2. Erste Begegnung
Ich stand wie betäubt vor dem Badezimmerspiegel und
versuchte, wieder zu mir selbst zu finden. Ein dumpfer
Schwindel zwang mich dazu, mich mit den Händen am
Waschbecken abzustützen. Ich stand ganz knapp davor zu-
sammenzuklappen. Der Schlafmangel und die außerge-
wöhnlichen Ereignisse dieser Nacht verlangten ihren Tribut.
War das alles wirklich geschehen? Hatte ich ihn tatsächlich
angefahren und niemanden verständigt? Was zum Teufel war
nur in mich gefahren?
Ich kannte mich selbst kaum wieder und der Spiegel be-
stätigte meine Befürchtung nur allzu deutlich. Die Refle-
xion zeigte mir das Bild einer fremden Frau mit zerzausten,
feuchtblonden Haaren, die so aussah, als würde sie jeden
Moment zu schreien beginnen. Jede Zelle meines Körpers
verlangte nach Schlaf, aber ich konnte nicht mal im Traum
daran denken, jetzt friedlich ins Bett zu gehen oder gar die
Augen zu schließen. Mir graute vor den Bildern, die ich se-
hen würde, und vor den Schuldgefühlen, die bestimmt Teil
meiner Träume sein würden. Eigentlich konnte ich nur eines
tun. Ich spritzte mir mehrmals eiskaltes Wasser ins Gesicht.
Das kühle Nass brannte auf meiner Haut, die vor lauter Auf-
regung noch immer glühte. Jetzt erst wurde mir bewusst,
dass ich noch immer meine Jacke trug. Wie seltsam. Ich
stand in meinem eigenen Haus vollkommen angezogen im
Badezimmer.
Es gelang mir, die Müdigkeit zu unterdrücken und das
Schwindelgefühl zu verscheuchen. Das musste ich sofort
ausnutzen. Ich ging zurück in die Küche, wo das Schlacht-
feld meiner Erstversorgung noch immer auf mich wartete,
und schloss die Tür, die noch immer hin und her schwang.
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Mein Körper schaltete auf Autopilot wie immer, wenn ich
völlig fertig war. Meine Hände griffen nach dem Abfalleimer
und mit einem kräftigen Wisch über den Tisch beförderte
ich den gesamten Abfall, darunter blutverschmierte Tücher
und die Pinzette, in den Eimer. Ich knipste die Lampe aus
und stellte die Stühle an ihren Platz. Nach zwei Minuten
sah die Küche so aus, als wäre nicht das Geringste passiert.
Als wären das alles Geschehnisse eines seltsamen Traumes
gewesen. Und als ich dann noch die Sachen meines Bruders
zurück in den Schrank gelegt hatte, fühlte ich langsam wie-
der, wie die Normalität zu mir zurückkam.
Endlich zog ich den grünen Parka aus und streifte die
Schuhe ab. Für mehr fehlte mir buchstäblich die Kraft. Mit
schweren Lidern schleppte ich meinen müden Körper in
mein Zimmer. Eine einzige kraftlose Bewegung, und ich fiel
in mein Bett, noch immer mit der festen Absicht, nicht ein-
schlafen zu wollen.
In meinem Kopf drehte es sich weiterhin und ich starr-
te gebannt auf die Zimmerdecke mit dem uralten Riss. Das
Zimmer war vom Mondlicht durchflutet. Es musste Voll-
mond sein, die Nacht davor oder danach. So hell war es. Es
regnete jetzt nicht mehr. Ich starrte liegend aus dem Fenster
und suchte nach der hellen Mondscheibe. Schnell hatte ich
sie ausgemacht und starrte nun in einen riesigen Vollmond,
an dessen Seite nur ein kaum sichtbares Stück fehlte. Durch
diesen hypnotischen Anblick geriet ich ins Grübeln und mir
fiel sofort wieder ein, wie ich Istvan zum ersten Mal begeg-
net war.
Das war vor knapp zwei Wochen gewesen. Es schien ewig
her zu sein, dass ich die Mail der Redaktion gelesen hat-
te. Ein Bibliothekar sei in mein Dorf gezogen. Davon hatte
ich schon gehört, doch was ich nicht wusste, war, dass er
eine viersprachige Bibliothek eröffnen wollte, die einmalig
in unserer Gegend sein würde. Mein Redakteur schrieb, ich
müsse unbedingt zur Eröffnung, um einen Bericht über die-
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se Bücherei zu schreiben und über den Bibliothekar, der sie
eingerichtet hatte. „Deutsche, ungarische, kroatische und
englische Literatur auf einem Fleck. Die Story müssen wir
bringen“, hatte Frank, mein Chef, geschrieben. Ich sah das
genau wie er und sagte natürlich zu. Wie hätte ich wissen
können, dass damit etwas ins Rollen kam, das mehr war, als
ich je imstande war mir vorzustellen.
