10. Das Notizbuch
Ich hatte Istvan zwei volle Tage lang nicht gesehen. Das Un-
glaubliche, es geschah mit voller Absicht. Ich mied die Bib-
liothek. Ich kam nicht an seinem Haus vorbei. Ich brauchte
Zeit, Zeit um nachzudenken. Zu viel war in zu kurzer Zeit
geschehen. Das Unfassbare, es schien ihn gar nicht zu stö-
ren, denn er rief nicht an. Es wunderte ihn offenbar gar
nicht, dass ich ihn plötzlich nicht mehr umschwärmte wie
die Motte das Licht. Brauchte auch er Abstand und Zeit
oder hatte es damit zu tun, dass ich ihn in dieses Notizbuch
schreiben sah? Ich konnte an nichts anderes mehr denken.
Dieser ertappte, erschrockene Ausdruck ging mir nicht mehr
aus Kopf. Was stand bloß in diesem schwarzen Buch, das ich
auf keinen Fall lesen sollte?
Doch obwohl dieser Gedanke mich am hartnäckigsten
verfolgte, gab es da auch noch andere Vorfälle, die mich auf
Abstand gehen ließen. Ich konnte seine Worte von Martini
nicht vergessen: „Ein Blinder würde sonst sehen, dass et-
was zwischen uns ist.“ Hatte er das genauso gemeint, wie
es klang? Und dann seine leichtsinnige Geste, vor allen an-
deren. Er war dieses immense Risiko eingegangen, nur um
flüchtig meine Hand zu halten. Ich hatte zu viele wider-
sprechende Signale und Hinweise, die er mir gab. Als hätte
ich ein vollständiges Puzzle, alle Teile wären vorhanden und
doch schienen sie nicht recht zusammenzupassen. Wann
würde ich endlich das vollständige Bild sehen?
Den Morgen und fast die ganze Nacht dieser zwei Tage
verbrachte ich nur damit, aus dem Fenster zu starren, meis-
tens in den schweren Regen, und meinen unzusammenhän-
genden Gedanken nachzugehen.
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Hunderte Male hatte ich mir eingeredet, dass ich dieses No-
tizbuch in die Finger kriegen müsste, nur um es mir gleich
danach wieder auszureden. Er würde mir doch nie wieder
vertrauen. Es kam also nicht infrage und doch, der Gedanke
war da. Er setzte sich in mir fest wie ein Parasit, um mich
nachts zu verfolgen bis in die tiefsten Winkel meiner Träume.
Jede Nacht sah ich dasselbe Bild. Ich betrat sein Schlafzim-
mer, sah Istvan in das Notizbuch schreiben. Als ich gesehen
hatte, was ich nicht sehen sollte, schrie er mich im Traum
an und sperrte mich aus. Ich hämmerte wie verrückt gegen
die Tür, doch er ließ mich nicht wieder herein. Ich wachte
schweißgebadet auf, jedes Mal.
Morgens wurde ich erneut enttäuscht, denn ich hatte
keine Nachricht von ihm. Was hatte ich bloß verbrochen,
um sein Schweigen zu verdienen? Er hatte sich doch so ge-
freut über das Bild seiner Mutter. Istvan war im Innersten
ergriffen gewesen, das konnte man nicht falsch verstehen.
Bestrafte er sich und mich etwa dafür, dass er an Martini zu
weit gegangen war, dass er zu viel von sich enthüllt hatte?
Es gab keine befriedigenden Antworten und auch nach
zwei vollen Tagen mit Grübeln und noch mehr Grübeln war
ich der Wahrheit noch immer nicht auf der Spur. Nach-
denken brachte nichts. Ich musste handeln, auch wenn ich
wusste, ich würde nicht den Mut zu einer erneuten Konfron-
tation haben. Ich konnte nicht mehr so forsch und furchtlos
ihm gegenüber auftreten, wie ich es noch vor ein paar Wo-
chen gekonnt hatte. Jetzt, da ich wusste, dass ich ihn liebte,
und nachdem ich Istvan schon verloren geglaubt hatte, war
ich unfähig, ihn erneut anzugreifen.
Ich musste etwas unternehmen, aber es müsste klamm-
heimlich geschehen, ohne dass er etwas davon erfuhr.
Es war ein Wochentag und Istvan würde noch bis circa
vier Uhr in der Bibliothek sein. Er schloss die Tür zu sei-
nem Haus meistens nicht ab. Viele Leute auf dem Land ver-
schlossen tagsüber ihre Tür nicht. Das war meine Chance.
Ich hatte noch eine knappe halbe Stunde, um zu handeln.
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Ich zog mir schnell meine Stoffturnschuhe über, ohne
sie zu schnüren, warf mir den schwarzen Wintermantel über
und machte mich auf zu seinem Haus. Wie üblich ging ich
durch den Garten, um nicht gesehen zu werden. Bei jeder
anderen Gelegenheit hätte Istvan auf mich gewartet und es
wäre fast Nacht. Doch jetzt schlich ich mich am helllichten
Tag über einen fremden Garten und rüttelte an der Hinter-
tür, wie ein Strauchdieb. Ich hatte Pech. Die Tür war ver-
schlossen. Martin würde das für ein göttliches Zeichen hal-
ten und von seinem Vorhaben absehen. Doch ich hatte diese
fixe Idee und mein Sturschädel verhinderte, dass ich jetzt
logisch oder rücksichtsvoll dachte. Ich musste sehen, was
in diesem verdammten Notizbuch stand. Das Küchenfenster
war ein Spalt breit offen. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Es war immerhin fast Winter und ziemlich kalt. Aber Ist-
van spürte die Kälte doch kaum, das hatte ich fast verdrängt.
Ich stellte mich auf den Brennholzhaufen, der unter dem
Küchenfenster aufgetürmt war. Istvan hackte immer genug
Brennholz für den kleinen Kamin, damit mir auch warm ge-
nug in dem alten, zugigen Haus war. Und zum Dank brach
ich nun in sein Haus ein. Wie passend. Gut gemacht, Joe,
sagte ich zu mir selbst.
Aber es war zu spät. Ich hatte den Entschluss gefasst und
würde diese leichtsinnige Aktion bis zum Ende durchziehen.
So viel stand fest. Was völlig im Dunkeln lag, war der Inhalt
des geheimnisvollen Notizbuches. Ich stand auf dem Holz
und spreizte die Zehen, um auf den Fenstersims zu gelangen.
Das Fenster war tatsächlich nur angelehnt und ich konnte
es leicht aufstoßen. Mit einem Krächzen hievte ich meinen
Oberkörper durch das hoch gelegene Fenster und versuch-
te, den Rest meines Körpers nachzuziehen. Ich agierte dabei
so geschickt, dass ich mit einem Rutsch auf den Boden der
Küche knallte und dabei den roten Pullover einriss. Was für
ein Bravourstück!
