24. Fluchtinstinkt
Unendliche Wassermassen ergießen sich über das grüne, hü-
gelige Land. Blitze durchzucken die aufgeladene Atmosphäre.
Ein tonloser Schrei zerfetzt den Himmel in zwei Teile, der eine
blau, ein schweres Blau, voller Regen, der andere Teil ein un-
stetes Grün, das an das Farbspektrum eines grünen Nordlichts
erinnert. Sie steht inmitten dieser Flut und starrt mit aufgeris-
senem Mund dem Himmel entgegen. Ihr Schrei scheint un-
wirklich, unmöglich schmerzhaft, kaum menschlich. Ihr langes
Gewand ist am Saum mit Wasser vollgesogen und sie droht in
den Strom gezogen zu werden. Aber sie bewegt sich nicht. Das
einzige Lebenszeichen, das aus ihrem Körper spricht, ist der
lautlose Schrei, der nur von ihrem schweren, traurigen Blick
übertroffen wird. Ich kann es nicht sehen. Weint sie? Ihr Ge-
sicht sieht so aus. Aber bei diesem heftigen Regen kann man
es unmöglich erkennen. Jetzt sehe ich, dass sie zwischen zwei
reißenden Flüssen steht. Sie wird ertrinken. Sie versucht sich
nicht zu retten. Ich sehe ihr Gesicht, ich fühle ihren Schmerz.
Die Dramatik der Flut spiegelt sich in ihrer Iris wieder. Ich ver-
liere mich in ihren todtraurigen, wässrigen Augen. Fast meine
ich, dasselbe Bild, das um sie herum ist, in ihren Augen noch
einmal zu sehen. Doch da ist noch etwas anderes zu erkennen.
Ein Schatten. Der Umriss einer Gestalt. In ihrem feuchten
Blick eingeschlossen, erkenne ich die Gestalt eines brennenden
Mannes. Er brennt. Er ist eine einzige Flamme. Und sie schreit
wieder. Ihr Sirenengeheul schmerzt in meinen Ohren. Ich halte
sie zu, um mich vor ihrem Trauerruf zu schützen. Doch ihr
Wehklagen erreicht mich dennoch. Im Inneren. Es ist nicht die
Stimme, mit der sie schreit. Es ist etwas viel Mächtigeres. Jetzt
erst erkenne ich es. Sie hält sich ebenfalls die Ohren zu, als
wäre sie mein Spiegelbild. Ich versuche, mich ihr zu nähern.
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Ich habe Angst davor. Bevor ich sie erreichen kann, rutsche
ich aus und falle ins Wasser. Um mich ist nur noch Kälte und
Nässe. Ich ertrinke. Ich werde ertrinken. Ich sterbe und bekom-
me keine Luft mehr.
Mein eigener Schrei ließ mich aus diesem grauenhaften
Albtraum erwachen. Ich zitterte wie Espenlaub und konnte
kaum meinen Atem unter Kontrolle halten. Ich zog meine
Decke ganz fest um mich, um mich vor allem in meinem
Zimmer, vielleicht sogar vor der Nacht selbst, zu schützen.
Das war nicht die Art von Albtraum, auf die ich vorbereitet
war. Ich hatte mit schrecklichen Träumen von Farkas gerech-
net, der mich im Schlaf heimsucht, um mich zu quälen. Ich
war sogar gewappnet darauf, den rasenden Istvan zu sehen,
der versucht, seinen Todesrausch erneut an mir auszulassen.
Mit jeder dieser Heimsuchungen wäre ich klargekommen,
weil ich sie erwartete, auf sie vorbereitet war. Aber dieser
schrecklich verstörende Traum erschütterte mich zutiefst,
auch wenn ich wusste, was ihn vermutlich ausgelöst hatte.
Ich hatte Istvan seit dieser unsäglichen Freitagnacht nicht
mehr gesehen. Auch er war nicht zu mir gekommen. Nur
zwei Tage waren wir uns nicht begegnet und ich war schon
dabei, in die Dunkelheit abzudriften. Selbst mein Unterbe-
wusstsein wusste, dass es nicht so weitergehen konnte. Ich
fühlte mich wie eine Ertrinkende, also träumte ich auch so.
Ich bekam, wach oder nicht, einfach keine Luft mehr. War
ich bei ihm, fühlte ich mich einsam und traurig, ausgelaugt,
atemlos. War ich nicht bei ihm, war es, als hätte ich die Fä-
higkeit, den puren Willen zum Ein- und Ausatmen verloren.
Egal wie, ich war erledigt. Es gab keinen Ausweg, weder für
mich noch für uns.
Ich saß noch immer hochgeschreckt im Bett und versuch-
te zu vermeiden, in dieselbe Schlafposition zurückzukehren.
Denn ich wusste, wenn ich in dieser Nacht auch nur
eines der Traumbilder wiedersehen müsste, würde ich den
Verstand verlieren. Ich versuchte, mich auf die Seite meines
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Bettes zu legen, und wartete stundenlang, bis endlich der
Morgen anbrach. Der Morgen, der mich zu einer Entschei-
dung zwingen sollte, die ich in meinem Herzen nicht treffen
wollte. Von der mir aber mein Verstand einbläute, dass kein
Weg daran vorbei führte.
Die erste Entscheidung, die ich an diesem Morgen traf, war,
mir ein oder zwei Wochen freizunehmen. In meinem der-
zeitigen Zustand war ich nicht fähig zu arbeiten. Ich würde
noch schreiben können und die Kritiken notdürftig zusam-
menbasteln, aber mit Menschen zu sprechen oder freund-
liche Interviews zu führen, lag jenseits von allem Machba-
ren. Ich rief in aller Herrgottsfrühe Frank an, der gerade erst
ins Büro gekommen war. Ich servierte ihm eine Geschichte
über familiäre Verpflichtungen, dass ich ein oder zwei Wo-
chen nicht zur Verfügung stehen könne, dass ich vielleicht
sogar verreisen müsse. Er war nicht gerade begeistert, er-
klärte sich aber einverstanden. Vielleicht erschreckte ihn der
Ton meiner Stimme am Telefon auch so sehr, dass er nicht
weiter nachfragen wollte.