So ging ich also mit Kameratasche und Reporterblock
bewaffnet in das alte Gemeindehaus, das man nun zur Bü-
cherei umfunktioniert hatte. Ich wusste so gut wie nichts
über diesen neuen Mann im Dorf. Der Bürgermeister hatte
nur beiläufig mal erwähnt, dass ein junger Mann mit unga-
rischem Namen in das alte Pfarrhaus gezogen wäre und pla-
ne, eine Bibliothek aufzumachen. Ich hatte keine großen Er-
wartungen, als ich zu Fuß zum Pfarrhaus, das früher mal als
Dorfschule gedient hatte, zur Eröffnung spazierte. Ich sollte
mich dort mit dem Bürgermeister treffen und dann mit ihm
und dem Bibliothekar zur Eröffnung ins alte Gemeindehaus
gehen. Der Auftrag lautete, unbedingt ein Foto von dem
mehrsprachigen Bibliothekar zu machen, dessen Name im
Rundschreiben zur Eröffnung nicht genannt worden war,
was ich schon ungewöhnlich fand.
Als ich dort ankam, bemerkte ich, dass bereits das halbe
Dorf auf den Beinen war und neugierig auf die Bücherei-
eröffnung wartete. Der Bürgermeister, ein kleiner, rundlicher
Mann namens Bernd Taucher, der mich schon kannte, als
ich gerade mal einen halben Meter hoch war, wartete bereits
auf mich und begrüßte mich mit einem Lächeln. Ich sah,
dass er sich in Schale geschmissen hatte. Anzug und Krawat-
te. Da kam ich mir mit meiner schwarzen Jeans, dem grauen
Pullover und dem Parka etwas underdressed vor. Aber ich
gehörte zur Presse. Das würde schon gehen. Er streckte mir
wie immer die Hand zur Begrüßung entgegen und informier-
te mich lächelnd: „Ich fürchte, der Herr Bibliothekar hat an-
dere Pläne. Ich soll alle informieren, dass er auf uns in der
Bibliothek wartet.“
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„Schon gut. Zumindest können wir dann zusammen mit
dem Volksaufmarsch bei ihm einfallen“, scherzte ich und
deutete auf das halbe Dorf, das sich versammelt hatte, um
neugierig die neueste Attraktion der Gegend auszuspionie-
ren. Ich hätte wetten können, dass nicht einmal zwanzig Pro-
zent von ihnen wegen der Bücher kamen.
„Bereit, wenn du es bist“, ließ ich Bürgermeister Taucher
wissen und bedeutete ihm vorzugehen, was er auch tat. So
marschierten wir die schmale Straße hinunter und standen
bald vor dem alten Gemeindeamt. Ein Altbau mit drei gro-
ßen Räumen und einem kleinen Eingangsbereich, durch
den sich jetzt fünfzig Leute zwängten. Die alte, verblichene
Farbe an der Fassade hatte der neue Mieter belassen, doch
im Inneren war das Haus nicht wiederzuerkennen. Alles war
neu gestrichen worden in einem hellen Naturweiß und vie-
le dunkle Holzregale waren aufgestellt worden, auf denen
die Bücher eingeordnet waren. Vor jedem der drei Räume
war ein kleines Schild angebracht, das den Raum jeweils
als unga rischen, kroatischen oder deutschen Büchersaal
auswies. Im Eingangsbereich gab es ein kleines Buffet. Ich
begann mich im deutschsprachigen Saal umzusehen, da er
der größte war, und machte ein paar Schnappschüsse von
den Besuchern, die in den Büchern stöberten. Ich war be-
eindruckt von der Größe der Bibliothek. Das hatte ich nicht
erwartet. Vor ein paar Jahren, während meiner Schul- und
Studienzeit, wäre ich sehr dankbar für eine so gut bestück-
te Bücherei in der Nähe gewesen. Ein paar Leute, die ich
kannte, winkten mir immer mal wieder zu, während ich wei-
terfotografierte. Ich ging zurück zur Tür, um ein paar Total-
fotos von dem Raum zu machen, und spähte in die anderen
Räume.
Der – mir noch immer fremde – Bibliothekar hatte sich
viel Mühe gemacht. In jedem Raum hingen Fotos und Port-
räts der passenden Literaten an der Wand. So fand man im
deutschsprachigen Raum Bilder von Rilke oder Goethe. Am
anderen Ende des Saales sah ich den Bürgermeister, wie er
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mit einem jungen Mann sprach, der mir den Rücken zuge-
wandt hatte. Ich vermutete, dass es der Besitzer sein müsste,
da er mir nicht bekannt vorkam, und zückte schon mal mei-
nen Notizblock und einen Stift.
Der fremde Mann drehte sich um und ging auf mich zu.
Dazu musste er den ganzen Raum durchqueren, was mir Ge-
legenheit gab, ihn mir genauer anzusehen. Auf mich kam ein
attraktiver, groß gewachsener Mann zu, der etwa Mitte oder
Ende zwanzig sein musste, mit athletischer, schlanker Ge-
stalt. Er hatte eine Jeans an und trug ein schwarzes T-Shirt
unter einem schwarzen Blazer. Schon aus der Entfernung
konnte ich seine außergewöhnlich grünen Augen sehen, die
mich anstarrten und dabei von oben bis unten musterten.
