete nun fieberhaft an neuen Waffen und Rüstungen. Aus einer
der Höhlen drang beinahe Tag und Nacht das Geklirr von Hämmern, die
Stahl und Eisen bearbeiteten.
Weitere Verbündete waren in den Ländern unterwegs
und hielten dort Ohren und Augen offen. Es gab Gerüchte, dass König
Greedeon Männer nach Ursann schicken wollte, aber sicher war das
nicht. Dass an den Küsten Segelschiffe mit den roten Segeln König
Scurrs patrouillierten, war allerdings eine Tatsache. Rudrinn
erhielt hin und wieder Nachrichten durch einen Falken, es sah nicht
gut aus. Nur ein Schiff hatten die Piraten bisher kapern können,
dafür jedoch zwei eigene verloren.
Als der Sommer am heißesten war, kam eines Tages
ein Bote zum Versteck in Gronsdale.
»König Scurr fordert uns heraus«, rief er schon von
weitem.
Tatsächlich hatte sich im ganzen Land die Kunde
verbreitet, dass König Scurr im letzten Sommermond die Sieben und
ihre Anhänger in der Steppe, nah bei Gronsdale, herausfordern
wollte.
»In der Steppe? Was im Namen der Götter will er
denn in der Steppe?«, fragte Brogan.
»Dazu wird er durch Balmacann reisen müssen«,
knurrte Londov, »und Greedeon wird ihn nicht aufhalten.«
»Verdammt, wir müssen all unsere Männer
zusammentrommeln«, rief Brogan. »Die Zeit wird knapp.«
»Wir brauchen die Unterstützung der Steppenleute«,
sagte Saliah vorsichtig, und Rijana zuckte zusammen.
»Ich würde sie allein nicht finden«, erwiderte
Rijana mit leiser Stimme, »aber wenn Ariac erst einmal wieder hier
ist, dann gehen wir gemeinsam.«
Saliah schloss die Augen und senkte den Kopf. Es
war zwecklos.
Sofort wurden hektische Vorbereitungen getroffen.
König Algrim hielt seine Krieger ebenfalls bereit, aber alle hatten
Angst, dass das nicht genügte.
König Scurr war mit seinen Soldaten durch
Balmacann und das Donnergebirge bis an den Rand der Steppe gereist.
König Greedeon hatte ihm sogar Unterkünfte und Essen zur Verfügung
gestellt. Es war zwar keine große Armee, nur etwa achthundert
Soldaten, aber im nördlichen Gebirge lauerte eine weitaus größere
Streitmacht von Orks, Soldaten und Trollen, die aber nur zum
Einsatz kommen würden, falls die Sieben wider Erwarten zu viele
Verbündete hatten.
Scurr blickte neben sich. Ariac saß mit gesenktem
Kopf und verschleiertem Blick auf einem großen Kriegshengst.
Manchmal hatte Scurr den Eindruck, dass er noch immer gegen den
Zauber ankämpfte, aber der Widerstand wurde schwächer.
»Bring diesen Soldaten rechts von dir um«,
flüsterte Scurr, nur um Ariacs Gehorsam zu testen.
Ariac hob den Blick, schien durch Scurr
hindurchzusehen und zog anschließend sein Schwert. Ohne
nachzudenken, galoppierte er auf den Soldaten zu, der nicht einmal
mehr reagieren konnte, und rammte ihm das Schwert in die Brust.
Anschließend kehrte Ariac zurück und reihte sich wieder mit starrem
Blick neben König Scurr ein, der mit einem boshaften Grinsen zu
Worran blickte. Ariac war bereit, seine Aufgabe zu erfüllen.
»Sollten wir ihm nicht wenigstens einen
ordentlichen Haarschnitt verpassen?«, knurrte der Ausbilder und
deutete auf Ariacs lange dunkle Haare, die ihm wirr ins Gesicht
hingen.
Scurr schüttelte den Kopf.
»Nein, seine Freunde sollen ihn so sehen, wie sie
ihn kennen. Wir werden ihn auch nicht in unsere Uniform
stecken.«
Worran zuckte die Achseln. Ihm war das egal, er
wollte Ariac nur endlich umbringen dürfen, damit er wieder besser
schlafen konnte.
Broderick und Falkann trainierten draußen vor den
Höhlen in der Hitze eines schwülen Sommertages, als Brogan zu ihnen
stieß.
»Scurrs Leute bewegen sich langsam in Richtung
Norden. Wir sollten morgen früh aufbrechen.«
Die beiden nickten ernst und wischten sich den
Schweiß aus dem Gesicht. Kalina, Brodericks Gefährtin, kam mit
einem Krug Wasser zu ihnen, und die beiden tranken hastig.
»Wenn es weiter so heiß bleibt, werden wir noch
gegrillt«, knurrte Broderick.
Auch Brogan fühlte sich unwohl. Schon seit über
einem Mond war es so unerträglich heiß und trocken. Die wenigen
heftigen Gewitter hatten bisher keine Abkühlung gebracht.
»Die Ernte wird wieder schlecht ausfallen«, stellte
Kalina besorgt fest und setzte sich auf einen Stein.
»Wir müssen es nehmen, wie es kommt«, meinte
Brogan. »Also, packt eure Sachen.«
Schon seit geraumer Zeit hatte sich Falkann
Gedanken gemacht. »Wir sollten Rijana hierlassen. Sie ist noch
immer so durcheinander und traurig.«
Brogan stimmte sofort zu, denn das hatte er ohnehin
vorgehabt. Er ging zu den Höhlen, wo Rijana mit ernstem Gesicht
dabei half, Vorräte und Waffen auf die Pferde zu packen.
»Rijana, kommst du mal zu mir«, bat der
Zauberer.
Sie hielt in ihrer Arbeit inne und folgte ihm.
Brogan betrachtete sie besorgt. Von dem fröhlichen, unbeschwerten
Mädchen war nicht mehr viel übrig. Rijana wirkte in letzter Zeit
immer so ernst und in sich gekehrt.