Als ich auflegte, bemerkte ich ein vertrautes Motorenge-
räusch, das vom Ende meiner Straße kam. Im Pyjama hechte-
te ich zum Küchenfenster und sah Istvans schwarzen Cama-
ro, der an der Kreuzung zu meiner Straße parkte. Durch die
getönten Scheiben erkannte ich ihn nicht, aber ich wusste,
dass er mich hören konnte. Er konnte meinen leisen Puls be-
stimmt laut und deutlich wahrnehmen. Es sah nicht so aus,
als wollte er zu mir kommen. Die Art, wie sein Wagen mit die-
sem Sicherheitsabstand parkte und sich nicht von der Stelle
rührte, war leicht zu interpretieren. Er überwachte mich.
Drei Tage bis zum ersten Vollmond. Natürlich wachte er über
mich. Auch wenn die unmittelbare Gefahr geschätzte tausend
Kilometer weit weg war, konnte er nicht anders, als mich aus
der Ferne zu beschützen. Wie konnte er da nicht verstehen,
dass er für mich noch immer Orion war? Jeder Mann hätte
mich nach meinem Verhalten längst satt, hätte sich von mir
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losgesagt, aber nicht Istvan. Obwohl er fest glaubte, für mich
die größte Gefahr zu sein, konnte er nicht anders, als sicher
zu gehen, dass es mir auch gut ging. Wenn er nur … Die
traurigsten Worte in jeder Sprache. Wenn er sich nur über-
winden könnte. Auch am nächsten Tag kam er wieder. Nach
Bibliotheksschluss mit dem Wagen und sonst, am Abend, zu
Fuß. Dann sah ich ihn am Waldrand stehen. Ich beobachtete
ihn vom Wintergarten aus, ohne das Licht anzumachen. Aber
selbstverständlich bemerkte er meine Anwesenheit. Stunden-
lang beobachteten wir uns gegenseitig. Er kam nicht zu mir
hinein und ich ging nicht zu ihm nach draußen.
Ich presste meine Handfläche gegen das kalte Glas des
Wintergartens und sprach zu ihm, ohne mit Sicherheit sagen
zu können, ob er es hörte oder nicht.
„Wieso tust du das? Wieso brichst du uns beiden das
Herz? Wieso kannst du nicht damit aufhören?“, schluchzte
ich verzweifelt. Mein Herz setzte für den Bruchteil einer Se-
kunde aus. Zuerst schien es, als ob er sich dem Haus näher-
te. Dann setzte mein Herzschlag wieder ein und Istvan zog
sich zurück in den Schutz des dunklen Waldes. Es schmerz-
te, sogar körperlich, ihn immer so nahe zu wissen und doch
nie wirklich bei ihm zu sein. Würde es von jetzt ab immer so
weitergehen? Er würde tatsächlich wie das Sternbild Orion
über mich wachen, von einer sicheren Entfernung aus, nicht
weiter an meinem Leben beteiligt? Sollte das alles sein, was
von uns übrig blieb?
Nein. Nicht, wenn es nach mir ginge. Ich war mir mehr
denn je sicher, dass es Zeit wurde, etwas zu unternehmen.
Ich musste ihn derart schocken, dass seine Mauer zusam-
menfiel. Ich brauchte einen Plan. Einen Plan, mit dem ich
zurückbekommen wollte, was ich verloren hatte.
Als ich in dieser letzten Nacht, bevor der Vollmond und die
Verwandlung kommen sollten, in seine weit entfernten Au-
gen am Waldrand sah, war ich mir sicher: Die Zeit zum Han-
deln war gekommen.
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Am nächsten Tag begann ich mit den Vorbereitungen zu
meinem unfassbaren Plan. Ich nutzte die Öffnungszeiten der
Bibliothek und die Stunden, in denen ich unbeobachtet sein
würde, um zur Bank zu gehen. Dort hob ich alles ab, was auf
meinem Sparbuch lag. Ein bescheidener Betrag, aber genug
für meine Zwecke. Die etwas mehr als zweitausend Euro ließ
ich mir bar auszahlen, woraufhin ich einen misstrauischen
Blick von der Bankangestellten erntete, die mich sonst nur
wesentlich bescheidenere Beträge abheben sah. Aber mir
war ihre Irritation mehr als egal und ich steckte das ganze
Geld gleichgültig in meinen Geldbeutel.
Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich tatsächlich
stark genug wäre, meinen verrückten, riskanten Plan tatsäch-
lich auszuführen. Aber eines wusste ich. Es gab kein Zurück
mehr. Es war eine reine Verzweiflungstat, das war klar. Aber
es war nötig, um die Welt, wie sie jetzt war, aus den Angeln
zu heben.
Ich stolperte erleichtert aus der Bank, da ich wenigstens
den ersten Punkt auf der Liste abhaken konnte. Draußen an
der frischen Luft erwartete mich ein rauer Märzwind, der an
meinen Wangen riss. Es war zwar erst Mitte März, aber das
Aprilwetter kam in diesem Jahr schon früher. Ständig war
es bewölkt und es regnete an jedem verdammten Tag. Auch
wenn sich die Leute über nichts anderes beklagten, kam es
mir eher natürlich vor, so als hätte sich meine Stimmung
mit dem Wetter verbündet. Sonnenschein und blauer Him-
mel wären jetzt ohnehin unerträglich gewesen. Der nächste
Schritt auf meiner Liste würde weit schwieriger werden als
die Geldbeschaffung.
Wieder zu Hause angelangt, musste ich schnell handeln.