Am auffälligsten war das schiefe Grinsen, mit dem er auf
mich zusteuerte. Der Blick, mit dem er mich anstarrte, war
einschüchternd. So, als ob er mich bereits nackt gesehen
hätte und mich jetzt zum ersten Mal angezogen betrachten
würde. Es kam mir fast vor, als hätte er eine Art Röntgen-
blick, mit dem er durch meine Klamotten sehen könnte. Ich
wurde ganz verlegen, was sonst nicht meine Art war. Schien
er meine Verlegenheit gar zu bemerken? Denn er sah amü-
siert zu Boden und ich konnte trotzdem ein unterdrücktes
Grinsen auf seinem Gesicht wahrnehmen.
Doch richtig erstaunt war ich erst, als er direkt vor mir
stand und mich mit dieser sanften, tiefen und leicht rauen
Stimme ansprach:
„Sie müssen Joe sein. Der Bürgermeister meinte, Sie wol-
len etwas von mir“, sagte er, wobei er fast abnorm dicht vor
mir stand.
„Ja. Die bin ich. Was hat Ihnen der Bürgermeister denn
sonst noch gesagt?“, fragte ich stammelnd.
„Eigentlich nur, dass Sie vom Lokalblatt sind und über
die Eröffnung berichten wollen. Er meinte, Sie würden ein
paar Fragen an mich haben“, stellte er klar. Wobei ich mich
konzentrieren musste, um alles mitzubekommen, was er mir
sagte. Seine smaragdgrünen Augen waren eine zu große Ab-
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lenkung. Vor allem deshalb, weil er dazu neigte, mir direkt in
die Augen zu sehen.
„Am besten, Sie erzählen mir einfach etwas über die Bib-
liothek und wie Sie auf die Idee gekommen sind, eine vier-
sprachige Bücherei in St. Hodas zu eröffnen“, wies ich ihn
an und versuchte, in meine Professionalität zurückzukehren.
Er wollte gerade antworten, da unterbrach ich ihn:
„Verzeihung, aber ich kenne Ihren Namen noch gar nicht.“
„Oh, habe ich vergessen mich vorzustellen? Mein Name
ist Istvan Jany. Sie sind Joe, Josefine Paul, richtig?“
„Ja. Freut mich. Ich bin beeindruckt, Sie kennen gleich
meinen vollen Namen und ich als Reporterin kannte nicht
mal Ihren Vornamen. Vielleicht haben Sie den falschen Be-
ruf gewählt“, scherzte ich nervös. Was war das? Flirtete ich
etwa?
Er musste lachen und sah dabei wieder nach unten. Da-
bei fielen mir seine hohen Wangenknochen auf, die seine
osteuropäische Herkunft verrieten. Sein Gesicht war eine
interessante Mischung von zart und rau. Seine Gesichtszü-
ge, seine Nase und die Wangenknochen waren fein und an-
mutig, während sein Dreitagebart und die kräftigen Kiefer-
knochen ihm etwas Raues, Verwegenes verliehen. Besonders
sein Mund inmitten dieser braunen Stoppeln schien diese
eigenartige Mischung aus hart und zart hervorzuheben. Sei-
ne Lippen waren blassrosa, gleichmäßig und er hatte diesen
angenehmen Zug um den Mund, irgendwie gütig. Das erin-
nerte mich an meine Mutter und ich spürte wieder, wie sie
mir fehlte, seit sie mit meinem Vater auf Reisen war.
Als er wieder hochsah, versuchte ich, mir nicht anmerken
zu lassen, dass ich ihn gemustert hatte.
„Tut mir leid. Ich neige dazu, unangebrachte Witze zu
machen. Ignorieren Sie es einfach“, entschuldigte ich mich.
„Ich fand Ihren Witz eigentlich ganz passend“, sagte er,
immer noch lächelnd.
„Darf ich Ihnen vielleicht einen Tipp geben? Lassen Sie
das Siezen. Eigentlich ist das in unserer Gegend nicht üb-
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lich, besonders unter Gleichaltrigen. Es sei denn, man kann
jemanden nicht besonders leiden“, riet ich ihm unaufgefor-
dert und wollte damit eigentlich nur verhindern, dass er mich
noch mal mit Sie ansprach.
„Gut, wenn das so ist, sage ich Du, sonst denkst du noch,
ich hätte etwas gegen dich. Das möchte ich lieber nicht ris-
kieren!“, bemerkte er mit einem schiefen Grinsen.
„Eigentlich sollte ich dich doch interviewen und dir keine
Tipps zum Überleben auf dem Lande geben. Also, wie war
das nun mit der Bibliothek?“, versuchte ich wieder auf Kurs
zu kommen.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und ging neben
mir her, von Regal zu Regal, während er mir erzählte, was ich
wissen wollte:
„Ich habe Literatur in Wien und Budapest studiert. Bü-
cher waren schon immer meine große Leidenschaft, und als
meine eigene Sammlung groß genug war, habe ich versucht,
ein paar weitere Sammlungen aufzutreiben, um damit genug
deutsche und ungarische Bücher zusammenzuhaben, damit
es für eine umfassende, kleine Bibliothek reicht. Ich wollte
schon immer eine eigene Bibliothek eröffnen.“
„Dann sprichst du mehrere Sprachen?“, wollte ich wis-
sen.
