6. Zeit der Freundschaft

In den vergangenen drei Wochen hatte sich mein ganzes Le-

ben geändert, sogar meine Gewohnheiten hatte ich an die

neue Freundschaft mit Istvan angepasst. Die Wochenenden

verbrachte ich größtenteils im Einsatz als Lokalreporterin

und jeden Sonntag war ich bei meinem Bruder und Paula

zum Essen eingeladen. Sie hatten es mir wohl nur angebo-

ten, weil sie nicht wollten, dass ich auch am Sonntag allein

essen musste.

Einmal in der Woche traf ich mich mit Martin, um ihm

bei der Vorbereitung des jährlichen Flohmarkts für Hungern-

de zu helfen. Die Gemeinden Rohnitz und St. Hodas spen-

deten dafür Bücher, CDs, Kleidung und andere Sachen, die

für einen guten Zweck verkauft wurden. Pfarrer Martin hatte

mich gebeten, ihm bei der Durchsicht der Kirchenspenden

zu helfen, alles aufzulisten und die Preise festzusetzen. Dabei

sprachen wir nicht viel. Doch einmal bemerkte er: „Du sollst

dich ja zurzeit oft in der Bücherei aufhalten.“ Ich verbarg mei-

nen erschrockenen Gesichtsausdruck mit einer Kiste voller

Spenden und würgte seine flapsige Bemerkung mit einem

sarkastischen Kommentar ab: „Sind die Buschtrommeln also

schon bis Rohnitz vorgedrungen. Ja, ich habe eine Leiden-

schaft für Bücher. Seit wann ist das strafbar?“ Mein bissiger

Tonfall wirkte. Martin nahm das Thema nicht wieder auf.

Die Abende und Nächte der Woche gehörten meiner

Musikleidenschaft. Ich schrieb so gut wie noch nie. Jeder

Vergleich und jede Anekdote aus der Musikgeschichte pass-

ten perfekt und meine Kritiken sprühten vor Geist und Witz,

wie schon seit Langem nicht mehr. Und meine neueste,

standhafteste Gewohnheit waren die täglichen Besuche in

der Bib liothek.

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Von Montag bis Freitag war ich jeden Tag zwei oder drei

Stunden in der Bücherei. Die Leute mussten schon denken,

ich wäre buchstäblich der Lesewut verfallen. Und solange

sie das wirklich dachten, war ich noch aus dem Schneider.

Sowohl Istvan als auch ich achteten peinlich genau da-

rauf, uns niemals außerhalb der Bücherei zu begegnen, um

nicht den geringsten Verdacht heraufzubeschwören, dass es

zwischen uns eine Verbindung gäbe, die intimer wäre als die

Beziehung zwischen Bibliothekar und Leseratte.

Es schien zu funktionieren. Ich hatte, auch nachdem drei

Wochen verstrichen waren, keinerlei Gerüchte gehört, die

mich und ihn betrafen.

Unser Plan ging also auf.

Ich hatte in jeder Woche Carlas Angebot essen zu gehen ab-

gelehnt und mich mit zu viel Arbeit rausgeredet. Carla schien

zuerst beleidigt. Doch ihre andauernde Wohnungsrenovierung

lenkte sie genug ab, sodass sie mir nicht die Hölle heiß mach-

te. Wir telefonierten ein paar Mal, was es mir leichter machte,

sie anzulügen, obwohl ich noch immer dieses fiese Zwicken in

der Bauchgegend bekam, wenn ich wieder einmal behauptete:

„Ach, ich war eigentlich den ganzen Tag zu Hause.“

Denn genau da war ich nicht. Ich war, wie könnte es auch

anders sein, meistens in Istvans Bibliothek anzutreffen, wo

ich jeden Tag dabei war, Istvan mit noch mehr Fragen zu

löchern. Doch je länger unsere Unterhaltungen dauerten,

desto öfter begann auch er mich auszufragen, eigentlich

über alles und nichts. Er wollte wissen, wie ich in der Schule

und auf der Uni war. Er wollte alles über meine Familie und

Freunde wissen. Er fragte mich nach allem, woran ich Inte-

resse zeigte. So kam es, dass wir bereits in der zweiten Woche

über weniger wölfische Themen redeten. Wir diskutierten

heftig über Bücher, die wir beide kannten. Wir versuchten

einander gegenseitig zu überzeugen, dass der jeweilige Mu-

sikgeschmack des anderen neu überdacht werden müsse.

Wir entdeckten unsere gemeinsame Leidenschaft für alte

Hollywood-Filme.

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Jedem objektiven Beobachter mussten wir als gute Freun-

de erscheinen, die es genossen miteinander zu reden, wä-

ren da nicht die verstohlenen Blicke, die meistens von mir

ausgingen. Aus diesem Grund achtete ich besonders darauf,

Istvan niemals zu berühren. Ich hielt sogar mehr Abstand,

als nötig gewesen wäre, um bei etwaigen Büchereibesuchern

keinen Verdacht zu erregen. Es war jedes Mal das gleiche

Szenario, wenn jemand die Bibliothek betrat. Dank seines

hervorragenden Gehörs wusste Istvan schon lange vorher,

ob jemand das Gebäude betrat. So warnte er mich immer

leise mit „Da kommt gleich jemand“. Daraufhin stürmte er

zu einem Bücherregal und blätterte in einem der unzähligen

Bücher, während ich so tat, als wühlte ich in irgendwelchen

Aufzeichnungen auf einem der Schreibtische. Doch wenn

Istvan einmal in einem Buch etwas gelesen hatte, was ihn in-

teressierte, dann war er sofort davon gefangen und las weiter,

fast als könnte er gar nicht anders.

Leider war der lesende Istvan ein umwerfender und

sinnlicher Anblick. Das machte die Freundschaftssache

zu einer Tortur für mich. Ich konnte meinen Blick nie ab-

wenden, wenn er, an ein Bücherregal gelehnt, ein Buch in

Händen hielt, beschienen vom Sonnenlicht, das durch die

großen Buntglasfenster strahlte. Seine Lider hatte er dabei

immer gesenkt, den Blick fest auf die Worte geheftet. Diese

Pose brachte seine feinen Züge und die hohen Wangen-

knochen auf eine Weise zur Geltung, dass er diesen fried-

lichen, konzentrierten Ausdruck bekam, den ich bis dahin

nur von Renaissancegemälden kannte. Der lesende Istvan

gehörte zu den schönsten Dingen, die ich in meinem gan-

zen Leben gesehen hatte. Vergleichen konnte ich seinen

Anblick nur mit den römischen Büsten und Plastiken, die

ich mehrmals im Kunsthistorischen Museum bewundern

durfte. Ich stand damals wie gebannt vor einer dieser Mar-

morbüsten und verlor mich in den Konturen eines steiner-

nen Gesichtes. Doch waren die Gesichtsausdrücke dieser

Kaiser, Philosophen und Feldherren Roms nicht im Min-

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desten so gütig und sanftmütig wie der Istvans in diesen

Momenten.

Es gibt eine Statue im Dogenpalast in Venedig, ich hatte

sie auf einer Besichtigungstour entdeckt und konnte nicht

mehr sagen, wen sie darstellte, aber jener schlafende Jüng-

ling hatte einen ähnlich sanften Ausdruck, der sich mir ins

Gedächtnis gebrannt hatte.

Wie sollte ich nur die Wirkung, die Istvan auf mich aus-

übte, vollkommen aus unserer Freundschaft verbannen? Wie

sollte ich in Zukunft verhindern, dass die Anziehung, die er

auf mich ausübte, unser Freundschaftsabkommen gefährde-

te? Ich hatte darauf keine Antwort.

Doch ich hatte endlich Antworten, was Istvans Identität

anging. Schließlich hatte ich drei ganze Wochen damit ver-

bracht, ihn über die letzten neunzig Jahre seines Lebens aus-

zufragen.

Mit jedem Tag meiner Befragungen enthüllte sich ein

neues Puzzlestück, aus dem ich mir Istvans Existenz und

Charakter zusammenreimen konnte. Und was ich erfuhr,

brachte mich nur noch mehr dazu, ihm nahe sein zu wollen

und ihn zu verstehen, so merkwürdig es auch klingt, wenn

man bedenkt, was er mir da erzählte …

„Geboren wurde ich in einer Zeit des Umbruchs. Der

Erste Weltkrieg hatte Narben in ganz Europa hinterlassen

und die Neuordnung des k. u. k. Reiches war daher eine be-

sondere Herausforderung. Als ich zur Welt kam, war unser

Land bereits ein neues Land. So war ich einer der Ersten,

der als Burgenländer aufwuchs. Mit einer ungarisch-deut-

schen Mutter und einem Vater Unbekannt. Sie sprach nie

über ihn. Er wäre kurz vor meiner Geburt gestorben, hieß

es. Meine Mutter Maria war eine außergewöhnliche Frau.

Sie zog mich ganz allein groß, arbeitete von früh bis spät.

Es war ihr immer sehr wichtig, dass ich ein gläubiger Christ

blieb und versuchte, ein guter Mensch zu sein. Es ist fast ein

Segen, dass sie nie erfahren hat oder gar sehen musste, was

aus mir geworden ist.“

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Wenn er so sprach, voller Selbstverachtung, hatte ich im-

mer ein Gefühl, als schnitte ein Schwert in mein Herz und

hinterließe eine klaffende, blutende Wunde.

„Sie starb kurz vor … bevor es passiert ist. Nachdem

meine Mutter, die meine ganze Welt war, gestorben war,

kam ich auf den Hof meiner Tante. Das war im Herbst ’35.