Die Zeit lief mir davon. Ich musste noch einiges schaffen,
ehe die Bibliothek schloss. Und bei dieser Aufgabe war das
Timing entscheidend. Ich nahm mir das Handy und wählte
Serafinas Nummer, die ich auswendig gelernt hatte, weil ich
sie nicht abspeichern durfte. Mit nervösem, krampfendem
Magen horchte ich auf den Wählton. Serafina ging nicht
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ran. Vielleicht war sie in Weißrussland auf ihrem Beobach-
tungsposten und hatte es auf lautlos geschaltet. Ich hatte
keine Zeit und noch weniger Geduld, ihr so lange hinter-
herzutelefonieren, bis ich sie persönlich erreichen würde.
Als die automatisch programmierte Stimme die Nummer
zu Ende gesprochen hatte, hinterließ ich nach dem Piepton
eine Nachricht und versuchte dabei nicht ganz so verstörend
zu klingen, wie mir tatsächlich zumute war.
„Serafina, hier ist Joe. Istvan wird dich bald brauchen. Du
musst nach Hause kommen und dich um ihn kümmern. Du
weißt, was ich dir versprochen habe. Ich fürchte, ich muss
tun, worum du mich gebeten hast. Ich habe so lange ver-
sucht, mich dagegen zu wehren, dagegen anzukämpfen, aber
er hat aufgegeben. Nur deshalb tue ich das. Serafina, pass
gut auf ihn auf, er braucht dich jetzt mehr denn je. Und bit-
te …! Sag ihm, dass ich ihn liebe. Mach ihm das klar, ja?“
Ich legte so schnell ich konnte auf, bevor meine Stimme
völlig wegbrach. Ich atmete ein paar Mal durch den Mund
ein und aus. Zum einen, um den pochenden Schmerz in mei-
ner Magengrube wegzuatmen, und zum anderen, um den er-
neuten Heulkrampf von mir fernzuhalten, der sich bereits in
meiner Stimme ankündigte.
Drei Uhr. Nur noch eine Stunde, dann würde die Büche-
rei schließen. Ich schnappte mir den Laptop, den ich schon
letzte Nacht gepackt hatte, und warf ihn auf den Küchen-
tisch. Mit unsicheren, aber schnellen Schritten ging ich ins
Bad und räumte mit einer einzigen Wischbewegung alles
in eine riesige Tasche, was um das Waschbecken herum
stand. Dann ging ich in mein Zimmer und schnappte mir,
ohne auch nur einmal nachzuzählen, so viel Unterwäsche
und Kleidung, wie ich in den braunen Reisekoffer hinein-
bringen konnte. Darauf schmiss ich eine Bürste und zwei
Badetücher. Mit ein paar kraftvollen Bewegungen versuchte
ich, den Koffer zu schließen.
Als ich das Gepäck zum Laptop und der anderen Tasche
stellte, bekam ich Skrupel, als ich sah, dass es fast vollbracht
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war. Wieder einmal wurde mir allzu deutlich bewusst, wie
gemein, unfair und niederträchtig mein Plan und sein grau-
sames Timing waren. Welcher Mensch würde schon die
Verwandlungen und die dazugehörigen Schmerzen für sei-
ne Zwecke nutzen? Nur ein Monster konnte so etwas voll-
bringen. Aber es gab noch etwas an meinem Plan, das ich
noch mehr hasste als die Tatsache, dass er mich zu einem
Ungeheuer machte. Ich war keine Frau, die vor ihren Prob-
lemen davonlief. Ich stellte mich sonst immer meiner Angst.
Das hatte ich schon immer getan. Ich hatte mich Farkas ge-
stellt, obwohl ich fast ohnmächtig wurde vor Grauen. Ich
hatte mich Istvan und seinen besonderen Lebensumständen
gestellt, weil ich nur so bekommen konnte, was ich wollte,
wonach ich mich sehnte. Aber jetzt würde ich gegen meine
eigene Natur handeln. Ich würde wie ein Tier vor der Ent-
scheidung stehen: Kampf oder Flucht. Ich hatte keinen aus-
geprägten Fluchtinstinkt. Im Gegensatz zu meinem Kampf-
geist war er eher unterentwickelt. Und dennoch war ich drauf
und dran, mich von diesem Instinkt beherrschen zu lassen.
Der Gedanke war schwer zu ertragen. Nicht so schwer aller-
dings wie der Gedanke daran, vielleicht von Istvan getrennt
zu werden. Aber darüber durfte ich in diesem Moment nicht
nachdenken, sonst würde ich vollkommen den Verstand ver-
lieren. Als ich meine Taschen in den Wagen stellte, regnete
es bereits. Noch war es nur ein Nieselregen, aber die dun-
kle Wolkendecke kündigte noch mehr Regen an. Jetzt, hinter
dem Steuer, kam wieder diese Ruhe über mich, die nur dann
auftauchte, wenn ich mir meiner Sache ganz und gar nicht
sicher, aber die Entscheidung dazu schon gefallen war, un-
abwendbar. Ich wusste jedoch, dass ein einziger Blick in sein
Gesicht, ja, schon die bloße Anwesenheit von Istvan genü-
gen würde, und meine Ruhe in unbezähmbaren Aufruhr zu
verwandeln. Aber noch zitterte ich nicht, noch waren meine
Bewegungen entschlossen, noch konnte ich mich selbst täu-
schen. Womöglich sogar genug, um ihn ebenso zu täuschen,
was meine Willensstärke anging.
