8. Wolfsblut im Schnee
Seit den letzten Vollmondnächten hatte ich Istvan endlich
dazu gebracht, mir bedingungslos zu vertrauen. Er erlaub-
te mir sogar, manchmal am Abend vorbeizukommen, auch
wenn es etwas unvernünftig war. Deshalb ließ ich meinen
Wagen, den man wahrscheinlich sofort erkannt hätte, im-
mer zu Hause und ging über den Waldrandweg zu seinem
Haus. Ich nahm die Abkürzung über den Friedhof, wo zu be-
stimmten späten Stunden kein Mensch mehr zugegen war,
und ging weiter über den Hinterhof zu seinem kleinen, et-
was versteckten Garten, den man von außen kaum einsehen
konnte. Wieder einer dieser angeblichen Zufälle, die mir klar
machten, wieso er ausgerechnet die frühere Schule als sein
neues Zuhause gewählt hatte.
Ich hielt unsere neuen Gewohnheiten nicht für unver-
nünftig oder unvorsichtig, da ich nun nicht mehr täglich in
der Bibliothek auftauchte, was mir selbst schon verdächtig
vorkam. Außerdem konnte ich mir so seine persönlichen Sa-
chen genauer ansehen. Wir saßen die meiste Zeit im Wohn-
zimmer, wo er auch ein kleines Büro hatte, oder im Eng-
lischen Büchersaal, schließlich gab es dort die umwerfende
Plattensammlung, die ich auch nach Wochen noch nicht
vollständig ergründet hatte.
Meistens, wenn ich abends kam, suchte ich mir ein paar
Platten aus, die wir dann im Wohnzimmer mithilfe seiner
Hi-Fi-Anlage anhörten. Den kleinen Koffer-Plattenspieler
in seinem Schlafzimmer benutzten wir nie. Ich betrat das
Schlafzimmer ohnehin nur, wenn ich ihm half, die Verwand-
lungsschmerzen zu überstehen. Beim Abspielen der unzäh-
ligen Platten versorgte er mich immer mit gutem Rotwein
aus dem Burgenland oder Niederösterreich, den er extra
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für mich besorgte, denn Istvan trank nicht. Nicht etwa aus
Überzeugung, sondern weil, wie er mir einmal gestand, Al-
kohol auf ihn nicht die geringste Wirkung hatte, ebenso we-
nig wie Koffein. Wir passten unsere Unterhaltungen dabei
der Musik an. So sprachen wir beim Hören von Mozart oder
Beethoven über die Werke von Goethe und Schiller. Hörten
wir jedoch Jazz von Chet Backer oder Coltrane sprachen wir
über Beatnick-Autoren wie den Amerikaner Jack Kerouac
oder Anais Nin. Er kannte jedes Buch. Es war unglaublich.
Ich las auch viel, doch Istvan kannte jedes Buch, von dem
ich irgendwann einmal gehört hatte. Manche davon sogar
fast auswendig. Es war schwer für mich mitzuhalten, wenn
er mit mir über Bücher sprach, und wir waren oft, allzu oft,
anderer Meinung. Wenn wir dann über Bücher oder Auto-
ren stritten, war es nie unangenehm, ganz im Gegenteil, ich
hatte es noch nie so genossen, mit jemandem über etwas zu
diskutieren. Mit jedem weiteren Abend und jedem Besuch
in der Bibliothek lernte er mehr über meine Sturheit und
ich lernte aus seinen literarischen Neigungen, dass er sich
nur zu gern mit Figuren und Helden identifizierte, die mit
sich selbst im Konflikt standen. Heldenhafte Figuren lehnte
er ab, ebenso wie berühmte weibliche Figuren, die schwach
und unselbstständig waren. Das entsprach nicht seinem
Frauenbild, was ich ungewöhnlich fand für einen Mann, der
in den 30ern aufgewachsen war. Doch wie ich von seiner
Mutter Maria wusste, war sie eine starke, selbstständige
Frau. Von daher ergab es schon eher Sinn. Er favorisierte
deshalb ausschließlich willensstarke, ungewöhnliche Hel-
dinnen, auch wenn diese eher unmoralisch handelten. Eine
seiner amerikanischen Lieblingsheldinnen war die verbotene
Liebhaberin aus „Der Scharlachrote Buchstabe“. Ich teilte
seine Überzeugung, wobei meine liebsten Romanheldinnen
aus einer anderen Zeit stammten. Besonders schwärmte Ist-
van für Alexandre Dumas’ Kameliendame, die als unmora-
lische Frau ihren Liebsten wegstößt, um ihn zu retten. Er
liebte diese Figur schon aus dem Grund, weil sie die Vorlage
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zu seiner Lieblingsoper La Traviata lieferte. Er hatte sogar
mehrere Schallplatten über verschiedene Inszenierungen
von Verdis La Traviata. Seine absolute Lieblingsaufnahme
war die von 1953, da in dieser Inszenierung Maria Callas die
Violetta sang. Jedes Mal, wenn er mir diese Opernmelodien
vorspielte, besonders bei den Arien von Violetta, schweifte
sein grüner Blick in eine unendliche Weite und er bekam
einen ähnlich friedlichen Ausdruck wie beim Lesen eines in-
teressanten Buches. Dann fiel es mir am schwersten. Dann
war es fast unmöglich, ihn nicht zu berühren. Doch in diesem
Punkt hatte sich in unserer Freundschaft nichts geändert.
Wir berührten uns jetzt nicht mehr. Eigentlich nicht mehr
seit seinem Geständnis im Wald nach der ersten Verwand-
lungsnacht, von dem ich eigentlich nichts wissen durfte.
Es war frustrierend, so viel mit jemandem zu teilen, all
diese Geheimnisse und Gedanken, und dann immer nur mit
einer Armlänge Abstand beieinanderzusitzen. Ich fragte mich,
ob sich das je ändern würde oder ob von nun an die Konturen
unserer Freundschaft fest in Stein gemeißelt waren.
In der Zwischenzeit war es November geworden. Einer der
kältesten November, die wir je hatten. Es gab einen frühen
Wintereinbruch. So kam es, dass schon eine reichliche Menge
Schnee gefallen war, die nicht wie üblich wieder wegschmolz,
sondern den gesamten Wald bedeckte. Die Vollmondnäch-
te dieses Monats standen unmittelbar bevor und ich hatte
dieses Mal keinen Zweifel daran, dass ich bei Istvan bleiben
durfte. Ich würde ihm wieder beistehen, dessen war ich mir
ganz sicher, und ein Teil von mir hegte die leise Hoffnung,
dass auch dieses Mal eine kleine Unachtsamkeit von Istvan
die Anziehung zwischen uns erneut entfachen könnte.
In der ersten Nacht wartete ich in seinem Haus auf ihn.
Er kam direkt von der Bibliothek und hatte noch ein paar der
englischen Bücher auf dem Arm, die er wieder zurückstellen
musste. Es hatte sich tatsächlich jemand, außer mir selbst,
ein englisches Buch ausgeliehen. Ich konnte es kaum glau-
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ben. Ich war neugierig und er ließ mich einen Blick in die
Unterschriftenkarte werfen. Es war die Englischlehrerin des
Gymnasiums von Rohnitz. Das passte. Ich schüttelte amü-
siert den Kopf und Istvan stimmte in mein Grinsen mit ein.
In dieser Vollmondnacht waren seine Schmerzen zwar
schlimm, aber sie nahmen seinen Verstand nicht derart in
Anspruch wie sonst, sodass wir uns manchmal unterhalten
konnten. Ich hatte das Gefühl, es lenkte ihn ein wenig von
den körperlichen Qualen ab.
In dieser Nacht war etwas anders als sonst. Normalerwei-
se hatte es Istvan in seiner Wolfsform sehr eilig zu verschwin-
den. Seine Instinkte trieben ihn dann immer so schnell wie
möglich zu den nahe gelegenen Wäldern. Doch diesmal blieb
er etwas länger. Ich streichelte ihn, wie ich es bereits beim
allerersten Mal getan hatte. Ein wohliges Knurren bekam ich
als Antwort. Ich kniete mich daraufhin zu ihm hinunter und
ließ den Wolf seinen Kopf in meinen Schoß legen. Und so
komisch es auch klingt, es erinnerte mich an unser Beieinan-
dersitzen auf dem Turm.
Anscheinend galt das Berührungsverbot nur für seine
menschliche Form, denn der Wolf Istvan schien weitaus zu-
traulicher zu sein. Bevor er diesmal über die Hecke sprang,
stupste er mich noch zum Abschied mit der Schnauze auf den
Handrücken. Wieder einmal sah ich einen wunderschönen
Wolf mit grünen Augen, sandfarbenen Flanken und grauwei-
ßem Fell in den Nachthimmel springen und in der Dunkel-
heit verschwinden. Ich war in dieser Nacht derart aufgedreht
und unruhig, dass ich nicht schlafen konnte. Also ging ich
mitten in der Nacht zu mir nach Hause, holte meinen Wa-
gen und fuhr zum Nordlagerplatz, da er mir gesagt hatte, er
würde dorthin kommen, um die Vorräte am Südlager noch
aufzustocken. Ich fuhr also mitten in der mondhellen Nacht
auf die Passhöhe des Geschriebensteines und schlief in mei-
nem Wagen. Dabei hörte ich die CD von La Traviata, die ich
mir bestellt hatte, als er mir von seiner Leidenschaft für die-
se Oper erzählt hatte. Ich entschied mich ebenfalls für die
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Callas-Version und musste zugeben, dass ihre Stimme etwas
hatte, das einen nicht wieder los ließ.
Es beschwor eine ganz besondere Stimmung herauf, die-
se Opernstimme auf einem von Wald und Nacht umgebenen
Parkplatz zu hören. Ich fragte mich, ob er die Musik durch
meinen Wagen hindurch hören konnte, wenn er in der Nähe
war, und wurde just in dem Moment von seiner Anwesen-
heit überrascht. Ich sah plötzlich einen Wolf am Anfang des
Wanderwegs auftauchen, der sich meinem Wagen näherte.
Ich öffnete die Wagentür, und obwohl ich wusste, dass der
Wolf Istvan war, zitterten meine Hände ein wenig. Vermut-
lich die instinktive Reaktion eines Menschen, der auf ein
Raubtier im Wald trifft, sagte ich mir selbst. Der Wolf blieb
auf halber Strecke stehen und machte den Eindruck, als ob
er auf mich warten würde.
Ich ließ den Wagen stehen, mit offener Tür, die Musik
verklang leise und verlor sich im Wald, in den Bäumen und
Hügeln.
Als ich ihn fast erreicht hatte, lief er ein paar Meter weiter.
Istvan wollte mich offenbar zum Nordlager führen. Ich ging
ihm nach und traf nach ein paar Minuten auf der kleinen
Lichtung ein. Jetzt war ich also im Zentrum des Waldstücks,
dem man den Namen Wolftanz gegeben hatte, weshalb auch
immer. Mein Wolf war jedenfalls dort und schien tatsächlich
zu tanzen. Er sprang aufgeregt hin und her, als warte er da-
rauf, mit mir zu spielen. Ich ging auf ihn zu und wollte, wie
üblich, die Hand nach ihm ausstrecken. Doch als ich ihn fast
erreicht hatte, lief er blitzschnell davon und tauchte hinter
mir wieder auf. Ich versuchte es noch mal, doch er war ein-
fach zu schnell, vollkommen in seinem Element. Es wurde
ein Spiel daraus und ich lachte, während er Freude daran
hatte, immer mal wieder hinter einem Baum hervorzukom-
men oder plötzlich von einem Felsen zu springen. Ich wurde
langsam müde, es mussten ja schon drei oder vier Uhr sein,
und holte die Decke aus der Kiste. Eigentlich hatte ich er-
wartet, dass er, sobald ich mich hinlegte, davonlaufen würde.
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Doch er gesellte sich zu mir, seinen Unterkiefer auf meinen
Bauch legend. Ich schlief irgendwann ein, während ich noch
immer seinen Kopf kraulte. Als ich am Morgen aufwachte,
lag aber nicht der Kopf eines Wolfes auf meinem Bauch, son-
dern ein Kranz aus Zweigen und Blättern, wie Kinder ihn
basteln, wenn sie sich im Wald langweilten, während ihre
Eltern die Waldarbeit erledigten.
Und neben mir lag Istvan, nackt, auf seinem Bauch. Er
hielt den Kranz, den er für mich geflochten hatte, in der
Hand, als hätte er noch eine Sekunde zuvor daran gearbeitet.