In einer ruhigen Ecke sagte er zu ihr: »Ich möchte,
dass du hierbleibst.«
Überrascht blickte sie auf und schüttelte
anschließend den Kopf. »Nein, ich komme mit euch.«
Brogan packte sie am Arm. »Ich möchte nicht, dass
du dich in Gefahr bringst. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht und
wie sehr Ariac dir fehlt.«
In ihre dunkelblauen Augen traten Tränen, die sie
rasch herunterschluckte.
»Ich werde gegen König Scurr kämpfen, er ist Ariacs
Feind«, sagte sie entschieden. Sie nahm sein Schwert, das sie schon
die ganze Zeit über an ihrer Seite hatte. »Wenn er ihn nicht
umbringen kann, dann tue ich es.«
»Nein, das wirst du nicht. Nur Ariac hätte es
gekonnt, und genau deswegen möchte ich, dass du hierbleibst. Du
kannst Scurr nicht töten, dazu ist niemand fähig.«
»Aber ich …«, begann sie erneut, doch Brogan
schüttelte entschieden den Kopf. »Du bleibst hier, das ist mein
letztes Wort.«
Rijana senkte den Kopf. Ihr fehlte die Energie, um
ihm zu widersprechen. Die ganzen letzten Monde waren für sie
ohnehin wie in Trance vorübergegangen.
Am nächsten Tag verabschiedete sie sich schweren
Herzens von ihren Freunden.
Falkann nahm sie vorsichtig in den Arm. »Wir werden
sicher gewinnen, mach dir keine Gedanken.«
Plötzlich hatte Rijana wahnsinnige Angst, auch noch
ihre besten Freunde zu verlieren. Sie hielt Falkann lange
fest.
»Bitte nimm mich mit. Ich werde schon auf mich
aufpassen«, flehte sie.
»Nein, Brogan hat Recht, du solltest
hierbleiben.«
Sie wandte sich ab und lief zurück zu den Höhlen,
wo sie
sich heulend auf ein Bündel mit Fellen warf. Kalina kam ihr
hinterher und streichelte ihr beruhigend über den Rücken.
»Mach dir nichts draus. Ich muss auch hierbleiben.
Sie werden sicher alle wohlbehalten zurückkehren.«
Rijana hob den Kopf und presste mit dünner Stimme
hervor: »Das hat Ariac damals auch gesagt.«
Kalina schloss die Augen und lehnte sich gegen die
Wand. Auch sie hatte Angst, Broderick nie mehr wiederzusehen. Aber
sie bemühte sich zu lächeln, als der kleine Norick sie mit großen
Augen ansah.
»Dein Vater kommt bald zurück, und jetzt geh
spielen.«
Der Kleine nickte und lief mit seinen kurzen,
kräftigen Beinen davon.
Für eine so große Gruppe von über achthundert
Mann war es nicht einfach, unentdeckt zu reisen, daher hatten sie
beschlossen, sich aufzuteilen. Überraschenderweise trafen sie weder
in Northfort noch in Gronsdale auf Widerstand, was für Nervosität
sorgte. König Algrim hatte sich ebenfalls mit seinen Kriegern
angeschlossen. Der König von Errindale, König Reenor, hielt sich
noch im Hintergrund. Er würde an der Grenze zwischen Northfort und
Errindale warten, denn er sollte noch unerkannt bleiben und nur im
Notfall eingreifen. König Reenor befehligte noch einmal etwa
vierhundert Krieger.
Die Reise an den Rand der Steppe war eine quälende
Angelegenheit. Alle schwitzten furchtbar in ihren Kettenhemden und
Rüstungen. Jeder hoffte sehnlichst auf Regen.
Rijana war nicht wie verabredet in den Höhlen
geblieben. Eines Nachts hatte sie sich fortgeschlichen und war mit
Lenya und Nawárr den anderen hinterhergeritten. Seitdem Ariac fort
war, war der Hengst immer in Lenyas Nähe geblieben. Rijana musste
sehr aufpassen, um nicht entdeckt zu werden, denn die anderen
hätten sie nur fortgeschickt. Sie wusste selbst nicht,
was mit ihr los war. Ihr Verstand sagte ihr, dass Ariac nicht mehr
lebte, aber ihr Herz sagte etwas anderes.
Es war brütend heiß, selbst in den dichten Wäldern.
Wenn Rijana richtig gerechnet hatte, konnten es höchstens noch ein
bis zwei Tagesritte bis zum Treffpunkt am Rande der Steppe sein.
Rijana machte mit den beiden Pferden an einem kleinen, beinahe
ausgetrockneten Bachlauf Rast und wusch sich den Schweiß von der
Stirn. Alles war ruhig in der flirrenden Hitze, und sie wurde
schläfrig. Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung und
fuhr auf. Auch die Pferde wurden nervös und schnaubten. Rijana
schlich vorsichtig durchs Unterholz und packte ihr Schwert fester.
Als sie einen kleinen Abhang hinuntersah, erkannte sie eine große
Gruppe von Orks unter der Leitung eines Soldaten in rotem Umhang.
Sie bewegten sich von Norden her auf das Buschland zu.
Verdammt, sie wollen uns von
hinten angreifen, dachte Rijana und fasste einen
Entschluss.
Sie musste die anderen warnen, sonst würden sie am
Ende hinterrücks erschlagen werden. Rijana schlich zu den Pferden
zurück, schwang sich in Lenyas Sattel und galoppierte, gefolgt von
Nawárr, weiter in Richtung Osten. Am Abend hatte sie die etwa
zweihundert Mann, die von Brogan angeführt wurden, erreicht.
Erschrockene Rufe tönten ihr entgegen, als sie in das kleine Lager
gestürmt kam, aber dann erkannte man sie.
Brogan stapfte zornig auf sie zu, doch Rijana rief
gleich atemlos: »Bitte, Brogan, sei nicht wütend, von Norden her
nähern sich Orks. Ich glaube, sie wollen euch von hinten
angreifen.«
»Ich werde sofort einige Männer schicken, die
sollen König Reenor und seine Leute verständigen, damit die sie
unschädlich machen können«, rief Brogan und eilte mit wehendem
Umhang davon.
