12. Herzrhythmus
Ich wusste gleich, dass die Idee, meine CD-Besprechungen
bei Istvan zu schreiben, nicht so gut war. Schließlich muss-
te ich mich konzentrieren und die CDs durchhören. Dabei
konnte man sich nur schlecht miteinander unterhalten.
Auch war es schwer und kostete mich einige Überwindung,
mich in seiner Nähe auf etwas anderes zu konzentrieren als
auf ihn. Aber nach dem ersten holprigen Hallo lief es dann
eigentlich ganz gut. Ich war durch die Gartenlaube gekom-
men und niemand hatte mich gesehen.
Es war Mittwochnachmittag und alle blieben anscheinend
zu Hause. Meinen Laptop stellte ich auf den Schreibtisch und
packte die drei CDs aus, für die ich noch die Kritik fertigma-
chen musste. Er hatte sich einige Bücher geholt, die er wäh-
renddessen lesen wollte. So fingen wir also, im selben Raum,
mit unserer jeweiligen Arbeit an. Doch schon nach den ersten
Zeilen, die ich geschrieben hatte, konnte ich seinen Schatten
auf dem Display meines Laptops sehen. Er stand die ganze Zeit
hinter mir und las jedes Wort mit, das ich tippte. Ich bemerkte
ihn nicht gleich, schließlich hatte ich die Kopfhörer auf.
„So werde ich es nicht mal bis zum ersten Absatz schaf-
fen“, ließ ich ihn wissen.
„Ich bin sicher, du gewöhnst dich dran. Und wenn nicht,
fällt mir einiges ein, womit ich dich so richtig ablenken
kann“, feixte er neckisch.
Ich wusste gleich, an diesem Nachmittag würde ich nicht
besonders produktiv sein. Aber er war offenbar an meiner
Arbeit interessiert, weil er gleich über die wenigen Zeilen,
die ich bereits abgetippt hatte, etwas wissen wollte:
„Warum sagst du hier, dass der Musiker zu sehr versucht,
nach Jeff Buckley zu klingen? Ist das gut oder schlecht?“
212
„Je nachdem. Willst du das wirklich wissen?“, fragte ich
ihn erstaunt.
„Ich will eigentlich nur wissen, wieso dir Musik so viel
bedeutet“, erklärte er mir.
Also erzählte ich ihm davon, dass Klänge und Stimmen zu
meinen ersten Erinnerungen gehörten und wie ich deshalb
schon immer eine Neigung zur Musik verspürt hatte, die für
mich etwas ganz Natürliches war.
Und er erzählte mir von den großen Orchestern, die er
auf seinen Reisen gehört hatte. Wie diese oder jene Oper sei-
ne Bewunderung errang. So kam es, dass Istvan mir im Laufe
des Nachmittags von seiner Vorliebe zur klassischen Musik
erzählte und dass er vor allem Jazz und Blues am meisten
schätze.
Das erklärte auch, warum seine Plattensammlung bei Bob
Dylan endete. Ich wollte ihm klar machen, dass ich nicht das
Geringste gegen seinen Musikgeschmack einzuwenden hat-
te, und sagte ihm:
„Ich liebe klassische Musik auch, das weißt du. Schließ-
lich gehört sie zu den ersten Klängen, die ich überhaupt ge-
hört habe. Meine Mutter spielte mir ständig Mozart, Bach
und Beethoven vor, da konnte ich noch nicht mal laufen.
Und außerdem liebe ich klassische Musik schon allein des-
halb, weil ich ohne sie nie zu meiner ersten großen Liebe
gekommen wäre.“
Nach seinem Gesichtsdruck zu schließen, schien er das
nicht ganz zu verstehen.
„Na ja, ohne Liebe zur Musik wäre ich nie auf die Rock-
Musik gestoßen. Meine erste große Leidenschaft!“
„Hm“, murmelte er und legte dabei sein Gesicht schräg
zur Seite, als führe er etwas im Schilde.
„Dann müssen wir uns wohl in der Mitte treffen, wenn es
ums Tanzen geht“, verkündete er mir.
„Tanzen?“
„Ja, genau. Und ich werde kein Nein gelten lassen“, sagte
er ernst mit hoch gezogener Augenbraue.
213
„Na gut, wenn das so ist – ich ergebe mich!“, tönte ich
pathetisch und hob die Hände hoch, als würde ich mich der
Polizei stellen.
Er verließ amüsiert den Raum und kam nach ein paar Mi-
nuten mit ein paar alten, abgegriffenen Platten wieder. Alles
Jazz- und Swingplatten. Istvan hielt sie mir vor die Nase und
wollte, dass ich eine davon auswählte.
„Ich lasse mich gerne überraschen.“
Er drehte mir den Rücken zu und legte eine der Schall-
platten auf den Plattenteller. Ganz plötzlich stand Istvan
dann mitten im Zimmer, mit ausgestreckten Armen ahmte
er einen Tänzer nach, der in Position geht und nur noch auf
seine Partnerin wartet. Ich wurde nervös und dachte, es wäre
vielleicht besser, ihm vorher von meinem kleinen „Tanzprob-
lem“ zu erzählen:
„Ich warne dich lieber vor. Ich neige dazu, öfter mal die
Führung zu übernehmen.“
„Damit komme ich klar“, versicherte er mir mit zwei-
deutigem Tonfall und führte währenddessen meine Arme
in die richtige Position. Sobald ich vor ihm stand, fiel die
Nervosität von mir ab. Der Plattenspieler knackte und die
Nadel machte die letzte Runde auf einer leeren Spur, bevor
sie mit einem weiteren Knacks begann, die Melodie abzu-
lesen. Schon nach den ersten beiden Takten erkannte ich
den Song: Heaven – dancing cheek to cheek.
Istvan hatte gut gewählt. Ich mochte den alten Song wirk-
lich sehr.
Wir bewegten uns ganz langsam zur Musik, wobei er im-
mer wieder kleine, präzise Tanzschritte vollführte, die ich
leicht zögerlich wiederholte.
Es war ein kleines Wunder. Ich ließ ihn tatsächlich füh-
ren.
Als das Lied zur Stelle mit dem Refrain kam, legte er sei-
ne Wange an meine und sang flüsternd die passenden Lied-
zeilen dazu.
„… Now were dancing cheek to cheek …“
214
Meine Wange glühte.
So tanzten wir zwei oder drei Nummern lang. Ich hatte
bis dahin eigentlich nicht viel für fürs Tanzen übrig gehabt,
zumindest nicht für Gesellschaftstanz. Aber das hier war ein-
fach nur himmlisch: „Heaven, I’m in heaven“, sang ich leise.
Als die letzte Nummer der Plattenseite gespielt war, stan-
den wir noch eine ganze Weile in Tanzhaltung da. Wie zwei
Statuen. Es war schwer, sich aus dieser Position zu zwingen,
aber das Brummen meines Handys holte mich wieder auf
den Boden zurück. Ich löste mich aus seiner Umarmung,
ging zum Schreibtisch zurück und nahm den Anruf an.
Es war mein Redakteur vom Online-Musikmagazin. Er klang
aufgeregt. Er hatte sich mit den Deadlines verzettelt und
brauchte zwei meiner drei Besprechungen bis heute Abend
und nicht bis morgen. Ich versicherte ihm, dass es kein Prob-
lem für mich sei, rechtzeitig fertig zu werden. Er bedankte
sich und legte abrupt auf. Istvan hatte natürlich die ganze
Zeit mitgehört und wusste genau Bescheid.
„Alles klar. Ich werde besser gehen, damit du in Ruhe fer-
tig werden kannst. Am besten spaziere ich runter zur Biblio-
thek und sortiere die zurückgegebenen Bücher. Das dauert
vielleicht eine Stunde. Reicht dir das?“, fragt er mich.
„Ja, in ein oder zwei Stunden bin ich bestimmt fertig“,
stellte ich klar.
Er schnappte sich seine braune Jacke und war sofort aus
der Tür. Und sobald er aus dem Zimmer war, flossen die
Worte nur so aus mir raus. Ich brauchte nicht mal das ganze
Album durchzuhören. Sofort hatte ich die passende Bemer-
kung parat. Ich bemühte mich, so schnell wie möglich fertig
zu werden, damit ich mich ganz ihm widmen könnte, sobald
er wiederkommen würde.
Der Schuss ging nach hinten los. Ich war nach einer knappen
Stunde bereits fertig und hatte meine Texte schon gesen-
det, doch er war noch nicht zurück. Die Minuten vergingen
215
schleppend und er würde mir natürlich die vollen zwei Stun-
den geben, die ich verlangt hatte. Verdammt. Jetzt hieß es
warten. Wie ich das hasste und ich war darin ganz schlecht.
Schon nach zehn Minuten langweilte ich mich und ich be-
gann erneut, in seinen Sachen zu kramen. Ich ermahnte
mich nochmals, nicht so neugierig zu sein, und setzte mich
geistesabwesend ans Fenster. Es wurde bereits dunkel und
es hatte begonnen zu nieseln. Ich war so gefangen vom An-
blick der verregneten Dämmerung, dass ich die Tür gar nicht
hörte.
Er kam von hinten auf mich zu, während ich dem Regen
zusah, der immer wieder von seinem Fenster perlte. Sanft
legte er seine Lippen in die Kuhle zwischen meinem Hals
und meinem Nacken, wobei sein Ohr immer wieder meinen
Hals streichelte.
„Was machst du da?“, fragte ich ihn mit verhaltenem Lä-
cheln.
„Pscht“, flüsterte er ganz leise und verträumt.
„Du störst doch auch keinen Geiger, wenn er gerade Mo-
zart lauscht!“
Jetzt erst dämmerte es mir. Er streifte sein Ohr absicht-
lich gegen meine Halsschlagader, um meinen Herzrhythmus
deutlicher hören zu können. Für seine übersensiblen Ohren
musste mein Herzschlag die Lautstärke eines Zehn-Mann-
Orchesters haben.
Als mir bewusst wurde, was er da tat, reagierte ich auf die
übliche Weise. Mein Puls begann zu rasen.
„Allegro vivace!“, kommentierte er und ich konnte deut-
lich ein Lächeln auf seinen Lippen fühlen, die immer weiter
meine Schulter ertasteten.
„Scht …“, begann er mich erneut sanft zu ermahnen und
wippte in beruhigendem Rhythmus seinen Körper leicht hin
und her. Kaum wahrnehmbar, wie von selbst, stimmte mein
Körper in den Rhythmus der Bewegung mit ein. Ich schloss
dabei die Augen und hatte das Gefühl, in einem Traum zu
schweben. Mein Pulsschlag senkte sich wieder.
216
„Andante piano!“, stellte er befriedigt fest.
„Ich habe heute noch kein „Allegro forte“ gehört!“, be-
schwerte er sich mit seiner tiefen, samtenen Stimme im
Flüsterton.
Dann presste er sich mit seinem ganzen Körper gegen
meinen. Meine Schultern lehnten an seiner Brust, meine
Hüften an seinen schmalen Hüften, und Wärme lag überall
auf mir. Als er dann noch seine Arme um meinen Oberkörper
schlang und mich noch fester an sich zog, bekam er dann
seine Wunschmelodie.
„Allegro mezzo forte!“
Doch offenbar hatte er sich bereits völlig in meiner Me-
lodie verloren, denn anstatt weiterhin gebannt zu lauschen,
fasste seine warme, heiße Hand nach meiner Wange, um
meinen Kopf so weit nach hinten drehen zu können, dass
seine Lippen die Meinen erreichen konnten. Würde er mich
jetzt küssen, wäre es vorbei mit einem „klassischen“ Herz-
rhythmus. Vielmehr würde ein rasender Rock Beat meine
Brust sprengen.
Als er es dann tat, als er seine Lippen auf meine presste,
um seinen heißen Atem mit meinem ohnmächtigen Atem zu
vermischen, hämmerte es so stark gegen meine Brust, dass
ich meinte, mein Gehör wäre beinahe so empfindsam wie
Istvans. Denn das Blut rauschte in meinen Ohren, laut, wie
ein stürmischer Ozean, und mein Herz pochte: dadam, da-
dam, dadam.
Er verringerte den fordernden Druck seiner Lippen, gera-
de so viel, um mir schmunzelnd zu verkünden:
„Ich fürchte, ich brauche heute noch ein paar Ohrstöp-
sel!“
Wobei sein Mund meinen nie wirklich verließ. Ich muss-
te ebenfalls grinsen und sagte ihm scherzend:
„Hey, das ist ganz alleine deine Schuld.“
Kaum hatte ich meine vorwurfsvolle Bemerkung ausge-
sprochen, suchte mein Mund erneut nach seinem warmen
Kuss. Doch diesmal ließ ich mich nicht von meinen Herz-
217
rhythmusstörungen oder seinen Spitzohren einschüchtern
und stürzte mich ganz in unseren Kuss. Mit verschweißten
Mündern drehten wir unsere Körper einander zu. Jetzt, wo
wir uns gegenüberstanden, konnte ich endlich meine Arme
um seinen Hals schlingen, um die Forderung meines Kusses
zu verstärken.
Er antwortete sogleich, indem er seine Hände in meinen
Haaren vergrub. Ich konnte nicht länger warten und öffnete
leicht meinen Mund. Meine Zunge drängte sich in seinen
brennend heißen Mund und traf dort auf seine fiebernde
Zunge.
Wir waren sehr lange auf diese Art ineinander verschränkt,
in einem nicht enden wollenden Kuss, der mir den Atem und
den Verstand raubte. Als ich versuchte, gierig nach Luft zu
schnappen, bemerkte ich, dass mein ganzer Körper schwitz-
te, als hätte ich die Hitze einer Wüste leidenschaftlich ge-
küsst.