Ich zwang mich, meinen Blick nicht seinen Körper entlang-
wandern zu lassen, und blickte stattdessen in sein Gesicht.
Er machte einen friedlichen, schlafenden Eindruck. Istvan
schien so sehr mit dem Wald verbunden. Es war kaum zu
glauben. Jeder andere nackte Mann hätte hier völlig fehl
am Platz gewirkt. Aber Istvans Anwesenheit im Wald schien
ganz natürlich. Seine grünen Augen, das sandfarbene Haar
und die leicht gebräunte Haut. All das schien hierher zu ge-
hören. Es war schwer, das nicht zu bemerken, auch wenn er
es vermutlich leugnen würde. Ich berührte ihn ganz leicht
an der brennenden Schulter, um ihn zu wecken. Die erste
menschliche Berührung zwischen uns seit Wochen, schoss
es mir durch den Kopf. Ich versuchte, nicht allzu viel da-
rüber nachzudenken. Schon bevor meine Finger die Haut
berührten, öffnete er die Augen.
„Gefällt dir der Kranz? Ich habe keinen mehr gemacht
seit fast siebzig Jahren“, sagte er und grinste dabei spöttisch.
Er war anscheinend noch in derselben neckischen Laune
wie letzte Nacht in seiner Wolfsform.
„Ja, ist mal etwas anderes. Ich habe bestimmt seit meiner
Kindheit keinen Zweigkranz mehr getragen“, antworte ich
ihm und setzte den Kranz wie eine Krone auf mein Haupt,
ebenfalls breit lächelnd.
„Na, wie sehe ich damit aus?“, fragte ich herausfordernd
und drehte meinen Nacken in einer präsentierenden Pose,
die mir etwas lächerlich vorkam.
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Er musste laut auflachen und konnte sich gar nicht mehr
einkriegen. Istvan vergrub sogar vor lauter heftigem Geläch-
ter sein Gesicht in der Decke.
„Was? Was ist? Was ist denn so komisch?“, wollte ich wis-
sen und konnte mir ebenfalls das Lachen nicht verkneifen.
„Wir beide, Joe. Erinnert dich diese Szene nicht an et-
was?“, fragte er, wobei ich ihn kaum verstehen konnte, weil
er vom vielen Lachen ganz atemlos klang. Ich zuckte ah-
nungslos mit den Achseln.
„Du mit der Zweigkrone und ich splitterfasernackt und
dann noch das Ganze mitten im Wald. Wir beide sehen aus
wie Lady Chatterley und ihr Liebhaber.“ Oh!
Jetzt verstand ich und musste ebenfalls laut auflachen,
bis ich nur noch mein Gesicht in der Decke vergraben konn-
te. Er hatte auf die Szene angespielt, in der die verheiratete
Lady ihren Wildhüter symbolisch ehelicht und das so, wie
Gott sie schuf. Es war zu komisch. Fast schon absurd. Aber
er hatte recht. So mussten wir aussehen.
Nachdem wir uns beruhigt hatten und er endlich angezo-
gen war, scherzten wir noch den ganzen Tag und auch in der
darauffolgenden Vollmondnacht über den Liebesroman von
D. H. Lawrence. Wobei er sich am nächsten Morgen einen
Spaß daraus machte, die kitschigsten und treffendsten Pas-
sagen daraus zu rezitieren.
Vor ein paar Wochen hätte ich es noch für absolut un-
möglich gehalten, dass wir beide in solchen Situationen he-
rumalbern konnten. Doch wir hatten es geschafft.
Am dritten Tag konnte ich es kaum noch erwarten, wie-
der bei ihm zu sein und weitere ungewöhnliche Erfahrungen
dieser Art mit Istvan zu machen. Doch ich sollte bitter ent-
täuscht werden.
Ich war an diesem Tag nicht in der Bibliothek, da ich für
einen Auftrag, eine Gedenkveranstaltung für einen Wissen-
schaftler, nach Wart musste. Ich lieferte die Bilder, die ich
von der Gedenkfeier gemacht hatte, gleich in der Redaktion
ab und fragte, ob ich einen der PCs benutzten dürfte, um
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meinen Artikel gleich in das Layout zu schreiben. Im Hinter-
gedanken sicherte ich mir damit mehr Freizeit, um heute
Abend den Kopf ganz für Istvan und die letzte Vollmond-
nacht freizuhaben. Ich war recht flott mit dem Artikel fertig.
Ich hatte nur zwei Spalten zur Verfügung und das Thema
schrieb sich fast von selbst. Ich wollte gerade aus dem Com-
puterprogramm aussteigen, da trat Frank, der Chefredakteur
des Lokalblattes, an mich heran. Frank war ein dreißigjäh-
riger, ehemaliger Basketballspieler mit brauner Haut und
brünetten, kurzen Haaren. Er war ein riesiger Mann,
über 1,90, genau konnte ich es nie sagen. Er hatte dieses
Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn er etwas von einem
wollte. Ich machte auf dem übervollen Schreibtisch etwas
Platz, damit ich meinen Ellbogen abstützen konnte.
„Du siehst so aus, als hättest du mir etwas zu sagen. Na
dann, raus damit.“
Er druckste herum. Eine komische Angewohnheit für
einen Chef, aber ich hatte mich daran gewöhnt.
„Na ja. Ich habe gerade einen Anruf von eurem Bürger-
meister bekommen. Etwas ist bei euch passiert, auf dem
Meyer-Hof“, sagte er und rieb sich dabei hektisch die Nase.
Er schien etwas verschnupft zu sein. Kein Wunder bei die-
sem kalten Novemberwetter.
„Taucher hat dich angerufen? Wieso? Was gibt’s denn so
Außergewöhnliches auf dem Meyer-Hof?“, fragte ich ein we-
nig irritiert. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, worum es
dabei gehen könnte.
„Angeblich hat er fast seinen ganzen Schafbestand verlo-
ren. Irgendetwas hat die Schafe angegriffen und die meisten
getötet. Du solltest dir das selber ansehen und mach ein paar
Fotos. Aber nichts zu Blutiges, sonst laufen noch die Anzei-
genkunden Sturm.“
Er schien ebenso überrascht über diesen Vorfall wie ich.
Es gab bei uns nur noch wenige Schafhalter und noch weni-
ger Füchse. Schon gar nicht kamen sie in ein Dorf und ris-
sen dort Lämmer. Ich fragte mich, was wohl dahintersteckte,
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und musste, ganz ohne jede böse Absicht, an die Tatsache
denken, dass ich jetzt wusste, dass es Werwölfe gab. Ob das
irgendetwas mit diesem Vorfall zu tun hatte?
„Der Meyer, Franz heißt er, glaube ich, und der Bürger-
meister erwarten dich um halb fünf“, fügte er noch hinzu.
Er ging natürlich davon aus, dass ich die Story machen
würde. Schließlich war die ganze Sache in St. Hodas gesche-
hen und ich wohnte dort. Und Frank konnte ja nicht wissen,
dass ich um diese Zeit andere Verpflichtungen hatte, die ich
ihm nicht als Grund für eine Absage angeben konnte. Also
sagte ich zu, schnappte mir meine Kamera und verabschiede-
te mich schnell und etwas unhöflich von meinen Kollegen.
Es war gerade vier Uhr geworden, also versuchte ich, Istvan
noch in der Bibliothek zu erwischen. Ich hatte die Nummer
gespeichert und wartete nervös und ungeduldig auf eine Ant-
wort. Doch am anderen Ende der Leitung hörte ich nur das
Freizeichen und kurz danach die Bandansage, dass die Bü-
cherei derzeit unbesetzt sei, aber man eine Nachricht hinter-
lassen könne, was ich tat. Ich telefonierte beim Fahren und
hielt den Hörer ungeschickt an ein Ohr, während ich mit der
anderen Hand den Wagen lenkte, wenig gekonnt. Ich musste
meine Nachricht möglichst neutral halten, da ich nicht wis-
sen konnte, ob nicht doch jemand zuhörte.
„Istvan, hier ist Joe vom Lokalblatt. Ich wollte Sie nur
da rüber informieren, dass ich die Verabredung dieses Mal
nicht einhalten kann. Ein anderer Auftrag kam dazwischen.
Rufen Sie mich bitte zurück, sobald Sie das abhören.“
Meine Ansage war klar und gleichzeitig unbestimmt ge-
nug, um keinen Verdacht zur erregen. Die Verwendung der
höflichen Sie-Anrede war vielleicht etwas übertrieben, aber
mir blieb keine Zeit für Raffinesse.
Nachdem ich aufgelegt hatte, wählte ich die nächste
Nummer, den Festnetzanschluss seines Hauses, den ich
unter I. J. abgespeichert hatte. Alles im Namen der Geheim-
haltung. Wieder hob keiner ab und ich musste eine weitere
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Nachricht auf einen Anrufbeantworter sprechen. Diese fiel
deutlich persönlicher aus.
„Istvan, ich bin’s, Joe. Es ist etwas passiert. Ich habe
einen dringenden Auftrag bekommen und kann nicht zu
dir kommen, wie üblich. Ich muss dir aber unbedingt etwas
erzählen. Es könnte wichtig sein. Ruf mich sofort zurück.
Ich werde versuchen, gleich nachdem ich fertig bin zu dir zu
kommen. Ach ja, und bitte besorg dir ein Handy.“
Seine Weigerung, ein Mobiltelefon zu benutzen, kam in
diesem Moment sehr ungelegen.
Ich bog von der Schnellstraße nach St. Hodas ab und
nach der dritten Straße nahm ich den langen Feldweg. Nach
einer kurzen Fahrt stand ich vor dem alten Meyer-Hof. Der
alte Franz Meyer war noch einer der wenigen Bauern im
Dorf und hatte sich vor eine paar Jahren zu seinen Kühen
und Schweinen noch eine Schafherde angeschafft. Vorwie-
gend ging es ihm um die Wolle.
Als ich den Motor abgestellt hatte, sah ich bereits Tau-
cher und den alten Meyer mit dem krummen Rücken, die
auf meine Ankunft warteten. Ich atmete kurz durch und
schnappte mir die Kamera.
Der besorgte Ausdruck von Bernd und der des alten
Bauern machten mich nicht gerade zuversichtlich. Ich ließ
ein leises und vorsichtiges „Hallo“ fallen, das vom Bürger-
meister in derselben Weise erwidert wurde. Der alte Meyer
konnte seinen Ärger nicht mal so lange unterdrücken, bis er
mich begrüßt hatte. Er tobte sofort.
„Das muss man gesehen haben! Es ist unglaublich! Was
zum Teufel hat dieses Ding bloß mit meinen armen Schafen
gemacht? Bitte, sieh dir das an“, schrie er förmlich und wink-
te mir, zu den Stallungen zu kommen.
Taucher folgte uns und wirkte, als hätte jemand die Luft
aus seinem Körper gelassen. So schweigsam hatte ich ihn
noch nie gesehen.
Wir betraten über einen matschigen Weg die Koppel. So-
fort sah ich, was den Bürgermeister verstummen und den
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Bauer vor Wut toben ließ. Inmitten der von Schnee bedeck-
ten Einzäunung lagen ein Dutzend Schafe mit zotteliger,
braun-weißer Wolle, die mit vertrocknetem Blut befleckt
waren. Ein paar von ihnen hatten deutliche Bisswunden.
Anderen waren die Innereien herausgerissen worden. Es
war ein widerlicher, schockierender Anblick. Ich konnte mir
beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein einzelner wilder
Fuchs das hätte anrichten können. Es musste ein tollwütiger
Hund oder eher ein ganzes Rudel von Raubtieren gewesen
sein. Ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich davon ein
Foto machen sollte ohne blutige Details, denn das Blut der
armen Schafe war überall.
Ich nahm meine Kamera, ging ein paar Meter zurück, um
eine Totalaufnahme zu machen, die weniger Details erken-
nen ließ.
Als ich fertig war, ging ich zum Bürgermeister zurück und
fragte ihn, noch immer ziemlich geschockt:
„Weiß man schon, was das gewesen sein könnte?“
„Der Tierarzt war schon vor ein paar Stunden da. Er ver-
mutete zuerst einen Fuchs. Beim Vermessen der Bisswun-
den änderte er seine Meinung und meinte, dass es wohl ein
tollwütiger Wolf sein müsste“, erklärte er sachlich. Mir blieb
beim Wort Wolf das Herz stehen und ich fühlte regelrecht,
wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. Ich drehte mich
um, um nicht länger dieses Massaker sehen zu müssen.