Ich lag mit dem Bauch auf den Küchenfliesen. Wäre Ist-
van an meiner Stelle gewesen, hätte er, wie ein Leichtathlet,
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lediglich einen exakten Sprung gebraucht und wäre fast laut-
los auf seinen Füßen gelandet.
Wie peinlich!
Ich wollte gerade aufstehen, da sah ich, dass meine Turn-
schuhe voll mit Matsch waren. Es regnete und der Boden
war überall aufgeweicht. Ich konnte auf keinen Fall mit
diesen Tretern durch sein Haus latschen, ohne eindeutige
Spuren zu hinterlassen. Deshalb zog ich die Schuhe aus und
nahm sie in die Hand. Istvan hatte lediglich eine kleine Ni-
schenküche, die gerade zum Kochen groß genug war. Der
Esstisch stand im großen Wohnzimmer, das früher vermut-
lich das Klassenzimmer gewesen sein musste. Ich ging jetzt
auf Zehenspitzen durch dieses riesige Wohnzimmer. Konn-
te ich noch lächerlicher aussehen? Ich schlich durch einen
Raum, in dem ich schon Dutzende Mal eingeladen war.
Ich durchquerte auf diese Weise langsam das ganze
Haus, bis ich an seinem Schlafzimmer angelangt war. Die
Tür war geschlossen. Als ich den Türknopf umfasste, zö-
gerte ich. Diese Aktion könnte alles ruinieren oder mir alle
Antworten geben. Auf jeden Fall würde sie Dinge in Gang
setzen, das spürte ich ganz deutlich. Ich öffnete die dunkle
Holztür und fand, wie erwartet, ein leeres Schlafzimmer vor.
Istvan musste es heute eilig gehabt oder schlecht geschlafen
haben, denn sein Bett war nicht gemacht. Die weißen Laken
und die übrige Bettwäsche waren zerwühlt. Hatte er etwa
auch eine schlaflose Nacht hinter sich? Würde ich das hier
bald bitter bereuen? Ich setzte mich jetzt vor den Schreib-
tisch. Die Schublade öffnete ich mithilfe des Schlüssels, der
noch im Schloss steckte. Es war das erste Mal, dass ich mich
selbst hinter den alten Sekretär setzte. Sonst war das immer
Istvans Platz. So hatte ich ihn das letzte Mal gesehen, als er
mir gedankt und seinen grünen Blick geschenkt hatte.
Ich bekam plötzlich ein ganz schlechtes Gefühl. Die Si-
tuation erinnerte mich an die Geschichte von Pandora und
der Büchse. Die alte Sage über das Mädchen, das eine Kiste
anvertraut bekam, die es nie öffnen dürfte. Sie konnte, wie
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ich, ihre Neugierde nicht zügeln und schloss die Kiste auf.
Mit dieser unbedachten Tat brachte Pandora das Übel der
ganzen Welt über die Menschheit und wurde damit zum im-
merwährenden Warnsymbol für Menschen, die ihre Verspre-
chen brachen und aus Selbstsucht eine Katastrophe herauf-
beschworen. War das hier mein persönlicher Vertrauenstest,
den ich drauf und dran war, nicht zu bestehen? Ich wollte
gerade wieder aufstehen, als mir einfiel, wie die Geschichte
um Pandora letzten Endes ausging:
Pandora schloss in ihrer Panik die Büchse sofort wieder
und verhinderte damit, dass der Bodeninhalt der Box austre-
ten konnte. Mit ihrem Zaudern hatte Pandora der Hoffnung
selbst den Weg versperrt, denn sie hatte man zusammen mit
dem Übel aufbewahrt.
Das genügte mir. Ich würde diesen Wahnsinn bis zum Ende
durchziehen und hoffte auf das Beste. Auf die Wahrheit.
Ich öffnete die Lade und sah sofort das schwarze Buch.
Es war nicht das einzige Notizbuch, das sich in dem Schub-
fach befand. Da gab es noch ein paar rote und blaue Hefte.
Doch meine Augen fixierten das schwarze, dicke Notizbuch
in der Mitte, das sich mir ohne Gegenwehr präsentierte.
Kein Schloss, wie es ein Tagebuch gehabt hätte, war ange-
bracht. Lediglich ein schwarzes Band umspannte die Seiten
und hielt das gespreizte Buch mit dem schwarzen Lederein-
band zusammen. Ich atmete deutlich ein und aus, um den
Kopf freizukriegen. Meine Haare fielen mir vor das Gesicht.
Ich strich sie unordentlich hinter die Ohren und nahm das
Buch aus der Lade. Seine Schwere kam mir unnatürlich vor.
Es lag vermutlich an meinem belasteten Gewissen, das ich
jetzt versuchte zu verdrängen. Ich strich das Band vom Le-
der und öffnete es, die ersten Seiten enthüllend. Auf den
blass linierten Zeilen standen Istvans Worte. Ich erkannte
die schmale, sehr schräg gehaltene, Schrift sofort. Es gab
keinen Titel oder irgendeine Einleitung. Auf der ersten Sei-
te stand lediglich „1935“ geschrieben. Danach begann sein
erster Eintrag:
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„Herbst. Ich war gerade fünfzehn, als mein Leben für
immer endete. Ich starb. Alles, was ich war, was mich aus-
machte, schien mir in jenem Spätherbst 1935 genommen zu
werden. Meine Mutter, meine Menschlichkeit, mein Zuhau-
se, meine kindliche Unschuld. Und ich erinnere mich noch
nicht mal daran …“
Ich wollte diesen Satz, völlig gefangen in seinen Ausfüh-
rungen, gerade weiterlesen, da fühlte ich die Anwesenheit
eines anderen Menschen im Raum. Ich musste mich nicht
umdrehen, um zu wissen, wessen Blick sich mir in den Rü-
cken bohrte.
„Ich bin beeindruckt. Du hast ganze zwei Tage durchge-
halten. Ich hatte eigentlich früher mit dir gerechnet“, sagte
Istvans tiefe Stimme, mit einem bittersüßen Unterton, den
ich noch nie gehört hatte.
Ich drehte mich sichtlich eingeschüchtert um. Er stand
da, mitten im Raum, als hätte er mich erwartet und nicht, als
wäre er gerade erst nach Hause gekommen. Er trug weder
eine Jacke, zur Tarnung natürlich, noch irgendwelche Bü-
cher wie sonst, wenn er aus der Bibliothek kam.
Sein Blick war leer, fast finster und doch schien er nicht
böse zu sein, nicht böse genug, wenn man bedachte, wobei
er mich gerade ertappt hatte.
Ich drehte mich blitzschnell wieder um und beförder-
te das Notizbuch mit einem Ruck wieder in sein Versteck
zurück, als könnte das alles ungeschehen machen. Sofort
begann ich, mich zu entschuldigen und um Verzeihung zu
bitten.
„Istvan, es tut mir so leid. Ich weiß gar nicht, was ich
sagen soll. Das ist unverzeihlich. Wenn ich du wäre, würde
ich mich sofort rausschmeißen. Du hättest jedes Recht dazu.
Tut mir leid. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.