Sofort wollte ich mich erneut in einen weiteren Kuss stür-
zen, doch er hielt mich von sich weg und sah mich mit be-
sorgtem, stechendem Blick an. Er fuhr mit der flachen Hand
über meine Stirn und sagte erschrocken:
„Joe, du glühst ja!“
„Schon gut. Mir geht’s gut. Sehr gut sogar“, versicherte
ich ihm und griff nach seinem Hemdkragen in der Absicht,
ihn erneut an mich zu drücken.
„Joe, ich glaube, du hast Fieber. Meinetwegen.“
„Das bisschen Hitze bringt mich schon nicht um. Ich bin
zäher als ich vielleicht aussehe“, deklarierte ich förmlich.
„Joe!“, ermahnte er mich. Jetzt hatte er wieder diesen Ton
der Schuld in seiner Stimme.
„Wir müssen aufhören! Wir versuchen es in ein paar Ta-
gen, wenn wir Neumond haben. Dann sinkt meine Körper-
temperatur auf unter 38 Grad Celsius“, erklärte er mir.
Ich wollte nicht so lange warten. Sah er denn nicht, spür-
te er denn nicht, dass ich nicht das Geringste gegen ein we-
nig Fieber einzuwenden hatte?
218
„Ich mag deine Wärme“, gab ich ihm zu verstehen und
legte dabei meine rechte Hand auf seine Brust. Er legte sei-
ne Hand darauf und schloss die Augen. Nach einem langen
Seufzer gestand er mir.
„Ich kann nicht so mit dir zusammen sein, wie ich es
möchte, wenn ich mir dabei ständig Sorgen machen muss,
dass du deswegen zwei Wochen lang mit Fieber im Bett
liegst.“
Seine grünen Augen funkelten bei jedem Wort voller auf-
richtiger Sorge, die mich ganz verlegen machte.
„Ja, du hast recht. In unserer ersten Nacht sollst du dich
ganz fallen lassen können und ich will nicht, dass du dir Sor-
gen machst. Wir warten auf den Neumond.“
219
13. Neumondnächte
Warten. Eine kaum zu bewältigende Aufgabe für jemanden,
der nicht besonders viel Geduld besitzt. Und drei volle Tage
schienen einfach zu lange zu sein. Aber die Abmachung
stand. Ich lenkte mich ab, mit Arbeit, mit Schreiben. Es half
alles nichts. Das Einzige, woran ich denken konnte, war die
herannahende Neumondnacht und all das Neue und Unbe-
kannte, was sie mit sich bringen würde.
Doch auch wenn es mir schwerfiel, es mir einzugestehen,
mit jedem weiteren Tag hatte ich eine bisschen mehr Angst.
Es ging schließlich nicht um irgendeine Nacht mit irgend-
einem Mann. Es war eine Nacht mit Istvan, einem ganz be-
sonderen Mann, besonders in so ziemlich jeder Hinsicht.
Es gab viel zu beachten, viel zu fürchten wie zu erwarten.
Ich konnte mir nicht vorstellen, was erlaubt sein, was er mir
gestatten würde. Beim letzten Versuch, wenn man es einen
Versuch nennen konnte, hatte er mich zurückgewiesen. Aus
Rücksicht zwar, aber es war dennoch eine Zurückweisung.
Mir hätte es nicht das Geringste ausgemacht, ein paar Tage
mit Fieber im Bett zu liegen, wenn der Grund dafür Ist-
vans Bettgesellschaft gewesen wäre. Aber wie sollte ich die
Nerven behalten, wenn es tatsächlich dazu kommen sollte?
Schon bei dem Gedanken daran stieg in mir wilde, kaum
zähmbare Nervosität auf, die sich mit schwindelnder, zittri-
ger Aufregung mischte. Wie sollte ich in Istvans Nähe weiter
atmen? Wie sollte mein Herz nicht meinen Brustkorb spren-
gen, würde er mich vollkommen nackt berühren? Wie?
Die Tatsache, volle drei Nächte zur Verfügung zu haben,
in denen man nichts anderes tun konnte, als schlaflos zu
grübeln und mich immer weiter in Rage zu denken und so-
gar zu träumen, war zermürbend. Es half auch wenig, dass
220
wir verabredet hatten, die letzten beiden Tage und Nächte
vonei nander getrennt zu verbringen, um es uns leichter zu
machen. „Das Gefahrenpotenzial minimieren“, nannte Ist-
van es. Ich nannte es beim Namen – Folter.
Von quälender Natur waren vor allem meine Träume. Es
blitzten Bilder eines jagenden Wolfes darin ebenso auf wie
Bilder eines zärtlichen und eines ungestümen Istvan, die grü-
nen Augen immer über mir, immer auf mir. Wir belauerten
uns gegenseitig wie zwei Tiere, unschlüssig darüber, ob wir
uns ineinander verschlingen oder einander verzehren soll-
ten. Es gab auch andere Träume, weit gefährlichere. Träume
eines Istvans, der von mir wegging, der mich unverwandt an-
sah, als bedeutete ich ihm gar nichts. Als ich aufgewacht war,
schämte ich mich für meine Träume. Aber ich sagte mir, dass
auch das Begierde sei und diese Träume erst verschwinden
würden, wenn ich das Feuer löschte, das lichterloh in mir
brannte. Nur, Istvan war kein kühler Ozean, er war ein Flam-
menmeer, das Feuer selbst. Wie sollte ich verhindern, darin
zu verbrennen, dass wir beide daran verbrannten? Doch im
Grunde meiner Seele wollte ich es. Ich wollte brennen. Zu-
sammen mit ihm. Mit Istvan wollte ich zur Flamme werden
und ich würde irgendwie den Mut dazu finden, ohne Angst
ins Feuer zu gehen.
Der letzte Tag war gekommen. Ich hatte wieder einmal unru-
hig geschlafen. Mittlerweile zählte ich sogar schon die Stun-
den, fast wie ein Kind an Heilig Abend kurz vor der Besche-
rung. Und ich war ebenso ungeduldig und übernervös. Auf
der Bank hatte ich dann eine Rolle Münzen fallen gelassen.
Die einzelnen, kupfernen Geldstücke lagen überall verstreut
auf dem Boden. Alle Kunden drehten sich sofort um und
sahen mir dabei zu, wie ich beschämt das Geld aufsammelte.
Ich hoffte inständig, in der kommenden Nacht weniger un-
geschickt zu sein. Ich konnte es noch nicht einmal ertragen,
Musik zu hören, was mich sonst immer beruhigte. Doch ich
hatte schon einen Grad an innerer Anspannung erreicht, bei
221
dem nichts mehr half. Zu allem Überfluss musste ich auch
noch zum Sonntagsessen zu meinem Bruder. Ich befürchte-
te, sie könnten mir ansehen, dass ich kurz vor dem Ausrasten
stand. Aber sie taten es nicht. Carla hätte es bestimmt sofort
bemerkt. Gut, dass sie gerade einen Wochenendausflug mit
Christian unternahm. So kam ich erst gar nicht in Versu-
chung, sie anzurufen und um weiblichen Beistand zu bitten.
Ich hätte es ohnehin nicht gekonnt.
Während des gesamten Essens hatte Paula von ihren
neuen Skiern geschwärmt und von den Skiausflügen, die ihr
Viktor versprochen hatte, im Laufe dieses Winters mit ihr zu
unternehmen. Mein Bruder schien sich über ihre Begeiste-
rung dabei noch mehr zu freuen als Paula selbst. Das war ty-
pisch für ihn. Es machte ihm immer mehr Freude zu schen-
ken als beschenkt zu werden. In diesem Punkt ähnelten wir
uns sehr. Viktor hatte sich noch nie für mein Liebesleben
interessiert, wofür ich dankbar war. Aber irgendetwas sagte
mir, dass er mit meiner, zugegeben „exotischen“, Männer-
wahl nicht einverstanden wäre.
Ich glaubte sogar, niemand außer mir könnte tatsächlich
verstehen, was mich all diese Risiken eingehen und all die-
se Hürden überwinden ließ. Seltsam daran war nur, dass es
mir im Grunde ganz anders vorkam. Dass ich dankbar war
für dieses außergewöhnliche Geschenk und dass ich es gar
nicht anders hätte haben wollen. Denn wenn man es genau
nahm – würde man auch nur eine Variable ändern, ein klei-
nes Ereignis aus der Chronologie der Dinge und Abläufe ent-
fernen, wären Istvan und ich nicht mehr das, was wir waren.
Doch was wir waren, war im Begriff, sich zu verändern, noch
tiefer zu gehen. Ich musste nur noch ein paar Stunden war-
ten. Nur ein paar Stunden mehr.
Am selben Abend noch drehte ich vollends durch. Was sollte
ich bloß tragen? Wie mich verhalten? Ich hatte Angst, etwas
Falsches zu sagen, etwas, das die Stimmung ruinieren könn-
te. Er kannte bereits meine Neigung zu unangebrachten
222
Scherzen in Stresssituationen. Ich wünschte mir verzweifelt,
einmal die Klappe im richtigen Moment halten zu können.
Ich entschied mich baden zu gehen und hoffte, das kühle
Wasser würde mich etwas erfrischen. Als ich nochmals an-
fing, meine Haare einzushampoonieren, bemerkte ich, dass
ich sie bereits gewaschen hatte. Beruhige dich endlich, sagte
ich mir ständig. Aber es half nichts.
Das blutrote Top und den schwarzen Rock, die ich zuvor
sorgsam auf das Bett gelegt hatte, betrachtete ich lange prü-
fend und legte dann beides wieder in den Schrank zurück.
Wollte ich denn wirklich derart zurechtgemacht wirken?
Nein. Ich legte alle schicken Klamotten, nicht gerade vie-
le, wieder zurück in den Kleiderkasten. Blöde Idee, tadelte
ich mich selbst. Nur hatte ich nun keinen blassen Dunst,
was ich sonst anziehen sollte. Ich wusste nur, dass ich nicht
als jemand anderes zu ihm gehen wollte. Ich wollte schon
aussehen wie ich selbst. Also tat ich, was wohl jede ande-
re Frau sorgsam vermieden hätte, ich nahm mir die, zuvor
bereits getragene, schwarze Jeans und schnappte mir noch
das dunkelrote, engere Langarmshirt mit dem Spitzenbesatz,
von dem er mir einmal gesagt hatte, es würde gut zu meinem
Pfirsichteint passen. Das würde gehen. Es blieb mir sowieso
nicht mehr viel Zeit.
Ich bürstete meine Haare nochmals und legte etwas röt-
lichen Lippenstift auf, nur um ihn dann wieder fast gänz-
lich abzuwischen. Ich wollte kein künstliches Lippenrot, ich
brauchte ein bestimmtes Rot auf meinen Lippen, das man
nur von endlos gierigen Küssen bekam.
Es war Zeit zu gehen. Ich ging in die Küche, um meinen
schwarzen Wintermantel und die Handschuhe zu holen. Da
sah ich, dass draußen ein kleiner Sturm tobte. Es war stock-
finster und der Wind rüttelte an den Bäumen und am Fens-
ter. Ich würde auch einen Schal brauchen. Ich musste zu
Fuß gehen, wie üblich, und wollte nicht mit völlig zerzausten
Haaren bei ihm ankommen. Also zwirbelte ich meine Haare
zusammen und stecke sie mit einer Klemme hoch. Ich nahm
223
kein Handy mit, nichts sollte die heutige Nacht stören. Ich
verschloss das Haus und steckte den Schlüssel in die Man-
teltasche. Plötzlich war ich innerlich ganz ruhig. Ich konnte
nicht sagen, woher diese Ruhe gekommen war, damit hatte
ich nicht gerechnet. Den ganzen vertrauten Weg lang hielt
dieses Gefühl an, so als wäre es einer der anderen Besuche,
nicht weiter außergewöhnlich. Ich vermutete, es hätte etwas
mit Selbstschutz oder Verdrängung zu tun.
Doch als ich vor seinem Haus stand, im Garten, und nach
der Türklinke griff, war es vorbei mit der Ruhe. Mein Ma-
gen krampfte sich nervös zusammen und ich wusste, ich war
noch nicht soweit, ich war zu aufgeregt. Ich ließ das Me-
tall unter meinen Fingern wieder los und ging zurück zum
Gartentor, das ich ebenfalls nicht durchschreiten konnte.
Ich stand also mitten im Garten zwischen der Entscheidung:
gehen oder bleiben. Beides konnte ich nicht. Ich hoffte in-
ständig, dass seine Sinne mich noch nicht bemerkt hätten,
dass er nichts von meinem Zaudern mitbekäme. Er sollte auf
keinen Fall sehen, wie unschlüssig und lächerlich ich mich
benahm. Ich ging wieder zurück zum Haus, machte ein paar
tiefe Atemzüge und öffnete die Hintertür. Er stand nicht
sofort vor mir, wie meistens. Das machte es etwas leichter,
langsam den Flur entlangzugehen. Ich ging nicht direkt ins
näher gelegene Schlafzimmer, das wäre zu forsch gewesen.
Das Wohnzimmer schien mir als erster Treffpunkt viel be-
ruhigender und dort fand ich ihn auch. Er stand mitten im
Zimmer, wie es seine Angewohnheit war. Es brannten keine
Lichter. Istvan hatte aber zwei Kerzenleuchter angezündet,
sodass der Raum in ein warmes Kerzenlicht getaucht war.
Das flackernde Licht erlaubte mir nicht, aus der Entfer-
nung seinen Gesichtsausdruck genau zu beobachten. Er war
schweigsam, begrüßte mich nicht einmal. Ob er ebenso auf-
geregt war und seine Aufregung ihn verstummen ließ? Ich
wusste es nicht. Was ich wusste, war, dass ich in seine Augen
sehen musste, um darin zu lesen, aber dazu musste ich näher
kommen. Ich näherte mich Istvan langsam und vorsichtig.