Wir hatten nicht viel. Es ging allen so. Aber im Gegensatz

zu Städten wie Wien hatten wir, dank unserer Landwirt-

schaft, wenigstens genug zu essen. Ich arbeitete viel auf

dem Feld oder im Wald. Dort konnte ich allein sein, was

ich brauchte. Ich sprach fast mit niemandem. Die Trauer

war so stark, ich konnte nicht mal schlafen. An einem Tag,

als ich wieder mal im Wald war, abends, diesmal muttersee-

lenallein, fing ich gerade damit an, ein paar umgehauenen

Bäumen die Äste abzuschlagen. Da hörte ich ein paar Mal

ein Knurren hinter mir. Dann nichts. Das Nächste, was ich

noch weiß, ist, dass ich am nächsten Morgen aufgewacht

bin, kilometerweit von der Stelle entfernt, wo ich zuvor ge-

wesen war. Ich hatte eine Bisswunde in meinem Nacken

und fühlte mich ziemlich angeschlagen. Schon bald wuss-

te ich, dass mit mir etwas nicht stimmte. In der folgenden

Nacht bekam ich Fieber, Krämpfe, und ich fühlte, wie das

Menschliche mit jeder Minute schwand. Als ich an die fri-

sche Luft stürzte, schien das Mondlicht direkt auf mich. In

diesem Moment verdreifachten sich die Schmerzen, sodass

ich mich nur noch am Boden zusammenkrümmen konnte

und das Gefühl hatte, als ob meine Haut an jeder Stelle

aufplatzte. Ich wusste zuerst nicht, was aus mir geworden

war. Aber als ich anfing zu laufen und die Wolfsinstinkte

über mich kamen, begriff ich, was ich war. Ich war ein Tier.

Ein Wolf. Bald merkte ich, dass ich auch in den Nächten

und Tagen, in denen ich von der Verwandlung verschont

blieb, anders geworden war. Ich konnte viel intensiver rie-

chen als zuvor. Mein Hörvermögen war wesentlich besser

und ich sah über große Distanzen klar, bei Tag und Nacht.

Auch konnte ich rennen, ohne je müde zu werden oder da-

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bei schwitzen zu müssen. Ich erzählte niemandem davon,

nachdem es passiert war.

Es war 1935. Die Menschen würden niemals verstehen,

was ich war, dessen war ich mir sicher. Ich spürte die Ver-

änderungen des menschlichen Klimas wie einen Wetterum-

schwung. Jeder, der anders war, wurde gemieden. Und ich,

ein seltsamer Fünfzehnjähriger, der immer mit sich allein

blieb, keine eigene Familie hatte, mit einem Zigeuner als

besten Freund, war bestimmt verdächtig. Mein Freund kam

aus St. Hodas-Berg und ich kannte ihn schon, seit ich den-

ken konnte. Doch jetzt wurde er in der Schule beschimpft

und man wollte, dass ich nicht mehr mit ihm sprach. Ich

ahnte, dass ich nicht länger dort bleiben konnte.

Damals wusste ich noch nichts über unseren verzöger-

ten Alterungsprozess. Ich hatte aber schon bemerkt, dass

ich mich nicht so schnell veränderte wie die anderen. Mit

siebzehn hatte ich noch immer die Züge und den Körper-

bau eines Jünglings, abgesehen von dem Dreitagebart, den

ich schon seit meiner Verwandlung behielt. Ich spürte die

Blicke der anderen. Es war Zeit zu gehen. Ich packte mei-

ne wenigen Sachen und verabschiedete mich von meinem

Freund Roman. Ohne ein Ziel. Als ich im Zigeunerlager an-

kam, bemerkte Romans Großvater meine ‚Besonderheit‘. Er

sagte mir, er komme aus einem Dorf in den Karpaten, wo es

noch mehr wie mich gäbe. Er hätte sie einmal mit seinem

Vater nachts im Wald bei einer Verwandlung gesichtet. Ich

hatte bis dahin gar nicht daran gedacht, dass es noch andere

Wesen wie mich geben könne. Ich beschloss, nach Rumä-

nien zu gehen, um herauszufinden, was mit mir geschehen

war und wie ich es wieder rückgängig machen könnte.

Als ich 1937 in den Karpaten ankam, brauchte ich ewig,

um das kleine Dorf zu finden. Doch schon beim ersten Voll-

mond fand ich sie. Wir scheinen uns gegenseitig aufspüren

zu können, wenn wir in unserer Wolfsform sind.

Es war ein ganzes Rudel, alle wesentlich älter als ich. Sie

schienen nicht besonders erfreut über meine Anwesenheit.

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Ich war auch äußert skeptisch. Am nächsten Morgen war-

teten sie schon auf mich. Ich stellte mich vor und erzähl-

te ihnen von meiner Verwandlung und dass ich nicht mehr

wüsste, was passiert sei. Nachdem ich sie davon überzeugt

hatte, dass ich absolut ahnungslos war, erklärte mir der An-

führer, sein Name war Damir, dass sie gestern so angespannt

gewesen wären, weil sie in mir einen Alphawolf wahrgenom-

men hatten. Und jedes Rudel, besonders jeder Leitwolf,

fürchtet einen Alpha. Vor allem, wenn dieser jünger ist. Er

könnte versuchen, die Führung des Rudels an sich zu reißen.

Ich verstand nichts von alledem. Ich bat sie, mir nur zu erklä-

ren, was mit mir los sei, und versprach ihnen, danach sofort

zu verschwinden. So erfuhr ich, dass es noch ein zweites Ru-

del in Rumänien gab, deren Anführer etwas Ähnliches pas-

siert sei wie mir, der aber derzeit mit seiner Familie auf den

alten Wolfspfaden von Ungarn, Polen, Rumänien, Deutsch-

land und Österreich herumzog und unerreichbar für mich

sei. Sie erzählten mir sehr viel. Vor allem Legenden. Von al-

ten rumänischen Wölfen mit magischen Kräften, die in die

Körper von schlafenden Menschen fuhren und so Mischwe-

sen schufen, die wiederum andere bissen und verwandelten.

Von Indianerlegenden, die sie von ungarischen Rudeln er-

zählt bekamen, von sogenannten „Skinwalkern“, den Haut-

schlüpfern, die angeblich der Ursprung der Verwandlung

sein sollten. Einer der Ältesten behauptete sogar, Romulus

und Remus, die Gründer von Rom, wären nicht von einer

Wölfin gesäugt worden, sondern wären die menschlichen

Abkömmlinge einer Werwölfin, wodurch sie stark genug wa-

ren, Italien zu einen und ein Weltreich zu erschaffen.

Ich wusste nicht, ob ich etwas davon glauben sollte, aber

ich beschloss, weitere Reisen zu unternehmen.

Abgesehen von den vielen Erzählungen, die sie mir of-

fenbarten, führten sie mich ein in die Welt, in der ich nun

gefangen war. Sie zeigten mir, wie ich mich auf die Voll-

mondnächte vorbereiten konnte. Wie ich es schaffte, mich

in meiner Wolfsform zu konzentrieren, und wie man lernt,

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seine Instinkte zu kontrollieren. So gelang es mir bald, als

Wolf nicht mehr zu jagen. Sie unterwiesen mich auch da-

rin, wie man vor den normalen Menschen verbarg, dass man

bessere, schärfere Instinkte hatte. Sie rieten mir, alle fünf

bis zehn Jahre den Ort zu wechseln und mir gut zu überle-

gen, welcher Arbeit ich nachgehen konnte, die es mir erlaub-

te, bei Vollmond zu verschwinden. Ich war ihnen für alles

sehr dankbar und wollte mein Versprechen halten. Doch der

alte Leitwolf Damir hatte es sich anders überlegt. Er war

mittlerweile sehr, sehr alt und spürte das Ende kommen. In

unserem Fall ist es so, dass wir das Ende entweder fühlen

oder ganz plötzlich umfallen, wenn unsere Körper älter als

sechzig werden. Nach dieser Zeit ist selbst unser angepass-

ter Körper derart verbraucht, dass unser Herz einfach stehen

bleibt. Manche können dieses Ende vorausfühlen. Damir

bat mich also, seinen Platz einzunehmen, da in seinem Ru-

del kein eindeutiger Alpha auszumachen wäre. Ich weigerte

mich. Ich wollte dieses Leben überhaupt nicht. Ich wollte es

eigentlich nur loswerden und nicht auch noch der Anführer

von anderen Verdammten sein. Ich dachte zuerst, er wäre

böse deswegen, aber er meinte nur, dass er sich schon ge-

dacht hätte, dass ich einer dieser Wölfe sei.“

„Was meinte er mit ‚einer dieser Wölfe‘?“, fragte ich ge-

bannt.

„Er sagte mir, dass ich ein einsamer Wolf sei. Ein ganz

seltener. Einer dieser einsamen Leitwölfe, die es vorziehen,

allein oder mit einer Partnerin durch die Gegend zu ziehen,

und das Leben in einem Rudel ablehnen. Ich fühlte sofort,

dass er damit ins Schwarze getroffen hatte, und verließ da-

raufhin Rumänien.“

„Wo gingst du hin?“

Ich verbrachte die Zeit von 1937 bis Ende des Zweiten

Weltkrieges in Amerika und versuchte, so wenig wie mög-

lich aufzufallen. Wenigstens einen Vorteil hatte mein ver-

hasstes neues Leben. Ich hatte nun Möglichkeiten, die

in meinem alten Leben unerreichbar gewesen wären. Ich

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konnte in den USA studieren. Ich hatte immer schon viel

gelesen. Das kam mir jetzt gelegen, denn so lernte ich recht

schnell Englisch. Ich las einfach jedes Buch, das ich be-

reits auf Deutsch kannte erneut. So lernte ich die Sprache.

Ich arbeitete die ganze Nacht lang, um genug Geld zu ha-

ben, und ging tagsüber auf die Universität. Ich studierte

in einem kleinen College in Connecticut, wo es genügend

Wald gab. Eigentlich wollte ich unbedingt Medizin studie-

ren. Ich musste aber schon bald die Ausbildung abbrechen,

da mir ständig Diagnosen herausrutschten, die ich gar nicht

kennen durfte. Schließlich brauchte ich kein Stethoskop,

um ein Herzproblem zu hören, und ich konnte einen Bruch

mühe los mit einem kurzen Griff richten. Es war frustrie-

rend, so tun zu müssen, als könne ich nicht helfen, nur um

mein verfluchtes Geheimnis zu wahren. Es gab auch noch

andere Probleme wie bestimmte Nachtdienste, die ich nicht

machen konnte, oder dass ich nicht Blut spenden konnte

und dafür keine plausible Erklärung hatte. Damals wusste

ich zwar noch nicht, dass das Wolfsgift in unserem Blut ist,

aber ich vermutete es bereits.