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Es war jetzt fünf Uhr. Um diese Zeit tauchte er immer
auf. Aber nicht heute. Heute würde er später kommen, aber
nicht er selbst würde um mein Haus schleichen, sondern er
würde als Wolf kommen, um nach mir zu sehen. Doch heute
würde es auch dazu nicht kommen. Ich kannte Istvan jetzt
gut genug, um sein Verhalten vorausahnen zu können. Ich
wusste, dass er zu Hause auf die Verwandlung warten würde
und dann so schnell wie möglich über den Waldweg zu mir
gelaufen käme. Wenn ich meinen Plan wirklich in die Tat
umsetzen wollte, was mir in der Seele wehtat, dann musste
ich es vor der Verwandlung zu seinem Haus schaffen. Ich
musste alles sagen und versuchen, noch ehe die Verwand-
lung einsetzte. Und ging mein Plan A daneben, dann würde
ich für Plan B die Verwandlung für mich nutzen. Das Timing
und meine Überzeugungskraft waren jetzt von entscheiden-
der Bedeutung. Noch immer war ich nicht nervös, nicht auf-
geregt genug. Da war nur diese trügerische Ruhe, die mich
seltsamerweise mehr beunruhigte als die Panik, mit der ich
gerechnet hatte.
Ich drehte den Schlüssel und startete den Motor. Wäh-
rend hinter mir die Sonne anfing unterzugehen, was man
kaum wahrnehmen konnte durch diese dicke Wolkendecke,
fuhr ich langsam meinem Ziel entgegen. Ich parkte direkt
vor seinem Haus, was ich sonst nie tat. Er würde sofort das
Geräusch meines Motors erkennen. Ich musste nur darauf
warten, ob er rauskommen würde, oder ob ich zu ihm hinge-
hen müsste. Ich war mir nicht sicher, was mir lieber war. Bei-
des würde zum selben ersten, abscheulichen Schritt meines
Vorhabens gehören. Ich stellte den Motor ab und starrte auf
die efeuberankte Steinmauer, die mir jetzt wie eine unüber-
windlich hohe Burgmauer vorkam. Ich hörte in mich hinein
und atmete dabei mit geschlossenen Augen aus. Mein Puls
war noch immer ruhig, konstant, trotz allem. Dann bemerk-
te ich, dass jemand im Wohnzimmer Licht anmachte. Puls?
Noch immer im normalen Bereich. Nach ein paar weiteren
Minuten, die mir endlos vorkamen, bemerkte ich, dass je-
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mand dabei war, die Tür zu öffnen. Puls? Etwas erhöht, in
Bereitschaft. Dann sah ich seinen gebeugten Körper durch
den Garten gehen, auf mich zu, in meine Richtung. Puls?
Erhöht, bereits im roten Bereich. Er ließ sich Zeit, so als
wüsste er, was ihn erwartete, wenn er mich erreichte. Der
Moment, als er durch das Gartentor kam und ich zum ersten
Mal in sein Gesicht sehen musste, war schmerzhaft und im
selben Moment kam mir das Leben, das seit Tagen aus den
Fugen geraten war, wieder intakt vor. Ich hatte bis zu diesem
Augenblick nicht gewusst, dass man sich im selben Moment
zu Tode betrübt und zum Zerspringen glücklich fühlen kann.
Aber genauso fühlte es sich an, als mein Blick seinen suchte,
als er seine grünen Augen auf mir ruhen ließ, während er
an die Mauer gelehnt auf mich wartete. Ich, die zögerlich
auf dem Autositz klebte, war mir sicher, dass ich versagen
würde. Ich konnte ja noch nicht mal seinen Anblick aus zwei
Metern Entfernung ertragen, wie sollte ich mich ihm dann
widersetzen können, wenn es nötig war, wenn ich besorgnis-
erregend dicht vor ihm stehen würde? Mein Puls? Jenseits
des messbaren Bereichs. Er hörte es, natürlich, wie immer.
Seine Augen funkelten mich unter angestrengten Brauen
an, bereit, sich für mich und meinen Herzschlag zu opfern.
Würde ich dieselbe Entschlossenheit aufbringen?
Ich zitterte. Meine Hände zitterten und hatten sich mei-
ner Kontrolle entzogen. Ich schüttelte sie krampfhaft, wäh-
rend ich weiterhin seinen Blick hielt. Er durfte meine blanke
Nervosität und Unsicherheit nicht sehen. Trotz meines ra-
senden Herzschlages musste ich einen gefassten Eindruck
erwecken. Wieso kam er nicht zu mir? Ich würde zu ihm ge-
hen müssen. Ich konnte nur hoffen, dass meine Beine mich
jetzt nicht im Stich ließen. Ich blickte kurz nach unten, um
nachzusehen, ob meine Hände sich beruhigt hatten, dann
öffnete ich die Autotür und stieg langsam aus. Ich stützte
mich am Türrahmen ab, noch hielt ich mich aufrecht. Das
sollte so bleiben. Jeder zögerliche Schritt, den ich auf ihn
zu machte, brannte mir eine Wunde ins Herz, weil ich, im
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Gegensatz zu ihm, schon wusste, dass mich mein Weg viel-
leicht nicht zu ihm hin, sondern von ihm wegbringen könnte.
Der Gedanke brachte mich fast um. Aber ich ging weiter.
Noch einen Schritt. Dann noch einen. Genauso atmete ich.
Ein, dann aus. Ich blieb vor ihm stehen und sah auf den
Boden. Ich stapfte nervös mit den Füßen auf den Kieselstei-
nen herum, während mir der leichte Regen die Haare nass
machte. Auch in seinem Sandhaar breitete sich die Feuch-
tigkeit aus. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht un-
gestüm meine Finger in seinen Nackenhaaren zu vergraben.
Es war schmerzhaft, dieses Verlangen selbst in einem sol-
chen bedrückten Moment fühlen zu müssen. Er sah nicht
gut aus. Wie musste ich erst aussehen? Natürlich war alles
an ihm noch da, was ich begehrte. Seine Wangenknochen,
sein Zug um den Mund und die magischen, grünen Augen.
Nur schien alles ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten.
Wie schlimm war es bei mir? Der letzte Anblick von mir, an
den ich mich erinnerte, war grauenhaft gewesen. Ich hatte
eher wie eine Wahnsinnige ausgesehen als wie ich selbst.