»Was machst du denn hier?«, fragte Falkann
vorwurfsvoll
und führte Rijana zum Lagerfeuer, wo gerade Essen ausgeteilt
wurde.
»Ich wollte eben bei euch sein.« Erleichtert trank
Rijana etwas frisches Wasser. Obwohl es nun Abend war, war es immer
noch sehr warm.
»Wir können sie nicht mehr zurückschicken«, stellte
Broderick mit gerunzelter Stirn fest, »das wäre zu
gefährlich.«
Die anderen stimmten ihm zu, aber Rijana entgegnete
entschieden: »Ich hätte mich sowieso nicht zurückschicken lassen.
Ich gehöre doch zu euch.«
»Aber du hältst dich zurück und machst nicht
irgendwelche dummen Sachen«, verlangte Rudrinn ernst. »Ariac hätte
das auch nicht gewollt.«
Rijana senkte den Kopf und nickte.
»Ich halte mich von König Scurr fern,
versprochen.«
Die anderen zweifelten daran jedoch immer noch
etwas, sodass jeder sich insgeheim versprach, gut auf Rijana zu
achten.
Als Brogan zurückkehrte, ermahnte er sie ebenfalls
noch einmal, nichts zu riskieren. Ihm gefiel es zwar auch nicht,
dass Rijana sie nun begleiten würde, aber jetzt war daran nichts
mehr zu ändern.
In der Morgendämmerung eines neuen, heißen Tages
brachen sie auf. Im Laufe des Nachmittags trafen sie auf den Rest
ihrer kleinen Armee und sahen in der Abenddämmerung die verbrannte
Steppe vor sich. Rijana musste schlucken. Die unendliche Weite, die
Raubvögel, die am Himmel ihre Kreise zogen, und das Gefühl von
Freiheit erinnerten sie so sehr an Ariac, aber das musste sie jetzt
verdrängen. Weiter im Süden sah man bereits Scurrs Armee.
Brogan zog die Augenbrauen zusammen. Es waren
weitaus weniger Gegner, als er gedacht hatte, wohl nicht viel mehr
als ihre eigenen Männer. Das machte ihn etwas nervös.
»Verstehst du das?«, fragte auch Falkann.
»Angeblich hat er
doch so viele Krieger, die von Greedeon sind auch nicht
dabei.«
»Vielleicht hält er noch einige Männer als
Nachschub versteckt«, erwiderte Brogan. »Gut, dass Rijana uns
gewarnt hat. Aber trotzdem finde ich das merkwürdig.«
In dieser Nacht konnte kaum jemand schlafen. Es war
heiß, und alle waren nervös, da niemand wusste, was der morgige Tag
bringen würde.
Brogan versuchte am Morgen noch einmal, allen Mut
zuzusprechen.
»Da es nicht sehr viele Gegner sind, haben wir gute
Chancen, sie zu besiegen. Seid vorsichtig und riskiert nichts.
Falls etwas schiefgeht, flüchten wir nach Gronsdale. In den Bergen
können wir uns verstecken«, rief er, als sich alle formiert hatten.
König Scurrs rote Armee rückte langsam, aber sicher vor.
Schon von weitem sah man den großen hageren König
auf seinem Pferd sitzen.
Brogan blickte nervös zu Rijana, die vom Rücken
ihrer Stute aus auf die Blutroten Schatten starrte. Sie hatte
Ariacs Schwert an ihrem Sattel befestigt und wirkte
angespannt.
»Sei achtsam«, warnte Brogan. Rijana versprach es
ihm erneut.
Plötzlich wieherte Nawárr leise und galoppierte
davon, zu Rijanas Entsetzen direkt auf die gegnerische Armee
zu.
»Nein, nicht, was tust du denn?«, schrie Rijana und
wollte ihm folgen, doch Falkann griff ihr in den Zügel.
»Nicht, du kannst ihn nicht aufhalten.«
Rijana biss sich auf die Lippe und blickte dem
Pferd verzweifelt hinterher. Aber dann konnte sie nicht mehr viel
nachdenken, denn die ersten Reiter, in ihre blutroten Umhänge
gekleidet, kamen auf sie zugestürmt.
Auch die Krieger von König Algrim und ihre eigenen
Leute galoppierten los.
»Bleibt zusammen«, befahl Brogan und galoppierte
voran,
um mit seinem Zauberstab magische Feuerblitze auf die Gegner
werfen zu können.
Nawárr hatte seinen Herrn gewittert, aber als er
dann schnaubend vor Ariac stand, wurde er nervös. Irgendetwas
stimmte nicht mit ihm.
»Was will das Vieh hier?«, fragte König Scurr, aber
niemand wusste darauf eine Antwort.
Doch dann kam Worran und rief: »Ha, das ist doch
mein Hengst!« Er wollte schon Nawárrs Zügel ergreifen, doch der
wurde panisch, schlug aus und galoppierte aufgeregt davon durch die
Reihen der angreifenden Soldaten.
Ariac hatte von alledem nichts mitbekommen. Sein
Geist schien wie vernebelt, alles fühlte sich seltsam an. Dann
hörte er König Scurrs flüsternde und zugleich machtvolle
Stimme.
»Töte das Mädchen. Töte Rijana, denn sie ist eine
Bedrohung für unsere Macht. Sie ist der Ursprung allen
Übels.«
Ariac nickte kaum merklich, trieb sein Pferd
mechanisch an und bahnte sich seinen Weg durch die Soldaten, die
nun mit der gegnerischen Armee vermischt waren. König Scurr
beobachtete Ariac aus der Ferne wie ein Puppenspieler, der seine
Marionette losgeschickt hatte. Ariac kämpfte bei weitem nicht so
kraftvoll und geschickt, wie es normalerweise der Fall war. Seine
Bewegungen wirkten hölzern und etwas verlangsamt. Aber trotz allem
war er noch sehr viel besser als viele andere Männer. König Scurr
war zufrieden und folgte ihm langsam.
»Was ist, wenn ein anderer ihn umbringt, bevor er
das Mädchen tötet?«, fragte Worran.