Da ich seit jeher Ungarisch beherrschte, studierte ich

schließlich Sprachwissenschaften und arbeitete bald als

Übersetzer, die wegen des Krieges überall gebraucht wurden

und sehr gefragt waren. Auch bewahrte mich der kriegswich-

tige Übersetzerdienst vor der Pflicht, als Soldat zu kämpfen,

die ich schon wegen der Musterungsuntersuchung nicht ris-

kieren konnte. Ich war froh, die Kriegsjahre damit zu verbrin-

gen, wichtige Papiere zu übersetzen oder zu verfassen und

niemanden verletzen zu müssen. Davor hatte ich am meisten

Angst, dazu gezwungen zu sein, andere zu verletzen oder zu

töten.“

Die Art, wie er über seine Ängste sprach, war aufrichtig.

Ich konnte mir kaum vorstellen, wie es sein musste, in so

einer Zeit leben zu müssen und mit solchen Problemen kon-

frontiert zu werden.

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An einem anderen Tag erzählte er mir von den schönen Er-

fahrungen, die er während seiner ersten Studienzeit in Ame-

rika gemacht hatte. Über das erste Mal, als ihn ein Kommili-

tone nach New York mitnahm und er eine Oper sah. Wie sie

ihn sofort begeistert hatte und die Liebe zur Oper bis heute

anhielt. Über die außergewöhnlichen Filme, die er damals

im Kino sah. Manche gleich mehrmals hintereinander.

An einem Donnerstag erzählte er mir von den Problemen,

die sein spezielles Leben mit sich brachte:

„Es gefiel mir in Connecticut. Ich wollte länger dort blei-

ben. Aber als der Krieg endlich zu Ende ging, war ich bereits

seit acht Jahren dort und langsam bemerkten meine Kolle-

gen, dass sie nichts über mich wussten. Jeder schien mich

zu kennen, aber niemand wusste etwas über mich. Ich hatte

eigentlich keine Freunde, lediglich Bekannte, die ich alle-

samt über meine Herkunft belog. Doch jetzt, nach Ende des

Krieges, machten sich Menschen wie ich, ohne nachweisba-

re Vergangenheit, schnell verdächtig. Ich galt als Ungar, das

hatte ich bei meiner Einreise angegeben. Man wusste, ich

sprach etwas Rumänisch und dass ich es nicht von meiner

Uni her konnte. Sie prüften das nach. Der Chef des Über-

setzerbüros war ein netter Mann und deutete mir gegenüber

eines Tages an, dass ich im Verdacht stünde, ein russischer

Spion zu sein. Man hatte bei meiner Überprüfung Unge-

reimtheiten festgestellt.

Es war Zeit zu verschwinden. Ich vernichtete alles, was

ich nicht mitnehmen konnte, und behielt nur das Nötigste.

Wieder einmal war ich allein und hatte noch keine der Ant-

worten gefunden, nach denen ich so verzweifelt suchte. Ich

konnte auch nicht wieder richtig nach Hause. Nicht, solange

ich aussah, als wäre ich kaum gealtert, und solange sich noch

jemand an mich erinnern konnte.

Ich stromerte als Wanderarbeiter durch das ganze Land

und suchte ein Indianerreservat nach dem anderen auf. Erst

nach Monaten stieß ich auf einen Stamm, der noch „Skin-

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walker“ kannte. Ein junger Krieger, den sie Little Wolf nann-

ten, sollte ein direkter Nachfahre eines Skinwalkers sein.

Ich fand ihn in der Nähe des Yellowstone-Nationalparks. Ich

folgte ihm und wartete auf die erste Vollmondnacht. Danach

zeigte ich mich ihm. Es stellte sich heraus, dass er genau

wie ich ein einsam Wandelnder unserer Art war. Er gab mir

auch die Antworten, die Damir mir damals nicht geben woll-

te. So erfuhr ich, dass Little Wolf tatsächlich der leibliche

Nachfahre eines Wolfes war. Er war schon sehr alt gewesen

und wollte sein Rudel nicht ohne Führung zurücklassen. Da

hatte er mit seiner vierten Menschenfrau, in voller Absicht,

einen Werwolf gezeugt. Ich war erschüttert. Ich wusste ja

nicht, dass wir es weitergeben konnten. Diese Frage stellte

sich in meinem Leben nicht, da ich damals so gut wie kei-

nen näheren Kontakt zu Menschen hatte, schon gar nicht zu

einer Frau. Little Wolf verriet mir, dass man einen von uns

nur zeugen könne, wenn man in den Vollmondnächten mit-

einander schläft. Er klärte mich auch darüber auf, dass zwei

Werwölfe immer ein Wolfskind zeugen, während ein Mensch

und ein Werwolf auch normale Kinder bekommen könnten.

Ich fragte ihn nach einem Heilmittel, doch er konnte

mir nicht weiterhelfen. Er hielt mich für absonderlich, da

ich nicht bereit war, mein neues Leben anzunehmen. Ich

versuchte ihm zu erklären, dass ich nicht wie er so geboren

wurde, sondern mir jemand das angetan hatte. Das schien

ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Für ihn und seinen

Stamm waren wir beseelte Tiergeister, die mit der Gabe ge-

segnet waren. Ich hielt es nicht lange bei ihm aus und zog

weiter. Wieder einmal.

Die nächsten Jahre verbrachte ich in den Wäldern um

Seattle. Ich studierte Literatur und Kunst und nahm mal

wieder eine neue Identität an. Ich nutzte die große Biblio-

thek und meine Kontakte zu bestimmten Buchhändlern, um

zu recherchieren. Ich arbeitete sogar in einem Antiquitäten-

geschäft und übersetzte deutsche Bücher ins Englische. Das

meiste, was ich über Werwölfe fand, waren übertriebene

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Legenden, dumme Horrorgeschichten, ausgedacht von trin-

kenden Möchtegernliteraten. Es gab ein paar Hinweise, die

zwar auf den ersten Blick interessant schienen, doch auf den

zweiten Blick entpuppten sie sich stets als Sackgasse. Nach

weiteren zehn Jahren musste ich weg und ich wollte wieder

nach Hause. Ich wollte versuchen, in Europa Antworten zu

finden, da die meisten Hinweise auf diese Gegend verwie-

sen, vorwiegend auf Skandinavien, Osteuropa, Russland und

Italien.

Ich beschloss, alle Länder abzuklappern. Ich hatte ja ge-

nug Zeit. Zeit war sogar das Einzige, was kein Problem für

mich darstellte.“

In den folgenden Tagen erzählte er mir von seinen Reisen

und den Erfahrungen, die er dabei gemacht hatte.

Mit jedem neuen Tag nahm er mich mit in ein neues

Land. An einem Dienstag war es Russland.

„Die russischen Werwölfe waren ganz anders als alle, die

ich davor getroffen hatte. Sie weigerten sich, ein normales,

menschliches Leben zu führen. Sie lebten alle in Rudeln.

Es gab keine Einzelgänger. Sie wohnten in Höhlen und halb

verfallenen Hütten. Sie hatten einen sehr ausgeprägten Ter-

ritorialinstinkt. Sobald ich das Revier eines Rudels betreten

hatte, griff man mich an und ich bekam nie die Chance, mei-

ne Fragen zu stellen. Es war zwecklos. Das Einzige, was sie

wollten, war, vollkommen in ihrem Wolfdasein aufzu gehen

und zu kämpfen. Als Menschen wie als Wölfe waren sie

Krieger, stark und furchterregend. Ich hielt mich nicht lange

in Russland auf. Es waren übrigens die 50er und das war ein

weiterer Grund, nicht lange in dieser Gegend zu bleiben. Ich

reiste ja noch immer mit einem gefälschten amerikanischen

Pass.

In Italien traf ich auf drei Rudel und ein paar einzelne

Streuner. Die meisten von ihnen boten mir an, mich ihnen

anzuschließen, was ich natürlich ablehnte. Schnell sprach

sich herum, dass ein Ausländer in Italien herumschnüffelte,

der Antworten wollte, aber nur, um sich von seiner Wolfs-

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existenz zu befreien. Das kam nicht gut an. Ich musste Ita-

lien bald verlassen, was ich sehr schade fand, da ich endlich

Opern in der Mailänder Scala sehen konnte.

Ich beschloss, nach Ungarn zu gehen und dort in Buda-

pest weitere Studien und Nachforschungen anzustellen. In

Ungarn traf ich dann endlich, Anfang der 60er-Jahre, auf

das rumänische Rudel, von dem mir Damir damals erzählt

hatte. Sie waren sehr bekannt in der osteuropäischen Ge-

meinschaft. Sie pflegten auf den alten Wolfspfaden zu wan-

deln, um sich zwischen den echten Wölfen zu verstecken. So

fielen sie weniger auf. Ich hoffte schon lange, auf sie zu tref-

fen, da ihr Anführer Valentin doch eine ähnliche Geschichte

haben sollte wie ich.

Wir verstanden uns von Anfang an. Ich schrieb Valentin

einen Brief, in dem ich meine Geschichte erzählte und um

seine Hilfe bat. Ich schickte ihn zum Jagdschloss, zu seiner

ungarischen Residenz. Er lud mich sofort zu sich ein. Vor

Valentin waren die meisten Leitwölfe, denen ich bisher be-

gegnet war, geborene Werwölfe und nicht wie ich oder er

Gebissene.

Valentin wohnte und lebte zusammen mit seiner Fami-

lie, die gleichzeitig sein Rudel war. Da waren Serafina, sei-

ne Tochter, die erste Werwölfin, die ich bis dahin gesehen

hatte. Woltan, sein Sohn, und drei weitere Werwölfe, die

sich freiwillig von Beginn an Valentins Rudel angeschlossen

hatten. Alle drei waren auch gebissen worden und wurden

gezwungen, dieses Leben zu führen. Er erzählte mir, kurz

nach unserer ersten Begegnung, von einem Fremden, der in

sein altes, rumänisches Dorf gekommen war und ihn und

drei seiner Freunde angegriffen hatte. Das war 1803 in sei-

ner Hochzeitsnacht gewesen. Als ich ihn kennenlernte, war

Valentin also 180 Jahre alt und sah aus wie ein vierzigjäh riger

Mann. Er hatte Serena gerade erst geheiratet, eine Frau,

die er über alles liebte. Alle vier waren am Morgen erwacht,

genau wie ich, und hatten Bisswunden gehabt. Von da an

mussten sie sich verwandeln. Valentin erzählte es sofort sei-

102

ner Frau, die weiterhin zu ihm hielt. Er zog von da an, zu-

sammen mit seinen drei Freunden, von Ort zu Ort, um den

Mann zu finden, der ihm das angetan hatte. Ohne Erfolg. Er

wusste über sein Leben genauso wenig wie ich, weshalb er

auch weiterhin mit seiner Frau das Bett teilte wie Mann und

Frau. So bekam Serena im ersten Jahr ihrer Ehe Zwillinge,

Serafina und Woltan, die ebenfalls Werwölfe waren. Valentin

verfluchte sich dafür und versuchte die nächsten 150 Jahre

lang, ein Heilmittel dafür zu suchen, konnte aber nichts fin-

den. Da Valentin und auch seine Kinder nicht so alterten wie

sie selbst, konnte Serena nie sehen, wie ihre eigenen Kinder

heranwuchsen. Sie starb, bevor die Zwillinge ein mensch-

liches Alter von fünf erreicht hatten.