Bitte, verzeih mir!“, flehte ich mit schwacher, zittriger Stim-
me. Sogar meine Hände und Lippen bebten.
Er schien mich gar nicht zu hören. Er starrte an mir vor-
bei, auf das Notizbuch und schien angestrengt über etwas
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nachzudenken. Ich konnte mir nicht vorstellen, über was.
Dann nichts. Er schwieg. Ich wünschte mir, er würde mich
schlagen oder mich rausschmeißen. Aber dieses Schweigen,
diese Totenstille waren zermürbend. Ich hielt es nicht aus.
Ich wollte gerade mit gesenktem, verzagten Blick an ihm vor-
bei, da ergriff er forsch mein Handgelenk wie damals, als er
mich bat, ihm zu helfen. Sein Gesicht drängte sich jetzt an
mein Ohr.
„Nein, du bleibst. Du verschwindest jetzt nicht einfach!“,
befahl er in einer festen, bestimmten Art, die mir vollkom-
men fremd an Istvan war.
Ich hatte Angst, nicht wirklich vor ihm, aber vor dem ver-
dienten Zorn in ihm, den ich vielleicht heraufbeschworen
hatte. Mein Herz raste. Er hörte es natürlich.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du doch noch Angst vor
mir haben könntest. Nach allem“, bemerkte er zu meiner Pa-
nikreaktion und sah mich durchdringend an. Seine Augen
schienen nach etwas Bestimmtem in meinen Augen zu su-
chen. Er umklammerte noch immer meine Hand.
„Ich habe keine Angst vor dir. Ich habe Angst vor mir und
dem, was ich vielleicht kaputt gemacht habe“, gestand ich
ihm und suchte nach einem Zeichen von Verständnis in sei-
nem Gesicht. Ich fand nur Anzeichen von Besorgnis.
„Ich bin nicht wütend auf dich und du hast auch nichts
kaputt gemacht. Wie gesagt, ich wusste, dass du früher oder
später kommen würdest. Du gehörst zu den Menschen, die
immer die ganze Wahrheit wissen müssen. Das weiß ich
schon lange. Das hier war unvermeidlich.“
Jetzt ließ er mich los und setzte sich auf die Truhe vor
seinem Bett. Er fuhr mit der Hand durch seine sandfarbenen
Haare, schwer ausatmend und behielt die Hand in seinem
Nacken. Mit geschlossenen Augen hauchte er:
„Ich weiß noch immer nicht, ob ich so weit bin. Ob wir
schon so weit sind. Ob ich es ertragen kann.“
Ich verstand kein Wort von dem, was er mir andeuten
wollte. Ich konnte nur seine Anspannung fühlen, die die
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Sehnen auf seinen Armen hervortreten ließ. Wovon redete
er da?
Er stand auf, ging bestimmt ohne weiteres Zögern zum
Schreibtisch, holte das Buch hervor und gab es mir, bevor er
sich wieder auf die Truhe setzte.
„Ich verstehe nicht“, stotterte ich verdutzt und hielt das
Buch in meinen kraftlosen Händen.
„Du sollst es lesen. Du kannst es lesen. Nimm es mit,
wenn du willst. Es wird leichter sein, es zu lesen, wenn ich
nicht dabei bin. Für uns beide, meine ich“, sagte er und die
Gedanken hinter seinen Worten waren unmöglich zu ergrün-
den. Er kam mir jetzt todmüde vor, als hätte er ewig nicht
mehr richtig geschlafen. Erst jetzt bemerkte ich die dunkeln
Schatten um seine Augen. Der grüne Blick hatte mich derart
abgelenkt, dass ich es nicht gesehen hatte.
Ich setzte mich zu ihm auf die breite Truhe vor dem Bett,
ließ meinen Kopf ein wenig hängen und schwieg. Das Buch
lag in meinem Schoß.
„Ich hab alles kaputt gemacht, oder?“, fragte ich niederge-
schlagen in den Raum und meine Stimme klang derart trau-
rig, dass sie mich beinahe selbst zum Weinen brachte.
„Nein, das hast du nicht. Sag das nicht. Ich weiß, dass
du es nicht aus Zweifel mir gegenüber getan hast. Ich weiß,
dass du nur die ganze Wahrheit über mich wissen willst.
Und wenn du es liest, dann wirst du genau das bekommen.
Die reine Wahrheit, ohne Auslassungen, ungeschönt.“ Seine
Stimme war sanft wie Honig und gab mir wieder Mut. Er
versuchte offensichtlich, mich zu beruhigen. Dafür liebte
ich ihn nur noch mehr. Er verzieh mir mein dummes Ver-
halten nicht nur, er verstand es auch noch besser als ich
selbst.
„Wenn du Bedenken hast, werde ich es nicht tun. Ich
gebe es dir zurück und es wird nie wieder ein Thema sein“,
versprach ich ihm. Jetzt wieder überzeugt und selbstsicher.
„Nein, es ist Zeit. Ich glaube, es war von Anfang an un-
umgänglich, dass du es irgendwann doch erfahren würdest.“
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Er sprach nun wieder in dieser kryptischen, geheimnisvollen
Art, die mich aufwühlte.
„Wovon sprichst du? Was muss ich erfahren?“, fragte ich
nach und sah ihn aufgeregt von der Seite an. Er wich mei-
nem Blick noch immer aus.
„Du wirst es verstehen, wenn du das Buch liest!“, war sei-
ne einzige Antwort.
„Und jetzt? Soll ich jetzt einfach nach Hause gehen und
dich hier allein zurücklassen? Wieso erzählst du es mir nicht
selbst, hier und jetzt?“, entgegnete ich ihm, unempfänglich
für seinen Vorschlag.
„Wäre ich fähig, es dir direkt ins Gesicht zu sagen, hätte
ich es vermutlich schon getan. Aber ich weiß nicht, wie. So
ist es leichter. Für mich. Verstehst du? Du gehst jetzt einfach
nach Hause, nimmst das Buch aus der Tasche und liest alles,
was du lesen willst, und dann kommst du wieder, ja?“
Seine Stimme war nun die eines kleinen, traurigen Jun-
gen, der bei einer Lüge ertappt wird und jetzt, schon erleich-
tert, auf seine Strafe wartet.
„Na gut, wenn du darauf bestehst“, erwiderte ich irritiert
und ahnungslos.
Ich stand auf, zog mir meine Turnschuhe an und schob
das Buch in die Innentasche meines langen Mantels.
„Dann geh ich jetzt“, sagte ich unsicher. „Wir sehen uns
dann ja, später“, fügte ich noch hinzu. Er starrte nur starr
und leer an die Wand. Als Abschied hauchte er nur ein ge-
dämpftes „Ja, vielleicht“.
Mit einem mulmigen Gefühl machte ich mich auf nach
Hause. Ich hasste es, Istvan in diesem Zustand allein zurück-
zulassen. Aber er hatte es von mir verlangt, also blieb mir
keine andere Wahl.