„Alles in Ordnung mit dir, Joe? Ist dir schlecht?“, fragte er
mit besorgter Stimme.
„Nein, schon o. k. Ich habe nur nichts gegessen und be-
stimmt nicht erwartet, ausgerechnet so was zu sehen“, er-
klärte ich und mein Tonfall machte noch immer einen
schwachen Eindruck.
„Was wird jetzt geschehen? Wegen des Angreifers, meine
ich“, fragte ich und schluckte dabei einen riesigen Kloß im
Hals hinunter.
„Ich habe gleich die zuständige Behörde verständigt und
sehr schnell eine Abschussgenehmigung erhalten“, sagte er
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selbstzufrieden und grinste mich dabei an. Ich kämpfte be-
reits gegen eine nahende Ohnmacht.
„Abschussgenehmigung?!“, schrie ich förmlich, wobei
Meyer mich böse anfunkelte.
„Ja, natürlich. Die Jäger sind verständigt und suchen nach
einem kranken Wolf, den sie schießen sollen“, fügte er hinzu,
während ich bereits zum Auto lief, panisch und ohne auch
nur einmal zurückzublicken. Ich ließ die beiden einfach ste-
hen und hievte mich in mein Auto. Die Kameratasche fiel
dabei unsanft auf den Unterboden meines Wagens.
Es war fast fünf. Die Zeiger der Uhr logen nicht. Ich
versuchte den Wagen zu starten und drehte dabei fast den
Schlüssel ab. Beim Ausparken starb mir zweimal der Mo-
tor ab. Wozu ich nur „Komm schon, verdammte Karre!“
schrie.
Beim Verlassen des Meyer-Hofes quietschten meine
Reifen, als würde ich an einem Formel-1-Rennen teilneh-
men. Und genauso fuhr ich auch. Ich blinkte nicht, hielt
mich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung und fuhr
wie eine Irre. Mein erster Stopp war sein Haus. Ich ließ
den Motor an und zog grob die Handbremse. Mit ein paar
hektischen Schritten war ich im Haus, durchsuchte jedes
Zimmer und schrie dabei immer panisch seinen Namen. Ich
ging zur Bib liothek, doch auch dort war keine Spur von ihm
zu sehen. Die Bücherei war bereist verschlossen und ich
hämmerte gegen das schwere Tor, ohne Erfolg. Mein Kopf
raste, ebenso mein Herz. Wo zum Teufel konnte Istvan ste-
cken? Wo nur? Vielleicht hatte er meine Nachricht nicht
bekommen oder vielleicht hatte er, gerade wegen meiner
Botschaft, beschlossen, die Verwandlung allein, direkt im
Wald zu überstehen.
Ich wusste es nicht und ich wusste noch viel weniger, wo
ich anfangen sollte, ihn zu suchen. Wo war es am gefährlichs-
ten für ihn? Ich hatte keine Ahnung. Ich musste mit einem
der Jäger sprechen. Ich erinnerte mich sofort daran, dass die
meisten von ihnen an der Bar des Gasthauses anzutreffen
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waren. Deshalb setzte ich mich wieder hinter das Steuer und
brauste im Affenzahn die kurze Strecke bis zur Hauptstraße
hinab. Ich parkte schräg vor dem Gasthaus und stieß die Tür
auf. Natürlich starrten sämtliche Besucher mich sofort an.
Aber das war mir in diesem Moment völlig egal. Ich ging
schnurstracks zum ersten Jäger, der an der Bar herumlun-
gerte, in der üblichen grün-braunen Aufmachung. Er kippte
genüsslich sein Bier hinunter und nahm keinerlei Notiz von
mir, obwohl ich direkt neben ihm stand. Ich hatte Glück,
ich hatte den Vorsitzenden vom Jagdausschuss erwischt.
Einen Mittfünfziger mit dickem Bauch und unordentlichem
Schnurrbart. Sein Atem hatte eine deutliche Bierfahne. Ich
packte ihn fordernd am Arm und sagte ihm:
„Ich muss sofort mit Ihnen sprechen. Es ist sehr wichtig.
Allein, wenn’s geht.“ Ich klang dabei fast bedrohlich.
Er nickte nur wenig irritiert und folgte mir dann in das
kleine Nebenzimmer des Gashauses, das um diese Zeit im-
mer leer war.
Er setzte sich gleich auf den ersten Stuhl, während ich
vor ihm stehen blieb. Ich konnte unmöglich die Ruhe zum
Sitzen finden.
„Es geht um die Meyer-Schafe. Der Bürgermeister hat er-
zählt, Sie hätten eine Abschussgenehmigung für einen toll-
wütigen Wolf. Wissen Sie, was ich meine?“, fragte ich mit
einem ungeduldigen, dringlichen Ton.
„Ach, Sie sind diese Reporterin von dem Lokalblatt!“
Seine unbekümmerte, belustigte Art ging mir immens auf
die Nerven.
„Ja, die bin ich. Was ist nun mit dem Abschuss?“
„Vier meiner Jäger sind auf der Lauer. Wir werden das
Mistvieh bestimmt erwischen. Das ist so gut wie sicher.“
Am liebsten hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Ich hat-
te doch genau davor Angst. In ein oder zwei Stunden würde
Istvan zum Wolf werden und in einem Wald herumlaufen, in
dem vier bewaffnete Männer nach einem Wolf suchten. Der
Gedanke drehte mir den Magen um.
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„Wo genau haben sich die Jäger postiert? Zeigen Sie es
mir hier auf der Karte“, wies ich ihn an und legte die Karte,
die ich von Istvan hatte, auf den Tisch.
„Wieso wollen Sie das wissen? Sind Sie wahnsinnig? Sie
können doch jetzt nicht dahin. Das ist viel zu gefährlich für
einen Menschen, vor allem jetzt, da es bald dunkel ist“, blaff-
te er mich an. Sein Hut rutschte dabei fast vom Kopf.
„Zeigen Sie mir nur die Stellen.“
Er tippte auf vier Stellen. Zwei lagen in der Nähe der
beiden Lagerplätze. Die anderen waren weniger gefährlich.
Eine lag bereits zu sehr südlich und die andere war ein Jäger-
stand mit einer Futtergrippe, von dem ich wusste, er würde
ihn sowieso meiden, da dort Rehe anzutreffen waren.
„Danke“, murmelte ich kaum hörbar und stürzte ohne
weitere Erklärung wieder hinaus. Ich nahm mir den Kugel-
schreiber meines Reporterblocks und zeichnete die Stellen
auf der Karte ein.
Es war schon nach sechs. Istvan befand sich jetzt ir-
gendwo da draußen in den Wäldern und krümmte sich vor
Schmerzen. Ich beschloss als Erstes, die beiden Lagerplätze
abzuklappern. Zuerst nahm ich mir den weiter abgelegenen
Nordplatz vor. Auf der kurvigen Fahrt den Geschriebenstein
entlang wäre ich fast mehrmals von der Straße abgekommen.
Ich musste, gegen meinen Willen, die Geschwindigkeit dros-
seln, aber tot nützte ich Istvan auch nichts. Ich bog auf den
Besucherparkplatz ein, wobei der Kies unter mir fast zerbrö-
selte, so heftig jagte ich die Reifen darüber. So schnell ich
konnte, lief ich das kurze Stück bis zum Lagerplatz entlang,
das mir jetzt endlos vorkam. Doch ich konnte schon von Wei-
tem sehen: kein Istvan. Ich stellte mich in die Mitte der klei-
nen Lichtung und schrie laut seinen Namen und zählte da-
bei auf sein unglaubliches Gehör. Doch nichts. Ich wartete
fast eine halbe Stunde, nur um sicher zu gehen. Die längsten
dreißig Minuten, die ich mir vorstellen konnte. Aber es kam
nichts. Ich konnte nicht länger meine Zeit verschwenden.
Es wurde bald sieben. Die Zeit zerrann mir zwischen den
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Fingern. Ich checkte noch mein Handy, obwohl es unmög-
lich war, dass er doch noch anrief. Keine Nachrichten, wie
erwartet. Ich stieg wieder in das Auto, jagte die Gebirgsstra-
ße hinunter und wäre dabei fast in einer Haarnadelkurve in
den Graben gefahren. Mein Herz setzte kurz aus und mein
Atem blieb mir im Halse stecken. Ich kümmerte mich aber
nicht darum. Ich hatte anderes im Kopf als meine Sicherheit
und mein Wohlbefinden. Ich startete erneut, unter ein paar
wüsten Fluchattacken, den Wagen und fuhr weiter bis zum
Steinbruch. Dort hetzte ich die vertraute Anhöhe hinauf, wo-
bei mir das Laufen schon deutlich schwerer fiel. Endlich,
als ich das Südlager erreichte, sah ich die Decke auf dem
Boden und hoffte schon, ihn endlich gefunden zu haben.
Aber sowohl die Decke als auch seine Kleidung waren be-
reits eiskalt und nass von dem Schnee, auf dem sie lagen.
Er musste sich früher verwandelt haben. Es war November
und es wurde zeitig dunkel. Außerdem trafen hier draußen
die Mondstrahlen viel eher auf ihn. Verdammt. Wie sollte
ich ihn jetzt noch finden? „Istvan!“ Ich schrie wieder seinen
Namen, der vom nahen Steinbruch widerhallte. Das musste
er doch hören. Ausgerechnet er. Doch ich bekam keine Re-
aktion, keine Antwort.
Ich stolperte zurück zum Auto und fiel dabei ungeschickt
den Hügel hinunter. Meine Jeans war nun dreckig und nass
von dem matschigen Schnee. Ich fühlte die Kälte jedoch
kaum. Die Aufregung ließ mich innerlich brennen. Was
jetzt?
Ich nahm mir die Karte vor und fuhr jede der Jagdstel-
lungen ab. Zuerst die näheren, dann die fernen. Es war zum
Verzweifeln. Immer dasselbe. Ich kam da an, sah den Hoch-
stand und konnte sogar aus der Entfernung den Jäger darin
ausmachen, aber kein Istvan und kein anderer Wolf in der
Nähe. Irgendwann in dieser Nacht gab ich die Logik mei-
ner Aktionen auf und fuhr nur noch ziellos immer dieselben
Strecken ab. Alles Waldwege und größere Gebirgsstraßen,
auf denen man mit dem Wagen fahren konnte. Immer wie-
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der blieb ich stehen, rief seinen Namen, wartete eine Weile
und wurde enttäuscht. Ich konnte Istvan einfach nicht fin-
den. Es war, als wäre er vom Erdboden verschluckt oder, aber
diesen Gedanken ließ ich nicht gelten, als hätte ihn einer der
Jäger schon erwischt. Jedes Mal, wenn mir dieser Gedanke
durch den Kopf ging, musste ich stehen bleiben oder den
Wagen stoppen und ein verzweifeltes Würgen unterdrücken.
Einmal mischte sich zu dem Gedanken ein grausames Bild
eines getöteten Istvans hinzu. Da gab es kein Halten mehr.
Ich stützte meine Hände am Steinbruch ab, wo ich mich
gerade befand, und ließ den Kopf hängen. Hätte ich etwas
im Magen gehabt, hätte ich mich mit Sicherheit übergeben.
Aber so stand ich nur mit zusammenkrampfendem Magen
da und hustete und würgte staubige, kalte Luft. Ich war am
Ende und die Nacht war noch nicht mal annähernd vorüber.
Ich setzte mich wieder in den Wagen und fuhr noch zweimal
den gesamten Geschriebenstein ab. Ohne Erfolg.