„Ja. Ich spreche Deutsch, Ungarisch, Englisch und Italie-
nisch. Etwas Rumänisch kann ich auch“, stellte er klar.
„Aber du hast doch auch kroatische Bücher?“, fragte ich
verwirrt.
„Um ehrlich zu sein, habe ich die kroatischen Bücher
erst dazugenommen, als klar war, dass ich die Bibliothek im
Südburgenland einrichten würde. Das schien mir passend
aufgrund der Verbreitung der Burgenland-Kroaten in dieser
Gegend.“
Man merkte an seinen präzisen Ausführungen, dass er
sehr klug war, damit aber nicht angeben wollte. Ich hatte
während seiner gesamten Ausführungen ständig so ein selt-
sames Gefühl, als ob wir uns schon mal begegnet wären.
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Dieser fremde Mann kam mir so seltsam vertraut vor. Und
während ich dieses Déjà-vu-Gefühl nicht loswurde, lauschte
ich weiter seinen Angaben über Umfang, Schwerpunkt und
Ausführung seiner Bibliothek und machte mir dazu Notizen.
Wobei er mir immer wieder mal ein warmes, vertrauliches
Lächeln schenkte, das mein Gefühl, ihn bereits zu kennen,
nur noch mehr verstärkte. Auch er schien sich zu verhalten,
als würden wir uns bereits kennen. Es war schwer zu er-
klären, aber die Art, wie er mich ansah und mit mir redete,
entsprach eher der von zwei alten Bekannten, die sich seit
langer Zeit zum ersten Mal wieder sahen.
Nachdem ich die Informationen hatte, die ich für den Ar-
tikel brauchte, musste ich noch das Porträt von ihm machen.
Das würde leicht werden. Einen derart attraktiven, jungen
Mann mit sandfarbenen, kurzen Haaren gut aussehen zu las-
sen, war fast schon zu leicht.
Ich tippte auf meine Kamera, die ich über die Schulter
gelehnt trug, und fragte ihn:
„Können wir dann noch das Foto von dir für den Artikel
machen?“
„Welches Foto? Bürgermeister Taucher hat mir nichts von
einem Foto erzählt. Ich möchte auf keinen Fall fotografiert
werden!“, stellte er mit aufgebrachter Stimme klar, wobei er
immer mehr auf Abstand zu mir ging.
Ich konnte seine überzogene Reaktion überhaupt nicht
nachvollziehen. Schließlich hatte ich noch nie einen gut aus-
sehenden, jungen Mann erlebt, der sich beharrlich weigerte,
von der Presse fotografiert zu werden.
„Bernd dachte bestimmt, du wüsstest über das Foto Be-
scheid. Wir bringen einen Eröffnungsartikel immer mit einem
Porträt der Beteiligten, vor allem, wenn es sich um den Be-
sitzer handelt“, versuchte ich ihm beruhigend zu erklären.
„Tut mir leid, ich wollte nicht so heftig reagieren. Ich kann
es nur nicht leiden, wenn ich fotografiert werde. Kannst du
nicht einfach ein Foto von den Besuchern oder der Biblio-
thek nehmen?“, fragte er mich mit flehendem Blick.
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„Tja, wenn ich dich nicht überzeugen kann, wird mir
nichts anderes übrig bleiben“, versicherte ich ihm resigniert,
woraufhin er sich wieder etwas entspannte.
Das Ganze war schon sehr merkwürdig. Ich hatte plötzlich
ein ganz komisches Gefühl, was Istvan anging. Was? War er
etwa ein Verbrecher auf der Flucht und konnte nicht zulas-
sen, dass in der Presse ein Foto von ihm veröffentlicht würde?
Oder hatte er eine Kameraphobie? Das konnte ich mir nur
schwer vorstellen bei so einem gut aussehenden Mann.
Eines stand jedenfalls fest, meinem Chefredakteur würde
das bestimmt nicht gefallen.
Es gab nun ein unangenehmes Schweigen zwischen uns,
wie ich es verabscheute. Wir standen uns gegenüber, blick-
ten aber nur auf die Leute, die sich die vielen Bücher an-
sahen. Keiner schien sich für uns oder unser Schweigen zu
interessieren. Ich konnte diese bedrückende Stille nicht län-
ger aushalten und tat so, als hätte ich noch weitere Fragen,
die ich ihm unbedingt stellen müsste:
„Wo sind eigentlich die englischen Bücher, hier gibt es ja
nur drei Säle?“, fragte ich etwas gekünstelt und wartete ge-
bannt auf seine nächste Reaktion.
„Ich hatte keinen Platz für den englischen Bestand und
muss ihn deshalb bei mir im Haus aufbewahren. Es ist aber
kein Problem für die Besucher. Ich habe die englischen Bü-
cher auf den Karteikarten hier und kann sie während der
Bib liothekszeiten von zu Hause holen. Sind ja nur dreihun-
dert Meter“, erklärte er mir.