»Dann haben wir nicht viel verloren«, erwiderte
König Scurr kalt. »Aber wir sollten es im Auge behalten. Falls ihn
jemand zu stark bedrängt, dann schieß ihn ab.«
Worran grinste böse und spannte seine
Armbrust.
Die Schlacht verlief gut. Brogan war zufrieden.
König Scurrs Männer waren zwar grausam und gut ausgebildet, aber
ihre eigenen Männer waren ebenfalls sehr gute Kämpfer. Rijana war
noch bei Falkann und den anderen, wie Brogan erleichtert
feststellte. Im Moment verlief alles nach Plan.
Die Schlacht zog sich den ganzen Tag hin. Bisher
schienen die Sieben und ihre Freunde in der besseren Position zu
sein. Nach und nach drängten sie die Soldaten in den roten Umhängen
zurück. Rijanas Freunde passten gut auf sie auf und schirmten sie
vor allzu vielen Angreifern ab, aber langsam begannen sich die
Armeen zu vermischen. Im Laufe der Zeit zerstreuten sie sich
weiter, doch Falkann hob beruhigend die Hand, als Rudrinn sich
hektisch nach Rijana umsah, er war weiter abgetrieben worden. Dann
erkannte er jedoch, dass Falkann auf Rijana achtete.
Zum Glück schien Rijana ohnehin ihre lähmende
Trauer abgeworfen zu haben – zumindest für den Moment. Sie kämpfte
so sicher und geschickt wie immer und streckte reihenweise Gegner
nieder.
Rudrinn war der Erste, der auf Ariac traf, als
dieser sich seinen Weg durch die kämpfenden Männer bahnte. Er
tötete oder schlug jeden bewusstlos, der sich ihm in den Weg
stellte, und achtete nicht darauf, ob es die Männer von Scurr oder
von Brogan waren. Er musste dieses Mädchen töten, das war König
Scurrs Befehl, das Einzige, was zählte.
Gerade schlug Rudrinn auf einen Soldaten mit rotem
Umhang ein, der ihm übel zusetzte. Er musste sein ganzes Können
aufbringen, und sein silbernes Schwert mit den Runen wirbelte durch
die Luft. Endlich hatte er den Mann zu Boden gestoßen, sodass er
ihm sein Schwert in den Rücken rammen konnte. Als Rudrinn
aufblickte, erstarrte er. Vor ihm stand Ariac und stieß gerade
einen Soldaten mit rotem Umhang zur Seite.
Rudrinn traute seinen Augen nicht, dann lief er auf
Ariac
zu und rief: »Du liebe Zeit, dann hatte Rijana doch Recht. Bin ich
froh, dass du doch nicht …«
Doch weiter kam er nicht, denn Ariac schlug ihn mit
dem Knauf seines Schwertes bewusstlos.
Ariac kämpfte sich weiter durch das Chaos der
Schlacht. Er hatte einen Auftrag von König Scurr, und den musste er
ausführen.
Rijana stand einem großen Mann mit typisch
kurzgeschorenen Haaren, wie sie alle von Scurrs Männern trugen,
gegenüber, der jetzt mit heftigen Schlägen auf sie zustürzte. Aber
Rijana war geschickt, sie war klein und wendig und eine Kriegerin
von Camasann. Immer wieder tauchte sie unter seinen Schlägen
hindurch, brachte ihm kleinere oder größere Verletzungen bei und
konnte mit ihrem magischen Schwert seine Schläge blocken. Dann,
ganz plötzlich, verdrehte der Mann die Augen und brach zusammen.
Rijana stutzte, dann glaubte sie, in Ohnmacht zu fallen, denn Ariac
stand vor ihr.
»Ariac?«, flüsterte sie ungläubig und wollte ihm in
die Arme fallen, doch er schien durch sie hindurchzublicken. Als er
dann noch anfing, auf sie einzuschlagen, wich Rijana zurück. Sie
wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.
»Ariac, ich bin’s«, rief sie und duckte sich im
letzten Augenblick unter einem kraftvollen Schlag.
Erst jetzt sah sie seine merkwürdig verschleierten
und starren Augen. Ariac erkannte sie offensichtlich nicht.
Schließlich blieb ihr nicht anderes übrig, als seine Schläge, die
seltsam mechanisch wirkten, immer wieder abzublocken. Dabei gab sie
sich äußerste Mühe, ihn nicht zu verletzen.
»Hör auf, ich bin es, Rijana«, rief sie
verzweifelt, doch er hörte einfach nicht und hieb weiter auf sie
ein.
König Scurr saß zufrieden auf seinem Pferd und
beobachtete das Ganze aus der Ferne. Alles lief, wie er es sich
gedacht hatte.
Dass seine eigenen Leute immer mehr zurückgedrängt und getötet
wurden, störte ihn nicht. Heute würde er den Sieben ihre
Verletzlichkeit demonstrieren und ihnen zeigen, wer der wahre
Herrscher über alle Länder war.
Rijana war schon ziemlich erschöpft, als Falkann,
der nicht weit von ihr entfernt gegen mehrere Blutrote Schatten
gleichzeitig gekämpft hatte, bemerkte, was los war.
Zunächst stutzte er, als er Ariac sah. Aber dann
erkannte er entsetzt, dass Ariac augenscheinlich dabei war, gegen
Rijana zu kämpfen. Mit einem Aufschrei ging er dazwischen und
schlug auf Ariac ein.
»Nein, Falkann, hör auf, er erkennt uns nicht«,
schrie Rijana und wollte ihn aufhalten.
Einen Augenblick lang stutzte Falkann und wurde
gleich von Ariac zur Seite gestoßen. Nun ging dieser wieder auf
Rijana los, die Falkann verzweifelt zurief, sich rauszuhalten. Er
wollte ihr zwar erneut helfen, aber da schlugen Scurrs Männer
bereits wieder auf ihn ein, sodass ihm nichts anderes übrig blieb,
als Rijana sich selbst zu überlassen und sich zu wehren.