Zu Hause angekommen, zog ich schnell meinen Mantel und
die Schuhe aus. Ich kramte das Buch aus meiner Tasche und
ging damit direkt in mein Schlafzimmer. Ich hatte so ein Ge-
fühl, dass ich besser sitzen oder liegen sollte, wenn ich be-
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gann zu lesen. Ich öffnete das schwarze Lederbuch und be-
gann dort weiterzulesen, wo ich aufgehört hatte, am Anfang.
„Alles, was ich war, was mich ausmachte, schien mir in
jenem Spätherbst 1935 genommen zu werden. Meine Mut-
ter, meine Menschlichkeit, mein Zuhause, meine kindliche
Unschuld. Und ich erinnere mich noch nicht mal daran, wie
es passiert ist. Ich hing meinen dunklen Gedanken nach und
wollte gerade einen dicken Ast vom Baum abschlagen, da
hörte ich dieses unheimliche Geräusch hinter mir. Ehe ich
auch nur erahnen konnte, was sich da hinter mir befand,
spürte ich schon den scharfen Schmerz im Nacken. Ein
Biss, war das Letzte, was ich dachte, bevor ich bewusstlos
wurde.“
Er hatte es ziemlich genauso geschrieben, wie er es mir
erzählt hatte. Das war es also nicht, was er mir nicht sagen
konnte. Ich hatte ohnehin die Vorahnung, dass es eher et-
was mit uns, mit Istvan und mir, zu tun hatte als mit seinem
Wolfsleben. Vielleicht sollte ich zuerst die Stellen im Buch
lesen, die etwas Licht ins Dunkel seiner Andeutungen brin-
gen könnten. Also suchte ich gezielt nach Eintragungen, in
denen ich, in denen wir vorkamen. Sie mussten sich gegen
Ende des Buches befinden. Ich fand den Eintrag über die
Büchereieröffnung, unsere erste Begegnung. Ich begann zu
lesen.
„Heute eröffnete ich die Bibliothek. Ich hatte keine Ah-
nung, dass ich sie an diesem Tag wiedersehen würde. Wer
hätte auch ahnen können, dass ausgerechnet sie der Lokal-
reporter war, von dem der Bürgermeister gesprochen hatte.
Er erwähnte einen gewissen Joe und ich erwartete deshalb
einen Mann und nicht sie.“
„Wiedersehen“, wiederholte ich laut und las dieselben
Zeilen immer wieder und wieder. Wie war das gemeint?
Kannte er mich tatsächlich schon vor diesem Tag? War er
mir deshalb von Anfang an so vertraut, wollte er mir diese
Tatsache verschweigen, aber wieso? Ich las weiter und hoffte
die Antwort zwischen Istvans Zeilen zu finden.
180
„Es war schwer so zu tun, als hätte ich sie noch nie zuvor
gesehen. Ich war nicht besonders geschickt darin, es zu ver-
bergen. Als ich auf sie zuging, sie erkannte, da sah ich sie
immer so vor mir, wie ich sie zum ersten Mal gesehen hatte,
halb nackt, nur mit BH und Slip bekleidet, die Haare offen
und wild. Ich konnte dieses Bild nicht aus dem Kopf krie-
gen und musste mit aller Kraft ein Grinsen unterdrücken.
Ich glaube, sie hat irgendetwas bemerkt. Ich musste mich
die ganze Zeit zusammennehmen, um nicht doch etwas zu
sagen, das mich verraten hätte. Leider machte ich zu oft den
Fehler, zu nahe bei ihr zu stehen. Sie wich aber nie wirklich
vor mir zurück, das spornte mich noch mehr an, und als sie
mir dann noch anbot, mich zu begleiten, wo wir ganz allein
sein würden, war das – einfach nur umwerfend. An diesem
Tag hatte ich sie zwar nicht das erste Mal gesehen, aber an
diesem Tag gab es dennoch viele andere erste Male. Es war
das erste Mal, dass ich ihre Stimme gehört hatte, hell und
klar und leicht tief, wie ich es an Frauen sehr attraktiv finde.
Es war auch das allererste Mal, dass ich sie berührte, als
Frau und nicht als …“
An dieser Stelle hatte er abgebrochen. Wieso schrieb er
diesen Satz nicht zu Ende? Wann hätte er mich schon ein-
mal vor diesem Tag berührt und wieso war es das erste Mal
als Frau? Ich war komplett verwirrt. Wann waren wir uns tat-
sächlich erstmals begegnet? Ich suchte nach weiteren Hin-
weisen.
„Später dann an diesem Abend dachte ich über ihr Ge-
sicht nach und die Attribute ihrer Weiblichkeit, die ich an
keiner anderen Frau derart faszinierend gefunden hätte.
Es war mir in jener Nacht, der Nacht des ersten Wieder-
sehens nicht gleich aufgefallen. Erst heute, bei Tageslicht,
konnte ich die Farben ihres Wesens und ihrer Weiblichkeit
in Muße betrachten. Alles an ihr erinnerte mich an einen
Pfirsich, abgesehen von den blauen Augen. Besonders die
helle, zarte Haut mit dem leichten Pfirsich-Ton und die
rosigen Wangen verstärkten meinen Eindruck. Sogar der
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korallenfarbene Mund, den man hinter den geschminkten
Lippen durchschimmern sah, trat in dem Pfirsichspektrum
ihres Wesens hinzu. Am beeindruckendsten fand ich aber
ihr Haar, das jeder andere Mann wohl als goldblond oder
mittelblond beschreiben würde und damit nur die Oberflä-
che betrachtete. Nein, ihr langes, mähnenhaftes Haar war
zwar goldblond, doch in einem bestimmten Licht enthüllte
es sein Geheimnis. Vom Licht beschienen, zeigte sich ein
Rosé-Gold-Ton, der sehr selten ist und den ich noch nie
an einer Frau wahrgenommen hatte. Es erinnerte mich an
Schmuck aus Rosé-Gold, der mit anderen Goldschattierun-
gen vermischt worden war. In der deutschen Sprache gibt
es dafür keine entsprechende Bezeichnung. Das englische
„Strawberrry Blond“ kommt dem annähernd nahe. Es meint
damit Blondinen, die einen Rotstich aufwiesen. Der Gedan-
ke gefiel mir sehr, dass außer mir vermutlich noch nie ein
Mann das an ihr bemerkt hatte.“
Während ich seine Beschreibung von mir las, hatte ich
unbewusst angefangen, mit einer Haarsträhne zu spielen.
Ich konnte es kaum glauben. In seinen Augen war ich tat-
sächlich schön und interessant. Doch wann war diese Nacht
des ersten Wiedersehens? War er mir als Wolf bereits zuvor
begegnet, konnte das sein? Ich blätterte zurück, weg von sei-
ner umfassenden Beschreibung von mir. Doch wo würde ich
es finden? Ich suchte nach seiner Rückkehr nach St. Hodas.
Nach ein paar Fehlversuchen fand ich den passenden Ein-
trag. Mit seiner, mir nun bereits bestens vertraut geworde-
nen Handschrift erzählte er von seiner Ankunft.