Valentin war verzweifelt. Ohne seine Frau hatte er nur

noch seine Kinder und sein Rudel. Er glaubte nicht an die

alten Legenden, die andere ihm erzählt hatten, und hoffte

auf die Wissenschaft, welche in Europa gerade groß in Mode

war. Er verschlang alles Wissen über Medizin und Alchemie,

das er finden konnte, und traf bei seinen Studien in Polen

auf einen noch älteren Werwolf, der ihn darüber aufklärte,

was unseren Fluch auslöst. Diese Erkenntnisse teilte er mit

mir. Ich glaube, er tat das in der Hoffnung, dass ich mich

ihnen anschließen würde und vielleicht ein Gefährte für Se-

rafina sein könnte.“

Bei dieser kleinen Enthüllung setzte mein Herz aus, ich

ließ ihn aber weitererzählen und unterbrach ihn nicht.

„Es ist wohl so, dass mit dem Biss ein Gift in unseren

Körper gelangt, das die Veränderungen verursacht. Dieses

Gift löst zusammen mit dem Mondlicht die Verwandlung

aus. Die Krankheit, das Gift, ist in unserem Blut, in unserem

Speichel, überall. Es ist aber für andere Menschen nur ge-

fährlich, und damit ansteckend, wenn die Vollmondstrahlen

sehr stark sind – also in den Vollmondnächten. So erfuhr

Valentin, dass seine Kinder die Bürde nur tragen mussten,

weil er unvorsichtig und mit seiner Frau in den Vollmond-

nächten zusammen war. Von da an suchte Valentin verstärkt

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nach einem Heilmittel. Über 200 Jahre lang. Er hat bis heute

keines gefunden. Und langsam glaube ich, dass es unum-

kehrbar ist.“

„Hast du ihn eigentlich gefragt, wieso er nie versucht hat,

Serena zu verwandeln?“, wollte ich neugierig wissen.

„Nein. Das musste ich ihn nicht fragen. Wir beide dach-

ten in dieser Sache gleich. Wir wünschten niemandem,

den wir liebten, dieses Leben. Du musst dir vorstellen, du

könntest nie an einem Ort bleiben, hättest nie ein Zuhause,

wärst immer deinen Instinkten ausgeliefert und könntest nie

normal leben. Du müsstest zusehen, wie Menschen, die du

liebst und kennst, sterben, und du kannst immer nur zuse-

hen und bist gezwungen weiterleben. So ein verlorenes Le-

ben ist kaum zu ertragen.“

Er hatte wieder diesen traurigen, verzweifelten Blick, der

mir Angst einjagte.

„Ich blieb fast fünf Jahre in der Nähe von Valentin und

seiner Familie, schloss mich aber nie wirklich seinem Rudel

an. Ich verbrachte viel Zeit mit Serafina und Woltan, die bes-

ser mit ihrer Bürde klarkamen, da sie damit geboren wurden

und seit über 160 Jahren kein anderes Leben kannten. Wäh-

rend Woltan schon einmal verheiratet war, war Serafina im-

mer allein geblieben wie ich. Diese Gemeinsamkeit machte

uns zu Freunden, auch wenn wir nie mehr waren als das.

Valentin ist auch der Einzige von unserer Art, der Regeln

für das Leben und das Rudel aufgestellt hat. Als einziger von

uns fand er für sich eine Lebensaufgabe. Die Aufgaben und

Regeln gingen Hand in Hand.

Das wichtigste Verbot ist, dass niemand aus seinem Ru-

del es wagen darf, einen Menschen zu beißen oder absicht-

lich einen neuen Werwolf zu schaffen. Selbst als sein eigener

Sohn Woltan ihn anflehte, seine Frau verwandeln zu dür-

fen, weil er sie nicht verlieren wollte, blieb Valentin stand-

haft. Andere Rudel beißen immer mal wieder Menschen.

Valentin greift nur dann ein, wenn es sich dabei nicht um

Einzelfälle handelte. Unter unseresgleichen ist Valentin eine

104

Art Wächter, der für eine Ordnung sorgt. Valentins Familie

entschließt sich nur dann für Kampf, wenn sie keine andere

Wahl mehr haben. Die zweite wichtige Regel betrifft die Ge-

heimhaltung. Um seine Familie und alle anderen zu schüt-

zen, sorgt Valentin, im Falle einer möglichen Enthüllung, für

Schadensbegrenzung. Sein Rudel vernichtet alle Beweise für

unsere Existenz, wenn es sein muss.

Wir beschlossen zu der Zeit, als ich zu ihm stieß, Freunde

zu bleiben. Ich sicherte ihm zu, mich an seine Regeln zu hal-

ten, und er ließ mir meine Unabhängigkeit, denn er wusste,

ich war ein Alpha und ein einsamer Wolf, ich hätte nie mit

seinem Rudel leben können. Auch wenn es gut war, nach

all den Jahren endlich Freunde und Verbündete gewonnen

zu haben, musste ich weiter allein bleiben. Wir halten aber

seither immer Kontakt.

1969 kehrte ich dann wieder in die USA zurück. Ich

arbeitete dort erneut als Übersetzer und Werbegrafiker. Ein-

mal im Jahr flog ich nach Europa und traf mich mit dem

Valentin-Rudel. Wir tauschten neue Informationen aus und

erneuerten unsere Freundschaft.

Ende der Siebziger kehrte ich nach Ungarn zurück. Ich

unterrichtete an der Budapester Universität. Die Achtziger

und Neunziger verbrachte ich hauptsächlich in Deutschland

und Wien. Ich kämpfte gegen mein Heimweh und meine

Einsamkeit an. Ich wollte nicht mehr. Ich verstand nicht,

wie Valentin es über 200 Jahre aushalten konnte. Ich war des

Lebens, meines Lebens, so überdrüssig. Ich konnte keine

Hoffnung mehr sehen. Immerhin hatte Valentin in all den

Jahren keine Lösung gefunden und ich sah überall nur noch

Dunkelheit und Verzweiflung. Ich wollte nicht mehr allein

sein müssen. Ich wollte nicht mehr in meiner Haut sein müs-

sen. Ich wollte mein Leben einfach nur beenden. Doch ich

wäre nie fähig, Selbstmord zu begehen, das ist gegen meine

Überzeugung. Ich beschloss, mich vom Leben vollkommen

zurückzuziehen und einfach auf das Ende zu warten, auch

wenn es ewig dauern würde.

105

Nachdem ich die schwärzesten Jahre meines Lebens

überstanden hatte, fand ich doch noch zurück ins Leben.

Ich erkannte, dass ich nicht davonlaufen konnte, dass ich

nicht aufgeben durfte, egal, wie hoffnungslos meine Lage

auch ist.

Und schließlich ist es mir dann doch gelungen, nach

Hause zurückzukehren. Es hat sich ausgezahlt, nicht auf-

zugeben. Ich bin nicht länger allein. Jetzt hab ich ja eine

wahre Freundin. Eine Vertraute, die meine ganze Geschich-

te kennt. Ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal vergönnt

sein würde“, gestand er mir mit seinem sanften Lächeln und

strich mir dabei zärtlich über die Wange.

Es war das erste Mal, nach ganzen drei Wochen, dass er

mich berührt hatte. Seine Hand war sehr warm, fast schon

heiß. Ich hatte fast vergessen, wie sich seine Wärme auf mei-

ner Haut anfühlte. Es traf mich ganz unvorbereitet.

„Istvan, deine Hand ist ja glühend heiß“, bemerkte ich

flüsternd.

„Hast du es vergessen, bald beginnen die Vollmondnächte

und ich habe bereits eine Temperatur von 40 Grad“, erinnerte

er mich.

Ich sank in den Schreibtischstuhl zurück. Er saß noch

immer auf dem Tisch vor mir und starrte mich an wie die

ganze Zeit über, als er mir von den schwierigen Jahren seines

Lebens erzählt hatte. Istvan sah, dass ich verstand.

Bald war Vollmond. Damit rückte die Zeit, in der Istvan

sich verwandeln musste, unaufhaltsam näher. Tag für Tag.

Stunde für Stunde.

106

7. Unerwünschte Verwandlung

Er hatte es von Anfang an klargestellt. Ich hatte sofort pro-

testiert. Istvan sagte mir schon von Beginn an, dass ich nie

dabei sein würde, wenn er sich verwandeln müsste. Ich hat-

te ihm erklärt, ich hätte keine Angst und dass ich es sehen

müsste. Denn erst wenn ich ihn selbst mit eigenen Augen

sehen würde, als Wolf, wäre es für mich Realität. Ich hielt an

meiner Theorie fest, so wie er an seinem Standpunkt.

Aber nun war es Anfang Oktober und die Vollmondnäch-

te standen unmittelbar bevor. Sehr viel war seither passiert.

Ich hatte mehr über Istvans Vergangenheit und über die

Existenz von Werwölfen erfahren, als ich je für möglich ge-

halten hätte. Natürlich wollte ich es jetzt auch sehen. Ich

musste. In jeder Stunde konnte ich an nichts anderes den-

ken. Doch wie würde ich ihn dazu überreden können? Die

Zeit lief mir davon. Der Moment zu handeln, war gekom-

men.

Ich stand am frühen Morgen auf, was ich sonst sorgsam

vermied. Ich konnte kaum die Augen aufhalten. Die ganze

Nacht hatte ich mich von einer Seite auf die andere gedreht,

geplagt von unzusammenhängenden Träumen und Bildern,

die sich im Grunde immer um dasselbe drehten.

Ein Wolf. Ein Mann. Ein Mann, der zum Wolf wurde.