Erst nach einigen schweigsamen Minuten wagte ich es, feige
meinen Blick zu heben. Da merkte ich, dass er ebenso sei-
nen Blick gesenkt hielt und ihn nun gleichzeitig mit mir hob.
So kreuzten sich unsere Augen im selben Moment. Ein ver-
störend schönes Gefühl durchfuhr mich. Es war die reinste
Folter. Aber nichts im Vergleich mit dem, was ich noch vor-
hatte zu tun.
Ich wusste nicht, ob meine Stimme überhaupt noch
funktionierte. Aber jetzt musste ich sprechen, mir lief die
Zeit davon und es gab so viel, was ich ihm sagen wollte, so
viel, was ich noch sagen musste.
„Du fragst dich sicher, warum ich hier bin?“, sagte ich und
taxierte seinen Blick, während ich auf eine Antwort wartete.
„Ich frage mich eher, warum dein Herz rast wie ein Gü-
terzug. Wieso du hier bist, wage ich gar nicht zu fragen“, ge-
stand er mir und lächelte gequält. Er fühlte sich unwohl in
seiner Haut und er wusste, dass etwas nicht stimmte.
421
„Mein Herz. Beachte es gar nicht. Ich habe es aufgege-
ben, es unter Kontrolle halten zu wollen. Es macht sowieso,
was es will. Du bist das beste Beispiel dafür. Und du weißt,
wieso ich hier bin“, deutete ich mit hochgezogenen Augen-
brauen an. Ich schluckte mehrmals. Meine Kehle war wie
zugeschnürt. Ich hatte jetzt panische Angst.
„Es ist mir noch nie gelungen, dein Herz zu ignorieren. Das
wird sich jetzt nicht plötzlich ändern. Und ja, ich ahne, wa-
rum du gekommen bist. Deine Augen. Deine Stimme. Dein
Herz. Alles klingt nach Abschied!“ Das letzte Wort presste er
widerwillig zwischen den Zähnen hervor, dann verfinsterte
sich sein Blick und er sprach weiter, angegriffen dieses Mal.
„Ich frage mich nur, wieso du vorher zu mir kommst.
Gerade heute. Um kurz vor zwölf vor meiner Verwandlung.
Willst du es mir schwer machen? Mich absichtlich quälen?“,
warf er mir tobend vor. Er war verletzt und fühlte sich be-
trogen. Istvan hatte ja noch keine Ahnung, wie sehr ich ihm
und mir wehtun würde.
„Ich quäle dich doch nicht. Das ist das Letzte, was ich
will. Der einzige Mensch, den ich damit quäle, bin ich. Ich
habe nicht die Kraft für einen Abschied, deshalb warte ich
auf die Verwandlung. Ich bin feige und will es mir leichter
machen. Es ist nicht mehr viel übrig von der Frau, die du
mal geliebt hast“, vertraute ich ihm flüsternd an und konnte
die Resignation in meinem Ton hören. Ich war dabei, die
Fassung zu verlieren. Aber das war die einzige Möglichkeit,
auch ihn aus der Reserve zu locken, um einen letzten, ver-
zweifelten Versuch zu wagen.
„Gott, Joe, wie kannst du nur so von dir selbst reden. Ich
erlaube dir nicht, dass du dich so demütigst. Und verdammt,
du weißt, dass ich dich noch immer liebe“, schrie er mich an
und presste sich wieder die Hände unter die Achseln, ver-
mutlich um zu verhindern, dass er mich berührte. Er press-
te die Lippen schmerzhaft aufeinander, bis sie nur noch ein
dünner Strich waren. Er hatte Angst, das Falsche zu sagen,
genauso erging es mir.
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„Aber wenn du mich noch immer liebst, dann gib mich
nicht auf. Kämpfe um mich!“, forderte ich ihn heraus und
stellte mich dabei direkt vor ihn, um es ihm noch schwerer
zu machen, mich nicht zu berühren.
„Aber genau das tue ich. Ich kämpfe für dich, damit du
glücklich und sicher sein kannst. Dafür muss ich dich be-
schützen, vor allem vor mir!“, murmelte er jetzt vor sich
hin. Völlig verkrampft war er wieder dabei, sich hinter seine
Mauern aus Rechtschaffenheit zu verkriechen. Ich musste
das verhindern.
„Istvan, willst du, dass ich gehe? Soll ich gehen?“, fragte
ich ihn mit bebender Stimme. Meine Augen durchbohrten
ihn jetzt regelrecht.
„Nein. Geh nicht. Bleib bei mir“, flehte er mich an. Seine
grünen Augen funkelten verstörend. Aufrichtig. Wie konnte
man diese Bitte ausschlagen. Ich fühlte mein Herz schmel-
zen. Sein Feuer begann mich zu erweichen. Das konnte ich
gar nicht gebrauchen. Ich versuchte, die Liebe und die Sehn-
sucht nach ihm für den Bruchteil einer Sekunde aus meinem
Herzen zu reißen, um ihn etwas zu fragen.
„Und als was soll ich bleiben?“ Meine Stimme war kalt
und unversöhnlich. So sprach ein leeres, gebrochenes Herz.
„Als du selbst, als meine Joe“, antwortete er mit der sanf-
testen Samtstimme, die mich mürbe machte. Sofort war mein
Herz wieder übervoll, wie ein überschwappender Ozean.
„Aber nicht als die Frau an deiner Seite, oder?“, bohrte
ich nach.
Ich musste es genau wissen.
Er sagte nichts. Er schwieg. Istvan war nicht bereit, mir
zu geben, was ich von ihm brauchte, noch nicht.
Ich musste ihn noch viel mehr erschüttern. Mit einer leich-
ten Drehung machte ich mich bereit zu gehen. Aus den Au-
genwinkeln sah ich seinen entsetzten Gesichtsausdruck, be-
gleitet von seinen atemlosen Bitten: „Geh nicht. Bitte, bleib! “
Die Uhr tickte unaufhaltsam. Die Sonne war schon fast
ganz untergegangen und es blieben nur noch Minuten, ehe
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bei Istvan die Verwandlungsschmerzen einsetzen würden.