224
Mit jedem Schritt, den ich auf ihn zutat, pochte mein Herz
etwa lauter, aber er grinste deswegen nicht, wie er es sonst
tat. Das beunruhigte mich. Er trug nur ein helles Baumwoll-
hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine Jeans. Durch
das Kerzenlicht schimmerte die Farbe seiner Haut durch das
leichte Hemd hindurch. Als ich mich ihm auf Armlänge ge-
nähert hatte, bemerkte ich seinen durchdringenden Blick,
der mir den Atem erneut verschlug. Seine grünen Augen
schimmerten durch das diffuse Licht fast dunkel. Ich konn-
te fühlen, wie mir das Blut in die Wangen schoss und meine
Haut brennen ließ. Würde er mich jetzt berühren, käme ich
ihm fast genauso heiß vor wie er mir?
Es gab also wieder dieses unerträgliche Schweigen zwi-
schen uns. Nur, dieses Mal löste es nicht das Unbekannte
aus, das unergründlich vor uns lag, sondern die Gewissheit
dieser Nacht, die uns beide verlegen machte.
Ich konnte nicht sagen, was diesen Schwebezustand
durchbrochen hatte, doch völlig aus dem Nichts kam er auf
mich zu. Ich dachte, so stürmisch, wie er auf mich wirkte,
würde er mich an sich reißen und dann küssen. Doch es sollte
anders kommen. Istvan stürmte zwar auf mich zu, doch dann
umarmte er meine Hüfte und presste mich gegen seinen war-
men Körper, den ich selbst durch den dicken Mantel deutlich
fühlen konnte. Meinen Kopf legte ich zwangsläufig in den
Nacken, um in sein Gesicht sehen zu können. Er starrte mich
lang an, mit einem angestrengten, fast schon schmerzhaften
Ausdruck. Sein linker Arm umklammerte weiter meine Hüf-
te, während seine rechte Hand hinter meinen Kopf fuhr, um
die Klammer aus meinem Haar zu lösen. Meine Haare schie-
nen mir plötzlich tonnenschwer auf den Rücken zu fallen. Er
nahm sie wieder zwischen seine Finger, hielt sie in meinem
Nacken zusammen und schnupperte daran. Dafür musste er
seinen Kopf auf meine Schulter legen. Die leichte Berührung
mit meiner Haut raubte mir den Atem und beschleunigte
meinen Puls erneut. Er flüsterte mir mit seiner tiefen Stim-
me, die er anscheinend wiedergefunden hatte, ins Ohr:
225
„Der Duft deiner Haare zusammen mit deinem Herzra-
sen! Eine unwiderstehliche Kombination. Berauschend ge-
radezu“, wisperte er und ich konnte an seiner Stimme hören,
dass er dabei lächelte. Das gab auch mir wieder die Fähigkeit
der Sprache zurück.
„ Berauscht bin ich ebenso“, gestand ich ihm und flüster-
te ebenfalls in sein Ohr. Meine Stimme war dabei schwach
und konnte die Aufregung nicht verbergen. Es war sowieso
sinnlos, irgendetwas vor Istvan zu verbergen, was meinen
Gefühlszustand in diesem Moment anging, denn mein Herz
sprach Bände.
„Ich hätte nicht gedacht, dass es so sein könnte“, meinte
er plötzlich, fast abwesend. Er sprach in die Dunkelheit hi-
nein.
„Was meinst du?“, fragte ich verwirrt und musste mich
sehr zusammennehmen, um mich auf eine winzige Frage zu
konzentrieren.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich in diesem Leben jemals
einer Frau so nahe kommen würde. Ich hätte es nie für mög-
lich gehalten, damals, als ich dich im Wintergarten gesehen
habe, dass ich jemals der Mann sein dürfte, der mit dir zu-
sammen ist. Aber jetzt, in diesem Moment, fühlte es sich
richtig an.“ Während er mir das sagte, zog er mir den Mantel
aus und befreite mich von meinen Handschuhen. Als er mei-
ne Hände aus dem Leder gezogen hatte, legte er sie mir auf
seine Brust und ich konnte auch seinen rasenden Herzschlag
spüren. Das schaffte etwas Ausgleich zwischen uns und rang
mir ein nervöses Lächeln ab, das mich etwas entspannte. Ich
konnte noch etwas anderes fühlen. Trotz der Neumondnacht
war seine Brust noch immer warm genug, um unter meinen
Fingern zu glühen. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie sei-
ne bloße Haut sich anfühlen würde, was ich kaum noch er-
warten konnte.
„Sollten wir nicht ins Schlafzimmer gehen?“, fragte ich
plötzlich und war über meine eigenen Worte erstaunt, ge-
schockt über meine eigene Kühnheit. Es schien Istvan aber
226
zu gefallen, dass ich die Initiative ergriff. Er zog mich sofort
heftig am Arm und stürmte mit mir zuerst den Flur entlang
und brachte mich dann in sein Schlafzimmer, in dem eben-
falls zwei große Standkerzen brannten. Ich ging durch die Tür
bis zum Ende des Bettes und blieb dort stehen. Als ich mich
umdrehte, sah ich, dass Istvan an der Wand neben der Tür
lehnte und mich anstarrte. Sein Gesicht blickte nach unten,
doch seine Augen fixierten mich jetzt wie ein Raubtier, das
überlegt, wie es die ausgesuchte Beute erlegen sollte. Die-
ser gierige Blick brachte mich völlig aus dem Konzept und
jagte mir Schauer über den gesamten Körper, der ohnehin
schon in Aufruhr geraten war. Sein Oberkörper war etwas
vorgeneigt, bereit zum Sprung auf mich, seine Arme stütz-
ten sich an der Wand ab. Dieser Anblick jagte mir Angst ein
und steigerte mein Verlangen nach ihm gleichermaßen. Ich
sollte nicht mehr lange warten. Ohne Vorankündigung kam
er auf mich zugestürmt und stürzte sich auf meine Lippen.
Sein Kuss brannte vor Leidenschaft und mein Mund verlang-
te noch mehr. Es gab nun kein Halten, kein Zögern mehr.
Mit verschlungenen Mündern suchten unsere Hände nach
der Wärme des anderen. In der Höhle meines Mundes fand
seine fieberheiße Zunge die Meine. Mir wurde vor lauter Hit-
ze ganz schwindelig. Atemlos und erschöpft sank ich unwill-
kürlich auf die Knie. Istvan stimmte in meine Bewegung mit
ein und wir sanken gemeinsam zu Boden. Der Kraft seines
Körpers konnte ich kaum etwas entgegensetzen und so kam
es, dass seine wilden Umarmungen mich fast immer zu Bo-
den drückten, wofür er sich immer entschuldigte und zurück-
wich. Ich presste ihn dann immer wieder an mich, riss an
seinem Hemd, damit er nicht vor mir zurückweichen konnte.
Woher ich die Kraft dazu nahm, wusste ich nicht. Es spielte
keine Rolle. Je länger wir uns küssten und ungestüm ertas-
teten, desto schwieriger war es, die Kleidung anzubehalten.
Ich fragte mich ohnehin, wieso ich nicht endlich unter sein
Hemd griff. Aber ich wollte ihn das Tempo bestimmen lassen.
Er hatte mir nämlich zwei Tage zuvor zögerlich gestanden,
227
dass er fürchte, seine animalischen Triebe nicht kontrollieren
zu können, und deshalb musste ich ihm versprechen, nicht
zu schnell vorzugehen. Istvan fürchtete sich davor, dass er in
der Aufregung die Kraft seiner Berührung nicht richtig ein-
schätzen konnte, und hatte Angst, mir unabsichtlich wehzu-
tun. Also sollte er sich an jede Phase unseres körperlichen
Zusammenseins erst gewöhnen, ehe wir weitergingen. Doch
nun konnte ich es kaum noch aushalten, mein Versprechen
zu halten, und spürte, dass es ihm ebenso erging.
„Denkst du, ich kann es jetzt wagen, die Haut unter dei-
nem Hemd zu berühren?“, fragte ich ihn und hatte dabei
einen rauchigen, aufreizenden Ton in der Stimme, der mich
selbst ganz erstaunte.
„Ich bin nicht sicher. Versuchen wir es“, sagte er und sei-
ne grünen Augen funkelten erwartungsvoll.
Als ich sein Hemd aufknöpfte und mit den Fingern über
seine leicht behaarte Brust fuhr, atmete er schwer und ich
konnte das Auf und Ab seiner Brust unter meinen Fingerspit-
zen fühlen. Ein schönes, aufregendes Gefühl. Meine Finger
zeichneten die Form seines Schulterknochens nach, glitten
danach über die Mitte seiner Brust hinab zu seinem Unter-
bauch, wo sie vom Rand der Jeans gestoppt wurden. Meine
Finger brannten, fast so sehr wie seine Haut. Ich bemerkte,
dass er seine Augen geschlossen hatte und schwer atmete.
„Möchtest du es bei mir versuchen?“, fragte ich ihn atem-
los und mir blieb fast das Herz stehen, während ich auf seine
Antwort wartete.
Er streifte sich sein Hemd ab, dann blickte er mich ent-
schlossen an und hauchte „Ja“. Mein Puls jagte heißes, rau-
schendes Blut durch meine Adern. Als er mir das Langarm-
shirt auszog, meinte ich eine Sekunde lang, keine Luft mehr
zu bekommen, und erst als ich die Berührung seiner Hand
auf meinem Hals fühlte, kam der Atem zurück in meine zitt-
rigen Lungen.
Ich konnte nicht aufhören zu zittern. Die ganze Zeit, als
seine Handflächen über meine Schultern und Arme glitten,
228
bebte ich merklich. Es war mir so peinlich. Ich versuchte,
es durch meinen tiefen Atem auszugleichen. Das verschlim-
merte das Ganze nur. Jetzt stöhnte ich auch noch aufgeregt
und unkontrolliert. Ich hatte schon Angst, es könne ihn
veranlassen aufzuhören. Aber er küsste mich nur sanft und
legte mir seine warme Hand beruhigend auf die Wange. Es
half, ich riss mich etwas zusammen. Er fuhr fort, die Land-
schaft meines Körpers zu erkunden. Er streifte mir nun auch
die Jeans vom Körper. Ich trug nur noch meine dunkelrote
Unterwäsche. Das Spitzenhemd und der Spitzenslip waren
das Einzige, was zwischen mir und der vollkommenen Nackt-
heit stand. Ein beunruhigender Gedanke. Ich fragte mich,
ob sich Istvan dessen bewusst war, während er in einer merk-
würdigen Form von Konzentration, eher einer tranceartigen
Versunkenheit, meinen Körper erkundete, als handle es sich
dabei um ein fremdes, unbekanntes Land, das es wie eine
Karte zu erforschen galt. Mit geschlossenen Augen nahm
ich seine Berührungen wahr. Er zeichnete den Verlauf der
Flüsse, die Adern unter meiner Haut, nach, erkundete die
Beschaffenheit meiner Oberfläche, die festen Knochen und
die weiche, warme Haut. Sein Mund bereiste die Erhaben-
heiten meiner Landschaft. Sein feuchter, heißer Kuss brann-
te Spuren in meine Haut. Seine Hand besuchte die Tiefe
meines Waldes und brachte Aufruhr in den singenden Hain
meines Körpers. Und dann war er über mir, die Länge seines
gesamten, drahtigen Körpers einem Sommerhimmel gleich,
der sich warm über das ganze Land legte und den Boden er-
wärmte. Seine Arme stützten die Schwere seines schlanken
Leibes vom Boden ab, sein Gesicht über meinem. Ich öffne-
te die Augen und seine großen Smaragd-Augen glühten wie
eine brennende Sonne über mir und hielten meinen Blick
gefangen. Ich fühlte es. Es gab kein Halten mehr. Ich war
ihm nun vollkommen ausgeliefert und der Gedanke gefiel
mir sehr. Unsere Lippen suchten einander und trafen sich
in der Mitte zu einem alles verzehrenden Kuss. Der Besiege-
lung unseres Vorhabens.
229
Mit Istvan zu schlafen, das war wie Sex auf Feuer, buchstäb-
lich. Die Hitze dabei nahm mir mehr als einmal den Atem.
Während die Flüsse meines Körpers übertraten, bis seine
Hände nur noch über meine verschwitzten Gliedmaßen glei-
ten konnten, blieb seine Haut trocken und unfassbar heiß.
War mein Körper ein warmes Feuchtgebiet, so war der seine
eine trockene Wüste, in deren Zentrum sich eine bewaldete
Oase befand. Die Tiefe seiner grünen Augen. Oft genug fiel
es ihm schwer, den Griff seiner Hände zu lockern, sodass er
in der Erregung des Augenblicks seine Finger so fest in mein
Fleisch presste, dass er dabei deutliche Spuren hinterließ.
Doch den Schmerz fühlte ich dabei nie. Es gab genug andere
Empfindungen, die meine Aufmerksamkeit mehr forderten.
Ich hatte eigentlich erwartet, dass Istvan sich zurückhalten
würde, doch als er endlich losgelassen hatte, gab es kaum
noch Halt und ich fiel ins Bodenlose, zusammen mit ihm.
Istvan liebte mich in genau derselben Mischung aus hart
und zart, die sein gesamtes Wesen ausmachte. Leidenschaft-
liche Küsse wurden abgelöst von zarten Berührungen mei-
ner Haarspitzen. Gieriges, unbezähmbares Eindringen in die
verschlungenen Höhlen meiner Welt wurden begleitet von
zarten Liebkosungen. Das Einzige, was mich vor dem Ab-
sturz bewahrte, waren die innigen Blicke seiner grünen Au-
gen und der feste Griff meiner Hand, die sich mit der seinen
verschränkte.