»Ariac, bitte, du musst mich doch erkennen«, rief
sie immer wieder und wich gerade noch rechtzeitig einem Schlag aus,
der wohl sonst ihren Schädel gespalten hätte. Den nächsten Hieb
hielt sie mit ihrem magischen Schwert auf und drückte dabei das
seine hinunter. Dabei blickte sie ihm in die Augen, und Tränen
liefen ihre Wangen hinab.
»Bitte, hör doch endlich auf«, flehte sie und ließ
ihr Schwert sinken.
Zu Falkanns Entsetzen, der die Szene aus dem
Augenwinkel beobachtete, stellte sie sich direkt vor Ariac, der sie
noch immer mit diesem merkwürdig starren Blick ansah.
Falkann schrie auf, als Ariac das Schwert hob und
nach Rijana schlug. Im letzten Augenblick sprang sie zur Seite,
aber Ariacs Klinge traf sie am Arm, und Rijana ging in die
Knie.
Wie besessen hieb Falkann nach Scurrs Soldaten und
hatte sie schließlich bezwungen. Dann lief er in Rijanas
Richtung.
Entsetzt sah Rijana, dass Ariacs Schwert erneut auf
sie heruntergesaust kam. Ihr Arm blutete, daher konnte sie ihn
nicht mehr richtig benutzen. Sekundenschnell tauchte sie unter
Ariacs Schlag weg.
»Ariac, ich bin’s, Rijana, bitte, du musst dich
erinnern«, flehte sie, trat einen Schritt näher und sah ihm direkt
in die Augen.
Für einen Moment schien Ariac zu zögern. Ein
Zittern ging durch ihn, und es war, als ob etwas gegen den Zauber
kämpfte, den König Scurr auf ihn gelegt hatte.
Du musst sie töten, du musst
Rijana töten, wisperte die Stimme in seinem Geist.
»Ariac, ich liebe dich, lass dein Schwert
fallen!«
Ariac zögerte. An seinem Gesicht sah man, wie er
mit sich kämpfte. Gegen Scurrs Zauber, gegen den Befehl, aber dann
stieß er sie erneut von sich.
Rijana wurde zu Boden geschleudert, und im letzten
Moment gelang es ihr, sich wegzurollen und Ariacs herabschießender
Klinge auszuweichen. Ein Soldat zu ihrer Linken trat sie
schmerzhaft in die Seite, als er selbst vor einem Krieger aus
Camasann zurückwich.
Halb blind vor Tränen, zum Teil aus Schmerz, zum
Teil aus Verzweiflung, stand sie wieder auf. Einen Augenblick lang
war Ariac abgelenkt, denn zwei miteinander ringende Gegner hatten
ihn zur Seite geschoben.
Nach ihrem Schwert tastend versuchte Rijana, ihre
Gedanken zu ordnen. Sie hatte bemerkt, wie Ariac gezögert hatte.
Was auch immer Scurr mit ihm angestellt hatte, es war noch etwas
von ihm übrig, das sich an sie erinnerte, sie wusste es.
Nachdem sie einem verletzten Blutroten Schatten den
letzten Schlag versetzt hatte, ging Rijana erneut auf Ariac zu. Sie
holte die Kette mit dem Anhänger unter ihrem Kettenhemd
hervor.
»Ariac, du musst dich daran erinnern«, rief sie
gegen den Kampflärm an, aber Ariac schlug mit verschleiertem Blick
schon wieder auf sie ein.
Mit wachsender Verzweiflung bemerkte Falkann,
dass er immer weiter von Rijana abgedrängt wurde. Er musste sich
sehr zusammenreißen, sich auf seine eigenen Gegner zu
konzentrieren, doch immer wieder wanderte sein Blick zu ihr. Er
hatte keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wieso Ariac
wieder hier war, jetzt zählte nur, dass Rijana überlebte, denn
Ariac schien von Sinnen zu sein.
Aus dem Augenwinkel sah er ein Schwert auf seinen
Kopf zukommen, und nur dank des jahrelangen Trainings konnte er den
Hieb erfolgreich abwehren. Sogleich nutzte er die Öffnung in der
Deckung seines Gegners. Sein mit Runen verziertes magisches Schwert
durchdrang die Rüstung des gegnerischen Kriegers beinahe mühelos,
doch es wartete bereits der nächste Feind auf Falkann. Es schien
aussichtslos, zu Rijana zu gelangen.
Während Tränen ihr schmutziges Gesicht
hinabströmten, wehrte Rijana immer wieder Ariacs Schläge ab und
versuchte, zu ihm durchzudringen. Als sie ihn selbst am Arm
verletzte, schluchzte sie verzweifelt auf, aber er schien es gar
nicht zu bemerken. Wie ferngesteuert näherte er sich ihr immer
weiter. Es schien, als wolle er sie aufspießen.
Voller Freude beobachtete Scurr die Szene. »Die
Kleine kämpft nicht schlecht. Sie hätte gut in meine Armee gepasst.
Zu dumm, dass sie nicht mehr lange leben wird.« Belustigt nahm
Scurr wahr, wie Rijana unter einem der kraftvollen Schläge beinahe
zusammenbrach.
»Ihr könntet ihm befehlen, sie am Leben zu lassen.«
Worran leckte sich über die Lippen. »Dann könnte ich sie haben,
bevor …«
Scurrs stechender Blick traf ihn. »Ariac wird sie
heute töten.«
Sofort zog Worran die Schultern ein und nickte
unterwürfig.
»Aber falls die andere, diese Saliah, überlebt«,
Scurr deutete auf Saliahs blonden Haarschopf, der aus der Menge
herausleuchtete, »dann kannst du die haben, bevor ich sie
umbringe.«
Das besänftigte den widerwärtigen Ausbilder, und er
konzentrierte sich erneut auf den Kampf zwischen Ariac und
Rijana.
Sosehr es sich Rijana gewünscht hatte, Ariac
schien den Anhänger nicht zu erkennen, nicht wie bei ihrem ersten
Treffen, als er sie nur deswegen verschont hatte. Immer wieder wich
sie seinen Schlägen aus, schlug sein Schwert zur Seite und rief ihm
zu, er solle sich erinnern. Langsam bemerkte sie, wie ihre Kräfte
schwanden. Sicher, ihr magisches Schwert verlieh ihr mehr Kraft als
jeder anderen Frau, aber Ariac war der beste Schwertkämpfer, den
sie kannte. Wahrscheinlich hatte er sie nur deshalb noch nicht
besiegt, weil irgendein Bann auf ihm lag und er nicht Thondras
Schwert führte.