Ein Schmerz löste den anderen ab, dachte ich, und nannte
mich in Gedanken unzählige Male „Monster“.
Der Regen wurde immer heftiger, während ich reglos da-
stand, ihm meinen Rücken zukehrte. Meine Haare waren
schon klatschnass und schwer. Ich hörte seine wunderschö-
ne, traurige Stimme und das Flehen in ihr kristallklar, sogar
durch die Regenwand hindurch. Eine schönere Melodie hat-
te es nie gegeben. Auf dieses Zeichen hatte ich gewartet. Ich
drehte mich wieder um. Er stand ganz plötzlich hinter mir.
Ich blicke ihm direkt in die Augen. Unsere Körper waren
nur eine Handbreit voneinander entfernt. Wir atmeten beide
schwer und angestrengt. Ich musste sie nutzen, die letzte
Gelegenheit, ehe der Schmerz alles überlagerte. Noch ein
letztes Ultimatum, noch eine letzte Chance, das Ruder he-
rumzureißen, ehe es zu spät dafür sein könnte.
„Istvan“, ich flüsterte seinen Namen wie ein Gebet, von
dem ich hoffte, es würde erhört werden, erhört werden von
ihm.
„Küss mich! Damit ich bleiben kann. Oder lass mich ge-
hen, damit ich zurückkommen kann“, bot ich ihm an. Mein
Herz hämmerte dröhnend laut und mein Kopf drehte sich.
Seine unerwartete Nähe machte mich schwindelig und ließ
auch den letzten Rest Stolz von mir abfallen. Mein Angebot
quälte ihn sichtbar. Seine innere Zerrissenheit spiegelte sich
in seinen flackernden, grünen Augen wider. Die gegensätz-
liche Mischung aus hart und zart, Hingabe und Widerstand
kam zurück in sein Gesicht.
Er wollte mich genauso küssen wie ich, das fühlte ich ganz
deutlich. Istvan rang in seinem Inneren mit dem Drang.
Bitte lass ihn schwach werden. Nur ein Moment genügt mir.
Ich brauche nur diesen einen Moment. Nicht mehr. Nur diesen
einen Kuss, hoffte ich in Gedanken. Meine Augen versuch-
ten, ihm dasselbe zu sagen. Ich konnte sein Zögern fühlen,
den Widerwillen ebenso wie den Drang, sich mir zu nähern.
Schon meinte ich den Kampf gewonnen zu haben, als sich
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sein Kinn auf mich zu bewegte. Er schob es kaum merk-
lich vor. Seine Augen küssten mich bereits. Istvan musste
mich nur für eine Sekunde mit seinen Lippen berühren und
wir würden wiederauferstehen, wir würden wiedergeboren
werden in diesem Moment. Mein Herz überschlug sich bei
dem Gedanken und beim Anblick seiner dichten Wimpern,
die vom Regen glitzerten, hätte ich beinahe angefangen zu
hyperventilieren. Doch dann sah ich es. Sein Kinn bewegte
sich nicht länger in meine Nähe. Es wich mir aus. Anstatt
mich zu küssen, streichelte sein Finger, kaum merklich, sanft
meinen Hals entlang und zog dabei das Tuch von meiner
Haut. Die gelblichen Stellen traten zutage. Selbst der Regen
konnte sie nicht vor seinen Augen verbergen.
„Es tut mir so leid. Ich kann nicht“, seufzte er. Sein Blick,
die aufgerissenen Augen eines Besessenen, fixierten meinen
Hals.
Ich war außer mir. Ich riss mich von ihm los, seufzte und
krampfte heulend. Doch als ich mein eigenes Zucken eini-
germaßen beherrschen konnte, merkte ich, wie seines erst
begann. Die Verwandlung hatte begonnen. Er krümmte sich
über der Motorhaube. Das war der Moment. Es war Zeit zu
gehen. Solange er sich verwandeln würde, konnte er mich
nicht aufhalten. Jetzt oder nie. Ich stürmte ins Auto, sah sei-
ne leidenden Bewegungen durch die Scheibe. Meine Hände
zitterten bei seinem Anblick so stark, dass ich nicht mal den
Schlüssel umdrehen konnte, den ich sowieso nicht sah. Der
Tränenfilm vor meinen Augen überdeckte alles. Nur seine
Augen und den Schmerz darin sah ich klar und deutlich. Das
war meine Strafe. Ich sollte genau sehen, was ich anrichten
würde. Ich warf mich elend heulend über das Lenkrad und
verbarg mein Gesicht mit meinen Unterarmen, um nicht
weiter sein Leiden mit ansehen zu müssen. Plötzlich riss je-
mand an meiner Schulter. Ich fuhr erschrocken zusammen
und presste mich zurück in den Sitz. Er hatte die Wagen-
tür aufgemacht. Der Regen und mein Heulen hatten das
Geräusch völlig überdeckt. Ich starrte ihn aufgebracht an,
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meine zitternden Hände verkeilten sich krampfhaft mit dem
Lenkrad, um Halt zu haben, um ihn nicht zu berühren.
„Wirst du zu mir zurückkommen?“, fragte er mich völ-
lig aufgelöst. Er musste sich sehr zusammennehmen, den
Schmerz gänzlich unterdrücken, um diese Frage so klar
und eindringlich formulieren zu können. Sein verkrampfter
Körper lehnte am Metallrahmen der Tür, Istvan wartete auf
meine Antwort. Ich schluckte hastig meine Tränen hinunter.
Ich war im Schmerzverdrängen ein Feigling, verglichen mit
Istvans übermenschlicher Beherrschung. So konnte ich nur
abgehackt, aufgebracht, stammeln.