Erschöpft lagen wir, noch immer schwer atmend, auf dem
Bett. Was für einen merkwürdigen Anblick mussten wir bie-
ten. Ich, schweißgebadet mit wilden Haaren, mit feuchten
Schläfen und bebender, keuchender Brust, versuchte, meine
Blöße nur mit einem dünnen Laken zu umfangen. Istvan,
nach alledem staubtrocken, ebenso außer Atem, die Mus-
keln seines athletischen Körpers noch immer angespannt
von der Anstrengung, die hinter ihm lag. Jetzt, Seite an Seite
mit ihm liegend, wurde ich mir zum ersten Mal seiner atem-
beraubend schönen Arme bewusst. Ich liebte von Anfang an
seine Hände, hatte dabei aber nie bemerkt, welche wunder-
230
voll gestalteten Arme ihm eigen waren, stark und drahtig, mit
weicher Haut und einem leichten, zarten Flaum bedeckt.
Die Oberarme eines Schwimmers fielen mir dabei ein. Ich
konnte es kaum erwarten, wieder in seinen Armen zu liegen.
Er schien meine Gedanken zu lesen und zog mich im selben
Moment zu sich an seine Brust und legte seine Arme um
mich.
„Also eines steht fest. Seit heute bin ich definitiv ein Fan
von Neumondnächten“, gestand ich ihm lächelnd. Worauf-
hin auch er grinsen musste. Dieses unwiderstehliche, schie-
fe Grinsen!
Ich war so glücklich, so unbeschreiblich froh, dass ich es
getan hatte. Dass ich den Mut gefunden hatte, zusammen
mit ihm, durchs Feuer zu gehen. Welche Flammen könn-
ten mir jetzt noch gefährlich werden? Was könnte mir dieses
Glück noch nehmen?
Ich blieb nicht nur die ganze Nacht bei Istvan, sondern ver-
brachte auch die nächste Nacht mit ihm. Wobei wir in der
folgenden Nacht derart gefangen in unseren Küssen waren,
dass wir beinahe vergessen hatten, dass noch etwas anderes,
Tieferes auf uns wartete, von dem wir kosten konnten. Als
ich in jener zweiten Nacht in die Dusche stieg, weil ich die
Hitze danach fast nicht mehr aushielt, kam mir das heiße
Duschwasser fast kühl vor im Vergleich mit Istvans Haut auf
mir. Das Wasser brannte förmlich auf meinem überhitzten
Körper. Ich musste schmunzeln. Es fiel mir ständig dieser
eine Song von Kings of Leon ein, wenn ich daran dachte:
„Sex on Fire.“ Ob der Songschreiber wohl auch eine Nacht
mit einer Werwölfin beschrieb, denn ich konnte mir nicht
vorstellen, dass dieses Sex-auf-Feuer-Gefühl zwischen zwei
normalen Menschen möglich wäre.
Den darauffolgenden Tag musste ich arbeiten und da-
nach den Rückstand meiner CD-Kritiken aufholen, also
konnte ich nicht zu Istvan. Die lange Abwesenheit von ihm
konnte ich sogar körperlich fühlen. Als ob etwas an mir oder
231
in mir fehlte. Das war ein merkwürdiges Gefühl, an das ich
mich erst gewöhnen musste. Schließlich war ich mein gan-
zes Leben lang unabhängig gewesen und nicht gewohnt,
Sehnsucht nach jemandem zu empfinden. Ich fragte mich,
ob mein ehemals einsamer Wolf das ähnlich empfand?
Ausgerechnet jetzt musste Istvan eine Woche verreisen. Er
hatte eine Nachricht von seinem Wertpapierhändler aus
Ungarn erhalten. Eines seiner Langzeitdepots lief aus und er
musste es persönlich auflösen. Es war nämlich so, dass Istvan
eine weitere Einnahmequelle gefunden hatte, die ihm sein
außergewöhnlich langsamer Alterungsprozess ermöglichte.
Er eröffnete in mehreren Ländern langfristige Anlagen und
setzte seinen eigenen Sohn oder Neffen als Begünstigten
ein. Zehn oder zwanzig Jahre später holte er, sich als eigener
Sohn oder Neffe ausgebend, das angesammelte Vermögen
ab. Er erzählte mir einmal sehr amüsiert, dass manche von
den Maklern ihn auf die frappierende Ähnlichkeit mit dem
Vater oder Onkel ansprachen. Das fand er zu komisch. Er
plante auch, ein paar Bücher auf einer Auktion zu erstehen.
Es würde nur ein paar Tage dauern und dennoch wollte ich
nicht, dass er ausgerechnet jetzt wegging. Ich hatte dabei
kein besonders gutes Gefühl. Andererseits hatten wir ver-
abredet, nur in den Neumondnächten die Vorteile unserer
körperlichen Liebe zu genießen, um ganz sicher zu gehen,
sowohl was ein mögliches Fieber betraf als auch die Anste-
ckungsgefahr in einer nahenden Vollmondnacht. Unnötig zu
erwähnen, wer hinter dieser Idee steckte. Ich selbst wäre
deutlich risikofreudiger gewesen, hielt mich jedoch an Ist-
vans Auflagen. Die Woche, in der er weg war, nutzte ich, um
intensiver an meinen Berufen zu feilen und um den längst
überfälligen Abend mit Carla nachzuholen, den ich immer
wieder aufgeschoben hatte.
Wir trafen uns zum Kaffee in der Warter Bäckerei mit
diesem zu niedlichen Namen, an den ich mich auch nach
fünf Jahren nicht gewöhnen konnte. „Die Naschkatze“ war
232
als Bezeichnung für ein Lokal einfach zu lächerlich. Zum
Glück spiegelte sich der Name nicht in der Einrichtung wi-
der, die eher einem klassischen Wiener Kaffeehaus nach-
empfunden war, dunkles Holz, schwere Sessel und gemüt-
liche Sitzgruppen.
Carla hatte schon nach fünf Minuten bemerkt, dass ich
nicht mehr dieselbe war. Meine Augen strahlten zu sehr.
Meine Stimme klang viel zu überschwänglich, als dass ich es
hätte verbergen können.
Ihre Mandelaugen fixierten mich nun prüfend.
„Also ich möchte echt wissen, was mit dir in letzter Zeit
los ist? Du siehst aus, als könntest du schweben“, bemerkte
sie und nahm einen Schluck ihres Espressos.
„Ich bin einfach nur gut drauf. Keine Ahnung, wo das
plötzlich herkommt“, log ich wieder mal mittelmäßig über-
zeugend.
„Ich weiß ja nicht. Du erinnerst mich an mich im ersten
Jahr mit Christian. Da konnte ich mir auch die ganze Zeit
das Grinsen nicht verkneifen. Bist du etwa? Nein, das hät-
test du mir doch erzählt.“
„Nein. Das ist es bestimmt nicht. Wie sollte ich in St. Ho-
das jemanden kennenlernen, geschweige denn mehr?“, log
ich noch dreister und schüttelte dabei ungläubig den Kopf,
als wäre ihre Annahme absolut lächerlich.
„Na, wie du meinst. Aber irgendwas ist anders an dir, da-
von lass ich mich nicht abbringen. Ich bin doch nicht blind“,
stellte sie nochmals fest und ich hörte einen misstrauischen
Unterton in ihrer Stimme, der mich wieder daran erinnerte,
zu verhindern, dass Carla mich jemals zusammen mit Istvan
sah.
Zwei Tage später kam Istvan endlich von seiner Reise zurück.
Ich sah den auffälligen Camaro sofort vor der Bibliothek
stehen. Er hatte sich noch immer kein Handy besorgt, also
konnte ich ihn nicht einfach erreichen. Das hasste ich. Aber
ich konnte es schon verstehen. Wo er sich oft aufhielt, in
233
den Wäldern des Günser Gebirges, war der Empfang mehr
als bescheiden. An manchen Stellen gab es sogar großflächi-
gen Funkausfall. Von daher war es sinnlos, ein Handy mit-
zunehmen. In bestimmten Nächten konnte er ja nicht mal
Kleidung bei sich behalten und schon gar kein teures Elekt-
ronikgerät, das er jeden Monat ersetzen müsste.
Ich lief sofort die kleine Anhöhe zur Bibliothek rauf und
wollte ihm stürmisch in die Arme laufen. Da bemerkte ich,
dass es tatsächlich zwei Besucher in der Bibliothek gab.
Ein junges Mädchen, das ich etwa auf siebzehn schätz-
te, saß auf einem der Schreibtische und quälte sich offenbar
durch mehrere Lexika, um etwas für die Schule zu schreiben.
Sie schien überall lieber sein zu wollen als hier. Der andere
Besucher war ein alter Mann, den ich gleich erkannte. Es war
der Vater des Bürgermeisters, Karl Taucher. Istvan hatte mir
erzählt, dass der alte Taucher gerne las und sich ab und an
Bücher ausborgte. Er gehörte noch zu jenen, die Ungarisch
sprachen, und er versuchte, seine Kenntnisse mithilfe des
Unga rischen Büchersaals aufzufrischen. Er wäre alt genug,
um Istvan noch erkennen zu können, der Einzige, der das
noch könnte, doch er hatte schlimmen grauen Star, was eine
mögliche Enthüllung verhinderte. Als Istvan mich sah und mir
einen kurzen Wink gab, der mir andeutete, dass wir nicht unter
uns wären, wandte er sich in Richtung der kleinen Kammer
um, in der die Putzsachen aufbewahrt wurden. Er ging hinein,
ohne gesehen zu werden. Nach einer Minute folgte ich ihm
vorsichtig. Sofort als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte,
drehte er mich um und wir umarmten uns stürmisch. Darauf
folgte ein noch stürmischerer Begrüßungskuss.
„Es ist auch schön, Sie wiederzusehen, Mister“, scherzte
ich und küsste ihn erneut.
„Die Bibliothek scheint langsam zu florieren“, merkte er
an und fügte hinzu, „normalerweise würde mich das freuen,
aber heute würde ich lieber etwas anderes tun, als Schüle-
rinnen bei ihrer Arbeit zu helfen.“ Seine Augenbraue hatte er
während dieser Andeutung gespielt hochgezogen.
234
„Na ja, du kannst mir ja später zeigen, was du damit meinst“,
ging ich auf sein Spiel ein und sagte ihm, dass ich gegen sechs
bei ihm vorbeischauen würde. Da fiel mir ein, dass wir kurz
vor einem neuen Zyklus von Vollmondnächten standen.
„Oh, verdammt! Ich hätte es fast vergessen!“, stieß ich
jetzt hervor.
„Keine Sorge. Ich habe nur vor, dich ein paar Stunden lang
zu küssen. Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst“,
grinste er und küsste mich zum Abschied schnell noch auf
die Wange, ehe er sich zurück in die Bibliothek schlich.
Später an diesem Abend setzte er sein Vorhaben in die Tat
um. Istvan hielt seine Versprechen. Wir lagen auf seinem
Bett, hörten eine Platte meiner Lieblingsband, die er bestellt
hatte, damit ich sie auch bei ihm hören konnte, und küssten
uns so lange, dass meine Lippen beinahe taub und ganz ge-
schwollen waren.
Ich war gerade dabei, die Platte zu wenden, um meinen
Lieblingssong nochmals zu hören, da fuhr Istvan im Bett
hoch. Mit aufgerissenen Augen starrte er zur Decke.
„Jemand ist auf dem Dach. Sein Herzschlag ist beschleu-
nigt“, sagte er kühl.
„Was? Wer kann das sein?“, fragte ich aufgeregt.
„Ich weiß es nicht. Aber ich finde es heraus.“ Er beende-
te den Satz nicht mal und war schon aus der Tür. Ich blieb
erschrocken im Zimmer zurück, hörte plötzlich ein Poltern
über mir, starrte besorgt an die Zimmerdecke und verfolgte
die Geräusche mit meinem Blick.
Ein paar Minuten später war Istvan zurück.
„Es war ein Mann, das konnte ich an seiner Witterung
erkennen. Er ist aber schon weg. Keine Ahnung, wie er so
schnell sein konnte. Er kam durch die Dachluke, vermutlich
ein Einbrecher“, versuchte er mich zu beruhigen.
„Ja, das wird es wohl sein. Es gab in letzter Zeit öfter sol-
che Einbrüche, vor allem in Rohnitz. Die Grenze zu Ungarn
bringt diese Probleme mit sich“, versicherte ich ihm.
235
Er nahm mich in den Arm und ich musste ihm verspre-
chen, in der nächsten Nacht, der ersten Vollmondnacht, hier
nicht allein auf ihn zu warten. Er wollte lieber, dass ich mit
ihm in den Wald ging und mich im Auto einsperrte. Ich hielt
das für übertrieben, und als ich am nächsten Tag von der
Redaktion darüber informiert wurde, dass es mehrere Ein-
brüche im Bezirk gegeben hätte und der Täter bereits ge-
fasst sei, konnte ich Istvan dazu überreden, die Nacht bei
mir zu Hause zu warten und ihn dann erst mit dem Wagen
am nächsten Morgen abzuholen. Er war zwar einverstanden,
blieb aber weiterhin besorgt.
Seit sich unsere Beziehung vertieft hatte, schienen sich
auch Istvans Verwandlungsschmerzen merklich verbessert
zu haben, wofür ich mehr als dankbar war.
Als ich ihn am nächsten Morgen abholte, mit seinem
Camaro diesmal, und er sich mit mir auf die Decke legte,
starrten wir lange in die Baumkronen und ich legte meinen
Kopf auf seinen Bauch, während er mit meinen Haarspitzen
spielte. In diesem friedlichen Moment war ich mir sicher,
dass ich ihn immer lieben würde, egal was passieren würde.