Es war etwa um halb fünf, ich war gerade wieder zum
Südlager gekommen, als mir auf der Straße dorthin das Ben-
zin ausging. Ich musste die halbe Strecke laufen. Ich war
eigentlich nur noch ein Wrack und quälte meinen Körper
zum unzähligsten Mal den Hügel hoch. Bis ich es zum Mar-
kierungsfelsen geschafft hatte, war ich schon kurz davor zu-
sammenzuklappen. Doch ich machte weiter. Ich ging wei-
ter, immer weiter. Dabei fielen mir jetzt immer wieder die
Frost-Zeilen ein, die ich atemlos vor mich hin stammelte wie
eine Geisteskranke. „Der Wald ist lieblich, dunkel, tief, doch
ich muss tun, was ich versprach, und Meilen gehen, bevor ich
schlaf, und Meilen gehen, bevor ich schlaf.“
Immer weiter wiederholte ich den letzten Satz, bis meine
trockene Kehle zu sehr schmerzte und ich damit automa-
tisch aufhörte. Es war wie ein Gebet, das ich in Gedanken
vor mich hinsagte, um immer weitergehen zu können. Und
noch funktionierte es. Ich war wieder am Südlager, hielt dort
jedoch gar nicht mehr an, sondern ging weiter. Ich glaubte in
Richtung des Jägerstandes, war mir aber überhaupt nicht si-
142
cher. Ich stolperte ziellos im Wald umher. Immer wieder fiel
ich jetzt hin. Meine Jeans war vom nassen, kalten Schnee
schon ganz feucht und die bleiernen Stulpen machten das
Weitergehen immer schwerer. Aber ich ging und ging immer-
fort. Ich war so geschwächt, dass ich gar nicht mehr versuch-
te, meine häufigen Stürze mit den Armen abzufangen, son-
dern meinen Körper einfach in den Schnee sinken ließ wie
einen Sack auf den Boden. Ich hatte auch keine Winterjacke
an, sondern nur diesen dünnen Parka, und die Kälte kroch
mir in die Knochen. Ich konnte seinen Namen kaum noch
schreien, der Atem dazu fehlte. Aber aufhören konnte ich
auch nicht. Also flüsterte ich. Je länger ich so vor mich hin
ging, ziellos und verzweifelt, desto mehr Bilder quälten mei-
ne Seele. Ich sah einen angeschossenen Wolf vor mir, dessen
Blut sich über den Waldboden ergoss, und ich schrie laut
auf. Offenbar war ich im Gehen eingeschlafen. Ich konnte
nun meine Gliedmaßen nicht mehr fühlen. Ich konnte nicht
sagen, ob mir kalt war oder nicht. Meine Beine und Arme
waren vollkommen taub. So fühlte ich wenigstens nicht die
Steine, auf die ich fiel, und die Äste, die sich mir in die Arme
und die Schultern bohrten. Meine Haare waren so feucht
von dem beginnenden Morgentau, dass ich das Gefühl hatte,
Wasser ränne mir vom Kopf. Ich würde den Mann verlieren.
Den Mann, von dem ich nun wusste, dass ich ihn liebte.
Und doch. Obwohl ich ihn nirgendwo ausmachen konnte
und es bereits Morgen wurde, es durfte nicht wahr sein. Er
konnte nicht tot sein. Nicht er. Das konnte, das durfte nicht
wahr sein. Ich würde es nicht zulassen und wenn ich bis in
alle Ewigkeit durch den Wald laufen müsste. Ich konnte ihn
nicht verlieren. Nicht jetzt, wo ich ihn endlich gefunden hat-
te. Istvan durfte nicht tot sein. Ich fiel einen kleinen Abhang
hinunter und landete im kalten Schnee. Als ich es geschafft
hatte, mich einigermaßen vom Boden hochzuhieven, sah ich
ihn. Ich sah einen Wolf.
Mitten auf einer Lichtung. Von Bäumen umringt. Von der
Morgensonne beschienen lag er da, auf den Schnee gebettet.
143
Ein gescheckter Wolf, dessen Blut um ihn herum auf den
Schnee geflossen war und blutrot färbte. Der Anblick gab
mir die Kraft, mich aufzurichten. Ich stürzte wie besessen
zu ihm und warf mich mit einer einzigen, verzweifelten Ges-
te auf ihn, auf den kalten Körper des toten Wolfes. Er war
weg, für immer. Ich schrie laut auf. Woher ich die Kraft dazu
hatte, konnte ich nicht sagen. Aber mein Schrei zerfetzte die
Geräusche der anbrechenden Morgendämmerung und hall-
te im ganzen Wald wider.
Ich hatte ihn verloren. Es war zu spät. Er würde nie wis-
sen, dass ich ihn geliebt hatte. Ich wusste es selbst erst seit
diesen letzten, schrecklichen Stunden, jetzt, da er mir für
immer genommen wurde. Die Tränen füllten meine Augen
und flossen in Strömen über mein Gesicht, ohne zu versie-
gen. Das Einzige, was ich noch sehen konnte, war das ver-
schwommene Wolfsblut im Schnee.
Ich konnte nicht sagen, wie lange nach meinem Schrei
ich so dagelegen hatte, auf dem kalten Körper. Ich hatte
noch nicht einmal bemerkt, dass es schneite. Erst als meine
Tränen etwas nachließen und ich mich nicht mehr bewegen
konnte, sah ich, dass meine Hand vollkommen mit weißen
Flocken bedeckt war. Im selben Moment fühlte ich, wie et-
was mich vom Boden, von meinem Wolf, wegzog. Ich verlor
das Bewusstsein.
Ich wurde getragen. Jemand trug mich in seinen Armen.
Ich öffnete die Augen und sah die vornehme V-Form eines
männlichen Unterkiefers, seines Unterkiefers. Istvan trug
mich auf seinen Händen durch den verschneiten Wald. Aber
war ich tot oder lebte ich noch?
„Istvan, du lebst!“, stöhnte ich erleichtert.
„Joe, sprich jetzt lieber nicht. Du hast eine starke Unter-
kühlung. Ich kümmere mich um dich.“ Seine sanfte, raue
Stimme war zurück. Was kümmerte mich da, dass ich mei-
nen Körper kaum fühlte oder dass ich beim Sprechen nur
noch stammelte.
144
Er ging so schnell, dass ich unmöglich sagen konnte, welche
Bäume an mir vorüberzogen. Er hielt am Lagerplatz. Ohne
mich abzusetzen, nahm er die zwei Decken aus der Kiste
und wickelte mich darin ein. Das Gefühl kam aber noch
nicht in meinen Körper zurück. Ich hatte nur noch die Hoff-
nung, da ich wusste, dass er nicht tot war. Das war alles, was
ich brauchte.
Wir waren so schnell in meinem Wagen, dass ich nicht
sagen konnte, wie wir dorthin gelangt waren. Es konnte aber
auch sein, dass ich ohnmächtig gewesen war.
„Kein … Benzin“, gab ich ihm zitternd und bibbernd zu
verstehen und fühlte nun das unkontrollierte Zittern und Zu-
cken meines ganzen Körpers.
Er sah mich wieder besorgt an. Nahm mich erneut sanft
in seine Arme und lief mit mir auf dem Arm bis zu meinem
Haus, das am schnellsten zu erreichen war.
Er kramte in meinen Taschen und fand den Hausschlüs-
sel. Er schloss die Tür auf und trug mich über die Schwelle.
Ein seltsames Gefühl. Ein schönes Gefühl. Er trug mich auf
seinen Armen in mein Haus.
Ohne dass er fragen musste, wo mein Zimmer war, trug er
mich dorthin und legte mich sanft auf das Bett, noch immer
fest in die grauen Decken gewickelt. Ich wollte nach ihm
fassen und mit ihm reden, doch mein Arm zitterte so sehr,
dass ich keine Faust ballen konnte.
„Eigentlich sollte ich dich in ein warmes Bad setzen, aber
ich glaube, das Letzte, was du jetzt noch brauchen kannst,
ist noch mehr Feuchtigkeit. Deine Sachen sind klatschnass“,
stellte er fest, als er das Bündel, in das er mich geschnürt
hatte, wieder öffnete. Erst jetzt wurde es mir bewusst. Ich
lag in meinem Bett und Istvan saß auf meiner Bettkante. Die
Vorstellung flößte mir Furcht ein und sollte noch viel Furcht
einflößender werden, als er sagte:
„Joe, die beste Art, um dich so schnell wie möglich wieder
warm zu bekommen, ist menschliche Wärme. Körperwärme,
verstehst du?“, sagte er und seine grünen Augen funkelten
145
mich voller Sorge an, wofür ich dankbar war. Aber wenn es
um körperliche Nähe ging, wollte ich lieber einen anderen
Ausdruck auf seinem Gesicht sehen.
„Ich … verstehe“, war alles, was ich herausbrachte, und
wäre noch genug Blut in meiner Haut gewesen, wäre ich rot
geworden.
Ich versuchte, mir meine Sachen selbst auszuziehen, aber
es gelang mir nicht. Ich zitterte zu sehr, um auch nur einen
Knopf meiner Bluse öffnen zu können. Also musste Istvan
mich ausziehen. Er war dabei so sanft wie möglich, doch
ohne meine Mithilfe war er etwas ungeschickt, da ich auch
bei ihm ein leichtes Zittern bemerkte. Er schaffte es, mich
von der Bluse zu befreien, und ich war froh, den feuchten
Baumwollstoff endlich los zu sein. Danach knöpfelte er mei-
ne Levis-Jeans auf und zog sie mit einem einzigen Ruck von
meinen nassen, kalten Schenkeln. Ich hatte nur noch den
dunkelblauen BH und meinen Slip an. Ich glaube, es war in
diesem Moment, als mein Atem endgültig aussetzte. Er ver-
suchte, mich so gut es ging zu stützen, damit ich unter die
warme Decke schlüpfen konnte. Gleich danach fühlte ich
mich etwas besser, weniger durchnässt.
Er drehte sich von mir weg und zog sein Shirt über den
Kopf. Er ließ es auf den Boden fallen. Ebenso machte er
es mit seiner Jeans. Wenigstens trug er diesmal Boxershorts.
Das machte die Sache einfacher, zumindest etwas.
„Ich muss mich jetzt zu dir legen, wenn das o. k. für dich
ist?“, fragte er und vermied es sorgsam, mich dabei anzu-
sehen.
„O. k.“, war alles, was ich dazu meinte.
Er schlüpfte unter die Decke und sofort konnte ich die
Hitze fühlen, die sich auf dem ganzen Bett ausbreitete wie
ein Lauffeuer. Ich versuchte, auf die Seite zu sehen, wäh-
rend er zur Decke starrte und eine Weile neben mir liegen
blieb. Ich zitterte noch immer und die Taubheit meiner
Gliedmaßen bestand ebenso hartnäckig weiter. Als er das
merkte, zögerte er nicht mehr länger und legte sich mit der
146
ganzen Länge seines Körpers auf mich. Zum ersten Mal fühl-
te ich die Schwere seines männlichen Körpers und dessen
Konturen. Ich fühlte die Länge seiner Beine, die Breite sei-
ner Schultern, die Anschmiegsamkeit seiner Brust und die
Gegend seiner schmalen Hüften, wie auch er die Formen
meines weiblichen Körpers wahrnehmen musste. Diese Er-
kenntnis trieb mir die Schamesröte ins Gesicht. Ich schloss
die Augen, weil ich Angst hatte, er könne darin lesen, was ich
in diesem Moment fühlte. Es war jetzt noch viel schwerer für
mich, jetzt, da ich wusste, dass ich ihn liebte. Es war schwer,
mit diesem Wissen und der Unwissenheit über seine Gefüh-
le so nahe bei ihm sein zu müssen. Wir bewegten uns beide
kaum. Ich glaubte sogar, er hatte kurz tatsächlich aufgehört
zu atmen. Langsam wurde mir richtig warm. Er war definitiv
der richtige Mann für diesen Job. Seine hohe Temperatur
kam jetzt wie gerufen.
Dann machte ich den Fehler, die Augen wieder zu öff-
nen, zu früh, im falschen Moment. Sobald ich die Lider auf-
schlug, schaute ich direkt in seine grünen Augen über mir.
Sein Smaragd-Blick traf mich jetzt wie ein Blitz und ich woll-
te, Unterkühlung hin oder her, nur eine einzige Sache. Ich
wollte ihn noch mehr an mich pressen und meine Lippen
auf seine legen. Ich konnte mich kaum beherrschen, und
wäre mein Körper nicht so schwach gewesen, hätte ich es
versucht. Doch langsam wurde mir richtig heiß und es war
schwer, mich ihm gegenüber nicht als Frau zu verhalten, die
in ihn verliebt war. Was er wohl in diesem Moment fühlte?
Ich konnte es nicht sagen. Sein Blick war intensiv, wie im-
mer, aber er machte keine Anstalten, mich zu berühren. Be-
gehrte er meinen weiblichen Körper überhaupt? Ich musste
es wissen. Ich schlang mein rechtes Bein um das Seine und
sagte, diesmal bibber-frei:
„Meine Beine sind besonders kalt, du hast doch nichts
dagegen?“
„Nein. Ich bin froh, dass meine hohe Körpertemperatur
einmal von Vorteil ist“, sagte er leicht grinsend und sah etwas
147
zur Seite. Ich vermeinte ein schiefes Lächeln zu sehen. Aber
was hatte es zu bedeuten?
Verdammt, wie sollte ich weiterhin sein Freund sein,
wenn ich doch so viel mehr sein wollte als das. Ich wurde et-
was offensiver und schlang nun auch meine Arme um seinen
warmen, weichen Oberkörper.