„Ich gehe nur, weil ich dich liebe. Ich kann dich nur ver-
lassen, weil ich hoffe, zu dir zurückzukommen. Und jetzt
lass mich bitte gehen. Lass mich gehen!“, flehte ich ihn an.
Er starrte mich finster an, als hätte ich ihn geschlagen und
würde jetzt so tun, als hätte ich ihm nicht wehgetan. Aber
noch etwas anderes las ich in seinen Augen. Es war tatsäch-
lich noch Liebe darin, genug Liebe, um wiederzukommen.
Vielleicht sogar genug, damit ich sein Herz wiedererobern
konnte. Aber dazu musste ich stark genug sein, ihn zuerst zu
verlassen.
Ich startete den Motor und begann, den Wagen langsam
losrollen zu lassen. Istvan machte einen Schritt von dem Wa-
gen weg, so konnte ich die Tür zumachen. Ich wollte gerade
auf das Gaspedal treten, um so schnell wie möglich davon-
zurasen, da bemerkte ich, dass das Wagenheck sich hob. Ich
drehte mich sofort um. Ich konnte nicht fassen, was ich sah.
Ich wusste, dass Istvan stark war. Aber ich hatte keine Ah-
nung, wie stark, bis ich sah, dass er mit den Händen den
hinteren Teil des Wagens hochhob, damit ich nicht davon-
fahren konnte. Die Reifen drehten sich in der Luft. Sein
angestrengter Unterkiefer spiegelte sich im Rückspiegel. Er
stöhnte, weniger wegen des Kraftaufwandes als durch den
Schmerz der Wandlung.
„Lass mich gehen!“, flehte ich ihn flüsternd an und wuss-
te, dass er es hören konnte. Aber er ließ es nicht zu. Erst
426
als die Verwandlung übermächtig wurde, sauste der Wagen
mit einem Ruck nach unten und Istvan fiel auf die Straße.
Instinktiv griff ich nach dem Türriegel, konnte mich aber im
letzten Moment noch zusammennehmen. Ich durfte ihm
jetzt auf keinem Fall zu Hilfe kommen, dann wäre alles um-
sonst. Eine einzige Berührung und meine Entschlossenheit
würde sich wie Rauch auflösen.
Ich sah, dass er schon fast ein Wolf war, als ich meine
eigenen blauen Augen im Rückspiegel erblickte, abgebildet
zusammen mit seinem Wolfskörper.
„Monster“, stieß ich jetzt angewidert hervor und mein-
te damit mich und nicht den Werwolf, der sich hinter mir
verwandelte, mitten auf der Straße im Dorf, weil ich es so
arrangiert hatte.
Ich war ein Monster. Nur Monster können solche un-
fassbaren Dinge tun. Istvan hasste immer die falschen Men-
schen wie sich selbst. Er hätte mich hassen müssen. Mich,
die ihn nie verdient hatte und jetzt dabei war, feige davon-
zulaufen. Der Fluchtinstinkt, als ruchloser Verbündeter an
meiner Seite, ließ mich jetzt den Wagen starten und über die
Kirchenstraße fahren, während der Wolf in meinem Rücken
immer kleiner wurde.
In Tränen aufgelöst brauste ich mit rücksichtslosem Tem-
po die Hauptstraße hinunter, vorbei am Ortsschild, vorbei an
der lang gezogenen Straße, auf der ich ihn damals fand, auf
der unsere Reise begonnen hatte. Dieselbe Straße, die mich
jetzt von ihm wegbrachte, in irgendein Wiener Hotel, in dem
ich meine Wunden lecken würde und selbst daran arbeiten
konnte, Selbsthass zu kultivieren und mich in Verachtung
einzuhüllen. Als ich dabei war, die letzten Häuser von Roh-
nitz hinter mir zu lassen, waren meine Augen so mit Tränen
gefüllt, dass ich kaum noch die Straße sah. Wenn ich Glück
hatte, baute ich einen Unfall oder fuhr in den Graben. Aber
irgendetwas sagte mir, dass ich nicht so glimpflich davon-
kommen sollte, dass es noch lange nicht hier zu Ende ging,
auch wenn es sich jetzt vielleicht so anfühlte.
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Die Monster dieser Welt, die sich davonstehlen und
Schmerz und Zerstörung zurücklassen. Dazu zählte ich jetzt
auch. Nur dass ich noch schlimmer war. Ich floh vor etwas,
dass ich eigentlich festhalten wollte. Wozu machte mich
das?
Die dunklen, verschlungenen Straßen des Geschrieben-
steins konnten mir auch diesmal nichts anhaben. Ich war
schon auf dem Gipfel und glaubte, das Schlimmste hinter
mir zu haben, als ich den rennenden Wolf neben mir ent-
deckte, der versuchte, mit dem rasenden Auto mitzuhalten.
Seine irisierenden, grünen Augen warfen mir immer einen
kurzen Blick zu, der mir jedes Mal den Atem raubte und die
Heulkrämpfe verschlimmerte. Im Grunde wimmerte ich nur
noch. Mein Blick heftete sich ganz auf das sandfarben ge-
fleckte Tier neben mir, in dessen Haut sich der Mann, den
ich liebte, den ich jetzt verließ, versteckte. Der Wolf heulte
laut und schmerzzerreißend. Als würde er noch immer sagen:
„Kehr um. Geh nicht!“, nur jetzt in einer anderen Sprache.
Der finstere Wald war mir noch nie so düster und leer
vorgekommen. Das laute Jaulen des Wolfes zog meine ganze
Aufmerksamkeit auf sich, sodass ich gar nicht mehr auf die
nasse Fahrbahn sah. Erst als ich den Tränenfilm wegblin-
zeln musste, sah ich, ganz kurz, den Ast auf der Straße und
trat auf die Bremse. Der Wagen schlingerte. Er vollführte
beinahe eine 180-Grad-Drehung, ehe er zum Stehen kam.