236
14. Die Entführung
Es war gerade eine Stunde nach Mitternacht und ein paar
Minuten, nachdem ich mich von Istvan verabschiedet hatte.
Eigentlich wollte ich gar nicht gehen, doch dieses Mal konn-
te ich nicht die halbe Nacht bleiben. Es galt immer noch den
Schein zu wahren, damit niemand etwas mitbekam, und es
warteten noch zwei Artikel auf mich, die ich noch schreiben
und bis spätestens Mittag an die Redaktion mailen muss-
te. Außerdem war es die letzte Vollmondnacht und Istvan
konnte seine Wolfsverwandlung nicht länger hinauszögern,
ohne unerträglich zu leiden. Der Heimweg fiel mir in dieser
Nacht besonders schwer, weil es ein so friedlicher, ange-
nehmer Abend gewesen war. Dieses Mal hatte ich mich zu-
sammengerissen und ihn nicht ausgefragt wie üblich und er
schien entspannter und weniger besorgt als sonst. Auch die
Symptome seiner herannahenden Verwandlung schienen in
dieser Nacht weniger heftig zu sein. Und da die Verabschie-
dung dann noch so verführerisch war, fiel es mir noch viel
schwerer, mich loszueisen, um ins langweilige Heim zu ei-
len. Dieser sanfte Kuss beim Abschied, so vertraut, als würde
er zu mir gehören wie der eigene Arm. Es war schwer, dem
zu widerstehen. Doch mein Pflichtbewusstsein war ein zäher
Charakterzug und es war mir immer schon schwergefallen,
meine eigenen Bedürfnisse meinen Aufgaben voranzustellen.
Doch alles war jetzt anders. Schließlich hatte ich jetzt etwas,
jemanden, neben dem meine Pflichten und meine Arbeit
so verblassten, dass meine Prinzipien stark ins Wanken ge-
rieten. Aber ich sagte mir, dass das wohl zum Verliebtsein
dazugehört. Wie merkwürdig sich das noch immer anhörte:
Ich und verliebt. Doch ich konnte es nicht abstreiten und
zum allerersten Mal wollte ich es auch gar nicht. Den halben
237
Heimweg hing ich diesen süßen Gedanken nach, bis ich zu
meinem Gartentor kam.
Ich griff nach der Klinke, doch ich sollte sie gar nicht
erst berühren. Im selben Augenblick spürte ich, wie sich von
hinten jemand an mich herandrängte und mir ein Tuch mit
einem scharf beißenden Geruch auf Mund und Nase press-
te. Mein Herzschlag überschlug sich. Doch ich kam weder
dazu, einen Schrei auszustoßen, noch konnte ich mich über-
mäßig gegen meinen Angreifer wehren. Ich versuchte mich
aus seiner Umklammerung zu lösen, doch mehr als ein
schwaches Zucken kam nicht dabei heraus. Der ätzende Ge-
ruch zeigte Wirkung. Meine Beine sackten mir weg und alles
verschwamm vor meinen Augen. Mein letzter bewusster Ge-
danke war, dass ich keine Schritte hinter mir gehört hatte.
Und dann nichts. Nur Finsternis.
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, doch
langsam kam ich wieder zu Bewusstsein. Wenn auch meine
Wahrnehmung sehr eingeschränkt war. Mein Kopf hämmer-
te dumpf und ein komischer Geschmack lag auf meiner Zun-
ge, aber am deutlichsten war der Eindruck meines schlappen
Körpers, den ich nicht bewegen konnte. Auch meine Augen
sahen nur schemenhafte, dunkle Umrisse. Wieso konnte ich
nicht ein einziges Glied meines Körpers bewegen, aber füh-
len? Wo zur Hölle war ich? Was war verdammt noch mal mit
mir passiert?
Bevor ich es noch sah, fühlte ich die Antwort. Mein Kör-
per war nicht durch die Droge, vermutlich Chloroform – was
für ein Klischee – bewegungsunfähig. Nein, ich war gefes-
selt. Ich fühlte die rauen Seile an meinen Arm- und Fußge-
lenken. Noch immer verweigerten mir die Augen den Dienst.
Unter meinen Gelenken, mit den Seilen verbunden, fühlte
ich gleichzeitig Holz. Das musste es sein. Ich war an einen
Stuhl gefesselt. Jedes Bein an ein Stuhlbein geknebelt. Meine
Hände konnte ich noch zusammenfalten und meine Schul-
tern taten mir weh. Daraus folgerte ich, dass meine Hände
hinter dem Stuhl zusammengebunden worden waren. Meine
238
schweren Lider begannen langsam wieder ihren Dienst auf-
zunehmen, aber ich konnte noch nicht sprechen. Der erste
Blick, den ich erhaschte, galt einer alten Campinglampe,
die neben meinem Stuhl leuchtete und deren Geruch nach
Brennspiritus mir erneut den Magen umdrehte. Wo war ich?
Abseits des Lichtkegels sah ich noch nichts. Zu finster. Mei-
ne Augen gewöhnten sich erst langsam an die Dunkelheit.
War ich in einem alten Weinkeller? Es gab diesen feuchten
Geruch nach Stein und Moder, aber es fehlte der alte, ab-
gestandene Gärgeruch, der typisch gewesen wäre. Nein, es
musste etwas anderes sein. Es zog fürchterlich. Hinter mir
roch es nach Stroh und es schien im ganzen Raum nur zwei
Fenster zu geben, uralt natürlich, die mit Jute-Stoffvorhän-
gen völlig verdeckt waren. Vor mir, in der einen Ecke, stand
ein Ofen, mehr ein alter Steinkamin. Alles kam mir sehr be-
kannt vor, aber nicht vertraut. Ich war hier schon mal gewe-
sen. Ja, während meines Studiums hatte ich einmal für das
Lokalblatt über die alten Mühlen von Rohnitz geschrieben.
Offenbar befand ich mich in einer davon. In der ältesten,
wie ich glaubte, der Rohnitzer-Tal-Mühle. Ganz nahe dem
Stausee. Die einzige Mühle, die vollkommen abgeschieden
im Wald hinter dem Stausee lag. Wer immer mich hierherge-
bracht hatte, hatte seine Hausaufgaben gemacht. Hier wür-
de mich keiner finden. Aber wer hatte mich „entführt“ und
was wollten er oder sie bloß von mir?
Ich wunderte mich, wieso ich noch nicht in Panik ausge-
brochen war oder wieso ich nicht um Hilfe schrie. Vielleicht
war ich mir der Gefahr, in der ich mich befand, noch nicht
ganz bewusst, vielleicht war ich noch von dem Betäubungs-
mittel zu benommen, um alles zu fühlen, was ich in so einer
Furcht einflößenden Situation fühlen sollte. Doch die Angst
würde kommen, dessen war ich mir sicher. Und sie war nä-
her, als mir lieb war.
Blitzartig riss jemand die alte Holztür auf und ich konnte
durch die Fenster des Vorraumes sehen, dass es noch nachts
war. Mein Entführer stand mitten in der Tür. Groß und be-
239
drohlich. Ich versuchte erschreckt zurückzuweichen, doch
meine Fesseln gaben mir nicht genügend Bewegungsfreiheit
dazu. Noch wagte ich es nicht, meinem Angreifer direkt ins
Gesicht zu sehen. Ich starrte fassungslos geradeaus auf seine
Brust und atmete schwer. Das Erste, was ich registrierte, war,
dass ein Mann vor mir stand, etwa eins achtzig groß, mit brei-
ten Schultern und von muskulöser, schlanker Gestalt. Er hat-
te eine verdreckte Jeans und einen abgetragenen grauen Pul-
lover an, trug weder Schuhe noch Socken, genau wie Istvan,
bevor er sich verwandelte. Mir schwante Übles. Hatte ich es
mit einem Werwolf zu tun? Es sprach noch mehr dafür. Es
war draußen ziemlich kühl und er trug keine Jacke und keine
Schuhe. Seine Füße waren staubig und matschig, als wäre er
noch vor Kurzem durch den Wald gelaufen. Es gab nur einen
Weg, sicher zu gehen. Ich musste den Kopf heben und ihm
ins Gesicht sehen. Ich tat es zögerlich. Ein Mann Ende vierzig
oder Anfang fünfzig stand ein paar Meter vor mir, ungerührt,
ohne jede erkennbare Emotion. Er stand lange einfach nur so
da. Er hatte kurz geschnittenes, braunes Haar, das mit grauen
Strähnen durchsetzt war. Für sein Alter schien er sehr gut in
Form zu sein, was für die Werwolf-Vermutung sprach. Sein
Gesicht war gut proportioniert, aber in seinen Zügen lag et-
was Raubtierhaftes, was durch die Falten um Mund und Au-
gen verstärkt wurde. Er hatte dunkle, harte Augen und einen
schmuddeligen Bart, wie man sie sich bei einem Seefahrer
vorstellt. Sein ganzes Wesen wirkte sehr rau und roh, aber
auch sehr männlich. Als er einen Schritt auf mich zu machte,
war ich mir sicher, dass mein Herz gleich aussetzen würde.
Doch es beruhigte sich wieder. Eine für mich typische Re-
aktion in Stresssituationen. Je mehr ich eigentlich Grund zur
Panik hatte, desto ruhiger wurde ich innerlich, auch wenn es
eine angespannte Ruhe war. Ich blieb stumm, doch er schick-
te sich an etwas zu sagen. Eine absurd raue, starke Stimme
drang zu mir und füllte den ganzen Raum.
„Jetzt bist du doch noch aufgewacht. Ich dachte schon,
ich hätte mich verzettelt und müsste meine ganzen Pläne
240
über den Haufen schmeißen. Ihr Menschen seid einfach
zu schwach! Ein bisschen scharfes Duftwasser und ihr seid
gleich über zwei Stunden hinüber.“ Er schüttelte ungläubig
und angewidert den Kopf.
Ich räusperte mich und fand zu meiner Stimme zurück.
Das musste ich gleich ausnutzen.
„Wer zur Hölle sind Sie? Was wollen Sie von mir?“, schrie
ich förmlich. Das schien ihm über die Maßen zu gefallen.
„Na ja, wenigstens hast du Feuer in dir und allzu ängst-
lich scheinst du auch nicht zu sein. Wenigstens hat mein
Sohn keinen schlechten Geschmack, auch wenn er sich aus-
gerechnet ein menschliches Weibchen aussuchen musste!“
Ich war baff. Mein Mund stand offen und meine Kehle
war so trocken, als wäre die ganze Sahara in ihr. Hatte dieser
Mann, mein Entführer, tatsächlich das Wort „Sohn“ benutzt?
Er hatte doch offensichtlich auf Istvan und mich angespielt.
„Sohn!“ Das würde bedeuten … Nein, das konnte nicht sein.
War dieser Mann, dieser Werwolf tatsächlich Istvans Vater?
Oder meinte er es symbolisch? Wollte er mir zu verstehen
geben, er sei sein „Erzeuger“, oder wollte er sich mir als leib-
licher „Vater“ vorstellen, der offensichtlich auch haariges Fell
hinter den Ohren zu haben schien. Ich fragte ihn noch ein-
mal. Diesmal kleinlaut, voller Besorgnis: „Wer bist du?“
Zuerst kam nichts, dann ließ er einen verärgerten Aus-
druck erkennen und frotzelte genervt: „Das habe ich doch
gerade gesagt. Ich hasse es, wenn ich mich wiederholen
muss. Verdammte unzulängliche Menschen. Alles muss man
dreimal sagen.“
Er schien offenbar keinerlei Geduld zu besitzen.
„Ich bin Istvans Vater. In jeder Hinsicht, die du dir vorstel-
len kannst. Ich habe ihn gezeugt. Ich habe ihn erschaffen!“,
setzte er hochmütig hinzu.
„Aber wie ist das möglich? Sein leiblicher Vater soll doch
schon lange tot sein?“
„Ja, das hat ihm seine Menschen-Mutter erzählt. Die gute
alte Maria war nicht mehr ganz so angetan von mir, als sie
241
erfuhr, was ich bin. Sie war schon immer ein wenig – pro-
vinziell“, ätzte er. Ich war so froh, dass Istvan nicht hörte, in
welch abfälligem Ton sein (Schluck) Vater über seine geliebte
Mutter sprach. Das hätte ihn hart getroffen. Meine Gefan-
genschaft schien ich gar nicht mehr wahrzunehmen, ich war
nur noch darauf aus, alles in Erfahrung zu bringen, was ich
konnte. Also fragte ich weiter und er beantwortete jede mei-
ner Fragen. Es schien ihm richtig Vergnügen zu bereiten.
„Was meintest du damit, du bist sein Vater und Erzeuger?
Wie soll das gehen? Und wieso ist Istvan dann kein gebore-
ner Werwolf?“
„Du stellst genau die Fragen, von denen ich will, dass du
die Antworten kennst. Gut!“ Er begann, mir seine Geschich-
te zu erzählen. Eigentlich war es die Geschichte von Istvans
Erschaffung.
„Ich hatte Maria schon eine Weile ausgespäht und sie
schien mir passend zu sein, um mir ein starkes Wolfskind zu
schenken. Eine starke, schöne Frau, die niemals klein bei-
gab und niemals krank wurde. Ich musste nur noch genug
Schmeicheleien verteilen, bis sie mir vertraute. Was nicht
schwer war, denn die meisten Männer im Dorf verstanden
überhaupt nichts von Frauen und noch weniger von Verfüh-
rung. Trotz ihrer Stärke war sie ein unschuldiges, junges Ding
und es dauerte nicht lange, bis ich sie dazu brachte, meinen
Heiratsantrag anzunehmen. Nun musste ich nur noch auf
die nächsten Vollmondnächte warten, um sie schwängern zu
können. Das war ebenfalls nicht allzu schwer. Wie gesagt, sie
war jung und unerfahren. Ich weiß nicht genau, wie viel du
über diese Seite der Wolfswelt weißt, aber es ist leider nicht
so leicht, wie es klingt, ein Wolfskind zu bekommen. Ich bin
mir sicher, Istvan hat dir erzählt, man dürfe unmöglich in
den Vollmondnächten ‚zusammen sein‘ – so dürfte er es wohl
formuliert haben. Doch so banal ist es nicht. Die Chancen
stehen bloß 50 : 50, dass dabei ein Wolfskind gezeugt wird.