„Es war merkwürdig, wieder zu Hause zu sein, nach all
der langen Zeit. Ich konnte nur hoffen, dass dieser Versuch
nach Hause zurückzukehren, glimpflicher verlief als der letz-
te. Die Umzugsfirma hatte Lieferschwierigkeiten und so kam
es, dass meine Ankunft und der Beginn des Vollmondzyklus
nur einen Tag auseinanderlagen. Schlechtes Timing. Ich hat-
te gerade genug Zeit, um alle Kisten zu verstauen und das
Bett aufzustellen, bevor meine übliche Pein sich ankündigte.
182
Zum Glück war ich eine Woche zuvor, zur Besichtigung mei-
nes neuen ‚Reviers‘, bereits dazu gekommen, die Lagerplätze
einzurichten, die ich ja schon gut kannte. Ich beschloss in
der ersten Nacht, nicht zu weit vom Südlagerplatz entfernt
zu streunen, und drehte Runden um das ganze Dorf und die
Südhänge des Günser Gebirges. Die Nacht war sehr ruhig
und friedlich. In meiner Wolfsform war ich diesem Leben
nicht ganz so abgeneigt, wie ich es vehement als Mensch
war. Als Wolf kann man nicht umhin, die grenzenlose Frei-
heit zu bemerken, die einen anzieht wie das Mondlicht
selbst. Und lässt man seinen Instinkten auch nur kurz freien
Lauf, erkennt man sofort, dass man zum Rennen durch den
Wald geschaffen wurde, dass es die eigentliche Natur dieses
Wesens ist, zu dem ich seit über 75 Jahren werde. An jenem
Abend und in jener Nacht kämpfte ich nicht wie sonst ver-
bissen gegen meine Natur an und das machte mich etwas
waghalsig. Ich begann mich sogar nahe dem Waldrand auf-
zuhalten. Es war kurz vor Mitternacht und in keinem der
Häuser schien noch Licht, außer in dem etwas abgelegenen
Haus am Nordostrand des Dorfes. In diesem Haus brannte
noch Licht. Ein paar Kerzen und kleine Lampen strahlten in
die dunkle Nacht. Ich näherte mich dem Haus, das so ge-
legen war, dass zwei Seiten dem Wald zugewandt waren und
von der Straße und den entfernten anderen Häusern nicht
eingesehen werden konnten. Die Hausseite zur Straße hin
war komplett verdunkelt, nur auf meiner Seite, der Hinter-
seite zum Wald, gab es Licht. Es kam von einem Wintergar-
ten, eigentlich eine Glasfront, welche die nördliche Wand
ersetzte. Zwischen den vielen grünen Pflanzen, die die Sicht
nach innen erschwerten, konnte ich nun den Kerzenstän-
der und die beiden Standleuchter sehen, die den Lichtkegel
verursachten. Ich konnte nicht sagen, wieso, aber ich roll-
te mich in das hohe Gras vor dem Haus und beobachtete
den Wintergarten weiter. Ich hörte, wie jemand im Haus hin
und her ging, konnte aber keinen Herzschlag wahrnehmen,
denn dieser Jemand spielte laute Musik und übertönte damit
183
seine eigene Erkennungsmelodie. Noch sah ich niemanden.
Da waren nur diese schöne Gitarrenmelodie und die sanf-
te Männerstimme, die von einem Chor ab und an verstärkt
wurde. Die Lieder erinnerten an eine Mischung aus Folk
und klassischen Elementen mit einem modernen Touch. Ich
versuchte gerade in Gedanken, die anderen Instrumente, die
von den Musikern benutzt wurden, aufzuzählen, da sah ich
plötzlich eine Frau im Wintergarten erscheinen. Sie war groß
gewachsen, kurvig an den richtigen Stellen und schlank. Die
junge Frau trug nur einen schwarzen BH und einen schwar-
zen Slip. Sie war barfuß und schien mit ihren langen Beinen
eher über den Boden zu tänzeln als zu gehen. Ihre Haare
waren mit einer Klammer hochgesteckt und sie hatte einen
friedlichen, träumerischen Blick, der mich an Frauenbild-
nisse der Renaissance erinnerte. Ihre Gesichtszüge hatten
ohnehin etwas Klassisches. Ihre Haare schienen hell zu sein,
genau konnte ich es bei diesem diffusen Licht nicht sagen.
Ihre Arme waren schlank und zart. Sie bewegte sich sehr
anmutig durch den Raum, während sie immer wieder CDs
ansah, die sie neben die Stereoanlage legte. Sie spulte den
Song, der gerade lief, zum Anfang zurück und löste die Klam-
mer aus ihrem Haar. Eine wilde Mähne aus leicht gelockten
Haaren fiel ihr jetzt über die Schultern und bedeckte den
Ansatz ihres schwarzen BHs. Sie stellte sich in die Mitte des
Wintergartens und schien darauf zu warten, dass die Ein-
leitung des Liedes zu Ende ging und die eigentliche Melodie
begann. Ich starrte gebannt auf sie. Als der Gesang einsetzte,
streckte sie geschmeidig ihre Arme vom Körper und begann,
sich zur Musik zu bewegen. Anfangs dachte ich, dass es sich
um eine Art Tanz handeln würde, doch wie sie sich bewegte,
das war etwas ganz anderes, ganz Eigenes. Ihr ganzer Kör-
per formte die Bewegungen der Musik nach, als könne sie
die Töne und Klangfarben in körperliche Bewegungsabläufe
übersetzen, wie ich es mit Sprachen tat. Die Tanzbewegun-
gen ihrer Glieder vermischten sich mit Bewegungsabläufen,
die eher an Taekwondo oder Qui-Gong-Positionen erinner-
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ten. Ihre Arme formten die Form einer Kugel nach, wobei
ihre Hände sich dabei abwechselnd drehten und ihre Füße
dazu einen passenden Schritt taten, und waren es definitiv
nicht die Schritte einer Tänzerin, so waren sie dennoch im-
mer synchron zur Musik ausgeführt. Ihr Kopf drehte sich
tief in den Nacken, ihre Haarspitzen berührten das Ende
ihres Rückens. Ihre Hände fielen dabei anmutig zur Seite.
Der Harmonie-Gesang schien ihre Blöße völlig zu umgeben.
Durch den Kerzenschein strahlte ihre Haut geradezu und ich
war mir sicher, dass sie das Schönste war, was ich in meinem
langen Leben je gesehen hatte. Auf ihrem Gesicht spiegelte
sich die Stimmung eines jeden Stückes wider. Einmal traurig
und in sich gekehrt. Dann wieder offen und verträumt. Ich
schaute ihr eine volle Stunde lang hypnotisiert zu. Ich hätte
ewig so weiter machen können. Doch als die Musik zu Ende
ging und die CD abgespielt war, trat sie aus ihrer Position
und atmete nun deutlich schwer. Jetzt endlich hörte ich ihre
eigene Melodie, den leicht beschleunigten Herzrhythmus.