Einmal waren es schreckliche Bilder eines von Schmerzen

gepeinigten Istvan, dem Haare aus den Poren schossen oder

dem die Haut aufplatze. Ich wusste, ich würde noch voll-

kommen wahnsinnig, wenn ich weiterhin meiner Fantasie

erlaubte, diese Szenarien heraufzubeschwören. Ich war fest

davon überzeugt, diese Albträume würden verschwinden,

könnte ich nur sehen, wie es wirklich vor sich ging. Es war

107

das Unbekannte, das mir Angst einjagte. Die Unwissenheit.

Und nicht etwa die Tatsache, dass Istvan zu einem Wolf wür-

de. Dessen war ich mir ganz sicher.

Ich wickelte mein Pyjamahemd ganz fest um meinen

Oberkörper. Es war kühl an diesem Oktobermorgen. Ich

nahm meine Tasse Kaffee in die Hand und nahm ein paar

gierige Schlucke. Mein Lebensretter um sechs Uhr früh.

Ich öffnete die Eingangstür und nahm die Zeitung von der

Schwelle, wie an jedem Morgen. Wieder zurück am Küchen-

tisch blätterte ich hektisch in der Tageszeitung. Erst beim

zweiten Durchgang hatte ich sie entdeckt. Die Wetterseite.

Ich las schnell und überflog alles Überflüssige. Kühle Okto-

bertage, mit angenehmer Temperatur. Leichte Bewölkung,

aber vorwiegend trocken. Endlich sah ich es. Mondphase:

zunehmend. Morgen: Vollmond. Das bedeutete, heute, an

diesem Dienstag, fand die erste Vollmondnacht statt.

Heute würde ich nicht bis Nachmittag warten können,

um die Bibliothek aufzusuchen. Ich würde schon am Vor-

mittag bei Istvan einfallen und mit ihm die Möglichkeit be-

sprechen, seiner ersten Verwandlung in diesem Monat bei-

zuwohnen. Ein harter Kampf stand mir an diesem Tag bevor.

Ich nahm noch zwei weitere Tassen Kaffee. Diesmal schwarz.

Dann ging ich unter die Dusche.

Ich betrat die Bibliothek. Das schwere Tor fiel hinter mir mit

einem lauten Krachen ins Schloss. Doch Istvan hatte schon

lange vor diesem Geräusch seine Aufmerksamkeit dem Ein-

gang zugewandt. Er sah mich mit seinen stechenden, grü-

nen Augen an. Ich spürte, dass er schon wusste, weshalb

ich gekommen war. Am Vormittag, kurz vor der offiziellen

Öffnungszeit, und nicht wie sonst am Nachmittag.

Diesmal war alles ganz anders. Ich stand am Eingangstor.

Starr. Unfähig, mich auch nur einen Zentimeter zu rühren,

und Istvan starrte mich bedeutungsvoll und besorgt an. Das

Buch, das er noch in der Hand hielt, wurde fast zerquetscht

von seinem festen Griff. Die Adern seiner linken Hand tra-

108

ten deutlich hervor. Aber waren die Anspannung und Symp-

tome einer bevorstehenden Nacht der Verwandlung Auslöser

seiner Unruhe oder mein Besuch und die unerwünschte Ab-

sicht, die er sofort an mir bemerkt hatte?

Langsam, und dabei immer seinem durchdringenden

Blick standhaltend, ging ich auf ihn zu. Der Eingangskorri-

dor schien mir in diesem Moment unendlich lang und mit je-

dem Schritt spürte ich, wie meine Unsicherheit sich steiger-

te und meine Entschlossenheit schwand. Das hatte nichts

mit einem Mangel an Mut zu tun. Es waren die Verzweiflung

und die Traurigkeit, die sein ganzes Wesen ausstrahlte, die

mich zögern ließen.

Und hielt ich mich sonst immer auf Abstand, unserer fri-

schen Freundschaft zuliebe, stellte ich mich jetzt sehr dicht

vor ihn. So, wie er es anfangs immer bei mir getan hatte. Ich

hoffte, ihn damit auf dieselbe Weise zur verunsichern, wie er

es oft, zu oft, bei mir geschafft hatte. Doch einen kurzen Au-

genblick lang, nur den Bruchteil einer Sekunde, war ich da-

von überzeugt, er würde versuchen, mich zu umarmen. Aber

die kaum angedeutete Geste wurde von Istvan sofort in ein

Zurückweichen vor mir umgewandelt. Er wandte sich von

mir ab, ohne auch nur ein Wort zu mir zu sagen. Er flüch-

tete sich in den ungarischen Saal. Aber ich folgte ihm auf

Schritt und Tritt. Schnell fand ich ihn. Verkrampft an eines

der Regale gelehnt, die Arme vor seiner Brust verschlossen,

drehte er mir den Rücken zu, um mich nicht ansehen zu

müssen. Er stand vor einem der bunten Glasfenster und ich

hätte nicht einmal mit Sicherheit beschwören können, ob

er noch atmete, so schweigsam und still war er. Ich legte

mir die Hand auf den Mund, als wolle ich verhindern, et-

was Falsches zu sagen, und wartete in der Hoffnung, Istvan

würde sich doch noch zu mir umdrehen, was er aber nicht

tat. Sein dunkelblaues Hemd strahlte fast, als die, durch das

Buntglas gefärbten, Lichtstrahlen auf ihn trafen. Er machte

auf mich den Eindruck eines verzweifelnden Märtyrers. Ich

atmete ein paar Mal tief ein, dann legte ich, so sanft ich

109

konnte, meine Hand auf seine Schulter. Die Haut unter dem

leichten Baumwollhemd schien zu brennen. Er neigte leicht

den Kopf, mehr nicht.

„Istvan, bitte sieh mich an“, flehte ich mit gebrochener

Stimme.

Ich konnte nur ein leichtes Kopfschütteln bemerken.

„Wieso nicht? Wieso willst du mich nicht ansehen?“

Der Ton in meiner Stimme klang jetzt, als würde ich je-

den Moment um Hilfe schreien, nur ohne Atem darin.

„Du weißt, wieso“, war alles, was er mir dazu zu sagen

hatte.

Ich hörte das erste Mal an diesem Tag seine Stimme. Sie

war jetzt rauer, als ich sie kannte. Tiefer, bedrückter.

„Soll ich gehen?“, fragte ich und das Herz blieb mir ste-

hen bei der Vorstellung, dass er mich nicht länger um sich

haben wollte.

„Nein, ich will nicht, dass du gehst. Aber ich will auch

nicht, dass du mich ansiehst. Schon gar nicht heute Nacht.

Ich weiß genau, wieso du gekommen bist.“

Mit der Art, wie er die letzten Worte sagte, gab Istvan mir

das Gefühl, als hätte ich ein heiliges Versprechen ihm gegen-

über gebrochen. Als wäre ich eine Verräterin und würde da-

bei so tun, als wäre ich mir keiner Schuld bewusst. Aber er

wollte auch nicht, dass ich ging. Das war gut.

„Sieh mich an, Istvan. Ich möchte nur, dass du mit mir

darüber redest. Nicht mehr und nicht weniger. Freunde kön-

nen doch über alles reden.“

Ich hatte es irgendwie doch geschafft. Er drehte sich zu

mir um, mit geschlossenen Augen, die Stirn auf das Holz-

regal stützend, atmete er unruhig ein und aus. Dann sah

er mich endlich an. Was er wohl in meinen Augen las? Ich

wünschte, ich wüsste es.

„Wir sind keine Freunde. Freunde wollen einen nicht

dazu zwingen, Dinge zu tun, die man nicht will“, stellte er

klar. Sein Ton war dabei so eiskalt und unverwandt, als wären

wir Fremde füreinander.

110

Seine grünen Augen starrten mich nun hart an. Es fiel

mir schwer, die Fassung zu wahren und nicht zurückzuwei-

chen oder ihm meine verletzten Gefühle zu zeigen. Doch

ich riss mich zusammen. Ich hatte auch ein paar Dinge klar-

zustellen.

„Wir sind Freunde. Ob es dir nun gefällt oder nicht. Ich

bin dein Freund. Und als der will ich dich ganz, so wie du

bist, und nicht eine zensierte Version von dir oder nur mit

den weniger komplizierten Seiten. Istvan. Ich will dich ganz

kennen. Als Mann. Als mein Freund. Und – als Wolf. Ver-

such einen Weg zu finden, damit klarzukommen.“

Für meinen kleinen Vortrag hatte ich meine festeste und

überzeugendste Rednerstimme ausgegraben.

Er schien lange und angestrengt zu überlegen. Ich konnte

die Gedanken förmlich in seinen Augen vorbeiziehen sehen.

„Ich weiß, was du mir damit sagen willst, und es bedeutet

mir unendlich viel, dass du so für mich empfindest. Aber die

Tatsache, dass es mir sehr schwer fällt, mich dir als Wolf zu

zeigen, ist nicht der einzige Grund, weshalb ich deine An-

wesenheit bei einer Verwandlung ablehne. Es gibt da noch

einen Grund.“

Seine Andeutung machte mich neugierig, aber auch be-

sorgt.

„Welchen anderen Grund?“, unterbrach ich ihn ungedul-

dig.

„Ich wehre mich seit jeher gegen die Verwandlung. Es ist

nicht etwas, was ich absichtlich mache. Mein Unterbewusst-

sein kämpft dagegen an und deshalb sind die Verwandlungs-

schmerzen und das Wolfsfieber in meinem Fall sehr heftig.

Es könnte also sein, dass ich in diesem Zustand jemanden

unabsichtlich verletze. Joe – ich könnte dich verletzen. Das

ist das Risiko nicht wert“, beichtete er mir und schien sofort

sein Geständnis zu bereuen, denn er drehte sich wieder mit

verschränkten Armen um.

Doch so schnell gab ich nicht auf. Ich stellte mich ent-

schlossen vor ihn.

111

„Nein. Nein, das wird nicht passieren. Ich werde auf Ab-

stand bleiben, versprochen. Du sagst mir genau, was mich

erwartet und worauf ich zu achten habe. Ich schwöre dir,

mich an alle Regeln zu halten, die du aufstellst. Indianereh-

renwort“, sagte ich und machte dazu ein symbolisches Kreuz

über meiner linken Brust.

„Joe, du weißt nicht, worauf du dich da einlässt. Willst du

es dir nicht doch noch mal überlegen? Warten wir doch auf

den nächsten Monat“, schlug er vor.