„Verstehe. Könnte ich die englischen Bücher vielleicht
sehen, wenn es dir nichts ausmacht, oder musst du hierblei-
ben?“, fragte ich herausfordernd.
Er hatte mich verflucht neugierig mit seiner Reaktion auf das
Fotografiertwerden gemacht und ich musste einen Weg finden,
sein Haus von innen zu sehen. Er schien genau zu überlegen.
„Ich denke, für ein paar Minuten kann ich mich davon-
stehlen. Ich schulde dir doch was für das verpatzte Foto“,
meinte er schließlich.
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Ohne irgendjemandem Bescheid zu geben oder sich um
seine Besucher zu kümmern, schlich er sich mit mir davon.
Ich hatte es also mit jemandem zu tun, der es gewohnt war,
frei und ungebunden auf eigene Faust zu handeln. Das war
mir gleich sympathisch.
Wir gingen mit schnellen Schritten die Straße hoch, wo-
bei er immer ein paar Schritte vor mir war, vorbei an der
Kirche bis zur alten Steinmauer. Am Tor angelangt, drehte er
sich zu mir um und fragte:
„Warst du eigentlich schon mal im alten Pfarrhaus?“
„Ja, einmal. Da hatte man es aber noch nicht renoviert
und es wurde noch nicht an Privatpersonen vermietet“, ließ
ich ihn wissen.
Er öffnete das eiserne Gartentor und wir ließen die efeu-
berankte Natursteinmauer hinter uns. Die Stiegen zum Haus
waren gerade in Reparatur, deshalb sprang er zuerst auf die
Vorterrasse, welche die gesamte Vorderseite des Hauses um-
gab. Er sah auf mich hinab und bot mir seine Hand an. Ich
legte meine linke Hand in seine und hielt mit der rechten
meine Kameratasche fest. Mit einem kräftigen Zug half er
mir hinauf. Als ich meinen Arm wieder zurückzog, bemerkte
ich, dass meine Hand ganz warm geworden war. Hatte ich im
Vergleich mit ihm so kalte Hände? Er hielt mir die Tür auf
und sagte mit hochgezogener Augenbraue:
„Ladies first!“ Offenbar hatte er wieder zu seinem Charme
zurückgefunden. Aber so leicht wollte ich es ihm nicht ma-
chen. Es war unbestreitbar, dass er eine gewisse Wirkung auf
mich hatte, auch wenn ich nicht wusste, wieso.
„Gentlemen first“, konterte ich und machte eine klischee-
hafte Handbewegung. Eigentlich verbeugte ich mich sogar
leicht. Weshalb ich mir dann doch etwas lächerlich vorkam.
Er aber schien sich darüber köstlich zu amüsieren und trat
vor mir ein. Ich fühlte einen kleinen Triumph, der mir mein
Selbstvertrauen wiedergab. Das musste ich nutzen.
Er machte kein Licht an, das mir erlaubt hätte, sein Haus
und seine Einrichtung zu inspizieren.
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„Hier lang“, sagte er in meine Richtung und ich schritt
durch einen kleinen Durchgang, der in einen größeren, er-
leuchteten Raum führte. Hier war alles fast genauso einge-
richtet wie in der eigentlichen Bibliothek. Dunkle Bücher-
regale, Fotos von Frost, Hemingway und Fitzgerald, zwei
Schreibtische und ein Wandregal voller Schallplatten, auf
das ich, wie magnetisch angezogen, zuging.
„Oh mein Gott!“, schrie ich förmlich.
„Das darf nicht wahr sein. Eine Schallplattensammlung.
Ella Fitzgerald, Cole Porter, Frank Sinatra, Johnny Cash,
Bob Dylan, Duke Ellington“, las ich laut vor.
„Ich muss gestorben sein und bin im Himmel aufge-
wacht“, verkündete ich und funkelte ihn mit einem breiten
Lächeln, aufgeregt wie ein Kind zu Weihnachten, an.
Er sah mir von Weitem dabei zu, wie ich seine gesamte,
riesige Plattensammlung durchstöberte, und schien dabei
genauso aufgeregt zu sein wie ich. Ich glaubte, seinen ver-
gnügten Blick ständig auf mir zu spüren, und bekam wieder
dieses Vertrautheitsgefühl, was ihn anging. Istvan kam lang-
sam auf mich zu und zeigte auf ein paar Platten ganz hinten,
dabei sagte er bedeutungsvoll:
„Du liebst also Musik. Hätte ich mir denken können.“
„Lieben? Definitiv, ja. Weißt du, ich habe noch einen
zweiten Job als Musikkritikerin für ein Online-Musikmaga-
zin. Und das hier ist einfach nur umwerfend“, schwärmte ich
und deutete auf die dünnen Alben.
„Moment mal, wieso hättest du dir denken können, dass
ich Musikliebhabern bin?“, fragte ich etwas beunruhigt.
„Nur so ein Gefühl“, sagte er und wollte damit schnell das
Thema beenden.
„Hat dir vielleicht jemand erzählt, dass ich auch Musik-
journalistin bin?“, fragte ich nach.