„Auch o. k.?“, fragte ich und versuchte mich in einem
leicht anzüglichen Ton mit hochgezogener Augenbraue.
„Mehr als o. k.“, gab er zu und rieb mit seiner Hand über
meinen rechten Schenkel, der sein Bein weiterhin umklam-
merte.
„Ich versuche deine Durchblutung zu verbessern“, sag-
te er und blickte mich dabei grinsend an, diesmal direkt in
die Augen. Jetzt funkelten seine Augen. War das meine Ant-
wort? Ich war nicht sicher. Ich hob meinen Kopf ganz leicht
vom Kissen, damit meine Lippen ganz nahe an seine heran-
kamen. Ich fühlte bereits seinen heißen Atem auf meinem
Mund, der noch immer ein wenig zitterte. Ich war mir fast
sicher, dass er mich küssen wollte. Er fuhr mit seiner Hand
in meine Haare und strich sie mir aus der Stirn. Ich kam
noch etwas näher. Wieso küsste er mich nicht? Merkte er
denn nicht, dass ich ihm entgegenkam?
Plötzlich drehte er seinen Körper, und da meiner mit sei-
nem verschlungen war, landete ich erneut auf dem Rücken.
Diesmal war ich ihm vollkommen ausgeliefert. Seine Finger
spielten nun wieder mit meinen Haarspitzen. Er kam immer
näher auf mich zu. Er war nun über mir und ich konnte nur
noch sein Gesicht und seine Augen sehen. Seine Wangenkno-
chen traten deutlich hervor und wurden von der Morgensonne
beleuchtet. Er öffnete leicht den Mund. Ich tat es ihm gleich.
Unser beider Atem war schon vereint, doch ehe seine Lippen
mich berührten, drehte er sich von mir weg und ließ sich auf
den Rücken fallen. Er lag nun neben mir und presste die Au-
gen krampfhaft zu. Seine geballte Faust rammte er frustriert
gegen die Matratze. Ich konnte sein Verhalten nicht verstehen,
aber ich sagte nichts und tat, als hätte ich es nicht bemerkt.
148
Was müsste noch geschehen, damit er endlich zulassen
konnte, zu lieben und von mir geliebt zu werden?
Ich wollte auf jeden Fall verhindern, dass wieder dieses
unangenehme Schweigen zwischen uns ausbrach oder dass
er sich vor mir hinter selbst errichtete Mauern zurückzog.
Deshalb stellte ich ihm unvermittelt eine Frage.
„Wie hast du mich heute eigentlich gefunden?“
„Ich habe deinen Schrei gehört. Du hast mich zu Tode
erschreckt. Aber du warst ja auch selbst ganz schön erschro-
cken. Du hättest eigentlich wissen müssen, dass ich nicht
dieser tote Wolf sein konnte“, sagte er mir mit einer unper-
sönlichen, rauen Stimme, vermutlich um jetzt Distanz zu
schaffen, die er wohl für nötig hielt.
„Wieso hätte ich das wissen müssen?“, fragte ich einge-
schüchtert.
„Nachdem du mich angefahren hattest und ich bewusst-
los war, hast du mich doch als Menschen gesehen. Ich dach-
te, du hättest es dir da schon zusammengereimt. Wenn wir
so schlimm verletzt werden, dass wir bewusstlos sind, ver-
wandeln wir uns wieder in einen Menschen, bis unsere Ver-
letzungen verheilt sind. Deshalb musste ich auch damals aus
deiner Küche verschwinden.“
„Ach so. Das hätte ich mir wirklich denken können. Da
hast du recht. Aber dieser arme Wolf von heute Morgen war
doch nicht bewusstlos, er war … tot“, stellte ich nochmals er-
schrocken fest und das Bild von dem blutigen Schnee blitzte
wieder vor mir auf. Ich schüttelte mich, um es loszuwerden.
„Wenn ich dieser Wolf gewesen wäre, wenn du mich tot
gefunden hättest, hättest du nicht über einem Wolfskörper ge-
weint“, ließ er mich wissen und starrte mich dabei unverwandt
und mit verletztem Blick an. Seine grünen Augen spiegelten
die ganze Tragik meiner schmerzhaften, langen Nacht wider.
Erst als er meine Angst sah, die sein Blick und seine Worte in
mir auslösten, nahm er mich beschützend in die Arme.
Als er eine Stunde später wieder nach Hause aufbrach
und mir befahl, den heutigen Tag im Bett zu bleiben, verab-
149
schiedete er sich abermals mit einer Umarmung. Einer ein-
deutig freundschaftlichen Umarmung.
Er hatte schon fast das Gartentor erreicht, da rief ich ihm
hinterher:
„Ich bin so froh, dass du es nicht warst. Ich hoffe, du
weißt das.“
Er sah mich lange und schweigsam an, dann ging er.
150
9. Verdächtiges Verhalten
Sobald Istvan aus der Tür war, hechtete ich zurück in mein
Zimmer und stellte mich vor den Standspiegel. Es waren
derart viele Spuren auf meinem geschundenen Körper, dass
ich mich nicht mal entscheiden konnte, welche Katastrophe
ich zuerst in Augenschein nehmen sollte. Da waren meine
Hände. Die linke mit Kratzern und Blutstriemen übersät,
als hätte ich meine Faust in einen Dornbusch gerammt. Die
rechte schien seltsamerweise nichts abbekommen zu ha-
ben. Die Zweige, die sich durch meine Kleidung hindurch
ins Fleisch gebohrt hatten, verursachten eine Vielzahl blau-
er Flecken, auf Oberarmen, Rippen und Schenkeln. Meine
knochigen Knie hatte es am schlimmsten erwischt. Mein
rechtes Knie war aufgeschlagen und blutig. Das andere
bestand aus einem einzigen Bluterguss, der von Blaugrau
bis Tiefviolett alle Schattierungen von Blau widerspiegelte.
Meine Haare – eine zersauste Löwenmähne aus wilden,
feuchten Locken. Der Anblick war beunruhigend, vor allem
als mir bewusst wurde, dass da tatsächlich ich im Spiegel zu
sehen war.
Kein Wunder, dass Istvan letzten Endes nicht auf meinen
Annäherungsversuch eingegangen war. Mein Körper machte
keinen besonders begehrenswerten Eindruck. Eines fiel mir
erst jetzt, wo ich meine Verletzungen mit den Fingern er-
kundete, auf. Ich fühlte den Schmerz der Prellungen und
die Schärfe auf den blutigen Striemen. Als Istvan auf mir
gelegen hatte, nachdem das Körpergefühl wiedergekommen
war, konnte ich nichts von alledem spüren. Keinen Schmerz
und kein Unbehagen. Lag es an den neu entdeckten Gefüh-
len, die ich für Istvan empfand und nun nicht länger unter-
drücken konnte?
151
Eigentlich sollte ich heute den Tag über bereits Fotos
bearbeiten und zwei Artikel schreiben. Doch ich konnte
noch nicht mal geradeaus gehen, geschweige denn zusam-
menhängende Sätze bilden. Deshalb kroch ich wieder unter
die Decke. Jeder Schritt zurück in mein Bett war verflucht
schmerzhaft, und kaum fühlte ich das warme Bettzeug über
und unter mir, schlief ich tief und fest ein. Ich schlief den
ganzen Tag und den ganzen Abend lang. Als ich wieder auf-
wachte, war es bereits Nacht. Es war fast neun, als mich ein
verstörender Traum aus dem Dämmerzustand riss. Es waren
noch nicht einmal Bilder, die mich so aufwühlten. Es waren
vielmehr Eindrücke des Wahnsinns und der Panik, die letzte
Nacht wie ein Damoklesschwert über mir geschwebt hatten.
Erst als ich meinen Kopf zurück auf das Kissen legte und
ein schwacher Honig-Wald-Geruch auf mich einströmte,
den Istvan auf meinem Bett hinterlassen hatte, beruhigte ich
mich ein wenig. Ich war noch immer halb nackt und langsam
kroch die Kälte ins Haus und brachte mich zum Frösteln. Es
war stockdunkel und jetzt fiel mir wieder ein, dass ich die
Fotos der gerissenen Schafe noch an die Redaktion mailen
musste. Den Text dazu hatte ich auch noch zu schreiben.
Aus dem Kleiderschrank holte ich mir einen dicken, lan-
gen Pullover und zog dazu die gefütterten Ugg-Boots an, die
meine geschundenen Füße wärmten und schützten. Meine
Bürste zog ich mit ein paar schmerzhaften Strichen über
meine Haare und brachte dabei zwei Blätter zum Vorschein.
Ich band sie zu einem lockeren Knoten und setzte mich an
den Schreibtisch. Während mein Laptop hochfuhr, holte ich
mir noch zwei Scheiben Knäckebrot, mehr hätte ich beim
besten Willen nicht zu mir nehmen können, und verband die
Kamera mit dem PC.
Als die Bilder der getöteten Schafe auf meinem Bild-
schirm auftauchten, bekam ich Gänsehaut. War es wirklich
der arme, tote Wolf, um den ich bitterlich geweint hatte, der
all diese Schafe gerissen hatte? Ich konnte es mir einfach
nicht vorstellen. Der Wolf hatte keine Tollwut. Jedenfalls er-
152
innerte ich mich nicht, irgendeine Art von Schaum um sein
Maul gesehen zu haben. Alles, woran ich mich glasklar erin-
nerte, war Blut, so viel Blut, und der entsetzliche Gedanke,
Istvan verloren zu haben.
Ich suchte eines der Totalfotos aus, auf denen man nicht
genau sehen konnte, wie schauderhaft dieses Gemetzel tat-
sächlich aussah, und schicke es an den Redaktionsserver.
Beim Artikel feilte ich nicht lange herum und versuchte gar
nicht erst, geistreich zu sein. Ich begnügte mich damit, die
wenigen Fakten, die ich kannte, zusammenzufassen und zwei
kurze Absätze zu tippen. Ich las den Artikel nicht einmal Kor-
rektur, wovon ich sonst nie absah. Aber ich konnte und wollte
nicht mehr daran denken. Ich wollte nur noch eine Sache:
heiß und lange baden und dann einfach nur weiterschlafen
bis zum nächsten Morgen. Denn morgen würde kein leichter
Tag zum Ausruhen werden. Es war Martini, das Fest des hei-
ligen Martin. Viele Verpflichtungen standen auf dem Plan und
ich konnte es mir nicht erlauben, mich davor zu drücken.
Istvan hatte schon vor den Vollmondnächten zugesagt, den
Bücherstand der Schule zu betreuen, und Martin würde den
Handarbeitsverkauf beaufsichtigen. Das würde es schwierig
machen, mit Istvan über die vergangene Nacht zu sprechen,
darüber, wo er gewesen war und was er über die verendeten
Meyer-Schafe und den erschossenen Wolf wusste.
Ich könnte vor Martin nicht ständig Istvan umkreisen,
ohne Verdacht zu erregen, und zu allem Überfluss musste
ich die Aufführungen der Kindergartenkinder fotografieren.
Der Bürgermeister würde auch dabei sein und ich hatte noch
keine Ahnung, wie ich ihm mein merkwürdiges Verhalten er-
klären sollte. Es stand zweifelsohne fest: Es erwartete mich
ein Spießrutenlauf, den es zu überstehen galt, wollte ich ein
paar Antworten erhalten, wie es zu dieser Katastrophe kom-
men konnte.
Als ich beim Schulhof ankam, war es später Nachmittag. Die
Vorbereitungen für die Martini-Feier waren bereits in vollem
153
Gange. Im Inneren des Schulgebäudes hetzten zwanzig Frei-
willige hektisch von Tisch zu Tisch und platzierten Bücher,
Basteleien und Naschwerk. Am Ende des Ganges, der links
und rechts mit geschmückten Tischen vollgestellt war, stand
eine kleine Holzbühne, auf der zwei kräftige Männer die
Requisiten platzierten. Man plante, einige Singstücke zum
Besten zu geben und die alljährliche Geschichte des heiligen
Martin aufzuführen. Die Kinder probten in den Räumen des
benachbarten Kindergartens, wobei ab und zu Gesang bis in
die Schulflure vordrang. Niemand nahm Notiz von mir. Alle
schienen vollauf mit ihren Aufgaben beschäftigt, was mir die
Möglichkeit gab, ohne Schwierigkeiten mit Istvan zu reden.