Sie wusste, dass es ihr nicht gelingen würde, ihn
zu besiegen; viel wahrscheinlicher war, dass einer ihrer
Verbündeten ihn versehentlich töten würde, um ihr zu helfen.
Rijana fasste einen waghalsigen Entschluss. Nachdem
Ariac nach vorn gestolpert war und nach ihr hieb, stellte sie sich
vor ihn und ließ ihr Schwert fallen. Sie hob die Hände und ging auf
ihn zu. Ihr war klar, dass sie höchstwahrscheinlich gleich sterben
würde, aber sie musste es versuchen, das war ihre letzte
Chance.
Aus der Ferne sah Falkann, was sie tat, und ihm
entfuhr ein entsetzter Schrei.
Mit sanfter Stimme näherte Rijana sich Ariac. Sie
sah, dass er verunsichert wirkte, doch schon wieder zischte sein
Schwert über ihren Kopf hinweg. Sie duckte sich und stand plötzlich
vor ihm.
»Ariac von den Arrowann, ich bin Rijana, ich will
deine Frau werden, bitte komm zu mir zurück.« Ihre Augen bohrten
sich in die seinen, und seinen nächsten Schlag bremste er ab.
Töte das Mädchen, ich befehle
es dir. Scurrs Stimme drang erneut in seinen Geist, und Ariac
hob sein Schwert.
»Wir gehören zusammen.« Rijana berührte seinen Arm,
und Ariac zuckte zusammen.
Irgendetwas in ihm sagte ihm, dass er gegen den
Zauber ankämpfen musste, der seinen Geist vernebelte.
Sie ist schlecht, sie ist deine
Feindin, töte sie, töte Rijana.
Verzweifelt schluchzend sah Rijana, wie Ariac, der
eben noch gezögert hatte, sich schon wieder anspannte und zum
Schlag ansetzte.
»Dagnar, ich bin Nariwa, du darfst mich nicht
töten!« Aus einer plötzlichen Eingebung heraus rief sie die Namen,
die sie in ihrem letzten Leben getragen hatten. Rijana wusste, dass
Ariac immer darunter gelitten hatte, dass er sie in ihrer letzten
Schlacht vor über tausend Jahren nicht hatte retten können, als ihr
Name Nariwa gewesen war.
Und tatsächlich, ein Zittern durchfuhr ihn. Etwas,
das älter war als Scurrs Zauber, wurde in ihm wachgerufen.
Nariwa, er musste sie retten, sie war seine
Gefährtin, seine Geliebte. Wie im Namen Thondras war er nur auf den
Gedanken gekommen, sie töten zu wollen?
Töte Rijana. Scurrs
Flüstern wurde schwächer, doch es war noch immer in seinem
Geist.
Ariacs Gesicht verriet, wie sehr er gegen den
Zauber ankämpfte, seine Augen wirkten im einen Augenblick klar,
dann
verschleierten sie sich aber wieder. Noch einmal rief Rijana ihn
bei dem Namen aus seinem letzten Leben, und plötzlich ließ er das
Schwert fallen. Rijana nahm sein Gesicht in ihre Hände.
»Ich bin Nariwa«, schluchzte sie und umarmte ihn
verzweifelt, »ich liebe dich, bitte komm zu mir zurück.«
Noch einige Augenblicke kämpfte er innerlich gegen
Scurrs Zauber, dann gewann seine Liebe zu Rijana. Sein Blick klärte
sich, und er fiel keuchend auf die Knie. Rijana umarmte ihn
weinend.
»Wo … wo bin ich?«, stammelte er.
Für Rijana existierte die tobende Schlacht um sie
herum nicht mehr. Sie hörte weder die Schreie der sterbenden
Soldaten noch Falkanns Rufe, die sich näherten, oder das Klirren
der Waffen. Sie wusste nur eines, dass Ariac wieder hier war und
sie ihn liebte.
»Was war denn nur mit dir los?«, fragte sie und
streichelte sein Gesicht. »Weißt du, wer ich bin?«
»Rijana. Aber ich weiß nicht, ich …«, stammelte er,
dann stöhnte er plötzlich auf und sackte mit einem Keuchen gegen
sie.
König Scurr hatte zunächst belustigt
mitangesehen, wie Rijana aufgegeben hatte, sich zu wehren. Voller
Vorfreude hatte er auf den Augenblick gewartet, in dem Ariac Rijana
töten würde. Danach hätte er den Zauber fallen lassen, und Ariac
hätte gesehen, was er angerichtet hatte.
Doch dann war etwas Merkwürdiges passiert. Das
Mädchen hatte ihn umarmt, und Scurrs Zauber war in sich
zusammengebrochen. Scurr brodelte innerlich, das konnte doch nicht
sein! Niemand konnte seine Zauber lösen, niemand war so mächtig,
schon gar nicht durch eine simple Umarmung!
»Töte ihn«, sagte Scurr schließlich, und seine
ruhige, kalte Stimme spiegelte das Gegenteil seiner Gefühle
wider.
Mit einiger Genugtuung legte Worran die Armbrust an
und feuerte den Pfeil ab. Er fluchte, als er von einem Soldaten
angerempelt wurde und der Schuss ein wenig die Bahn
verfehlte.
Endlich war Falkann bei Rijana. Er hatte keine
Ahnung, was passiert war. Jetzt sah er nur, dass sie mit Ariac am
Boden kniete.
Falkann hob sein Schwert, doch sie schrie: »Nein,
er ist wieder er selbst. Falkann, bitte hilf mir, er ist getroffen
worden.«
Kurz zögerte Falkann, dann sah er, dass Ariac
tatsächlich einen Armbrustbolzen im Rücken stecken hatte. Ohne
weiter nachzudenken, warf er sich Ariac über die Schulter und
rannte mit Rijana aus dem Gemetzel hinaus. Rijana bahnte Falkann,
so gut es ging, den Weg. Endlich waren sie hinter dem Hügel
angekommen, wo die Verletzten behandelt wurden.