Kannst es mir ruhig glauben. Ich habe einige Erfahrungen
auf diesem Gebiet!“
242
Über diesen gelungenen Einwurf schien er sich selbst
richtig zu freuen, denn er grinste wie ein Dämon. Doch fuhr
er ungehindert fort. Er schien sehr erpicht darauf zu sein,
mir alles zu erzählen. Wieso, wusste ich nicht.
„In Istvans Fall ging ich leider leer aus. Schon bald nach
der Geburt war klar, dass er eine weitere Enttäuschung war,
und ich ging fort. Doch das Ganze ließ mir keine Ruhe. Wie
ein Gedanke, der einen überall verfolgt und den man nicht
abschütteln kann. Ich hatte bei ihm so ein Gefühl. Er war
der Werwolf, auf den ich die ganze Zeit gehofft hatte, der
zweite Leitwolf, der alle anderen übertreffen würde. Auch
wenn ich ihn erst erschaffen müsste. Doch ich konnte mich,
dank meines unfeinen Abgangs, nicht mehr in eurem Dorf
sehen lassen. Deshalb beschloss ich zu warten. Du weißt ja,
Zeit ist für uns wenig von Bedeutung. Als Istvan dann fünf-
zehn wurde, kam ich wieder. Ich spähte ihn aus, lag auf der
Lauer. Doch seine Gluckenmutter war ständig in der Nähe
und gab mir nie genug Zeit, um meinen Angriff auszuführen.
Also musste ich mich zuerst um sie kümmern. “
Wie er das letzte Wort sagte, wusste ich sofort, was er
meinte.
„Oh Gott, du warst es. Du hast seine Mutter getötet.“
Eine widerspenstige Träne schoss aus meinem Auge. Ich
bereute es sofort. Ich wollte ihm nicht die Genugtuung ge-
ben, die es ihm bereitete, wenn ich weinte. Also verkniff ich
jede weitere Träne.
„Du Monster. Sein eigener Vater!“
Mit einer kühlen, emotionslosen Stimme stellte er nur
klar: „Ich tat, was nötig war. Nur so kam ich an ihn ran und
konnte ihn endlich beißen, um ihn zu dem zu machen, wozu
er bestimmt ist. Das – war – herrlich. Ich wusste es sofort,
als ich ihn biss, er wird mein bestes Geschöpf.“
Der Stolz in seiner Stimme stand im krassen Gegensatz
zum Schmerz in Istvans Stimme, wenn er darüber sprach.
Die beiden konnten nicht einmal dieselbe Bluttemperatur
haben, unmöglich. Ich verspürte den Drang, ihn zu be-
243
schimpfen, konnte jedoch kein passendes Schimpfwort für so
eine unglaubliche Schandtat finden. Also schwieg ich. Ihm
schien es recht. So konnte er weiter von seinem Triumph
schwärmen.
„Nur leider konnte ich ihn nicht sofort mitnehmen. Der
unnatürliche Tod seiner Mutter hatte zu viel Staub aufgewir-
belt, deshalb musste ich verschwinden. Ich beschloss, in ein
paar Jahren, ein oder zwei, wiederzukommen und ihn dann
mit mir zu nehmen. Doch als ich wiederkam, war er bereits
verschwunden, ohne jede Spur. Es hat sehr lange gedauert,
bis ich seine Spur wiederfand. Das war in Rumänien. Ich
stellte mich ihm jedoch nicht ganz korrekt vor. Ich wollte
zuerst die Lage ausloten, bevor ich eingriff. Doch auch dies-
mal zögerte ich zu lange. Er war wieder verschwunden. Bis
jetzt.“
„Rumänien!“ Wie war noch mal der Name des Mannes in
Rumänien gewesen, der ihm nicht geheuer war? Istvan hatte
gesagt, er sei extra wegen des Mannes vorzeitig abgereist. Er
hatte ein großes Rudel um sich geschart. Gefährlich, hatte
Istvan ihn genannt.
„Du bist … du bist Wolf … Wolf Farkas, oder?“ Das Wort,
der Name, blieb mir im Hals stecken.
„Ja, er hat also von mir erzählt. Gut, dann habe ich also
Eindruck bei ihm hinterlassen.“
„So würde ich es nicht bezeichnen!“, nahm ich ihm den
Wind aus den Segeln.
Langsam dämmerte mir, wieso er jetzt hier war und wie
ich da reinpasste. Ich würde auch eine 10 : 1 Wette darauf
abgeben, dass der geheimnisvolle Besucher von vorletzter
Nacht, dessen Herzschlag Istvan auf den Dachboden aus-
gemacht hatte, Farkas gewesen war. Ich musste es laut aus-
sprechen, damit ich es selbst glauben konnte.
„Du bist hier, um zu Ende zu bringen, was du damals an-
gefangen hast. Du willst ihn mir wegnehmen. Was wirst du
tun? Mich töten und ihn zwingen, mit dir zu kommen? Das
kannst du vergessen. Das wird nicht passieren!“
244
Jetzt lachte er laut auf.
„Du bist auf der richtigen Fährte, Kleines. Aber du hast ja
keine Ahnung. Ich habe Mittel und Wege!“ Dabei zog er ein
schwarzes Buch hervor. Ich erkannte es nicht sofort. Aber ja,
es war sein Notizbuch. Istvans Logbuch in seinen Händen,
ein grauenhafter Anblick.
„Ich habe es gelesen. Sehr aufschlussreich. Sehr hilfreich,
für meine Zwecke“, gab er mir zu verstehen und wedelte da-
bei ständig mit dem Buch vor meiner Nase.
„Dadurch weiß ich auch von seiner kleinen Fixierung auf
dich. Hat mir viel Arbeit erspart. Ich musste dich erst gar
nicht groß ausspionieren. Es stand alles schon da. Schwarz
auf weiß. So wusste ich auch, wann ich dich schnappen
konnte, ohne dass er störte oder versuchen würde, dich zu
finden.“
Ich musste einen dicken Kloß hinunterschlucken bei dem
Gedanken, wie er uns die letzten Tage beobachtet haben
musste und dabei immer auf seine Chance gewartet hatte.
„Ich gebe zu, es war stellenweise ganz interessant, auf
eine bizarre Weise. Ich hätte nicht gedacht, dass einer von
uns eine von euch so anziehend finden könnte. Tja, mein
Sohn hat eben seinen ganz eigenen Geschmack!“ Als er den
letzten Satz vollendet hatte, bugsierte er sich dicht neben
mich und schnüffelte wie ein Hund an meinen Haaren.
„Aber ich finde euch einfach nur schwach, austauschbar
und überempfindlich!“ Seine Hasstirade wurde begleitet von
einem sehr heftigen Ziehen an meinen Haaren, wobei ich er-
staunt war, dass mir nicht gleich der Kopf abriss. Jetzt schien
er Spaß daran zu haben, wie sehr ich Schmerzen empfand.
„Lächerlich, wie ich sagte!“
Ich konnte noch den Zug auf meiner Kopfhaut spüren.
„Soll ich dich in einem Stück zurückschicken oder nur
ein bisschen beschädigt. Ich habe mich noch nicht entschie-
den.“
Jetzt hatte ich Panik und Angst. Der kalte Schweiß brach
mir aus und ließ mich schaudern. Er schien immer mehr und
245
mehr Spaß daran zu haben. „Na ja, wenigstens schreist du
nicht rum wie die anderen!“
Ich versuchte, ihm nichts zu geben. Keine Tränen, keine
Schreie. Es war schwer. Er schlug nun, wie aus dem Nichts,
mit seiner Faust auf mein Kinn.
„Wollte nur sehen, wie viel du so aushalten kannst. Wie
ich schon sagte. Nicht schlecht für einen Menschen. Aber
auch nicht annähernd so gut wie einer von uns!“
Ich konnte nichts erwidern, ich kämpfte zu sehr damit,
meine Wut und meine Tränen unter Kontrolle zu halten.
Jede Reaktion von mir wäre nur Nahrung für seinen Sadis-
mus. Mit hartem, standhaftem Blick sah ich auf und blickte
ihm direkt in die Augen, als ob ich keine Angst vor ihm hätte.
Ich würde mich nicht von ihm demütigen lassen. Das nicht.
Also versuchte er es auf eine andere Weise. Die war
schlimmer. Er schlug das Buch auf und las aus Istvans Auf-
zeichnungen, mit verstellter Mädchenstimme.
„Sie war das Schönste, was ich je sah. So anders als alles,
was ich kannte. Ihr Herz hatte diesen Rhythmus, der mich in
meinen Träumen begleitet und den Herzschlag meines Her-
zens annähernd auf menschliches Tempo senken konnte.“
Er lachte laut und widerwärtig. „Mein Sohn, der verliebte
Dichter. Das werde ich ihm als Erstes abgewöhnen müssen!“
Jetzt konnte ich nicht mehr schweigen.
„Du kranker Bastard. Lass ihn in Ruhe. Er ist zehnmal so
viel wert wie du. Du armseliges, kleines Möchtegern-Raub-
tier. Wenn du es wagst, noch einmal seine Worte derart in
den Dreck zu ziehen, dann bring ich dich zur Strecke. Ich
finde einen Weg. Kannst darauf wetten, alter Mann. Verzei-
hung, Hund! “ Ich schrie dabei so laut und wütend, dass sich
meine Halsschlagader so fest gegen die Haut presste, dass es
verflucht schmerzhaft war.
Ich rechnete erneute mit Schlägen. Doch die einzige Re-
aktion, die er zeigte, war ein ungläubiges Schulterzucken.
„Ein mutiges, kleines Ding bist du. Fast schade, dass du
nicht mehr lange leben wirst!“
246
Da war es wieder, das boshaft dämonische Grinsen, das
mich erstarren ließ, als hätte ich Eis in den Adern. Eines war
sicher, wie immer das hier ausgehen würde, es würde eine
verflucht lange Nacht werden. Und noch war kein Ende in
Sicht.
Zwei Stunden nach dem Aufwachen …
Meine Angst war mittlerweile so überwältigend, dass ich
nur noch fähig war, unregelmäßig und schwach zu atmen.
Doch der Drang, ihm meinen ganzen Ekel und Abscheu ins
Gesicht zu spucken, war mindestens genauso groß, wenn
nicht größer. Überlebensinstinkt und Adrenalin übernahmen
jetzt das Kommando und ich ließ, in einem Anflug von un-
bändigem, verzweifeltem Mut, meinen Worten freien Lauf.
„Du hältst dich für so stark, Farkas. Dabei bist du nichts
weiter als ein armer, kleiner Feigling. Sonst würdest du nicht
hier rumtönen, wie du ihn fertigmachen willst, in dem du
mich quälst. Ein echter Mann, ein mutiger Mann, würde
sich ihm ganz offen stellen. Als Wolf. In einem fairen Kampf.
Wolf gegen Wolf!“
In Wahrheit verkrampfte sich mein Magen beim bloßen
Gedanken daran. Ich konnte schon beim ersten Schlag, den
ich ausgeteilt hatte, sehen, wie sein Gesicht sich in eine
wütende Fratze verwandelte. Auf einmal erschien mir mein
„Ausbruch“ alles andere als eine gute Idee zu sein. Seine
wütende, verzerrte Miene ging über in ein ebenso boshaftes
Lächeln.
„Das wird nicht funktionieren, Kleine. Aber netter Ver-
such“, tönte er gönnerhaft. Sein Mund drängte sich von der
Seite an mein Ohr. Fast berührte er meine Wange. Mit an-
gewiderter Stimme setzte er hinzu: „Für einen Menschen!“
Doch so sinnlos meine Versuche auch waren, vielleicht
verschafften sie mir genau die Zeit, die ich ihm – seinen
Namen konnte ich jetzt nicht mal denken, sonst würde ich
durchdrehen – verschaffen musste, um uns zu finden. Aber
wollte ich das wirklich? Was könnte alles passieren? Er könn-
247
te sterben oder Schlimmeres. Wobei es mir schwerfiel, sich
so etwas Grässliches vorzustellen.
Farkas befand sich jetzt wieder hinter meinem Rücken, ganz
in seinem Element als unberechenbarer Entführer. Ich konn-
te wieder nicht sehen, was er vorhatte. Schließlich hatte er
mir in diesen ersten beiden Stunden schon gedroht, mir weh-
getan, sich an meinem Leid ergötzt und ein Ende war keines-
wegs in Sicht. Was sollte noch alles auf mich zukommen?
Bei einem derart verkommenen Geist musste man mit allem
rechnen. Wieder blickte ich zu dem schwarzen Notizbuch,
das er verächtlich auf dem verdreckten Steinkaminsims hat-
te liegen lassen. Das war bisher das Schlimmste gewesen,
dass er so viel über uns wusste und es benutzte, um mich zu
quälen und sich über uns, über ihn, lustig zu machen. Den-
noch, das Notizbuch im selben Raum zu wissen, spendete
mir auch auf seltsame Weise Trost. Die Schmerzen waren al-
les andere als bedeutungslos, doch das konnte ich schon er-
tragen. Aber jetzt, da ich die „Wahrheit“ kannte, wusste, dass
es sich bei dieser Bestie um seinen Vater handelte, waren
all die Abscheulichkeiten, die er beging, alles, was er über
ihn, über uns sagte, noch unerträglicher. Obwohl ich dabei
war, mich in diesen Gedanken zu verlieren, hörte ich den-
noch die Geräusche hinter meinem Rücken. Es klang, als ob
er nach etwas suchen würde. Doch was konnte er in dieser
alten Mühle schon finden? Es sei denn, er hätte es hierher
mitgebracht. Diese Vorstellung gefiel mir überhaupt nicht.