„Ja. Ja, genau. Ich glaube, jemand hat das mir gegenüber
mal erwähnt“, stotterte er fast und machte dabei einen un-
glaubwürdigen Eindruck.
Hatten wir uns vielleicht doch schon mal zuvor gesehen?
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Wieso hatte ich bei einem völlig Fremden das Gefühl, mit
einem alten Freund zusammen zu sein? Seltsam. Und jetzt
dieser merkwürdige Versprecher, der ihm rausgerutscht war.
Vermutlich interpretierte ich da zu viel hinein.
Nachdem ich seine ganze Musiksammlung inspiziert hat-
te, war mir etwas aufgefallen. Ich musste ihn danach fragen.
„Du hast so viel klassische Musik und Platten von
den 30ern bis zum Ende der 50er-Jahre, aber gar nichts, was
nach 1970 erschienen ist. Gibt’s dafür einen bestimmten
Grund?“
„Ich mag eben Musik aus dieser Zeit besonders. Alles,
was nach den 70ern gemacht wurde, gefällt mir eigentlich
nicht besonders. Bis auf ein paar Ausnahmen natürlich“, ge-
stand er.
Ich nickte verständig und bohrte weiter.
„Hast du auch eine CD-Sammlung?“, wollte ich erwar-
tungsvoll von ihm wissen.
„Nein. Ich bin mehr der Analog-Typ!“, stellte er mit einem
umwerfenden Lächeln klar.
„Verstehe. Du brauchst das Knacken und Kratzen eines
Plattenspielers, um die Musik wirklich genießen zu können.
Mein Chef, der vom Musikmagazin, würde dir bestimmt ge-
fallen. Er ist zwar schon fast fünfzig, hat aber eine ähnliche
Einstellung wie du“, sagte ich und bemerkte, dass er irgend-
wie nervös wurde.
„Ist irgendwas nicht in Ordnung?“, wollte ich wissen.
„Nein, alles o. k. Nur müsste ich langsam zur Eröffnung
zurück. Wir sind schon fast eine Stunde weg. Es wird lang-
sam auffallen, dass wir beide schwänzen“, scherzte er.
Ich lachte und nickte zustimmend.
„Wir sollten wieder zurückgehen.“
Istvan führte mich wieder zum Ausgang, indem sein Arm
mich mit sanftem Druck auf meinen unteren Rücken in die
richtige Richtung lenkte, wie Männer in alten Filmen das
mit ihren Begleiterinnen machten. Diese Geste schien mir
für einen fremden Mann, der gerade erst eine Frau kennen-
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gelernt hatte, zu intim. Dennoch entzog ich mich nicht sei-
ner Nähe. Im Gegenteil. Ich genoss die Wärme, die von ihm
ausging, und diesen warmen Geruch, den Istvan verströmte.
Wie heiße Milch mit Honig und nach einem Wald im Som-
mer roch er. Das brachte mich dazu, etwas näher an ihn ge-
lehnt zu gehen.
Bevor wir den Ausgang erreicht hatten, bedeutete er mir
noch mit einer kurzen Geste zu warten. Er suchte offenbar
nach etwas auf seinem Schreibtisch. Während er in den
Schubladen kramte, sah ich mich etwas im Eingangsraum
um. Das Erste, was mir auffiel, war, dass ich kein einziges
Foto im ganzen Haus gesehen hatte, weder von ihm selbst
noch von seiner Familie. Er schien offenbar wirklich etwas
gegen Fotos zu haben. Anstelle von Fotografien hingen an den
Wänden viele Kohlezeichnungen und andere Malereien.
Als er fand, wonach er gesucht hatte, ein kleines Buch
mit Katalognummern, gingen wir zurück in die neue Biblio-
thek, wo gleich am Eingang Taucher auf uns wartete und uns
panisch entgegenschrie:
„Wo wart ihr denn so lange? Hier ist die Hölle los. Alle
wollen etwas über die Bücher wissen und ich habe doch kei-
ne Ahnung“, gestand der Bürgermeister und man konnte den
verzweifelten Anblick, den er bot, leicht verstehen. Sofort
eilte Istvan ihm zu Hilfe und unterhielt sich freundlich mit
allen Besuchern, die ihm der Bürgermeister vorstellte.
Ein gut aussehender, kluger Mann, der gerne bereit war,
alle Fragen zu beantworten, kam bei den Besuchern gut an
und ich hatte keine Chance, ihm weitere Fragen zu stellen.
Ich sah mir noch mal die tollen Bücher an, die er zusam-
mengetragen hatte, und war echt beeindruckt. Die deutsche
Abteilung war voll mit meinen Lieblingsbüchern. Und er
hatte sogar ein paar wirklich alte Ausgaben von Klassikern,
die eigentlich Antiquitäten waren, zu schade, um sie an je-
dermann zu verleihen.
Während ich die Bücher ansah und ab und zu mit ein
paar Leuten, die ich kannte, Belanglosigkeiten austauschte,
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bemerkte ich, wie ich immer wieder mal nach ihm sah. Ob-
wohl Istvan sehr gefragt und beschäftigt war, traf ich öfter
auf seinen Blick und hatte das unbestimmte Gefühl, dass
auch seine Augen den Raum nach mir absuchten.