Keuchend ließ Falkann Ariac auf den Boden sinken.
»Verdammt, was war denn mit ihm los, und wo in Thondras Namen kam
er her?«, fragte Falkann verwirrt.
»Ich weiß es nicht.« Rijana blickte ängstlich auf
den Bolzen, der aus Ariacs Rücken herausragte.
Nelja kam herbeigelaufen und stieß einen erstaunten
Ruf aus, als sie Ariac erkannte, dann sah sie sich den Bolzen an.
»Wir müssen ihn entfernen.«
Rijana biss sich auf die Lippe und hielt Ariac
zusammen mit den anderen fest. Mit einigen gekonnten Schnitten
entfernte Nelja das Geschoss, und obwohl Ariac bewusstlos war,
bäumte er sich auf, bevor er dann wieder zusammensackte. Nelja sah
sich die Wunde an, strich etwas Salbe hinein und nickte.
»Der Bolzen hat keine Organe verletzt. Aber wo kam
Ariac denn plötzlich her?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Rijana und
streichelte Ariac über das blutverschmierte Gesicht. »Ich bin so
froh, dass er noch lebt.«
Die anderen blickten sich verwirrt an.
Dann versorgte Nelja Rijanas Wunde am Arm. Ihr
ganzes Hemd war schon von Blut durchweicht, aber das merkte Rijana
nicht einmal. Sie war so glücklich, verwirrt und erschrocken
zugleich, dass sie gar nicht klar denken konnte.
Saliah, die von einem anderen Krieger erfahren
hatte, dass Ariac angeblich wieder gesichtet worden war, kam kurze
Zeit später dazu. Sie sah ziemlich zerrissen aus, war aber
weitestgehend unverletzt.
»Dann ist es also wahr«, staunte sie und kniete
sich neben Rijana, die Ariac noch immer im Arm hielt. »Oh, Rijana,
dann hattest du die ganze Zeit Recht.«
Mit einem Lächeln nickte Rijana, und Saliah drückte
ihre Hand.
Von brennendem Hass durchdrungen saß König Scurr
auf seinem Pferd, das fragende Gesicht seines Hauptmanns
ignorierend. Er hatte keine Ahnung, wie es gelungen sein konnte,
seinen Bann zu brechen. Soweit er sehen konnte, war weder Brogan
noch ein anderer Zauberer in der Nähe und selbst wenn, niemand war
so stark wie er.
»Äh, König Scurr, was …«, setzte Worran an.
»Rückzug.« König Scurrs vor unterdrückter Wut
zitternde Stimme war nur ein Flüstern.
»Wie bitte?« Worran glaubte, in dem Lärm der
tobenden Schlacht seinen Herrn nicht richtig verstanden zu
haben.
»Rückzug!« Scurrs grausame Augen bohrten sich in
die des Ausbilders. Dennoch wagte dieser, nach Norden zu
deuten.
»Aber unsere Orks sind doch …« Plötzlich fasste er
sich an die Kehle, denn diese wurde ihm wie von Geisterhand
zugedrückt. Scurr funkelte ihn noch einmal an, dann wendete er
wortlos sein Pferd und galoppierte davon. Er musste dringend in
Ruhe nachdenken.
Rudrinn wachte auf, als ein Soldat über ihn
stolperte und ihn in die Rippen stieß. Stöhnend hob er den Kopf,
und die Welt drehte sich um ihn. Er wusste nicht, ob er sich das
alles eingebildet hatte.
Als er sich umblickte, erkannte er, dass Scurrs
Leute flüchteten. Um ihn herum lagen jede Menge tote und verletzte
Männer.
Schwankend kam er auf die Füße und stolperte in die
Richtung, in der er das Lager vermutete.
Nach einer Weile traf er auf Broderick, der
mitleidig das Gesicht verzog, als er ihn sah.
»Warte, ich helfe dir.« Broderick packte ihn am
Arm. »Hast ganz schön was abgekriegt.«
Rudrinn schnitt eine Grimasse. Sein Kopf dröhnte,
und er konnte nur unscharf sehen.
»Entweder hat es mir den Schädel verdammt
durchgeschüttelt, oder vor kurzer Zeit hat mir Ariac eins
übergebraten«, keuchte er, als sie endlich im Lager waren und
Broderick ihn heftig atmend auf den Boden sinken ließ.
Broderick machte ein verwirrtes Gesicht und
tätschelte ihn an der Schulter. »Leg dich mal lieber hin, ich hole
Nelja.«
Erschöpft ließ Rudrinn den Kopf auf den Boden
sinken.
Broderick rannte durch das Lager und entdeckte nach
einiger Zeit endlich Nelja. Zu seiner Überraschung waren auch
Rijana, Saliah und Falkann dort.
»Nelja, kannst du mitkommen, Rudrinn …«, dann
torkelte er rückwärts und riss die Augen auf, als er Ariac
sah.
»Was ist mit ihm?«, rief Saliah erschrocken und
schüttelte Broderick an der Schulter, aber der brachte nur ein
Keuchen heraus.
»Jetzt rede doch«, schrie sie und schüttelte ihn
heftiger. Broderick deutete nur vage auf die Stelle, an der er
Rudrinn zurückgelassen hatte, und setzte sich neben Rijana und
Falkann, während Saliah davonrannte.
»Rudrinn hat gesagt, Ariac hätte ihn
niedergeschlagen.«
Rijana nickte und streichelte Ariac über die Stirn.
»Ich weiß nicht, was mit ihm los war. Er stand unter einer Art
Bann.«
»Er hätte sie fast umgebracht.« Auf Falkanns
Gesicht spiegelte sich noch immer Entsetzen wider.
»Er konnte nichts dafür«, verteidigte Rijana Ariac
sogleich.
Kurze Zeit später kam Rudrinn auf Saliah gestützt
angehumpelt. Der Schreck saß ihr noch in den Gliedern.