Aber ich hatte ihn noch nicht entdeckt. Martin war eben-
falls nicht in der Nähe. Jetzt oder nie, sagte ich mir, und ging
in das Konferenzzimmer, das an diesem Tag als Lagerraum
fungierte. Da fand ich ihn, als hätte ich ihn dorthin bestellt,
umgeben von riesigen Bücherstapeln war er gerade dabei,
Preisschilder anzubringen.
Er sah nicht hoch, obwohl ich genau wusste, dass er mich
bereits kommen gehört hatte, als ich die Schule betrat.
„Bekomme ich nicht mal ein Hallo?“, wollte ich von ihm
wissen. Mein Ton klang ungewollt vorwurfsvoll.
„Natürlich – hallo“, sagte er, ohne mich auch nur eines
Blickes zu würdigen, und fügte noch hinzu:
„Ich dachte, wir hätten ausgemacht, heute so wenig
wie möglich miteinander zu reden. Deine Idee, weißt du
noch?“
Jetzt hatte seine Stimme diesen vorwurfsvollen Ton auf
Lager. Ich wollte ihn am liebsten ohrfeigen und im gleichen
Augenblick machte mein Herz einen Freudensprung, ein-
fach weil mir wieder bewusst wurde, dass er noch lebte.
„Ja, stimmt. Aber noch ist keiner in Hörweite und ich
habe ein paar dringende Fragen, die nach deinen Antworten
verlangen, Mister.“ Das hatte gesessen. Endlich starrte er
mich an, überrascht von meiner Dreistigkeit.
„Leg los. Als ob ich dich davon abhalten könnte.“
154
Wieso war er bloß so gereizt? War er mir etwa böse, weil
ich die Grenzen unserer Freundschaft übertreten hatte?
„Was zur Hölle ist mit den Meyer-Schafen passiert? Was
weißt du darüber?“
„Ich weiß gar nichts darüber. Ich habe erst gestern Nach-
mittag vom Bürgermeister davon erfahren. Du denkst doch
nicht, dass ich …“
„Nein, nein. Natürlich nicht. Aber du warst verschwun-
den, wieso?“, fragte ich und trat nun hinter den Stapel mit
den Büchern, direkt an seine Seite. Ich versuchte, ihm einen
Blick voller Zuversicht zu schenken. Es musste mir gelungen
sein, denn er beantwortete meine Fragen von da an.
„Als ich deine Nachricht hörte, beschloss ich, gleich in den
Wald zu gehen. Ich wusste, die Verwandlung wäre diesmal
schlimmer, allein. Ich wollte sie nicht zu lange hinauszögern.
Doch sobald ich den Waldrand erreicht hatte, nahm ich die
Witterung eines Wolfes auf. Ich versuchte, seiner Fährte zu
folgen, verlor sie jedoch ständig. Die Verwandlungsschmer-
zen lenkten mich zu sehr ab. Erst kurz nach Mitternacht
fand ich seinen Geruch wieder. Es ist viel leichter als Wolf,
einen Wolf aufzuspüren. Er war schnell, verflucht schnell,
und entkam mir immer wieder. Ich konnte mich ihm erst
nähern, als es schon zu spät war. Allerdings hatte ich schon
wieder meine menschliche Gestalt. Ich konnte nichts mehr
für das arme Tier tun, der Jäger hatte es erwischt, zwei Mal.
Der Kopfschuss war tödlich. Ich wollte mich gerade auf den
Weg ins Lager machen, da hörte ich deinen Schrei.“
Er erzählte mir alles im Flüsterton, gebückt hinter dem
Bücherwall. Hätte auch nur einer der Helfer Teile unserer
merkwürdigen Unterhaltung gehört, würden bald Männer
mit engen, weißen Jacken auftauchen, deshalb schien mir
das Flüstern eine gute Idee zu sein.
„Es war also ein Wolf. Ich meine, ein echter, ganz norma-
ler Wolf?“, fragte ich nach.
„Ja, soweit ich weiß. Ich denke nicht, dass der Wolf Toll-
wut hatte.“
155
„Ja, ich auch nicht“, stimmte ich Istvan zu und setzte
mich an den Tisch der Schuldirektorin, einer sehr konser-
vativen Frau Ende fünfzig, die jeden Sonntag in die Kirche
ging und noch Worte wie „Blasphemie“ benutzte. Es war eine
seltsame Vorstellung, eine derartige Aussprache auf ihrem
täglichen Arbeitsplatz zu haben.
„Wieso hat er bloß die vielen Schafe angegriffen? Wie-
so kam er überhaupt in das Dorf? Das Ganze ergibt keinen
Sinn“, zählte ich resignierend auf und stützte meinen Ell-
bogen auf den Tisch. Ich trug an diesem Tag schwarze Le-
derhandschuhe und eine Lederjacke, um meine zerkratzte
linke Hand zu verstecken. Die Schule war abends schlecht
beheizt, das lieferte mir die Steilvorlage für eine etwaige Aus-
rede, die ich vielleicht benutzen musste. Istvan setzte sich
nun zu mir. Er lehnte sich ebenso besorgt in den Drehstuhl
zurück und überlegte.
„Ich weiß es nicht. Wäre er tollwütig gewesen, würde das
alles erklären. Aber so. Du hast recht. Es ergibt keinen Sinn.
Auf jeden Fall müssen wir noch vorsichtiger sein, besonders
zu Vollmondzeiten. Ich werde jetzt vermehrt patrouillieren.
Wir sollten recherchieren. Du hast da ja einige Möglichkei-
ten und ich habe mein ‚Spezialarchiv‘. Vielleicht finden wir
so eine Antwort auf dieses Rätsel“, schlug er mir vor und
lehnte sich, wieder leise murmelnd, näher an mich heran.
Ich konnte nicht sagen, wieso, aber er hatte wieder an-
gefangen, das Wir zu benutzen. Er kam langsam über seine
Bedenken hinweg, auch wenn ich nicht verstand, was sie
eigentlich ausgelöst hatte. Hatten seine Vorbehalte etwas
damit zu tun, dass er dachte, ich würde ihn beschuldigen,
die Schafe verletzt zu haben? Konnte er tatsächlich so von
mir denken? Und ich dachte immer, wir würden uns bereits
vorbehaltlos vertrauen. Wieso konnte er mir nicht vertrauen,
besonders nach meinem Verzweiflungsmarsch? Jedem ande-
ren Mann wäre dadurch klar geworden, dass ich ihn lieb-
te. Istvan aber schien in dieser Hinsicht völlig blind zu sein.
Oder spielte er mir was vor?
156
„Ich werde noch mal mit Bernd sprechen. Als Bürger-
meister weiß er bestimmt mehr darüber. Ich muss ihm vor-
her nur erklären, wieso ich wegen der Schafe so ausgeflippt
bin. Mir fällt schon was ein.“
Mein Plan, weiter dem Schafs-Rätsel allein auf die Spur
zu gehen, schien ihm nicht zu gefallen. Seine Augen funkel-
ten mich jetzt besorgt an.
„Keine Sorge“, beantwortete ich seinen Blick. „Ich krieg
das hin!“ Ich klang hoffentlich zuversichtlicher, als ich mich
fühlte.
„Ach ja. Martin wird heute auch einen Stand betreuen“,
erwähnte ich so nonchalant wie möglich.
„Welchen?“, fragt er nach, noch immer deutlich ange-
spannt.
„Den Tisch mit dem Bastel- und Handwerkszeug.“
„Perfekt“, zischte er sarkastisch und fügte mit zusammen-
gepressten Lippen bitter hinzu: „Genau der Stand neben mir.
Ich werde mich also wieder die ganze Zeit von dir fernhalten
müssen.“
Die letzte Bemerkung musste ihm unabsichtlich rausge-
rutscht sein. Er richtete seinen Blick ertappt zu Boden.
„Da ist noch was“, deutete ich an und versuchte zu über-
spielen, dass ich seine Frustration bemerkt hatte.
„Mein Bruder und seine Frau kommen auch vorbei. Im-
merhin sind fast alle hier. Sie kommen aber erst um sechs,
wenn die Kinder mit der Aufführung beginnen.“
„Das heißt also Gefahr in Verzug“, fasste er zusammen.
„Aber wir können nicht so tun, als ob wir uns gar nicht
kennen würden, das wäre noch verdächtiger“, wandte er ein
und ich nickte zustimmend.
„Na gut. Ich schlage vor, wir reden ganz normal miteinander.
Nur ab und zu. Was hältst du davon?“, fragte ich unsicher.
„Das könnte funktionieren. Aber, Joe …“, jetzt funkelten
seine Augen wieder. Sein Ausdruck erinnerte mich an seine
Augen, die in jener Nacht über mir waren.
„Ja?“ Ich war jetzt kaum hörbar.
157
„Sieh mir bitte nicht in die Augen. Nicht vor den ande-
ren“, bat er mich, stand auf, einen Stapel Bücher nehmend,
und machte sich auf, den Raum zu verlassen. An der Tür-
schwelle blieb er stehen und flüsterte:
„Ein Blinder würde sonst sehen, dass etwas zwischen uns
ist.“
Er ging, ohne sich umzudrehen. Hatte er das tatsächlich
gesagt? Laut? Es wäre gut möglich, dass ich es mir nur ein-
gebildet hatte. Schließlich war es das, was ich von ihm hören
wollte, und er hatte seine Enthüllung kaum wahrnehmbar
ausgesprochen. War es wieder eines dieser Versehen, die
schon zu unseren üblichen Verhaltensweisen gehörten, oder
war es ernst gemeint?
Ich wollte es wissen und ging hinaus auf den Flur. Mit ein
paar Büchern bewaffnet machte ich mich zu seinem Stand
auf, um dort Martin anzutreffen. Er stand Istvan genau
gegenüber und winkte mir zu. Ich stellte die Bücher auf Ist-
vans Tisch, ohne ihn anzusehen, und drehte mich zu Martin
um. Er drapierte die Tischdecken und Zierdeckchen, die die
Mütter zum Verkauf gespendet hatten. Er war guter Dinge
und begrüßte mich gleich mit einem Witz.
„Jetzt haben sie mich offenbar zur Oberglucke gewählt“,
sagte er schmunzelnd und deutete auf die Handarbeiten der
Hausfrauen. Er wirkte als Mann tatsächlich fehl am Platz
zwischen all dem Firlefanz und buntem Dekor. Martin hatte
diese Art, mit den Augen genauso zu lächeln wie mit dem
Mund. Das bewirkte, dass man automatisch zurücklächelte,
auch wenn einem eigentlich nicht danach zumute war.
„Tja, für sie ist der Priesterstand wohl gleichbedeutend
mit Mütterlichkeit“, griff ich seinen Scherz auf und zupfte
an den gehäkelten Tischdecken.
„Dir ist wohl kalt“, stellte er fest und deutete mit dem
Kinn in Richtung meiner Hände, die in den Handschuhen
steckten. Ich konnte förmlich spüren, wie Istvans Blick mei-
nen Rücken durchbohrte, und zwang mich, nicht nach hin-
ten zu sehen.
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„Ja, du weißt ja. November. Grippezeit. Und diese zugi-
gen, kalten Schulflure sind da keine Hilfe.“ Ich sprach nun
wieder in dieser abgehackten Art, die mich schon bei Carla
verraten hatte. Ich wurde nervös.
„Na dann sieh mal, dass du dir keine Erkältung einfängst.
Bald kommt doch der Advent und du möchtest doch nicht,
dass dir die ganzen Aufträge durch die Lappen gehen.“
„Ja, mach ich!“, sagte ich und ging wieder, ohne zur
Seite zu sehen, wo ich Istvan vermutete, den Flur entlang
zur Aula. Der Bürgermeister sprach dort mit der Direkto-
rin, Frau Witt, über die Feier, die bald beginnen würde.
Die ältere Direktorin war mir nie sonderlich sympathisch
gewesen und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
Sie hatte diese toupierte, mit viel Spray gestylte Helm-
frisur. Eigentlich sah ihr Haar aus wie eine kugelförmige,
weiße Zuckerwatte und sie war immer übermäßig stark ge-
schminkt. Wenn sie mit einem sprach, gab sie einem in
ihrer unpersönlichen, herablassenden Art das Gefühl, voll-
kommen ungelegen zu sein. Ich hasste es, dass ausgerech-
net diese Frau Kinder unterrichten sollte. Es war eine lä-
cherliche Vorstellung.