Panik stieg erneut in mir hoch. Ich versuchte, über meine
Schulter zu sehen. Doch die strengen Fesseln, die er sorgsam
geknotet hatte, und die dumpfen Kopfschmerzen machten
den Versuch zunichte. Außerdem konnte ich in dieser Dun-
kelheit sowieso fast nichts erkennen. Er und die überlege-
nen Augen seines inneren Wolfes waren dabei absichtlich
im Vorteil. Auch hatte er es so eingerichtet, dass neben dem
Stuhl, auf dem er mich festgebunden hatte, ein kleiner Tisch
mit einer Öllampe in Brusthöhe war. Die einzige Lichtquelle
248
im Raum. So konnte ich nur das richtig sehen, was er mich
sehen lassen wollte. Die Geräusche hinter mir hatten auf-
gehört. Er musste offenbar gefunden haben, wonach er ge-
sucht hatte, was es auch war. Ein schlechtes Zeichen.
Plötzlich lehnte er sich gegen meinen Rücken und seine
Hände waren blitzschnell von rechts und links an meinen
Rippen vorbeigekommen, um sich ins Licht zu drängen. Da
sah ich es. In der rechten Hand hielt er eine Spritze umklam-
mert. Wollte er mich erneut betäuben? Aber wozu?
„Bisher war dein Verstand ganz brauchbar. Mal sehen, ob
du clever genug bist.“ Wieder drängte er sich an mein Ohr
und ich wurde überwältigt von seinem animalisch beißenden
Geruch. Sofort wurde mir übel und ich musste den Brech-
reiz unterdrücken.
„Wozu das Ratespiel? Bringen wir es hinter uns. Betäub
mich oder vergifte mich, Bastard!“
Jetzt schien er sich köstlich zu amüsieren. Er lachte so
sehr, dass die Spritze in seiner Hand auf und ab zitterte.
„Nein, nein, so leicht mach ich es dir bestimmt nicht. Wo
wäre da der Spaß? Aber so weit daneben liegst du gar nicht.“
Dabei wechselte der Ton seiner Stimme von Belustigung zu
einem eiskalten Unterton.
„Das hier …“, jetzt hielt er mir die Kanüle direkt vor die
Augen. „Das hier ist mein Gift!“ Oh Gott, was hatte er damit
vor? Tausend wirre, abscheuliche Gedanken jagten durch
meinen Kopf. Einer davon ließ mich erstarren. Wollte er
mich gar verwandeln? Mich? Wieso?
Ich würde nicht lange auf die Antwort warten müssen. Er
setzte zu einem langen Vortrag an. Dafür entfernte er sich
extra von meinem Rücken, wofür ich dankbar war. In einer
raschen Bewegung zog er den zweiten Stuhl von der Wand
heran und stellte ihn, mir direkt gegenüber, auf. Er setzte sich
und stützte beide Ellbogen auf die Knie. Mir zugeneigt, und
in sich selbst hineinschmunzelnd, fing er mit seiner Erklä-
rung an, die Spritze dabei immer fest in der rechten Hand.
249
„Sieh mal, ich hatte viele Ideen, was dich betraf, aber nur
eine schien mir letztendlich perfekt zu sein, um das in Gang
zu bringen, was ich brauche, um ihn an seinen Platz zu zwin-
gen.“ Er schien seine Manipulations-Deklaration einfach zu
genießen. Jetzt wirkte er auf mich wie ein James-Bond-Bö-
sewicht, der dumm und selbstsicher genug ist, um dem Hel-
den seinen geheimen Plan zu verraten, anstatt ihn einfach
nur durchzuführen. Doch dieses leichtsinnige Verhalten er-
möglichte es dem Helden, genug Zeit dafür zu haben, sich
aus seiner Lage zu befreien. Ob ich auch auf so ein Wunder
hoffen konnte? Nur, das hier war kein James-Bond-Film und
Farkas schlimmer als jeder Filmschurke, den ich je gesehen
hatte. Schließlich waren diese Monster trotz allem nur Men-
schen. Farkas war etwas anderes, etwas Böses, etwas Un-
menschliches. Und damit meinte ich gar nicht so sehr sein
Wolfswesen. Es war etwas abgrundtief Finsteres in ihm.
Er schien zu merken, dass ich ihn irgendwie musterte,
drohte, gedanklich abzuschweifen, abzutauchen in abstruse
Vorstellungen, um meine Situation zu begreifen.
Ein Schutzmechanismus von mir, wie ich vermutete, um
meine „bange“ Realität und Todesgefahr weniger real zu er-
leben. Lächerlich, denn auf Farkas war Verlass. Er hob mich
immer wieder auf mein Angstniveau zurück, zwischen er-
duldeter Panik und angespannter Verzweiflung. Es reichte
schon, dass er sich noch weiter zu mir nach vorne lehnte und
ich nicht zurückweichen konnte, und ich war wieder schlag-
artig gefangen in seiner Droherklärung.
„Es ist eigentlich einfach“, versicherte er, mit gespielt nai-
ver Stimme. Wobei er gleichzeitig sehr geschäftsmäßig tat,
als wäre das hier nichts Persönliches. In diesem Ton fuhr er
fort.
„Ich injiziere dir das Gift. Voilà! Dadurch wirst du dich
verwandeln und bist eine von uns. Und das Beste: Du wirst
dich nicht mal mehr daran erinnern, wie es passiert ist oder
wer es getan hat!“ Jetzt streckte er triumphierend die Hände
in die Höhe, um gleich einen draufzusetzen.
250
„Eigentlich tue ich ihm einen Gefallen“, wandte er ein
und rieb sich dabei geziert nachdenklich das Kinn. Ich konn-
te mir in diesem Moment nicht vorstellen, wie mein Ge-
sichtsausdruck aussah, aber jeder Muskel in meinem Körper
schien angespannt und taub zugleich.
Was für ein Monster! Ein Vater, der seinen eigenen Sohn zu
einem Leben verdammt, das ihn seit Jahrzehnten quält, und
dann noch sein Mädchen zu demselben „Leben“ verdammt,
um dann noch die Frechheit zu besitzen zu behaupten, er
tue ihm damit einen Gefallen! Ein eiskaltes Monster, das
war er. Er musste genau wissen, dass es Istvans schlimmster
Albtraum war, dass ich verwandelt werden könnte und dann
noch seinetwegen. Das würde ihn umbringen. Der Gedan-
ke daran schmerzte viel mehr als die Angst davor, ich müss-
te mit einem solchen „Leben“ klarkommen. Aber ich hatte
noch keine Ahnung. Es sollte noch viel schlimmer kommen.
Ich hatte Farkas Bösartigkeit tatsächlich unterschätzt.
„Ach, noch eine Kleinigkeit, was dich angeht. Was denkst
du, wen du für deine Wandlung verantwortlich machen
wirst, wenn du ohne jede Erinnerung an mich im Wald auf-
wachst?“
Bastard! Dachte er tatsächlich, ich könne denken, dass
Istvan es getan hätte? Ich wollte ihn anschreien, aber ich war
noch immer taub, starr vor Entsetzen. Diese Reaktion schien
genau das zu sein, was er von mir erwartet hatte. „Siehst du,
du zögerst. Streitest es nicht sofort ab“, zischte er selbstgefäl-
lig. In Gedanken versuchte ich, zu mir selbst zurückzufinden.
Logik und Vernunft mussten mir dabei helfen. Bald hatte
ich in meinen Gedankengängen gefunden, was ich brauchte.
Das gab mir wieder die Fähigkeit zu sprechen. „Wieso soll-
te ich glauben, dass er mir etwas angetan hätte. Schließlich
würde ich keinen Biss haben. Spritzen hinterlassen für ge-
wöhnlich keine Bissspuren!“, verkündete ich altklug. Wenn
ich derart besserwisserisch sprach, vermittelte ich den Ein-
druck, selbstbewusster zu sein, als ich tatsächlich war. Das
kam mir jetzt gelegen. Ich fuhr mit meinen Ausführungen
251
fort und versuchte, ihn nicht zu Wort kommen zu lassen:
„Und außerdem würde ich doch nur in Betracht ziehen, dass
er es gewesen sein könnte, wenn es nach einem Unfall aus-
sähe. Und eine Unfalltheorie verlangt nach einer Bisswun-
de!“ Doch er hatte an alles gedacht.
„Mädchen“, nannte er mich herablassend, „das ist ja das
Geniale daran“, dabei untermalte er seine Ausführungen
jetzt mit Gesten, wie es Politiker im Wahlkampf tun. „Du
wachst im Wald auf. Kannst dich an nichts erinnern. Hast
keine Wunde. Du wirst dich nicht sofort verwandeln, denn
heute ist die letzte Vollmondnacht. Natürlich verbringst du
deine ganze Zeit mit ihm, als wäre nichts geschehen. Und
dann – Bamm!“ Seine geballte Faust schlug gegen seine
Handfläche. „Knapp 30 Tage später bekommst du die ersten
Symptome und vermutest zuerst nur, du hättest Fieber. Doch
mittlerweile weißt du genug über uns. Es wird die erste Voll-
mondnacht des Monats sein und du kennst die Anzeichen.
Das Fieber, die Schmerzen, der Drang des Wolfes. Und dein
erster Gedanke wird sein – ganz leise in dir: Der einzige Wer-
wolf, mit dem ich in den letzten Wochen Kontakt hatte, ist …
Ta ta ta ta!“ Jetzt schien er in eine Art Siegesrausch zu ver-
fallen. Er täuschte sogar Trommelwirbel vor. Ich war schier
sprachlos. Er musste alles von langer Hand geplant haben.
Alles stimmte, wie ich zugeben musste, das Timing, die An-
zeichen. Ich hätte gar keine Wahl, als zu zweifeln. Er hatte
offenbar aus Istvans Aufzeichnungen herausgelesen, dass ich
ein pragmatischer Grübler war, der die vernünftigste Alter-
native zuerst bedenken würde, auch wenn sie mir das Herz
bräche. Ich durchleuchtete seinen Plan binnen Sekunden
im Kopf, wog alles noch einmal ab und suchte verzweifelt
nach einer Schwachstelle. Aber es wollte alles zu gut passen.
Bis auf … Ich hatte Istvan selbst aus der Gleichung genom-
men. Was wäre mit ihm? Er würde mich sicher davon über-
zeugen können, dass er mir nichts angetan hätte. Natürlich
würde er das. Ich würde ihm in die Augen sehen und sofort
wissen, dass er die Wahrheit sagt. Jetzt holte ich zum Gegen-
252
schlag aus. „Hast du da nicht etwas vergessen? Was ist mit
Istvan? Sein Erinnerungsvermögen wäre doch intakt und er
würde mich schon davon überzeugen, dass er mir nichts ge-
tan hatte!“
Ha! Nun hatte ich gepunktet. Dachte ich zuerst, denn
er schien nicht sonderlich geknickt durch meinen Einwand.
Farkas winkte nur lässig mit einer Hand hin und her und
meinte: „Vielleicht ja, vielleicht nein. Schon möglich, dass er
es schafft, dich zu überzeugen. Doch eines wüsste er ohne
Zweifel. Wie er es dreht oder wendet, er würde die Schuld
an deiner Verwandlung haben. Schließlich hat dich einer
aus seiner Welt verwandelt und ohne ihn wärst du nie in
diese Gefahr gekommen. Ich kenne meinen melodramatisch
von Selbsthass zerfressenen Sohnemann. Er würde sich die
Schuld geben und ausrasten. Er wird sich aufmachen, den
Werwolf zu suchen, der dich verdammt hat. Auch wenn er
natürlich nicht wüsste, dass er eigentlich nach mir suchen
würde. Und genau da komme ich wieder ins Spiel!“ Was
mich noch mehr aufbrachte als die Details seines perfiden
Plans, war, dass er ihn Sohnemann genannt hatte. Doch ich
konnte mich nicht auf meinen Ekel konzentrieren, dazu war
ich in seinen fieberhaften Ausführungen zu sehr gefangen.
„Nachdem er dich verlassen hat, um seine Rache aus-
zuüben, feiern wir beide unser kleines Wiedersehen. Doch
diesmal wird es für dich nicht so glimpflich ablaufen. Um
ehrlich zu sein, werde ich dich dann töten müssen.“
Er machte an dieser Stelle keine dramatische Pause, wie
es mein Gehirn tat bei dem schrecklichen Gedanken. Er rat-
terte weiter seine Rede herunter, unaufhaltsam.
„Irgendwann wird er dann zurückkommen und dich tot
vorfinden. Es wird nach Selbstmord aussehen. Zerfressen
von Schuldgefühlen und Wut wird alles Menschliche in ihm
sterben und dann wird er bereit sein für mich. Für mich und
mein Angebot. Ich werde als sein Retter auftreten. Der ver-
lorene Vater, der seinem Sohn ein neues Wolfsleben, fernab
jeglichen menschlichen Schmerzes, anbietet“, verkündete er
253
in einem klischeehaften Ton, den ich sonst nur aus seichten
Frauenfilmen kannte. Die Worte, die darauf folgten, waren
so hasserfüllt und voller Schlechtigkeit, dass sich seine ganze
Körperhaltung veränderte und seine Stimme wieder diesen
„tierischen“, knurrenden Klang annahm. „Ich weiß, er wird
mir folgen und bald danach wird er mein Stellvertreter und
es wird nicht lange dauern und er wird sein wie ich. Wie es
sein sollte. Mein Sohn von meinem Wolfsblut.“
Das Blut gefror mir in den Adern, als ich die Bedeutung
der Worte verstand, als ich die Unausweichlichkeit des grau-
samen Schicksals dahinter zum ersten Mal deutlich spüren
konnte. Würde es tatsächlich so kommen? Wäre ich in nicht
einmal 30 Tagen tot und mein Istvan für immer verloren,
schlimmer noch, auf dem Weg, ein gefühlloses Monster zu
werden wie sein … Vater?