„Keine Chance. Das halte ich nicht aus. Noch einen Mo-

nat voller dubioser Vorstellungen und Spekulationen. Nein.

Ich will sehen, wer du bist. Ich weiß, dass ich das verkraften

kann. Ich bin mir sicher. Ich weiß es, weil du es bist. Ver-

stehst du das?“

Schon wieder war es mir passiert. Ich gestand mehr, als

ich eigentlich sagen wollte. So etwas konnte ich doch einem

Mann nicht anvertrauen, den ich nur zum Freund haben

konnte. War ich zu weit gegangen?

„Empfindest du das wirklich so?“, wollte er von mir wis-

sen und starrte mich unsicher an.

Er schien jetzt noch aufgewühlter als vorhin.

„Ja“, sagte ich kleinlaut, obwohl es die reine Wahrheit war.

Er atmete aus und sah mich dabei prüfend an.

„Komm am Nachmittag wieder, dann werde ich dir alles

sagen, was du wissen musst. Wir bereiten uns gut vor. Viel-

leicht kann ich mich so davon überzeugen.“

Endlich, ich hatte ihn doch noch überredet. Ein Wunder

war geschehen. Doch bevor ich ging, kam er noch mal auf

mich zu. Den Finger erhoben, um etwas klarzustellen.

„Joe, eines sollst du noch wissen. Ich halte es noch immer

für einen leichtsinnigen Fehler.“

„Ja, ich weiß“, erwiderte ich verständnisvoll und blickte

ihm noch einmal voller Zuversicht in die Augen. Ein älterer

Herr betrat die Bücherei und wurde damit zu meinem Stich-

wort zu gehen. Denn von nun an waren wir nicht länger un-

gestört.

112

Nachmittag. Die ganze Zeit über war es schwer, von der

Bücherei fernzubleiben, die Abmachung zu halten, um die

er mich gebeten hatte. Deshalb beschäftigte ich mich mit

Alltagskram. Ich kaufte im Supermarkt den Vorrat für eine

ganze Woche, bestellte beim Fleischhacker ein paar Steaks,

die ich für Viktor und Paula am Wochenende mitnehmen

wollte. An der Kasse musste ich dreimal in meiner Geldbör-

se nach ein paar Cents suchen. Ich konnte mich auf nichts

konzentrieren. Fast wäre ich auf dem Kundenparkplatz einer

älteren Frau ins Heck gefahren, weil ich so abgelenkt war.

Umso dankbarer war ich nun, da meine Uhrzeiger endlich

16.00 Uhr anzeigten. Die Bibliothek würde in einer halben

Stunde schließen und niemand würde mehr kommen, um

sich ein Buch auszuleihen. Ich stand nun vor dem Gebäu-

de mit der abgeplatzten Farbe, lehnte an meinem Wagen,

dem reparierten Sportcoupé, und blickte gebannt auf den

Eingang. Irgendwie erwartete ich, dass in so einem entschei-

denden Moment meines Lebens ein Zeichen erscheinen

müsste.

Doch gleichzeitig kam mir der Gedanke lächerlich vor,

denn Istvan war doch auch völlig unerwartet in mein Le-

ben und meine Welt getreten. Ich würde kein Zeichen be-

kommen und machte mir klar, dass mein Zögern nur wieder

mit der Angst vor dem Unbekannten zu tun hatte. Außerdem

quälte mich so ein Gefühl, dass Istvan vielleicht seine Mei-

nung geändert haben könnte.

Doch ich konnte es nicht länger hinauszögern. Schließ-

lich hatte ich ihm versprochen, stark zu sein, und ich war

jemand, der seine Versprechen hielt.

In der Bibliothek hatte sich das Licht verändert. Es war

ein später Nachmittag im Oktober und die herannahende

Dämmerung verhinderte die farbenprächtigen Lichteinfälle,

die vorhin alles durchfluteten.

Als ich eintrat, war Istvan nicht, wie sonst üblich, gleich

in meiner Nähe, um mich zu begrüßen. Ich klapperte einen

Saal nach dem anderen ab, aber kein Istvan war zu sehen.

113

Ich setzte mich auf den Schreibtisch im deutschsprachigen

Saal, meinen üblichen Sitzplatz, und wartete auf ihn.

Nach ein paar Minuten hörte ich das Eingangstor auf-

und zuschnappen und drehte mich automatisch um. Binnen

weniger Sekunden stand Istvan in der Tür, groß und ent-

schlossen. Er trug das gleiche dunkelblaue Hemd wie zuvor.

Auch ich hatte mich nicht umgezogen und noch immer die

schwarze Jeans und den schwarzen Rollkragenpulli an. Das

Einzige an mir, das nicht schwarz war, war mein grüner Par-

ka. Er lehnte am Türrahmen und schien irgendetwas in der

Hand zu haben, das wie ein Block wirkte.

Er sah mich lange an, bevor er zu meinem Schreibtisch

kam. Ich zog meine Jacke aus und versuchte, es mir in dem

Schreibtischdrehstuhl bequem zu machen. Istvan schien

es unmöglich, locker oder unverkrampft zu sein. Er kam an

meine Seite und setzte sich halbherzig auf den Tisch, immer

noch zum Zerreißen angespannt. Jetzt, wo er nur Zentimeter

von mir entfernt war, konnte ich sehen, was er in der Hand

hielt. Es war ein Plan, eine Karte von unserer Gegend.

„Und du bist immer noch fest entschlossen?“, frage er

wieder nach meinen Absichten.

„Ja.“

„Dann soll es so sein!“, sagte er mit einem Ausdruck ge-

zwungener Entschlossenheit.

Er breitete mit einem einzigen schnellen Handgriff die

Karte, die das Gebiet um den Geschriebenstein umfasste,

vor uns auf dem Schreibtisch aus. Sie bedeckte den ganzen

Tisch und strotzte nur so vor Grünflächen und Waldgebie-

ten. Die grünen Wälder in Istvans Augen, dachte ich sofort

und musste mich beherrschen, um meine Gedanken nicht

laut zu äußern.

„Also, ich habe dir doch erzählt, dass ich zwei Lager in

meinem Revier habe. Das erste Lager befindet sich hier.“

Er zeigte dabei auf die Passhöhe, den Geschriebenstein,

und damit auf den höchsten Punkt. In kleiner Kursivschrift

stand nahe diesem Punkt das Wort „Wolftanz“ geschrieben

114

und bezeichnete damit den Wald, den Istvan als nördlichen

Lagerplatz benutzte.

„Du kommst ganz leicht von dem Besucherparkplatz über

einen kurzen Wanderweg dorthin. Du musst nur einen klei-

nen Abstecher vom offiziellen Wanderpfad machen. Hier.“

Wieder zeigte er auf einen kleinen Trampelpfad und darauf,

wo man abbiegen musste, um zu seinem Lager zu kommen.

Mit einem einzigen Zug fuhr sein langer, schlanker Finger

die Karte hinab und hielt an einer anderen Stelle, auf dem

Südhang des Gebirges gelegen.

„Hier. Ganz nahe deinem Haus. Siehst du den Stein-

bruch?“, wollte er wissen. Ich nickte. Er kam mir jetzt wie

ein Geografielehrer vor, der einfach nur ein Gelände erklär-

te, sachlich und ohne jede erkennbare Emotion.

„Du kennst ja die Straße zum Steinbruch. Kurz vor dem

Ende musst du die Anhöhe des Waldes etwa einen Kilometer

hinauf, dann kommst du geradeaus zu einem großen Stein.

Von dort gehst du einen halben Kilometer nach links. Dort

ist mein südlicher Lagerplatz. Du wirst mich wahrscheinlich

dort finden, wenn du mich nach dieser Nacht überhaupt

noch finden willst“, bemerkte er mit einem beißenden Unter-

ton, der mir verriet, dass er eigentlich damit rechnete, dass

nach dieser Nacht unsere Freundschaft, oder was immer uns

verband, Geschichte sein würde.

Er hatte offenbar kein Vertrauen in mich. Ich war fester

entschlossen denn je, ihm das Gegenteil zu beweisen.

„So. Das war jetzt der einfache Teil. Zu heute Nacht. Was

dich erwartet, ist kein schöner Anblick. So viel schon mal

vorweg. Ich werde Fieber bekommen, sehr heftig. Ich wer-

de Krämpfe haben. Sobald es sechs ist und die Dämmerung

wirklich beginnt und der Mond anfängt aufzugehen, bin ich

extrem lichtempfindlich. Meine Kopfschmerzen werden sehr

stark sein. Meine Adern werden deutlich hervortreten. Die

weiteren physischen Details der Verwandlung erspare ich dir

lieber. Du wirst selbst sehen, was ich meine“, sagte er und

versuchte mir damit offenbar Angst einzujagen.

115

Aber ich war, wie gesagt, bereits fest dazu entschlossen und

Istvan kannte meine legendäre Sturheit noch nicht so gut.

„Wie wird es für dich sein? Sind die Schmerzen immer so

stark?“, fragte ich zögerlich und hatte Angst vor der Antwort,

Angst um ihn.

„Wie soll ich dir das erklären?“ Er überlegte, dann fragte

er mich:

„Hattest du schon mal einen Wadenkrampf?“

„Ja, natürlich. Ist echt unangenehm. Tut ganz schön weh“,

antwortete ich ehrlich.

„Ja, das tut es. Und nun stell dir vor, jeder Muskel deines

Körpers würde sich genauso verkrampfen und würde diesel-

ben Schmerzen verursachen. Stell dir vor, jeder Quadratzenti-

meter deiner Haut würde brennen im Fieber und du könn-

test nichts dagegen tun. Stell dir vor, dass du nichts mehr

denken und fühlen könntest, abgesehen von Schmerzen. So

ist es. So fühlt es sich an.“

Ich konnte den Schmerz, die Erinnerung an die Schmer-

zen, in seinen Augen sehen. In seinen grünen Augäpfeln

blitzten goldene und silberne Blitze auf, als würde ein Sturm

hinter seinen Augen toben.

Jetzt wollte ich nicht mehr bei ihm sein, um seine Wolfs-

gestalt zu sehen, ich wollte bei ihm sein, um ihm beizuste-

hen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er fast

achtzig Jahre seines Lebens Monat für Monat dieser Tortur

durchgemacht hatte, ohne jemanden an seiner Seite, der für

ihn da war oder versuchte, ihn zu trösten. Ich schwor mir

selbst, in dieser Nacht sein Trost zu sein und zu tun, was in

meiner Macht stand, um ihm das Gefühl zu geben, dass er

nicht länger allein war.