Rudrinn ließ sich auf den Boden sinken, und Nelja
begann, seine Kopfwunde zu behandeln.
»Dann bin ich also doch nicht irre«, murmelte
Rudrinn, als er Ariac erblickte. Er biss die Zähne zusammen, als
Nelja eine Salbe auf die Platzwunde strich.
Es dauerte einige Zeit, bis Ariac blinzelnd
aufwachte. Zunächst glaubte er zu träumen, aber dann sah er Rijana
leibhaftig vor sich und wollte sich aufsetzen. Ein stechender
Schmerz fuhr durch seinen Rücken, und er stöhnte leise auf.
»Langsam, du bist verletzt.«
Ariac nickte. Dann sah er die anderen. Er hatte
keine Ahnung, was überhaupt los war und warum alle so komische
Gesichter machten.
»Wo sind wir?«, murmelte er.
»In der Steppe, kurz vor Northfort«, erklärte
Rijana ruhig und gab ihm etwas zu trinken.
»Du hättest sie beinahe umgebracht!«, rief Falkann
ungehalten und hatte eine tiefe Zornesfalte zwischen den
Augenbrauen.
»Hör auf«, sagte Rijana bestimmt. »Das wird sich
alles klären.«
»Was war los?« Ariac stützte sich auf die
Unterarme.
Rijana wollte zwar noch warten, aber Ariac bestand
darauf, alles zu erfahren. Während sie erzählte, wurde er immer
bleicher, und er konnte sich bruchstückhaft erinnern. Erschrocken
nahm er Rijanas Hand und blickte entsetzt auf ihren verbundenen
Arm.
»Oh nein, das wollte ich nicht, das tut mir so
leid. Rijana, ich …«, stammelte er, aber sie umarmte ihn einfach
und drückte ihr Gesicht an seine Schulter.
»Das ist doch egal. Jetzt bist du wieder hier, und
alles ist gut.«
Aber Ariac schüttelte den Kopf, Schuldgefühle
plagten ihn. Er blickte zu Rudrinn, der nicht weit entfernt an
einem Baum lehnte. »Rudrinn, es tut mir leid, ich habe dich nicht
erkannt.«
Rudrinns Gesicht war mittlerweile vor lauter
Blutergüssen blau gefleckt, aber grinsen konnte er schon wieder.
»Ist ja noch alles dran.«
»Aber wo warst du denn die ganze Zeit?«, fragte
Broderick schließlich.
»Ich kann mich nur daran erinnern, dass wir vor
Scurrs Soldaten geflüchtet sind. Dann kam diese furchtbare
Explosion am Meer. Und dann, dann bin ich in Naravaack aufgewacht«,
erzählte er stockend, und Rijana schreckte zusammen.
In Kurzform berichtete Ariac, wie Scurr ihn befragt
hatte, ließ jedoch die Folterungen und Qualen weg, die er ertragen
hatte.
»… und dann bin ich hier aufgewacht, ich kann mich
an nichts mehr erinnern«, sagte er zum Schluss.
Zwischenzeitlich war Brogan unbemerkt zu ihnen
getreten.
»Scurr hat dich mit einem Zauber belegt«, sagte er
ernst, und alle fuhren zu dem Zauberer herum. Rudrinn musste
lauthals fluchen, weil er den Kopf zu schnell bewegt hatte.
»Und wieso ist der Zauber plötzlich gewichen?«
Falkann war misstrauisch, was ihm einen bösen Blick von Rijana
einbrachte.
»Ich kann nur vermuten, dass es Rijana irgendwie
gelungen ist, Scurrs Bann zu brechen«, vermutete Brogan.
»Sie ist aber doch keine Zauberin«, widersprach
Falkann skeptisch.
»Liebe ist der stärkste aller Zauber.«
Rijana lächelte und nahm Ariacs Hand. »Das ist doch
jetzt gleichgültig. Hauptsache, er ist wieder bei uns, das ist das
Wichtigste.«
Aber Ariac schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich
habe etwas Furchtbares getan. Das werde ich mir niemals verzeihen
können.«
»Du konntest nichts dafür, ich lebe ja noch.«
Brogan kniete sich neben die beiden und nahm ihre
Hände in seine. »Ihr seid sehr stark. Ihr habt Scurr gemeinsam
bezwungen. So etwas ist in vielen tausend Jahren niemandem
gelungen. Scurr und seine Schatten sind geflohen.«
Nun jubelten alle, nur Ariac sah sehr unglücklich
und nachdenklich aus.
»Du solltest jetzt ein wenig schlafen«, schlug
Nelja vor. »Die Wunde tut sicher weh.«
Ariac nickte zögernd. Sicher, sein ganzer Rücken
schmerzte wahnsinnig, aber viel schlimmer war, dass er Rijana
beinahe getötet hatte.
Sie lächelte ihn jedoch liebevoll an und breitete
ihren Umhang über ihn.
»Nelja hat Recht. Schlaf jetzt, ich bleibe bei
dir.«
Ariac wollte jetzt nicht schlafen, er musste über
so vieles nachdenken, doch der Trank, den Nelja ihm gegen die
Schmerzen gegeben hatte, war wohl auch ein Schlaftrank gewesen. Ihm
fielen einfach die Augen zu.
Kurze Zeit später kam Tovion angeritten. Nelja
umarmte ihn erleichtert. Er war blutüberströmt, doch das war zum
größten Teil nicht sein eigenes, er selbst hatte nur einige
oberflächliche Kratzer abbekommen.
»Sie sind nach Süden geflohen, wahrscheinlich nach
Balmacann«, erzählte er und erstarrte, als er Ariac am Boden liegen
sah. Seine Freunde erzählten ihm die ganze Geschichte, und er
staunte ebenso wie alle anderen.
»Deswegen sah Scurr so wütend aus«, sagte Tovion
und nahm dankbar einen Wasserschlauch an. »Ich konnte ihn ganz aus
der Nähe sehen.« Er schauderte. »Der Kerl hat wirklich eine
unheimliche Ausstrahlung.«