Das Erstaunliche war, ich kannte diesen Herzschlag bereits,
auch wenn ich nicht mehr wusste, woher. Sie pustete nun
die Kerzen aus, löschte das Licht und ging die Treppe hoch.
Im Haus konnte man nun nichts mehr sehen, nur ihr pul-
sierender Herzrhythmus war weiterhin zu hören, den ich
auswendig hätte nachsummen können. Ich kam aber nicht
darauf, wann ich ihn zuletzt gehört hatte. Diese schöne Un-
bekannte kam mir nicht im Mindesten bekannt vor. Ich war
mir sicher, sie noch nie im Leben zuvor gesehen zu haben,
und doch …“
Hier brach er wieder ab. Mein Herz schlug mir jetzt bis
zum Hals. Er schrieb über diese Frau, als wäre er verliebt
in sie. Und diese Frau war ich! Ich konnte gar nicht fassen,
was ich da las. War diese Frau, über die er schrieb, tatsäch-
lich ich? Ja, es stimmte schon, dass ich damals „getanzt“ hat-
te. Ich tat das manchmal, wenn ich ganz allein war, nur für
mich, und da der Wintergarten nur zum Wald hin eingesehen
werden konnte, machte es mir nichts aus, in Unterwäsche
185
herumzulaufen. Ich hatte ja damals nicht ahnen können,
dass ein Mann, in Form eines Wolfes, mein Treiben verfolg-
te. Es war mir über alle Maßen peinlich, dass irgendjemand
mich gesehen hatte, und dass es Istvan war, trieb mir die
pure Schamesröte ins Gesicht. Aber wie er mich beschrieb –
als schön. So hatte ich mich selbst noch nie gesehen. Ich
hielt mich eher für einigermaßen hübsch, nicht weiter au-
ßergewöhnlich. Wer hätte gedacht, dass mein halb nackter
Anblick in Verbindung mit den musikalischen Klängen der
„Fleet Foxes“ eine solche Wirkung auf einen Mann wie Ist-
van haben könnte. Also ich bestimmt nicht.
Im Vergleich mit Carla oder anderen schönen Frauen
kam ich mir zu farblos und durchschnittlich vor. Aber für ihn
schien ich gerade das nicht zu sein. Ich hatte auch noch nie
vermutet, aus einem Meer von Pfirsichtönen zu bestehen.
Was mich jedoch am meisten verblüffte, war, dass er tat-
sächlich diesen Farbton in meinen Haaren bemerkt hatte,
der selbst mir zu schwach schien, um aufzufallen. Liebte er
mich, kam es daher? Das wäre einfach zu schön, um wahr
zu sein.
Doch woher könnte er meinen Herzrhythmus bereits ge-
kannt haben und warum verschwieg er mir das alles bisher?
War es ihm zu peinlich, es mir einfach zu gestehen, oder hat-
te er Angst vor den unausweichlichen Konsequenzen? Wollte
er mir gegenüber nicht eingestehen, dass er mir zuerst als
Wolf und nicht als Mann begegnet war? Was steckte bloß
dahinter? Ich musste es wissen und las noch weiter, obwohl
ich eigentlich nur zu ihm wollte, um mich in seine Arme zu
stürzen.
„In der letzten Nacht der Verwandlung war ich sehr weit
gelaufen, und als ich im Nordlager ankam, war ich völlig
erledigt. Nach der Rückverwandlung fiel ich sofort, noch
immer im Wald liegend, in einen tiefen, unruhigen Schlaf.
Als ich aufwachte, war ich völlig verschwitzt, was mir merk-
würdig vorkam, da das Wolfsfieber hinter mir lag und ich
ansonsten nur dann schwitzen konnte, wenn mir eine Ver-
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wandlung bevorstand. Doch ich wusste, weshalb ich derart
verstört war. Im Traum erhielt ich die Antwort auf die Frage,
die mich die letzte Stunde beschäftigt hatte. Ich wusste jetzt,
ohne den geringsten Zweifel, woher ich den Rhythmus, die
Erkennungsmelodie dieser Frau kannte und ich konnte es
nicht fassen. Es war einfach zu unglaublich. Es war derselbe
Herzrhythmus, den ich 1989 gehört hatte. Der Herzschlag
des kleinen Mädchens, das ich damals aus dem Wasser ge-
zogen hatte. Wie war das möglich?“
Ich war sprachlos. Istvan war es. Er war es gewesen, da-
mals 1989, als ich sechs Jahre alt war. Istvan hatte mich geret-
tet, deshalb kam er mir so vertraut vor und deshalb fühlte ich
mich von Beginn an an seiner Seite so beschützt. Es schien
plötzlich alles einen Sinn zu ergeben. Dieses Gefühl der Ver-
trautheit und des Vertrauens, das aus dem Nichts zu kom-
men schien, hatte seine Wurzeln in diesem traumatischen
Tag. Ich wusste, zumindest zum Teil, was an diesem Tag mit
mir geschehen war, aber wie hatte er diesen Tag erlebt? Ich
erinnerte mich dunkel daran, mit meiner älteren Cousine am
Stausee gespielt zu haben und dass meine Eltern weg waren
und sie auf mich achtgeben sollte. Ich lief ihr wohl davon und
fiel irgendwie in den See. Ich konnte nicht schwimmen –
konnte ich auch jetzt nicht wegen dem, was damals passiert
war. Ich strampelte in dem kalten, trüben Wasser um mein
Leben und konnte vor Angst und Panik nicht um Hilfe ru-
fen. Ich weinte bitterlich und hatte unbändige Angst davor,
unterzugehen und zu ertrinken. Ich war erst sechs und meine
kleinen Beine konnten nicht genug Wasser verdrängen. Ich
hielt mich nicht lange an der Oberfläche und sank immer
tiefer in das kalte, dunkle Nass. Ich weiß nicht, wie lange
das so ging, aber ich wurde bewusstlos. Das Einzige, was ich
danach noch weiß, ist, dass irgendeine Hand nach mir griff,
dann wieder Dunkelheit. Ich spürte den kalten Luftzug auf
meinen nassen Haaren und den Druck von Händen, die mei-
nen Brustkorb pressten, und mit einem säuerlichen Schwall
trieben sie mir das Wasser aus dem Körper und ich atmete
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wieder. Einen Mann, der mich hielt, eine warme Umarmung
fühlte ich. Ich sah jedoch nichts. Ich erinnere mich an das
sichere Gefühl, das ich in den Armen des Fremden hatte.