„Wir haben auch über Verhaltensweisen gesprochen.

Worauf soll ich achten?“, fragte ich und merkte, dass meine

Stimme plötzlich einen besänftigenden Ton hatte, den ich

sonst nur von meiner Mutter kannte.

„Egal, was passiert. Fass mich nicht an. Zu deiner eigenen

Sicherheit. Ich meine es ernst. Ich habe keine Erfahrung mit

116

menschlicher Nähe, wenn ich in meiner Wolfsform bin, des-

halb versuche besser nicht, mich zu berühren“, warnte er

mich eindringlich.

„Und wenn du verwandelt bist, dann wirst du in den Wald

laufen. Was dann?“

„Du kannst mir nicht folgen. Ich bin viel zu schnell und

du würdest dich in der Dunkelheit im Wald nur verirren.

Ich werde versuchen, zum Südlager zu kommen. Wenn der

Morgen anbricht, kannst du mich dort abholen. Wenn du

dann noch da bist.“

Schon wieder dieser Einwand. Wieso konnte er nicht ver-

stehen, dass ich nicht gehen würde. Dass ich nicht gehen

wollte. Dass ich seine Nähe suchte.

„Ich habe alles verstanden und werde versuchen, alles

richtig zu machen.“

Er faltete gekonnt die Karte zusammen, etwas, das mir

noch nie gelungen war, und gab sie mir dann. Ich steckte sie

in die großen Taschen meines Parkas.

„Wir können dann gleich zu mir gehen. Ich muss nur vor-

her ein paar Bücher noch an ihren Platz stellen. Drüben im

Ungarischen Saal. Wartest du solange?“

„Ja, lass dir Zeit. Ich stöbere in der Zwischenzeit etwas in

den deutschen Büchern.“

Er ging und schien noch immer in düsterer Stimmung.

Sogar sein Gang verriet es.

Ich schlenderte vor den Regalen hin und her, konnte aber

nichts finden, was mich wirklich interessierte. Meine Gedan-

ken kreisten um heute Nacht und um Wälder und rennende

Wölfe und Lager, die es auf Karten zu finden galt. Mein Blick

streifte über die Buchrücken und blieb an einer alten Aus-

gabe eines Gedichtbandes von Robert Frost hängen. Da fiel

mir ein, dass ich irgendwann einmal ein Frost-Gedicht über

den Wald gelesen hatte, das von Versprechen handelt. Ich

nahm den Band aus dem Regal und suchte akribisch nach

der passenden Stelle. Schnell fand ich den letzten Absatz der

berühmten Verse:

117

Der Wald ist lieblich, dunkel, tief,

doch ich muss tun, was ich versprach,

und Meilen gehen, bevor ich schlaf,

und Meilen gehen, bevor ich schlaf.

Ich kannte diese Zeilen bereits. Aber nun, vor dieser Nacht,

schienen sie für mich eine ganz neue Bedeutung zu haben.

Ich fühlte die Verpflichtung und Dringlichkeit meines selbst

gewählten Versprechens an Istvan, als wäre es eine Lebens-

aufgabe. Und ich konnte den Wald und den Mann, den ich

bald darin suchen würde, durch Frosts Worte klar vor mir

sehen.

Ich schloss das Buch, stellte es an seinen Platz zurück

und wiederholte immer wieder in Gedanken die Verse, wie

ein Gebet.

Ich hatte es nicht bemerkt, doch Istvan stand die ganze

Zeit bereits im Zimmer und sah mir zu, wie ich das Buch

zurücklegte. Er sagte nichts und nickte nur kurz, dass wir

gehen könnten. Ich schnappte mir meine Jacke und ging zu-

sammen mit ihm die kurze Strecke bis zu seinem Haus. Die

alte Pfarrhaus-Schule, mit den Efeu berankten Steinmauern,

schien mir in dieser Abenddämmerung ein wenig unheim-

lich.

Wir traten ein und ich bemerkte, dass die Stiegen zu der

Veranda bereits repariert waren. Das erinnerte mich an mei-

nen letzten Besuch hier, der ebenfalls von eher dramatischer

Natur war. Würde es heute noch dramatischer ablaufen?

Es war schon kurz vor sechs Uhr. Istvan zeigte bisher

noch keine Symptome. Draußen war es schon sehr dunkel.

Es konnte nicht mehr lange dauern. Er saß im Wohnzim-

mer auf einer braunen Ledercouch und ich saß ihm gegen-

über in einem Ledersessel. Wir beide waren verkrampft und

wussten nicht so recht, wie wir uns verhalten sollten. Es

wirkte, als würden wir in einem Wartezimmer sitzen und

darauf warten, dass endlich jemand kommen würde, um

uns zu erlösen. Doch niemand kam. Niemand außer dem

118

Schmerz. Sobald es sechs geworden war, fing es an. Zuerst

hatte ich nur den Eindruck, er hätte Migräne. Er rieb sich

öfter die Stirn oder fuhr sich gepeinigt durch die Haare.

Bald hielt er das Licht in dem großen Raum nicht mehr

aus und schaltete die Leuchter ab. Von da an saßen wir im

Dunkeln. Ich fühlte mich unnütz, da ich nichts tun konn-

te, ihm nicht helfen konnte. Eine halbe Stunde später ging

es dann richtig los. Er fing an zu schwitzen und zu zittern,

wie ich es noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Sei-

ne Adern traten in einem unvorhersagbaren Rhythmus vor

und zurück. Die blauen Linien schienen fast seine leicht

gebräunte Haut zu durchbrechen, wenn es ganz schlimm

wurde. Er hielt es mittlerweile nicht mehr im Sitzen aus.

Ich wollte ihm helfen, erinnerte mich aber immer an seine

Anweisungen. Auch gab er mir jedes Mal, wenn ich mich in

seine Richtung neigte, ein eindeutiges, hektisches Zeichen,

mein Vorhaben zu unterlassen. Ich gehorchte. Er sprach fast

kein Wort, abgesehen von dem Wimmern und den Geräu-

schen seiner heftigen Atemzüge.

„Wir sollten – ah – ah – in mein Schlafzimmer gehen. Ich

will. Ich muss mich hinlegen“, sagte er mir und stand so un-

geschickt auf, dass er beinahe hingefallen wäre. Ich war ganz

automatisch, ohne nachzudenken, an seine Seite gekommen

und hatte seinen Sturz gerade noch abgefangen. Er lehnte

sich nun an mich.

„Ich sagte doch – nicht anfassen!“, stieß er panisch und

atemlos hervor.

„Es war ein Reflex. Aber jetzt kann ich dir wenigstens ins

Bett helfen. Wo ist das Schlafzimmer?“, fragte ich und ver-

suchte, ihn so gut wie es ging zu stützen. Er strömte eine

unglaubliche Hitze aus und war schweißgebadet.

Ich fasste an seinen feuchten Rücken und versuchte, mit

ihm mehr schlecht als recht den Korridor entlangzukom-

men.

Er deutete dabei nach rechts. Das Zimmer lag gegenüber

der englischen Bibliothek, die ich bereits kannte.

119

Ich stieß die Tür mit meinem Fuß auf, da ich meine

Arme brauchte, um seinen Körper aufrecht zu halten. Ihm

sackten immer wieder die Beine weg. Der Raum hatte ein

großes Bett an der hinteren Seitenwand, ein paar Kommo-

den, zwei Regale, einen Plattenspieler und einen übervollen

Schreibtisch. Alles war, im Gegensatz zum übrigen Haus,

sehr spärlich eingerichtet, fast spartanisch. Das Erste, was

mir sofort auffiel, war die Balkontür, die direkt in den Garten

führte und die wohl der Grund war, wieso er diesen Raum

als Schlafzimmer ausgesucht hatte. Besonders praktisch in

Nächten wie diesen.

Ich brachte ihn bis zur Bettkante, wo er meinen Arm wie-

der wegzog und dabei ins Bett fiel. Istvan hatte gar keine

Möglichkeit, sich irgendwie hinzulegen. Sobald sein Körper

auf dem Bett gelandet war, krampfte er so sehr, dass er sich

von einer zur anderen Seite wälzte. Er konnte kaum noch die

Schreie unterdrücken. Es war unvorstellbar. Derselbe Mann,

den ich angefahren hatte und der dabei nicht die kleinste

Spur von Schmerzen erkennen ließ, litt nun Höllenqualen.

Sein sandfarbenes Haar war von dem Fieber ganz feucht ge-

worden und stand nun in alle Richtungen ab. Er fuhr jetzt

immer öfter mit der Hand in sein Haar und ballte sie dabei

zur Faust, ein paar Haarsträhnen fest mit eingeschlossen.

Jetzt wusste ich auch, warum er mich nach dem Waden-

krampf gefragt hatte, denn eine Stunde nachdem die An-

zeichen seiner Verwandlung eingesetzt hatten, begannen die

Muskeln in seinem Körper zu verkrampfen. Sie härteten sich

derart, dass sie fast wie Steinbrocken aussahen. Einmal tra-

ten die Adern seines Arms hervor und gleichzeitig spannten

sich sein Unterarmmuskel und sein Bizeps derart an, dass

es aussah, als wäre er eine übertrieben gestaltete Marmor-

statue eines Athleten. Neben seinem nicht enden wollenden

Stöhnen schrie er jetzt immer öfter dumpf. Es brach mir das

Herz. Ich wünschte mir verzweifelt, seinen Schmerz von ihm

zu nehmen oder ihn zumindest zu teilen. Wieso konnte ich

nicht die Hälfte seiner Bürde für ihn tragen? Es war so un-

120

fair. Wenn ich wenigstens etwas für ihn hätte tun können,

wäre es schon fast eine Gnade gewesen.

Ich lief, angetrieben durch erneute Schreie Istvans, ins

Bad und befeuchtete ein paar Tücher. Als ich zurückkam,

hatte er sich im Bett aufgerichtet und ein verlorener Aus-

druck überzog sein Gesicht.

„Wo warst du? Du bist zurückgekommen? Geh nicht

mehr weg, bitte. Es hilft mir so, dass ich weiß, dass du da

bist“, stöhnte er mir kraftlos entgegen.

Ich konnte nicht glauben, was er sagte. Konnte das wahr

sein?