Ich bemerkte ihre Blicke, die sie mir immer wieder zu-
warf, während sie mit dem Bürgermeister sprach. Ich konnte
es nur vermuten, aber es machte den Eindruck, als redeten
sie über mich. Vermutlich zog sie über mein merkwürdiges
Benehmen her, das ich auf dem Meyer-Hof an den Tag ge-
legt hatte. Ich konnte nur hoffen, dass Taucher sich nicht
zu sehr von ihr beeinflussen ließ. Er und ich verstanden uns
immer recht gut und nun brauchte ich Informationen von
ihm, da passte mir die Einmischung der Direktorin Witt gar
nicht in den Kram.
Als sie sich aufmachte, ihre Lehrer in Reih und Glied zu
bringen, um ihre Befehle für die heutige Aufführung auszu-
geben, trat ich an Bernds Seite.
„Hi! Wie geht’s?“, fragte ich unverbindlich und versuchte
auf lässig zu machen.
159
„Gut. Ich sollte lieber fragen, wie es dir geht? Was war
denn neulich bloß los, du bist ja sonst nicht zimperlich?“,
wollte er nun wissen. Er kam immer zum Punkt. Eigentlich
eine Eigenschaft, die ich an ihm mochte, unter anderen Um-
ständen natürlich.
„Mir geht’s gut. Ich war neulich etwas krank und hatte
nichts gegessen. Magen-Darm-Virus. Und dann dieser An-
blick, auf nüchternen Magen. Es war mir so peinlich. Ich
musste mich übergeben. Ich hielt den Geruch einfach nicht
länger aus. Tut mir leid, dass ich einfach abgehauen bin. Aber
manchmal kommt Übelkeit vor Höflichkeit, du verstehst?“,
scherzte ich und zog belustigt die Augenbrauen hoch.
Er ging darauf ein. Er lachte und machte ein paar dumme
Witze der derberen Art über die verendeten Schafe und mei-
nen schwachen Magen. Ich ließ sie über mich ergehen und
hoffte, so seine Sympathie zurückzugewinnen.
„Sag mal, weiß man schon, wer dafür verantwortlich war
oder was?“, fragte ich, als ob ich nichts von alledem wüsste.
„Ein Wolf war es, genau wie der Tierarzt vermutet hat-
te. Aber er war nicht tollwütig. Die Jäger haben ihn noch in
derselben Nacht erwischt und zum Veterinär gebracht, der
hat ihn untersucht und konnte keine Anzeichen von Tollwut
feststellen.“
Es war schwer sich vorzustellen, dass er von demselben
Tier sprach, das ich so betrauert hatte.
„Was war dann mit ihm? Das ist doch nicht normal, so
ein Verhalten“, murmelte ich vor mich hin und sprach eher
mit mir selbst.
„Der Tierarzt meinte, es müsse wohl eine andere Krankheit
sein, die sich erst mithilfe einer umfassenden, teuren Unter-
suchung feststellen lässt, oder dass er vielleicht verhaltensauf-
fällig war. Solche Kosten für die Gemeinde könnte ich nicht
rechtfertigen. Außerdem ist der Übeltäter ja aus der Welt. Das
schreib aber bitte nicht, das war nur so unter uns.“
Ich nickte abwesend und sah zur Tür, wo mittlerweile
die ersten Gäste einströmten. Ich ging zurück zum Lehrer-
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zimmer, bevor es zu voll wurde, und holte mir einen weite-
ren Stapel Bücher zu Alibizwecken. Ich stellte die Wälzer
auf Istvans Tisch. Ich flüsterte ihm schnell und unter vor-
gehaltener Hand zu, was Taucher zum Vorfall gesagt hatte.
Er nickte nur, stellte die Bücher, die ich gebracht hatte, an
ihren Platz und meinte:
„Vielleicht war er ja wirklich verhaltensauffällig. Selten.
Aber so etwas gibt es.“ Wie er es sagte, schien er sich mehr
selbst davon überzeugen zu wollen.
Mir war es mittlerweile nicht mehr ganz so wichtig, alle
Details zu kennen. Mich interessierte nur, dass Istvan noch
am Leben und wohlauf war. Der Gedanke brachte mich wie-
der in die Bedrängnis, Istvan anzustarren. Ich ging wieder.
Es war sehr schnell voll geworden und die Besucher mach-
ten sich nun über die Stände her, um Bücher und anderen
Krimskrams zu kaufen. Ich holte meine Kamera aus dem
Wagen und machte von allem ein paar Fotos, nur Istvan foto-
grafierte ich nicht. Damit es nicht so auffiel, tat ich so und
richtete das Objektiv in Richtung seines Standes, ohne den
Auslöser zu betätigen. Ab und an sah ich mir sein Gesicht im
Sucher an und zoomte näher heran. Seine Lider waren dabei
immer gesenkt, als wüsste er, dass ich ihn im Visier hatte.
Konnte er etwa sogar das leise Zoom-Geräusch meiner Ka-
mera hören, bei all dem Gewusel in der Schule? Vermutlich
ja, denn jedes Mal, wenn ich meine Kamera herunternahm,
schmunzelte er und blickte dabei etwas hoch.
Um sechs Uhr wurde es langsam dunkel. Die Kinder
und Lehrer begannen mit den letzten Vorbereitungen zur
Martini-Aufführung. Die Eltern und andere Leute aus der
Gemeinde begannen nach einem Sitzplatz zu suchen. Die
Stände waren nun fast leer. Während Martin noch mit
einer Mutter sprach, packte Istvan bereits zusammen. Es
war schon komisch, Istvan und Martin gegenübergestellt zu
sehen. Sie sahen sich nicht im Geringsten ähnlich. Wäh-
rend Istvan diese hohen Wangenknochen und das kantige
Kinn vorweisen konnte, waren Martins Gesichtszüge eher
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rundlich und weich. Martin hatte so gut wie keinen Bart-
wuchs. Er war ein eher nordischer Typ, obwohl er brünette,
kurze Locken hatte. Mir war erst jetzt aufgefallen, dass ich
nicht einmal gesehen hatte, dass beide miteinander redeten.
Eigentlich unterhielt sich Martin gleich mit jedem. Er hat-
te diese offene, zugängliche Art, die ihn auf jeden einfach
zugehen ließ. Ich vermutete, dass Istvan absichtlich einen
reservierten Eindruck erweckte, um eine mögliche Unter-
haltung zu verhindern. Ich hielt das, wenn ich ehrlich war,
für eine gute Idee.
Ich stellte auf zwei Stühle in der dritten Reihe meine
Kameratasche, um sie für Paula und Viktor zu besetzen.
Dabei sprach mich ein alter Freund meines Vaters an, den
ich seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Ri-
chard war Lehrer am selben Gymnasium wie mein Vater und
seit Kurzem in Pension. Seine Frau und er hatten früher oft
meine Eltern besucht. Sie waren heute gekommen, um die
Kinderaufführung zu sehen, und freuten sich offensichtlich
mich wiederzusehen. Richards Frau war die kleinste Person,
die ich je im Leben gesehen hatte. Sie war gerade mal eins
fünfzig groß und sehr schmal, mit langen, aschblonden Haa-
ren und schmalem, langem Gesicht. Richard selbst war, jetzt
im Alter, sehr in die Breite gegangen. Er hatte schon immer
reichlich getrunken und gegessen und mit jedem Jahr sah
er mehr wie eine Werbefigur für bayrisches Bier aus. Der
Schnurrbart war dabei auch keine Hilfe.
Sie fragten mich nach meinen Eltern und ich erzählte von
deren neuesten Reisezielen. Richard schilderte mit die wich-
tigsten Neuigkeiten von der Schule, welche Lehrer gehei-
ratet hatten, welche sich daneben benahmen. Er schwitzte
deutlich. Hinter Richards Rücken bemerkte ich, dass Istvan
hektisch mit den Armen fuchtelte, in einem Winkel ver-
steckt. Er wollte offenbar, dass ich zu ihm kam. Was war aus
der Geheimhaltung geworden?, dachte ich und entschuldig-
te mich kurz bei Richard und Emilie, die sich setzten. Ich
ging, ohne Eile erkennen zu lassen, zu Istvan, lehnte mich
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an die Wand neben ihn und tat, als würde ich die Vorberei-
tungen bestaunen.
„Was ist? Wieso winkst du mich vor allen her?“, fragte
ich.
„Der Mann, mit dem du gerade gesprochen hast, wer ist
das?“ Seine Stimme klang aufgebracht, sichtlich angespannt.
Wir redeten geradeaus, als führten wir Selbstgespräche.
„Ein alter Freund der Familie, wieso?“
„Sein Herzschlag ist unregelmäßig. Da stimmt was nicht.
Es könnte was Ernstes sein, du musst ihn irgendwie dazu
kriegen, das abchecken zu lassen!“, forderte er von mir.
„Wie soll ich das anstellen? Ich kann nicht einfach zu ihm
gehen und sagen: Hey, mein Freund sagt, dein Herz klingt
schlecht, mach besser ein Belastungs-EKG!“
„Es könnte lebensgefährlich sein. In seinem Alter!“, sagte
er und hätte mich dabei fast angesehen, konnte sich in letz-
ter Sekunde aber zusammennehmen.
„Oh Gott. Wie soll ich Richard das nur klar machen? Wie
kriege ich in nur dazu?“, stöhnte ich und schlug mit meinem
Kopf gegen die Wand.
„Du musst es versuchen, Joe“, ermahnte Istvan mich. Ich
nickte und ging zurück zu meinem Platz.
Sobald ich mich gesetzt hatte, drehte ich mich zu Richard
und Emilie um.
„Emilie, mein Vater hat mir beim letzten Telefonat er-
zählt, dass er sich Sorgen um Richard macht. Er denkt, du
hast letztens nicht so gut ausgesehen, und er macht sich Ge-
danken. Er hatte doch selbst vor der Abreise all diese Unter-
suchungen. Er ist deshalb etwas sensibler geworden.“
„Ja, Joe. Genau das sag ich Richard immer. Vorsorge ist
besser, als nachher die Scherereien zu haben. Aber krieg ihn
mal zum Arzt.“
„Richard, mal ehrlich. Willst du, dass ich meinem Va-
ter beim nächsten Telefonat erzählen muss, dass du nicht
gut auf dich aufpasst? Wir haben erst neulich im Lokalblatt
wieder darauf aufmerksam gemacht, dass man ab einem ge-
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wissen Alter jedes Jahr ein Belastungs-EKG usw. machen
sollte. Bitte sage mir, dass du dich durchchecken lässt, dann
kann ich meinen alten, paranoiden Vater endlich beruhigen.
Was sagst du dazu?“, fragte ich mit gekünstelt vorwurfsvoller
Miene.
„Na gut, Mädchen. Du kriegst deinen Willen. Gott, ihr
Pauls gebt sowieso keine Ruhe, ehe ihr nicht bekommen
habt, was ihr wollt“, stöhnte er genervt. Seine Frau bekam
einen zufriedenen Gesichtsausdruck und hauchte ein „Dan-
ke“ in meine Richtung. Auch auf Istvans Gesicht konnte ich
Erleichterung sehen. Er lächelte zufriedengestellt.
Kurz bevor die Kinder mit den Singstücken anfingen, ka-
men Viktor und Paula herein. Beide in aufgemotzter Montur,
was mich im Falle meines Bruders schmunzeln ließ. Sie fan-
den mich gleich und setzten sich auf die reservierten Plät-
ze. Ich hatte mir den Außenplatz genommen, um so leichter
fotografieren zu können. Die Kinder sangen zwei Kirchenlie-
der, mehr schlecht als recht. Die Eltern strahlten dennoch.
Mein Bruder presste mehrmals die Augen zusammen, so sehr
schmerzten ihn die falschen Töne der Kleinen, und Paula
forderte immer wieder von ihm, sich zusammenzureißen,
was ihm nicht gelang. Nach einer Viertelstunde war die Fol-
ter unserer Gehörgänge beendet und vier Burschen bauten
die Bühne für die eigentliche Martini-Aufführung um. Alles
klappte. Der heilige Martin trat auf, traf seine Zeilen, nahm
sein Plastikschwert und teilte damit seinen Mantel, gab die
Hälfte dem armen Bettler. Alles lief wie am Schnürchen und
am Ende bekamen die Kleinen einen tobenden Applaus.