Dann fühlte ich das Loslassen. Ich hatte noch immer die Au-
gen geschlossen. Danach hörte ich die angsterfüllten Schreie
meiner Eltern. Wir hatten nie erfahren, wer mich damals ge-
rettet hatte. Die Lokalzeitung schrieb dazu: „Unbekannter
Samariter rettet Kind vor dem Ertrinken.“ Ich hatte das alles
schon fast vergessen. Ich erinnerte mich nur daran, wenn
ich in der Nähe eines Sees war oder wenn ich wieder ein-
mal jemandem gestehen musste, dass ich nicht schwimmen
konnte. Istvan war also mein geheimnisvoller Retter aus der
Kindheit und gleichzeitig war er der erste Mann, in den ich
mich je verliebt hatte. Die Dinge konnten also tatsächlich
noch merkwürdiger werden. Wieso wollte er um jeden Preis
verhindern, dass ich erfuhr, dass er mir einmal das Leben
gerettet hatte, vor so vielen Jahren? Hatte er etwa Angst, ich
könnte ihm gegenüber anders empfinden, wüsste ich davon?
Ich musste die Geschichte aus seiner Sicht lesen. Ich suchte
nach Beiträgen aus dem Jahr 1989. Es gab ein paar davon.
Meistens waren es nur zutiefst deprimierende Eindrücke,
die die Welt auf Istvan ausübte, und Weltschmerz und Über-
druss strömten aus jeder Zeile. Dann fand ich es endlich.
„Frühsommer 1989. Ich war früher nach Hause ge-
kommen als geplant. Ich hatte es satt. Ich hatte alles satt.
1988 war schon zu viel gewesen. Ich konnte kein Jahr län-
ger so weitermachen. Der Plan war, zu Hause auf den Tod
zu warten. Ich würde mir ein Blockhaus in den Wäldern er-
richten und dann auf das Ende warten, auch wenn es noch
hundert Jahre oder länger dauerte. Ich zog mich vom Leben
zurück. Es brachte doch nur immer Enttäuschung und ver-
wehrte mir jede Erlösung von diesem Leben, in dem ich ge-
fangen war. Ich gab jede Hoffnung auf. Ich glaubte nicht
mehr an Heilung oder an irgendetwas Gutes, das die Welt
vielleicht für mich bereithielt. Es würde zu Ende gehen. Es
war lediglich eine Frage der Zeit.“
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Es tat mir in der Seele weh, Istvan so verzweifelt und
hoffnungslos zu wissen. Ich musste mich regelrecht zwingen
weiterzulesen.
„Gott hat mich wiedergefunden und ich, ich habe die
Hoffnung wiedergefunden. Heute ist ein Wunder gesche-
hen. Ich habe ein Mädchen gerettet. Ich habe einen Platz in
dieser Welt. Ich kann etwas bewirken, ich kann gut sein. Ich
werde diesem kleinen Mädchen für immer dankbar sein.
Ich traf auf das Kind ganz zufällig. Ich war gerade zu Fuß
auf dem Weg in eines meiner Basislager, um Vorräte nach-
zufüllen, da hörte ich die erstickten Schreie der Kleinen
unter Wasser. Ihr kleiner, hübscher Herzschlag wurde im-
mer leiser und schwächer. Ich rannte aus dem Wald hinter
dem Rohnitzer-Stausee und sprang in das Wasser. Niemand
schien den Todeskampf des Mädchens bemerkt zu haben.
Ich konnte, dank meines geschärften Blicks, die Konturen
ihres kleinen Körpers im Wasser ausmachen und schwamm
auf sie zu. Ihren winzigen Arm mit den schmalen Handge-
lenken erreichte ich zuerst. Ich zog sie an die Oberfläche,
doch ihren Puls konnte ich kaum noch hören. Ich brachte
sie so schnell ich konnte an den Rand des Wassers. Ich trug
ihren bewegungslosen Körper vom Wasser weg und legte sie
auf das feuchte Gras. Ich musste ihre Lungen vom Wasser
befreien und versuchte, es aus ihrem Brustkorb zu pressen.
Ich hatte Angst, zu fest zu pressen und ihr womöglich die
Rippen zu brechen. Doch schon beim dritten Mal spuckte
sie das Wasser aus und hustete heftig. Sie öffnete nicht ihre
Augen. Ihre kleinen Fäuste hielten sich an meinem nassen
Hemd fest. Ich versicherte ihr ständig, dass alles wieder gut
werden würde, dass sie jetzt wieder in Sicherheit wäre. Das
kleine, blonde Mädchen schien mir zu glauben, denn sie
schlief in meinen Armen erschöpft ein. Ich wollte ihr gera-
de meine Jacke umlegen, da hörte ich, wie schnelle Schritte
auf der anderen Seite des großen Stausees die Treppe rauf-
rannten. Ein Mann schrie: ‚Verdammt, du solltest doch auf
deine Cousine aufpassen und nicht auf der Straße Rad fah-
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ren, was ist bloß in dich gefahren?‘ Ich musste verschwin-
den, ehe mich jemand sah. Ich legte das Mädchen vorsichtig
ins Gras und lief in den Wald zurück, wo ich mich hinter
einem Baumstamm versteckte. Die Eltern stürzten erschüt-
tert auf das Mädchen zu. Die roten Haare der Mutter waren
vollkommen zersaust, als sie immer wieder das Mädchen in
den Armen wiegte, während sie bitterlich weinte. Ich konnte
nicht länger in der Nähe bleiben und ging zurück zu mei-
ner halb fertigen Hütte. Auf dem ganzen Heimweg dachte
ich an das kleine Mädchen, das keine Ahnung hatte, dass
es mir durch seine Rettung die Hoffnung selbst zurückge-
geben hatte. Die Welt hatte mich wieder und das nur, weil
das Leben dieses Mädchens in Gefahr gewesen war. Gottes
Wege schienen mir unergründlicher denn je. Doch wenigs-
tens konnte ich wieder fühlen, dass ich lebte. Ich würde aber
nicht hier bleiben können. Jemand könnte mich gesehen ha-
ben und wiedererkennen. Ich musste wieder weggehen und
erst dann wiederkommen, wenn niemand mehr am Leben
war, der sich an mich erinnern könnte.“
Plötzlich ergaben viele seiner Worte einen ganz anderen
Sinn. Er hatte solche Panik, dass mir etwas geschehen könn-
te. Besonders in der Nacht, in der ich ihn angefahren hatte.
Er schien sich für mein Leben verantwortlich zu fühlen, weil
er es gerettet hatte. Ohne Istvan wäre ich vermutlich seit
Jahren tot. Ich lebte nur weiter, weil es ihn gab. Ich musste
sofort zu ihm und ihm sagen, was ich fühlte, wie es in mir
aussah. Ich konnte nicht länger warten.
Ich lief aus meinem Haus. Die Tür ließ ich offen hinter
mir zurück. Ich hatte nur ein weißes T-Shirt und eine Jeans
an, doch die Kälte fühlte ich gar nicht. Das Einzige, was ich
in der Hand hatte, war das Notizbuch. Ich lief so schnell ich
konnte über den Waldrandweg und war in kürzester Zeit auf
seiner Veranda. Ich klopfte nicht einmal. Ich riss die Tür auf.