Die Zeit raste und eigentlich sollte ich bereits zu Hause
am Computer sitzen und den Artikel schreiben. Ich konnte
mich nicht verabschieden, weil er nie allein war, und winkte
deshalb nur kurz in seine Richtung, bevor ich ging.
Als ich in dieser Nacht über unsere erste Begegnung nach-
dachte, bekamen viele Dinge eine ganz neue Bedeutung. Ist-
vans Weigerung, fotografiert zu werden, und seine seltsamen
Bemerkungen, als würde er mich kennen. Und heute hatte er
gleich gewusst, wie man zu meinem Haus kam. Dieses selt-
same Gefühl, das ich ständig in seiner Nähe hatte. Die Er-
eignisse dieser Nacht, der Zusammenstoß und seine Weige-
rung jegliche Hilfe durch einen Arzt anzunehmen. Eines war
klar: Irgendetwas stimmte nicht mit Istvan. Er war so anders.
So seltsam. Auf den ersten Blick mochte er auf die meisten
wie ein gut aussehender, kluger, junger Mann wirken, aber
es gab da eine andere Seite an ihm, die ungewöhnlich war.
Doch was war es, das ihn so anders machte? Was stimmte
nicht mit ihm? Wie konnte es passieren, dass er mitten auf
der Straße stand, vollkommen nackt, in der Dunkelheit?
Wer oder was lief bei Regen nackt auf der Straße herum
und wurde von Autos angefahren?
Ich fühlte die Antwort, auch wenn sie mir absolut lächer-
lich vorkam.
Kein Mensch!
Was dachte ich da bloß? Das Mondlicht musste eine
merkwürdige Wirkung auf mich haben. Istvan war doch of-
fensichtlich ein Mensch, ein Mann. Oder war er doch etwas
anderes?
Diese Gedanken ließen mir keine Ruhe mehr. Ich hatte
noch immer nicht geschlafen und es war bereits Morgen. Ich
musste mir noch mal das Auto ansehen.
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Schnell sprang ich aus dem Bett und war plötzlich hell-
wach. Ich hechtete die Stufen zur Einfahrt hinunter und
wäre beinahe mehrmals hingefallen. Ohne das Auto in der
Dämmerung genauer anzusehen, öffnete ich die Garage und
fuhr den Wagen hinein. Ich stellte den Motor ab und schloss
hinter mir das Garagentor. Ich sog einen tiefen Atemzug ein,
bevor ich mir die Wagenfront ansah. Der Schaden war nicht
so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Es war eine deutliche
Einbuchtung auf der rechten Seite der Stoßstange zu sehen,
die natürlich verbeult war. Die Motorhaube war auch ein-
gedrückt worden und der Scheinwerfer war komplett hinü-
ber. Und dennoch schien der Schaden nicht zum Unfall zu
passen. Ich hatte schließlich einen Mann angefahren. Selbst
wenn ich ihn an der Seite erwischt hätte, an seiner Hüfte,
müssten die Schäden gravierender sein und höher liegen. Er
war ja ein großer Mann. Ich schätzte, so eins achtzig, viel-
leicht auch etwas größer. Und hätte ich ihn auf diese Art
angefahren, wäre er mir auf die Motorhaube und gegen die
Windschutzscheibe gefallen. Hätte ich dagegen einen Hund
oder einen Wolf angefahren, wie ich zuerst gedacht hatte,
würden die Dellen genau in der passenden Höhe liegen und
der Schaden würde ziemlich genauso aussehen, wie er es tat-
sächlich tat.
„Ich habe einen Hund gesehen oder einen Wolf. Ich bin
mir sicher“, sagte ich zu mir selbst, wobei meine Hand an
der kaputten Motorhaube entlangfuhr. Beim Anblick meines
zerbeulten Autos fiel mir wieder der nackte, verletzte Istvan
ein, der einfach so aus meiner Küche abgehauen war. Ich
fragte mich, ob es ihm auch gut ging. Schließlich war es kein
leichter Unfall gewesen. Ich fühlte sofort das Bedürfnis,
nach ihm zu sehen. Aber wollte er das überhaupt?
Schließlich war er ohne Abschied gegangen und er schien
nicht zu wollen, dass sich irgendjemand um ihn kümmer-
te. Aber was, wenn er nun nicht absichtlich gegangen war?
Wenn sein Kopf doch etwas abbekommen oder er gar innere
Verletzungen davongetragen hatte? Ich musste nach ihm se-
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hen. Bilder eines verwirrten Mannes, der im Straßengraben
landete, blitzten vor mir auf. Ich musste sofort wissen, ob er
in Ordnung war.