Als der Wolf meinen Beinahe-Unfall sah, erstarrte er. Seine
Augen leuchteten mich erschrocken an. Das Grün war ein
Brennen. Angst um mich erkannte ich jetzt darin. Mir war
der Atem verloren gegangen. Erst als ich ausstieg und auf
die Fahrbahn fiel, beinahe zusammenbrach, der Regen mich
fast zu Boden drückte, da wurde dem Wolf, wurde Istvan
klar, dass er mich gehen lassen musste. Er starrte mich lange
an. Ich versuchte, seinen Blick zu halten, musste mich dazu
mit beiden Händen von der Fahrbahn abstützen. Danach ein
letztes Heulen, ehe er in dem pechschwarzen, verregneten
Wald verschwand.
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Als es mir bewusst wurde, war er weg. Er hatte mich ge-
hen lassen. Es war tatsächlich passiert. Da überfiel mich der
Schmerz. Und jetzt wusste auch ich, eine Menschenfrau, wieso
die Wölfe so schaurig heulen. Denn in diesem Moment schrie
ich. So laut ich konnte, stieß ich einen Schrei in den regenver-
hangenen Himmel. Einen Schrei, der mir den Schmerz aus
dem Körper reißen sollte. Aber es half nicht. Dieser Schmerz
würde nicht weggehen, dieser Schmerz würde bleiben, so lan-
ge, bis ich mein Leben aushauchen würde oder bis ich in Ist-
vans Arme zurückkehren konnte, als die Frau an seiner Seite.
Doch in dieser Nacht würde nichts von alledem gesche-
hen. In dieser Nacht fuhr ich nur immer weiter und weiter
weg von ihm, weg von mir selbst. Bis ich, kurz vor Tagesan-
bruch, auf einem Feld in der Umgebung von Wien anhielt.
Ich konnte keinen Kilometer mehr fahren, ohne einzuschla-
fen. Ich musste aussteigen, wollte nicht länger in diesem ver-
dammten Fluchtauto sein. Ich fuhr so nahe ich konnte an den
Fahrbahnrand und setzte mich gramgebeugt auf die Motor-
haube, kaum noch ein Mensch, kaum noch eine Frau.
Der Schattenmensch, der ich nun war, musste sich etwas
die Beine vertreten, ehe er seine Flucht fortsetzen konnte.
So ging ich ein paar Meter neben dem Feld her, noch
immer der dunkle Morgen um mich herum. Jetzt erst, durch
die kalte Luft in meinem Gesicht, bemerkte ich, dass meine
Tränen versiegt waren. Es war eine rein körperliche Mangel-
erscheinung, denn mein Inneres, meine Seele, hatten nie da-
mit aufgehört. Lediglich meinem Körper war die Flüssigkeit,
Tränen zu bilden, ausgegangen. Dieser Gedanke ließ mich
nicht los, genauso wenig wie das Gesicht Istvans, als er mich
anflehte, nicht zu gehen.
Wie aus dem Nichts kamen mir die Bilder der letzten
Nacht in verdrehter Reihenfolge ins Gedächtnis und ver-
mischten sich mit Bildern aus meinem Traum, der diese
ganze Wahnsinnstat ausgelöst hatte:
Eine Frau, die keine Tränen mehr hat. Eine Frau, die mit
ihrem Schrei den Himmel zerreißt. Eine Frau, die gebrochen
429
an einem Feld steht. Eine Frau, die im Regen und in ihrem
eigenen Schmerz ertrinkt. Eine Frau, die den Himmel dazu
bringt, an ihrer statt zu weinen.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag. Jetzt war al-
les so klar. Wie ein Gewitter manchmal reinigend sein kann.
Ich war diese Frau, ich war es immer schon gewesen. Istvans
Gedicht, das sich mir ins Gedächtnis gebrannt hatte, das
mich in meinen Träumen ständig verfolgte, war Wirklichkeit
geworden. Auch wenn ich diese Worte seit Monaten weder
gelesen noch gehört hatte, formten meine Gedanken die Zei-
len lückenlos und fehlerlos zusammen:
Des Nachts ward sie oft gesehen,
dort bei dem Haine stehen,
doch ward nicht eine Träne
aus ihrem Aug geflossen,
und dennoch schaut ihr Blick
von Traurigkeit so schwer,
da weinte der Himmel
an ihrer statt, so sehr,
dass sieben Nächte fort
das Wasser ward gegossen,
dass tote Flüsse gar flossen!
Die Frau in Istvans Gedicht, die traurige Frau in meinen
Träumen – das war immer ich. Und der Mann, der in meinen
Augen gebrannt hatte, war er. Es war also unausweichlich.
Ich musste diesen Weg gehen, wir mussten beide diesen
Weg voneinander weg einschlagen in der Hoffnung, dass er
uns am Ende wieder zusammenführen würde. Ich, die ich
nie an Schicksal geglaubt hatte, vertraute mich jetzt ganz
diesem Gefühl an, das mir sagte, dass es noch nicht vorbei
war. Ich glaubte noch immer an ihn, an uns. Ich musste nur
einen Weg zurück zu ihm finden. Doch dieser Weg lag jetzt
noch im Dunkeln. Aber ich hatte das Licht der Hoffnung,
das mich lenkte, auf meiner Seite.
430
ENDE TEIL 1
Die Autorin
Ruth Adelmann, geboren 1983, lebt
derzeit im Burgenland und in Wien.
Seit dem Abschluss ihres Publizistik-
Studiums an der Universität Wien
arbeitet sie als freie Zeitungsredak-
teurin und als Marketingassistentin.
Mit „Wolfsfieber“ erscheint der
Debütroman der jungen Autorin.
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Der Verlag
Der im österreichischen Neckenmarkt behei matete,
einzigartige und mehrfach prämierte Verlag konzent-
riert sich speziell auf die Gruppe der Erstautoren.
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Literaturszene ab und werden in den Ländern Deutsch-
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