Sie krachte gegen die Wand. Er würde mich schon erwarten,
das wusste ich. Ich ging, ohne mich umzusehen, sofort ins
Schlafzimmer. Er war bereits da. Wartend. Auf mich. Ge-
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nau, wie ich es mir vorgestellt hatte, stand er jetzt mitten im
Raum. Ein unbestimmter, nervöser Blick trat auf sein Ge-
sicht, als er mich erblickte. Ich atmete schwer und meine
Lungen brannten von dem Sprint, den ich hinter mir hatte.
Als ich jetzt, genau in diesem Moment, seine grünen Augen
auf mir sah, mit all dem, was ich jetzt wusste, konnte ich
keine Sekunde mehr länger warten. Ich stürzte mich atemlos
auf ihn. Er fing meinen Ansturm ab und riss mich ebenso
leidenschaftlich in die Arme. Ich schlang meine Arme um
seinen Hals und presste meine Lippen, beinahe unsanft, auf
seinen Mund. Ich konnte kaum atmen. Mein dummes Herz
pochte so stark, dass es mein Atemproblem verschlimmer-
te. Ich konnte zuerst keine Reaktion von Istvan fühlen. Ich
dachte schon, ich hätte einen überstürzten Fehler begangen,
und versuchte, mich aus der Umarmung zu lösen, und wich
etwas zurück. Dann, endlich, bekam ich meine Antwort.
Seine heißen Lippen umschlossen meine und ich versuchte,
meinen Kopf schräg zu halten, um noch tiefer in seinen Kuss
zu stürzen. Ich hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen.
Eine wilde, heiße Spirale drehte sich in meinem Inneren.
Wie lange hatte ich nicht geatmet? Der einzige Atem kam
von Istvan. Heiße, süße Honigluft, die mich schwindelig
machte. Doch dann, ohne Vorwarnung, stieß er mich weg
und ließ mich mitten im Raum stehen. Er presste seinen Rü-
cken gegen die Wand, als ob er so weit wie möglich von mir
weg wollte, dann sagte er etwas, was mir die Seele in Stücke
zerriss. Seine grünen Augen funkelten mich dabei ernst an:
„Du musst dich nicht bei mir auf diese Art bedanken,
jetzt, wo du es weißt. Du schuldest mir nichts!“
Ich schuldete ihm nichts?! Was sollte das heißen? Wofür
hielt er mich und wofür hielt er meinen leidenschaftlichen
Kuss? Gar für ein Zeichen meiner Dankbarkeit?
Ich war außer mir. Die Leidenschaft, die noch kurz zuvor
in mir getobt hatte, kochte jetzt über und verwandelte sich
in unbändigen Zorn. Wut, die ich nicht kontrollieren konnte,
übermannte mich.
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Ich stellte mich dicht vor ihn. Vor lauter Zorn konnte ich
kaum atmen, so wütend war ich. Ich funkelte ihn finster an.
Ich hatte noch nie in meinem Leben jemanden absichtlich
verletzen wollen. Aber noch nie zuvor hatte mich jemand so
tief verletzt wie Istvan in diesem Moment. Mit aller Kraft,
die mir die Leidenschaft und die Wut nun verliehen, schlug
ich mit der flachen Hand auf seine Wange. Ich verpasste ihm
vor Enttäuschung eine Ohrfeige und zornige Tränen spran-
gen in meine Augen, als ich sah, dass mein Schlag seinen
Kopf zur Seite befördert hatte. Den körperlichen Schmerz
fühlte er vermutlich kaum, aber er sollte sich genauso elend
fühlen wie ich. Ich drehte mich um und wollte davonlaufen.
Doch ich tat es nicht. Tränen rannen jetzt mein Gesicht hi-
nunter. Wie konnte die Stimmung zwischen uns so schnell
umkippen? Ich konnte jetzt nicht aufgeben, auch wenn er
mich zutiefst gekränkt hatte. Jetzt oder nie.
Ich ging zurück zu ihm. Er lehnte noch immer schuld-
bewusst gegen die Wand, regungslos. Ich stellte mich ihm
nochmals gegenüber, diesmal abnorm dicht, sah ihm fest in
die Augen, durch einen Tränenfilm hindurch. Ich ergriff sei-
ne Hand, diese glühende Hand, und presste sie gegen meine
Brust, genau über meinem Herz. Mit angegriffener Stimme
schrie ich ihn an:
„Fühlst du das? Das bin ich. Deswegen habe ich dich ge-
küsst. Nur deswegen. Das hatte nichts mit meiner Rettung
zu tun. Das ist keine Dankbarkeit. Ich hätte dich auch ge-
küsst, wenn es anders gewesen wäre. Ich wollte dich schon
küssen, seit ich in der Küche zum ersten Mal deine Hand in
meiner hielt. Du behauptest, meinen Herzschlag so genau zu
kennen, wie kannst du das dann nicht hören? Fühlst du das
nicht?“, fragt ich nochmals verzweifelt und aufgelöst.
Mein Herz hämmerte unter Istvans zarten Fingern. Es
war unmöglich, dieses Pochen nicht wahrzunehmen. Er sah
mich traurig an. Seine Augen waren jetzt ein grüner, verlasse-
ner Wald, tief und unergründlich. Ich ließ seine Hand wieder
fallen und wollte, noch immer verletzt und wütend, gehen, da
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packte er mich zugleich an Schulter und Hüfte. Mit einem
einzigen Schwung war ich wieder in seinen Armen, dicht an
seinen Körper gepresst lehnte auch ich jetzt mit einer Schul-
ter gegen die Wand. Dann stürzte er sich auf mich. Er press-
te mich gegen die Wand, so heftig, dass ich sein Verlangen
nur mit einem Kuss abmildern konnte. Dieses Mal schien
Istvan derjenige ohne Atem zu sein. Seine Wärme war über-
all auf mir. Seine Hüften pressten sich gegen mein Becken
und drängten so dicht wie möglich an meinen Körper he-
ran. Meine Finger fuhren seinen langen, schmalen Rücken
hinunter und erkundeten die warme Haut unter dem grü-
nen T-Shirt. Seine Brust wärmte die meine so sehr, dass ich
fürchtete, einen Hitzschlag zu bekommen. Wir küssten uns
wieder und wieder, ohne aufhören zu können. Seine Hän-
de fuhren meine Arme entlang und meine ertasteten seinen
Hals und wühlten durch die Haare seines Hinterkopfs. Als
er meine Hüften mit seinen Armen umschloss, wagte ich es
endlich, meine Lippen zu bewegen. Der sinnliche Druck sei-
ner Küsse wurde damit noch intensiver. Als uns beiden die
Luft ausging, ruhten wir uns, schwer atmend, an die Stirn
des anderen gelehnt aus. Er hielt jetzt mein ganzes, schweres
Haar in meinem Nacken zusammen und fuhr mit der Nase
meinen Scheitel entlang, ganz sanft. Ich umarmte ihn und
vergrub mein Gesicht in seiner Brust. Ich war, zum ersten
Mal in meinem Leben, vollkommen glücklich und erschöpft
zur gleichen Zeit.
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