Das Auto ließ ich stehen und ging gleich durch die Gara-
ge nach draußen. Als ich im Garten stand, brach bereits der
Tag an und das Licht drängte sich ostwärts über den Hori-
zont. Ich lief gerade zum Gartentor, als mir der blaue Fleck
im Garten auffiel. Meine blaue Decke lag im Gras. Istvan
musste sie verloren haben. Doch war das ein schlechtes Vor-
zeichen? War er dann nackt nach Hause gelaufen? Konnte
dieser Morgen etwa noch seltsamer werden als die vergan-
gene Nacht?
Ich lief panisch über den Waldweg zum nördlichen Dorf-
rand, bog dort in die lange, enge Straße zur Kirche ein, hetzte
über den Friedhof, die alte Abkürzung, und stand vor der
Gartenlaube der Pfarrei. Ich musste kurz verschnaufen, so
schnell war ich gerannt.
Mit einem Sprung stand ich vor seinem Haus und häm-
merte gegen die Tür.
„Istvan, ich bin’s, Joe. Bitte mach auf! Ich muss wissen,
ob es dir gut geht!“, schrie ich mit aufgebrachter Stimme.
„Istvan, los, mach auf! Ich werde nicht weggehen, ehe
ich mich nicht versichert habe, dass du noch lebst. Komm
schon, ich muss doch wissen, ob es dir gut geht.“ Ich klang
mittlerweile bedrohlich.
„Verdammt, mach jetzt auf“, wiederholte ich an die Tür
pochend und wütende Tränen schossen mir vor Verzweiflung
aus den Augen.
Ich wollte gerade wieder mit der Faust auf die Tür ein-
hämmern, als ich jemanden auf der anderen Seite hörte, der
den Hauseingang aufschloss.
Istvan stand vor mir, diesmal angezogen. Ein leerer, be-
sorgter Ausdruck verdunkelte seine grünen Augen. Er ver-
sperrte mir stumm den Zugang.
Ich drängte ihn mit beiden Armen und aller Kraft, die ich
noch aufbringen konnte, vom Eingang in das Haus. Meine
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Fäuste hämmerten wild auf seine Brust, während ich ver-
heult stammelte:
„Bist du wahnsinnig? Wie kannst du einfach abhauen? Ich
dachte schon, du liegst tot im Graben. Mir wäre fast das Herz
stehen geblieben. Wie kam man einfach abhauen, wenn man
angefahren wird?“, schrie ich ihm entgegen, wobei nicht alles
verständlich war, was ich in meinem Wutausbruch unter Trä-
nen von mir gab. Jetzt brach ich zusammen. Ich fiel kraftlos
an seine Brust. Er umarmte mich automatisch und fuhr mit
seinen Händen besänftigend meinen Rücken entlang.
„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht beunruhigen. Ich woll-
te nicht einfach so abhauen. Das musst du mir glauben. Es
ging nicht anders. Ich hatte keine Wahl. Ich schwöre es dir“,
redete er mit samtener Stimme auf mich ein.
Ich befreite meine Augen von dem Tränenfilm und sah
zu ihm hoch.
„Du weißt schon, dass das alles keinen Sinn ergibt“, ließ
ich ihn wissen.
Er antwortete nicht. Ich befreite mich etwas beschämt
aus seiner Umarmung und versuchte mit einem tiefen Atem-
zug, wieder Herr der Lage zu werden.
„Wieso wolltest du keinen Arzt? Du könntest noch immer
verletzt sein, ohne es zu merken. Du musst das abchecken
lassen. Bitte“, flehte ich ihn mit aufgerissenen Augen und
händeringend an.
„Mir fehlt wirklich nichts. Vertrau mir, ich bin nicht ver-
letzt. Es ist alles in Ordnung mit mir.“ Seine Versicherung
bekräftigte Istvan, indem er die Hände von sich streckte wie
Michelangelos Modellmensch, den die Mediziner als Logo
verwenden.
Er hatte die Wahrheit gesagt. Er machte auf den ersten
Blick einen gesunden Eindruck. Zumindest unverletzt. Seine
ausgestreckten Unterarme waren mir zugewandt. Dabei fiel
es mir auf.
Seine Arme waren völlig unverletzt! Keine Kratzer, keine
Narben. Noch nicht mal geringe Spuren von Abschürfung,
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weder auf seinen Armen noch auf seinen Händen. Wie war
das möglich? Ich selbst hatte noch vor wenigen Stunden Blut
und Kies von seinen Armen entfernt.
„Deine Arme!“, stammelte ich erstaunt. „Deine Arme. Sie
sind sauber. Du hast keinen Kratzer. Verdammt, wie kann
das sein?“
Erschrocken und ängstlich zog er sich wie ein verwun-
detes Tier in eine Ecke zurück und starrte mich in stummer
Verzweiflung an. Seine Hände hatte er in seinen Achseln ver-
steckt. Ich tat einen Schritt auf ihn zu, der ihn noch mehr er-
schaudern ließ. Ich wollte ihn nicht quälen. Es tat weh, ihn
derart verletzt und verzweifelt zu sehen. So ruhig ich konnte,
stellte ich ihm die fundamentalsten Fragen. Jene Fragen, die
ich wissen musste.
„Bitte sag mir, was hier eigentlich los ist, ich verliere sonst
noch den Verstand? Wer oder was bist du?“
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