Nein. Auf keinen Fall. Das konnte ich nicht zulassen. Es
musste irgendeinen Weg geben, das zu verhindern. So gut er
auch alles geplant hatte, niemand konnte alle Eventuali täten
berücksichtigen. Ich musste nur lange genug die Spritze von
meiner Haut fernhalten, bis ich einen Ausweg wüsste. Er
schien meine Gedanken zu erahnen. Er stand vom Stuhl auf
und versicherte mir, nun gegen die Wand gelehnt, mit einem
Kopfschütteln: „Zwecklos. Du wirst keinen Ausweg finden.
Ich warte schon zu lange darauf, als dass ich jetzt zuließe,
dass noch irgendetwas dazwischenkäme. Das Einzige, wo-
rauf ich noch warte, ist der Sonnenaufgang, der übrigens
bald kommt, damit ich dir die Spritze geben kann, ohne dass
du dich sofort verwandelst.“
Er hatte recht. Die Zeit lief mir davon. Die Uhr an seinem
Handgelenk zeigte bereits kurz vor fünf an. In etwa einer
halben Stunde würde der Morgen anbrechen und das Unheil
seinen Lauf nehmen. Wie sollte ich, in nur einer knappen
halben Stunde, einen Ausweg aus einer ausweglosen Situa-
tion finden? Ich war verloren, und was mir den größten Kum-
mer bereitete, war, dass Istvan mit mir untergehen würde.
254
Farkas war nun absolut schweigsam. Ich konnte seine Stim-
me ohnehin nicht mehr hören, ohne einen Nervenzusam-
menbruch zu bekommen. Das einzige Lebenszeichen aus
seinem starren Körper kam, als er immer wieder ungeduldig
durch die spartanischen Vorhänge spähte, ob der Morgen
schon anbrach. Er war dabei sehr darauf bedacht, dass kein
Mondstrahl auf seine Arme fiel, der ihn verwandeln könnte.
Ich konnte mir also abschminken, dass er durch eine Nach-
lässigkeit in seine Wolfsgestalt gezwungen werden würde.
Wieder eine verlorene Hoffnung. Der Minutenzeiger der
Uhr hatte sich kaum bewegt und dennoch waren bereits vier
Minuten vergangen. Selbst die Zeit schien gegen mich zu
sein, und alles arbeitete offenbar für dieses Monster: meine
menschlichen Schwächen, meine Fesseln, die Tatsache, dass
Istvan keine Ahnung hatte, wo ich war, oder auch nur ahnte,
dass ich ihn Gefahr schwebte. Das Schicksal selbst schien
sich gegen mich und den Mann, den ich liebte, gewendet
zu haben. Wie bekämpfte man das Schicksal? Mit Mut? Mit
unbegründeter Hoffnung oder gar mit Glaube? Doch woran
jetzt noch glauben?
Das Einzige, was mir einfiel, woran ich glauben konnte,
war die Hoffnung, ihn wiederzusehen, auch wenn es eine
trügerische Hoffnung war, die bedeutete, dass das Ende und
die Trennung nahe waren, war es das Einzige, worauf ich
hoffen konnte. Wir würden noch einen Monat zusammen
haben, ahnungslos, immer noch verliebt, bevor die Katastro-
phe über uns hereinbrechen würde. Ich fügte mich also. Was
anderes blieb mir übrig, allein hier in diesem dunklen Raum
sitzend mit dem Monster an meiner Seite. Ich würde leben,
30 Tage lang. Ich würde ihn, trotz etwaiger Zweifel, lieben.
Das musste reichen. Es würde reichen.
05.15 Uhr. Vielleicht noch eine Viertelstunde, vielleicht
auch weniger. Bald würde ich nicht mehr hier sein, dafür
konnte ich dankbar sein. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die
ganze Nacht nicht geschlafen hatte und dennoch hellwach
war. Fühlte man sich immer so in den Stunden, in denen man
255
bewusst mit dem eigenen Tod konfrontiert wird? Ich würde es
bald herausfinden.
Er schien nicht mehr warten zu wollen, obwohl die Sonne
noch nicht mal anfing aufzugehen. Er wurde ungeduldig. Ein
Teil seines tierischen Wesens. Seine Gestalt erkannte ich nur
noch verschwommen vor meinen Augen, nur die Spritze sah
ich ganz deutlich, wie beides immer näher auf mich zukam.
Er war ganz stumm, beinahe mechanisch. Alles war gesagt,
jetzt musste er es nur noch tun. Ich wartete darauf, dass Pa-
nik in mir ausbrach oder dass ich anfing zu schreien. Aber
nichts. Ich war vollkommen apathisch. Ich schloss meine
Augen. Ich wollte nicht sehen, wie er meine Hand umfasste,
um mir genüsslich die Spritze in den Arm zu jagen. Ich woll-
te gar nichts mehr sehen. Es war schon genug, seine Nähe
spüren zu müssen. „Bald ist es vorbei. Bald überstanden“,
das sagte ich mir in Gedanken immer wieder, obwohl ich mir
selbst nicht glaubte. Das Einzige, was ich hinter meinen ge-
schlossenen Lidern wahrnahm, ganz deutlich, waren seine –
waren Istvans Augen und der Klang seiner Stimme, nahe bei
mir. Sein geistiges Bild vor Augen fing ich an, meine eigenen
Lügen zu glauben: „Bald ist es vorbei. Bald überstanden!“
Ich dachte zuerst, die Spritze würde das klirrende Geräusch
auf mir verursachen, aber das war vollkommen unmöglich. Es
war eindeutig zerspringendes Glas. Der Schock des Geräu-
sches veranlasste mich, automatisch die Augen aufzureißen.
Alles ging wahnsinnig schnell. Das Erste, was ich mit mei-
nen entsetzten Augen wahrnahm, war, dass ein Wolf durch
das Fenster gesprungen war und jetzt mitten im Raum stand.
Der Sprung des Wolfes hatte den Vorhang heruntergerissen
und das spärliche Mondlicht, das der fast anbrechende Mor-
gen vertreiben würde, schien jetzt in den Raum. Jetzt erst sah
ich ihn. Farkas hatte sich reflexartig in die Ecke gedrängt. Zu
spät, ein schwacher Strahl des Mondlichtes erfasste seine
Haut und er verwandelte sich. Es war jedoch nicht wie die
Verwandlung von Istvan. Zögerlich, mit Gegenwehr und von
256
Schmerzen begleitet. Es schien eher wie eine natürliche Re-
aktion auf das Licht, der er sich gar nicht entziehen konn-
te. Ehe ich noch irgendwie reagieren konnte, fing er an sich
zu krümmen und binnen einer Minute war er schon um die
Hälfte geschrumpft. Nur noch eine kurze Zeit und er wäre
der Wolf, den er über alles andere stellte. Auch wenn er das
erste Mal in seinem Leben die Wolfsverwandlung nicht her-
beigesehnt hatte. Farkas blieb keine Wahl. Der zweite Wolf
nutzte die kurze Ablenkung aus und kam auf mich zu. Da
erst erkannte ich ihn. Meine Augen waren noch zu sehr an
die Dunkelheit gewöhnt, um ihn gleich zu erkennen. Doch
jetzt – diese grünen, glänzenden Augen und die sandfarbe-
nen Flecken. Mein Wolf. Mein Mann war gekommen. Er
hatte uns gefunden.
Und jetzt reagierte er blitzschnell. Er sprang in einem
Satz hinter mich und zerbiss die Handfesseln. Ich wollte
instinktiv nach ihm fassen, doch er war schon wieder am
anderen Ende des Raumes bei Farkas, der gerade die Ver-
wandlung vollzogen hatte und nun mit gefletschten Zähnen
aus der Ecke kam. Die beiden Wölfe, der Mann, den ich
liebte, und der Mann, der mich gepeinigt hatte, standen
sich jetzt Schnauze an Schnauze gegenüber und knurrten
sich an. Keiner von beiden bewegte sich, doch beide Wölfe
waren eindeutig in Lauerstellung. Istvans Flanken waren so
angespannt, dass ich meinte, seine Muskeln würden zerplat-
zen, und das Knurren der beiden war dermaßen laut, dass
das Geräusch jeder Kettensäge Konkurrenz gemacht hätte.
Ich konnte meine Augen nicht von ihnen abwenden. Auch
wenn ich fühlen konnte, dass mein Wolf nur abwartete, bis
ich mich befreien würde und mich in Sicherheit brächte,
damit er seinen Angriff beginnen könnte. Doch meine eige-
nen Hände wollten mir nicht gehorchen. Der Schock ließ
sie so sehr zittern, dass ich es nicht gleich schaffte, die Fuß-
fesseln zu lösen. Ich musste mir ein paar Mal die Hände
schütteln und mich gedanklich ermahnen: Jetzt reiß dich
aber zusammen!
257
Es klappte. Ohne die beiden Wölfe aus den Augen zu las-
sen, löste ich die Fesseln nacheinander und bugsierte mich
in die hinterste Ecke des Raumes. Der Steingrill bot sich an
und ich ging hinter ihm in Deckung. Sobald ich meinen Kopf
eingezogen hatte, hörte ich auch schon das Jaulen von einem
der Wölfe. Doch ich konnte nicht sagen, von welchem.
Mein Herz setzte aus. Ich musste an der Seitenwand vorbei
nach ihm sehen. Es war nicht mein Wolf, der gejault hatte.
Istvan stand noch unverletzt in der Mitte des Raumes. Of-
fenbar hatte er Farkas einen Hieb versetzt, der ihn gegen
die Ostwand krachen ließ. So wie er gejault hatte, musste er
verletzt sein. Was mir, zugegeben, Genugtuung verschaffte.
Doch so leicht wollte er sich nicht geschlagen geben und
setzte zum Sprung auf Istvan an. Wo zum Teufel ist eine Fa-
ckel, wenn man eine braucht? , dachte ich. Dann könnte ich
es ihm selbst zeigen. Doch Istvan schien meine Hilfe oder
meinen Einsatz weder zu wollen noch zu brauchen. Das
Adrenalin musste in seinem Wolfskörper toben, denn er er-
wischte Farkas mitten im Sprung und biss ihm in den rechten
Vorderlauf. Wieder heulte der Wolf Farkas auf. Ich sah einen
Wechsel des Lichtes. Der Tag brach an und gleich würden
sich beide zurückverwandeln. Doch so weit kam es nicht.
Der letzte Angriff von Istvan schien zu wirken. Wolf Farkas
humpelte mit einer angeschlagenen Vorderpfote rückwärts
aus der Tür. Istvan schien ihm erst folgen zu wollen, überleg-
te es sich dann doch anders und ging ebenso rückwärts, die
Aufmerksamkeit Farkas zugewandt, in meine Richtung.
Als Farkas endgültig aus der Tür war, begann bei Istvan
schon die Rückverwandlung. Wie immer ging es dabei sehr
schnell. Schließlich wehrte er sich dagegen viel weniger. Bin-
nen einer Minute lag der Mann Istvan auf dem Boden. Noch
ehe er ganz ein Mensch war, fragte er: „Geht es dir auch gut?
Bist du auch nicht verletzt?“ Er war noch nicht mal aufge-
standen und ich versicherte ihm, dass ich unverletzt sei. Da
packte ihn nochmals das Adrenalin und er hechtete, immer
258
noch auf Kampf gepolt, aus dem Zimmer, nackt, wie er war.
Ich versuchte ihm zu folgen, mit wackeligen Beinen.
Doch er kam zu spät. Istvan konnte gerade noch einen
kurzen Blick auf Farkas in seiner menschlichen Gestalt er-
haschen, als dieser sich kurz umdrehte, um dann im Wald
zu verschwinden. Der Moment war gerade lange genug, da-
mit Istvan von nun an wissen würde, wie sein vermeintlicher
Gegner aussah. Doch wie sollte ich meinem Retter klar ma-
chen, dass sein Feind, vor dem er mich bewahrt hatte, auch
sein Vater war? Wie würde er das aufnehmen? Wie konnte
ich ihm so wehtun? Wieso musste ausgerechnet ich es sein,
die Frau, die ihn so sehr liebte, die ihm klarmachen musste,
dass sein Vater ein Monster war, dass er es war, der ihn zu
diesem Leben als Wolf verdammt hatte?
Ich wünschte mir mehr als alles andere auf der Welt, ich
müsste es ihm nicht sagen, doch ich konnte ihn nicht belü-
gen. Er hatte ein Recht auf die ganze Wahrheit, wie schreck-
lich sie auch immer sein mochte. Es lag ein schwieriger Tag
vor uns.
Doch in dem Augenblick, als er auf mich zukam und ich
mit einer Decke in der Hand auf ihn zuging, um ihn zu be-
decken, dachte ich an gar nichts. Ich schlug ihm nur die
Decke über die Schultern und sank in seine Umarmung. Sei-
ne Arme umschlangen mich so fest, dass ich mich in seiner
Wärme verlor, und für einen kurzen, glücklichen Moment
vergaß ich all den Wahnsinn, der noch vor uns lag. Denn ich
war am Leben, ich war in seinen Armen und es gab wieder
Hoffnung in meiner Welt.
259