Wie es bei uns zu Martini Brauch ist, hatten die Kinder
Lampions gebastelt und gingen mit diesen selbst gemachten
Laternen durch die finsteren Straßen und sangen dabei das
„Ich geh mit meiner Laterne“-Lied, das ich schon als Kind
gesungen hatte. Sie marschierten auf der Hauptstraße auf
und ab. Ich machte unzählige Bilder davon, da eines davon
vielleicht auf unsere Titelseite kommen könnte. In der Dun-
kelheit sah man die Kinder kaum, hörte nur den Gesang und
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erkannte eigentlich nur die zappelnden und wackelnden
Laternen. Meine Schwägerin und mein Bruder sprachen
mit ihren Freunden und blieben im Schulhof. Ich hatte die
Handschuhe abgelegt, da sie mich beim Fotografieren stör-
ten und die Dunkelheit neugierige Blicke fernhielt. Ich ging
vor den Kindern her, um sie immer im richtigen Winkel zu
erwischen. So blieb ich immer eine Weile im Dunkeln, bis
ihr Laternenlicht mich wieder erfasste. Als ich wieder einmal
im Finstern darauf wartete, dass sie auf mich zugingen, und
gerade nach der Kamera greifen wollte, bemerkte ich, dass
etwas meine Hand umklammerte und sie umfasste. Istvans
Geruch strömte mir in die Nase. Es würde nur Sekunden
dauern, bis die Laternen nahe genug waren, um ihn an mei-
ner Seite zu beleuchten. Er legte seine Hand in meine, sei-
ne warmen Finger umschlossen meine Finger. Ich erwiderte
den Druck seiner Hand. Ich blicke hoch, um ihn wenigstens
kurz zu sehen. Doch schon, als ich meinen Kopf in seine
Richtung hob, war er verschwunden. Meine Hand war leer
und die Kinder vor mir leuchteten nur mich und die verlas-
sene Straße hinter mir an. Istvan war wieder einmal in die
Nacht verschwunden.
Zwei Tage später erschien die neue Ausgabe des Lokalblat-
tes. Der Artikel über die Schafe stand auf der dritten Seite.
Weiter hinten wäre mir lieber gewesen. Das Martini-Foto mit
den Kindern hatte es auf die Titelseite geschafft. Ich überflog
den Rest der Zeitung und suchte gleich nach den Terminan-
kündigungen. Es war eigentlich nicht viel los. Doch dann fiel
mein Blick auf eine größere Anzeige. Das Rathaus in Wart
eröffnete heute eine Foto-Ausstellung mit Bildern aus allen
Warter Gemeinden der letzten hundert Jahre. „Wart & seine
Gemeinden – 100 Jahre in Bildern.“ Verdammt, wie konnte
ich das vergessen. Noch ehe Istvan wieder nach St. Hodas
gezogen war, hatte ich selbst die Gemeinde überzeugt, die
Fotos, die von Verstorbenen aus St. Hodas hinterlassen wor-
den waren, für die Ausstellung zur Verfügung zu stellen. Ich
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kannte die Bilder nicht. Ich wusste nicht, wen oder was sie
zeigten, aber es waren auch Bilder aus Istvans Zeit in St. Ho-
das dabei, so viel wusste ich. Die Wahrscheinlichkeit war
nicht sehr hoch, dass ein Foto von ihm dabei sein könnte.
Aber ich wollte das Risiko nicht eingehen. Ich würde nicht
zulassen, dass Istvan durch eine Unachtsamkeit von mir auf-
flog. Die Ausstellung sollte um sechs Uhr abends eröffnet
werden. Es blieb mir also genug Zeit, mithilfe meines Presse-
ausweises eine Vorabsichtung zu bekommen. Ich kannte den
Leiter der Ausstellung. Er hatte mich sogar gebeten, den
Bürgermeister zur Herausgabe der Bilder zu bewegen. Ich
raste also wieder einmal nach Wart und hoffte, dort nicht auf
meinen Chefredakteur Frank zu treffen, der selbst über die
Eröffnung berichten würde.
Ich parkte direkt vor dem Rathaus und hatte Glück, dass
gerade Mittagspause war und ein paar Autos nicht auf ihrem
Platz standen.
Ich ging zum Büro des Bürgermeister-Stellvertreters, das
heute vom Ausstellungsleiter benutzt wurde, wie mir die
Sek retärin am Empfang verkündete.
Ich klopfte an die Tür. Eine freundliche, bekannte Stim-
me bat mich herein.
„Hallo Hans“
„Hallo Joe“, antwortete Hans mit seiner rauen Stimme
auf meinen Gruß. Er war ein vierzigjähriger Künstler und
Kurator, der immer versuchte, jünger auszusehen, als er tat-
sächlich war. Deshalb trug er eine Bluejeans und dazu ein
blaues Sportsakko, das er wohl für lässig hielt.
Hans hatte schulterlanges, nussbraunes Haar und einen
Spitzbart. Er war ein sehr umgänglicher Charakter. Es würde
nicht schwer werden, ihn zu überreden.
„Hans, ich muss dich um etwas bitten. Ich hab dir doch ein
paar Bilder meiner Eltern für die St.-Hodas-Wand gegeben.
Ich müsste sie vor der Ausstellung noch mal durchsehen. Es
könnte sein, dass ich dir versehentlich ein Original gegeben
habe. Das würde meinen Leuten gar nicht gefallen.“
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„Du, Joe, ich muss dir gestehen, dass der St.-Hodas-Teil
leider nicht sehr groß ausgefallen ist. Ich konnte nur zehn
Fotos verwenden, der Platz war zu klein. Es sind keine Bilder
von euch dabei. Aber ich habe die nicht verwendeten Bilder
in einem eigenen Karton, den kannst du gerne durchsehen,
wenn du willst“, bot er mir an und blinzelte mir dabei ein
paar Mal zu. Er fürchtete wohl, ich könnte gekränkt sein, da
unser Beitrag so klein ausgefallen war.
Ich versicherte ihm, dass ich deshalb keinerlei Groll
gegen ihn hege.
Er brachte mir die Kiste mit den Fotos. Mit schwarzem
Filzstift hatte er „Hodas-Beitrag“ daraufgeschrieben.
Ich blätterte durch die fünfzig Fotos und wie durch ein
Wunder fand ich schon nach Kurzem, was ich gehofft hatte,
gar nicht erst zu entdecken.
Ich steckte das Foto in meine Umhängetasche, bedank-
te mich bei Hans und hatte es verdammt eilig, zu Istvan zu
kommen.
Um Punkt drei Uhr kam ich vor seinem Haus an. Es war
genau in dem Moment, in dem die Kirchenglocken zu läuten
begannen. Laut und hell bimmelten sie. Istvan hasste diesen
Lärm. Er konnte dann nichts anderes hören. Das überlaute
Dröhnen der Kirchenglocken überlagerte alle anderen Ge-
räusche. Istvan sagte, in dieser Minute wäre es so, als sei er
vorübergehend blind. Deshalb hörte er mich auch nicht, wie
sonst immer, vorab kommen. Ich stürzte auf den Balkon. Die
Tür war unverschlossen. Ich hechtete ins Wohnzimmer. Dort
war er nicht. Dann ging ich sofort in Richtung Schlafzimmer.
Die Glocken bimmelten schon mit dem letzten Schwung
und wurden leiser. Als ich vor dem Zimmer ankam, sah ich
Istvan vor dem Schreibtisch sitzen. Völlig erschrocken zuckte
er zusammen, als er mich in der Tür stehen sah. Er schrieb
gerade in einem schwarzen Buch, das er just in dem Augen-
blick, als er sich meiner Anwesenheit bewusst wurde, in der
Schreibtischschublade verschwinden ließ. Er setzte sich in
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einer einzigen, fließenden Bewegung auf den Schreibtisch,
die Schublade verdeckend, und machte einen völlig ertapp-
ten Eindruck. Sein ganzes Verhalten war verdächtig. Er lä-
chelte mich nicht an, wie er es sonst tat, sondern legte die
Stirn in Falten. Was stand bloß in diesem Notizbuch, das ich
auf keinen Fall sehen oder gar lesen sollte? Hatte er bemerkt,
dass ich es bemerkt hatte? Ich war mir nicht sicher.
„Was ist los, wieso stürzt du hier so herein? Ist sonst nicht
deine Art“, fragte er dabei atemlos, noch immer mit besorgter
Miene.
Ich tigerte aufgeregt von einer Seite zur anderen und
wollte meine vorbereitete Rede herunterrattern. Doch leider
wurde daraus ein unzusammenhängendes Gestammel, aus-
gelöst von dem unerwarteten, verdächtigen Anblick, der sich
mir ins Gedächtnis brannte.
„Ich habe heute eine Fotografie gestohlen. Das heißt,
eigentlich nicht. Nicht gestohlen. Ich habe heute von der
Foto-Ausstellung gelesen. Sie zeigt die Gemeinden im Wan-
del der Zeit, im Zeitraum von hundert Jahren.“
Jetzt begriff er. Istvan richtete sich auf. Er konnte mei-
ne Aufregung nun verstehen. Ich sprach weiter, noch immer
aus der Puste, meine Worte wild und schnell vor mich hin-
sagend.
„Es gab auch Bilder von St. Hodas aus deiner Zeit. Ich
habe den Kurator überredet, sie durchsehen zu können. Wie,
ist egal. Aber dabei habe ich es entdeckt. Eigentlich hatte
ich gehofft, gar nichts zu finden, aber das hier ist gut … Gut,
dass ich es gefunden habe. Es gab ein Foto, ein Foto von dir
und … deiner Mutter!“, stöhnte ich, erschrocken über mei-
ne eigenen Worte, hervor. Er schien zur Statue zu erstarren.
Damit hatte er nie im Leben gerechnet. Der Schock traf ihn
ganz unvorbereitet.
Er hatte seine Mutter, oder auch nur ein Foto seiner Mut-
ter, seit über 75 Jahren nicht gesehen.
Ich zog das Bild, das ich entwendet hatte, aus der Tasche
und reichte es ihm.
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Er nahm es in die Hand. Ich stand bewegungslos vor ihm,
noch immer schwer atmend. Ich glaube, zuerst erkannte er
sich gar nicht. Es war immerhin ein Foto aus dem Jahre 1934
und zeigte einen vierzehnjährigen Istvan im vergilbten Sepia.
Das Foto war ziemlich zerschlissen, es musste das Original
sein. In der Mitte des Bildes stand der junge Istvan mit einem
Korb voller Mais in der Hand, neben ihm seine Mutter Maria,
die als Erntehelferin einen Erntekorb umgeschnallt hatte und
leicht verschwitzt in die Kamera lächelte, ganz sanft. Der gü-
tige Zug um den Mund, den ich von Istvan kannte, war auch
in ihrem Gesicht zu entdecken. Auch die lange Form seiner
Brauen hatte er von ihr. Die beiden sahen sich in vielen Din-
gen sehr ähnlich. Maria war eine hübsche Frau, etwas mollig,
wie es zu dieser Zeit üblich war. Sie trug ein schlichtes, helles
Kleid und ein Tuch auf dem Kopf. Sie hatte lockiges Haar. Das
Foto war vor einem Feld aufgenommen. Istvan lächelte darauf
nicht. Er sah ernst aus und hielt den Korb vom Körper.
Der Anblick des Fotos traf Istvan ganz tief im Inneren,
das konnte man sehen. Er setzte sich zurück in den Sessel,
als wäre die ganze Kraft aus seinem Körper gewichen. Istvan
legte das Bild ganz vorsichtig auf den Tisch, drehte mir dabei
den Rücken zu. Er starrte sich und seine Mutter Maria ein
paar Minuten an. Ich wagte nicht mal zu atmen, geschweige
denn mich zu bewegen.
Seine beiden Hände stützten nun seinen Kopf. Er fuhr
fassungslos mit der Hand durch seine Stirnhaare. Als er sich
umdrehte, wäre ich fast zurückgewichen, so erschreckte
mich seine wiederkehrende Bewegung.
Ich stand hinter ihm, während er, noch immer sitzend,
das Foto fixierte. Seine Hand legte er jetzt auf die Stuhllehne.
Ich kniete mich hin und sah ihm direkt in die Augen. Ich ver-
meinte eine Träne in der Ecke seines Auges zu sehen. Er
blickte mich lange und fest an. Was wollten mir seine Augen
sagen? Ich wartete nicht lange auf die Antwort.
Er strich mit seiner Hand über meine Wange und hauch-
te ein „Danke“. Das aufrichtigste „Danke“, das ich je gehört
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hatte. Dann wandte er sich wieder dem Foto zu. Ich zog mich
leise zurück und ließ Istvan allein mit seiner wiederentdeck-
ten Kindheit und dem Anblick seiner Mutter auf dem ver-
blichenen Fotopapier. In der kühlen Abendluft fühlte meine
Wange wieder die Erinnerung seiner Berührung, die jetzt,
durch den kalten Wind, auf meiner Haut brannte.
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