Ich stürmte an seine Seite, nahm seine Hand. Die Regeln

waren mir nun völlig egal. Ich versicherte ihm:

„Ich werde nicht weggehen, hörst du, Istvan? Ich bin da.

Ich gehe nicht weg, wenn es dir hilft.“

Er schien sich etwas zu beruhigen. Nur etwas. Wenigs-

tens sein Gesicht war nicht länger vollkommen vom Schmerz

verzerrt. Ich nahm die nassen Tücher, faltete eines davon

zusammen und legte es ihm auf die Stirn. Dann riss ich ihm

das Hemd vom Leib und bedeckte ihn mit dem weißen, nas-

sen Tuch. Istvan streifte sich die Jeans ab und ich legte das

letzte Tuch über seine langen Beine. Ich zog einen Stuhl ans

Bett und ließ ihn nie aus den Augen. Er heftete seinen Blick

auf mein Gesicht, und wenn auch sein Körper weiterhin

wild zuckte, so schienen wenigstens seine Gesichtszüge et-

was entkrampfter. Plötzlich stieß er einen Schrei hervor, der

nicht nach seiner Stimme klang, der kaum noch menschlich

war. Es musste jetzt soweit sein, dachte ich. Er kroch unter

den Tüchern hindurch und stürzte vom Bett. Auf allen vieren

schleppte er sich zur Terrassentür, die nur angelehnt war.

Mit der einen Hand stieß er sie, immer noch am Boden

kauernd, auf und stürzte sich auf den kalten, harten Beton

der Terrasse. Von da an ging alles sehr schnell. Ich starrte,

vom Ende des Bettes aus, nur ungläubig auf den Körper, den

ich zu kennen glaubte, und sah eine beinahe unbeschreib-

liche Wandlung. Istvan hatte sich in eine Art Fötalposition

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zusammengekauert und sein Rückgrat schien laut zu knacken

und dabei zu schrumpfen. Sein ganzer Körper verkleinerte

sich scheinbar. Gleichzeitig traten überall aus seiner Haut

dichte Haare hervor. Unvorstellbar viel Fell bedeckte binnen

Kurzem seinen ganzen Körper. Seine Gliedmaßen verschmä-

lerten sich und nahmen, fast in der Zeit eines Atemzugs, tie-

rische Form an, wie auch sein Gesicht, bis seine Gestalt und

seine Züge vollkommen der eines Wolfes entsprachen. Das

Letzte, was sich verwandelte, waren seine menschlichen Au-

gen, wobei er auch in seiner Wolfsform diese grünen Augen

behielt. Nur waren sie jetzt noch kräftiger und auffallender.

Daran konnte man auch erkennen, dass er immer noch Ist-

van war. Der Wolf Istvan stand nun inmitten des Gartens

und sah zum Mond hoch. Ich dachte, er würde jeden Mo-

ment losheulen. Stattdessen blickte er mich an. Ich stand

nun auf der Terrasse mit einem ungläubigen Ausdruck und

hielt mich an der Glastür fest. Ich hatte das Gefühl, jeden

Moment hinfallen zu können.

Der Wolf schien sich nicht zu bewegen. Er starrte mich

nur gebannt an und ich wartete auf irgendein Zeichen des

Wiedererkennens in seinen Augen. Ich erkannte Istvan in

seiner Wolfsform an vielen Dingen. An seinen magnetisch

grünen Augen, seinen sandfarbenen Haaren, die sich in Tei-

len seines Felles wiederfanden, und an seiner stolzen Hal-

tung. Ich musste wissen, ob auch er noch wusste, wer ich

war, solange er ein Wolf blieb.

Ich ging zaghaft in den Garten und näherte mich vorsich-

tig dem Wolf, der einfach nur still dastand, als würde er auf

mich warten. Ich streckte schon von Weitem meine Hand

nach ihm aus und versuchte, keinerlei bedrohlichen Ein-

druck zu erwecken. Ich hielt den Atem an. Als meine Hand

das warme, weiche Fell auf seinem Kopf berührte, stieß ich

einen erschrockenen Atemzug hervor. Er, der Wolf Istvan,

schien es zu genießen, von mir gestreichelt zu werden, denn

er hob den Kopf hoch, um meine Berührung noch fester zu

spüren, wie ich es von Hunden kannte.

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„Unfassbar“, sagte ich laut, mehr für mich selbst als an

jemanden gewandt.

Ich hatte mich gerade an seine Gegenwart als Wolf ge-

wöhnt, da huschte er davon, sprang mit einem unglaub lichen

Satz über die Steinmauer und rannte in die vom Mond er-

hellte Nacht in Richtung der Wälder.

Ich stand regungslos da. Die Hand noch immer nach

unten ausgestreckt. Mein Blick schweifte hinauf zum rie-

sigen Mond, der mir in dieser Nacht mächtiger und myste-

riöser denn je erschien.

Ich ging zurück ins Haus und ließ mich, völlig von den

Ereignissen überwältigt, ins Bett fallen. Istvans Geruch war

noch überall. In den Kissen, auf der Bettdecke und in den

Laken. Das löste in mir wieder dieses Geborgenheitsgefühl

aus, das ich von unserem Zusammensein auf dem Aussichts-

turm her noch gut kannte. Ich sank sofort in tiefen Schlaf,

der nur aus reiner Not über einen kommt.

Ich erwachte erst kurz vor dem nächsten Morgen und

hatte das Gefühl, aus einem Totenschlaf zu erwachen. Ich

hätte geschworen, nur für eine Sekunde die Augen geschlos-

sen zu haben, und doch waren Stunden vergangen.

Die Zeiger auf dem Wecker neben dem Bett bewiesen

es mir. Es war bereits Morgen. Vier Uhr und fünfundvierzig

Minuten. Zeit aufzubrechen, wie ich es versprochen hatte.

Ich ging zu meinem Wagen, der noch immer vor der Bü-

cherei parkte – eine kleine Unachtsamkeit von mir, zumin-

dest was die Geheimhaltung anbelangte. Aber darum küm-

merte ich mich nun kaum.

Ich überprüfte, ob der Plan auch noch in meiner Jacken-

tasche war, und stieg in mein Auto. Dann fuhr ich dieselbe

Strecke, als würde ich zu mir nach Hause fahren, mit dem

Unterschied, dass ich vorher links in Richtung Waldgebiet

zum Steinbruch abbog. Die Straße zu den Felsen war etwa

zwei Kilometer lang, vielleicht auch länger, und endete in

einer Sackgasse, wo ich den Motor abstellte. Der Wagen

stand jetzt mitten vor einem kleinen Felsen. Der eigentliche

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Steinbruch lag auf der linken Seite. Auf dieser Seite war eine

tiefe, bewaldete Schlucht, die am Bach endete. Darüber be-

fand sich eine steile Anhöhe im Wald, auf deren Spitze die

ersten Felsen des Steinbruchs mit dem tiefen Felssprung in

der Mitte zu sehen waren. Wie er mir gesagt hatte, ging ich

die Anhöhe auf der rechten Seite der Straße hinauf, sie war

weniger steil als die andere. Am Felsen bog ich links ab und

ging tiefer in den Wald. Dort sah ich ein kleines Holzkreuz,

das jemand aus Ästen gebastelt und auf den Waldboden ge-

legt hatte.

Ich stand daneben und sah mich um. Es dauerte nicht

lange, da entdeckte ich die vergrabene Kiste. Ich brauchte

einige Kraft, um den Deckel aufzubekommen, da das Laub

und die Erde darauf es mir erschwerten.

Darin fand ich einige Decken, Kleidung, Wasser und zwei

Zelte. Es war zwar nicht mehr dunkel, aber die Sonne war

noch nicht aufgegangen und ich wusste nicht, wie lange es

dauern würde, bis Istvan es bis hierher schaffte. Deshalb

nahm ich eine der Decken, breitete sie auf dem feuchten

Waldboden aus und setzte mich darauf. Das Laub raschelte

bei jeder meiner Bewegungen. Der ganze Wald war voller

morgendlicher Geräusche. Zwitschernde Vögel, rauschende

Bäume, raschelnde Blätter und überall dieser frische, feuch-

te Waldgeruch. Ich nahm mir eines der Kapuzensweatshirts,

die in der Kiste waren, denn ich hatte meine Jacke im Auto

vergessen und es war etwas kalt. Das graue Sweatshirt war

mir natürlich viel zu groß, aber es wärmte hervorragend. Ich

fühlte erneut die Müdigkeit über mich kommen und legte

mich auf die Decke. Da oben bot sich mir ein Anblick voller

raschelnder, tanzender Blätter. Ein Meer von Grün bewegte

sich über mir und das gleichmäßige Geräusch schlummerte

mich ein. Ich drehte mich zur Seite, faltete meine Hände zu-

sammen, damit ich auf sie einigermaßen mein Gesicht legen

konnte, und schlief leicht ein.

Ich konnte nicht sagen, wie lange ich so gelegen oder ge-

schlafen hatte, doch nach einiger Zeit fiel mir, noch immer

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im Dämmerzustand und mit geschlossenen Augen, auf, dass

die Geräusche des Waldes abgeklungen waren. Keine zwit-

schernden Vögel und keine anderen Tiergeräusche waren

mehr zu hören. Ich öffnete nicht die Augen, obwohl ich fühl-

te, dass ich nicht länger allein war. Unmöglich zu sagen, ob

die Geräusche auf dem Laub von Füßen verursacht wurden

oder von Pfoten, aber ich hörte jemanden oder etwas in der

Kiste kramen. Kurz danach kam das Geräusch auf mich zu.

Das Erste, was ich wusste, war: Es war Istvan. Der Honig-

Wald-Geruch war um mich herum. Aber in welcher Form er

sich noch befand, konnte ich nicht sagen. Jemand trat auf

die Decke. Istvan.

Ich fühlte, wie sich ein warmer Körper neben mich legte.

An meiner Seite lag nun Istvan. Wieso weckte er mich nicht?

Wieso machte ich nicht die Augen auf?

Ich fühlte, wie er näher an meine Seite herankam. Ein Arm

streifte über meinen Oberarm, ganz sanft. Eine Hand, seine

Hand, strich mir übers Haar. Ich konnte fühlen, dass sein

Gesicht über meinem war und mich betrachtete. Ich wagte

nicht einmal daran zu denken, jetzt die Augen zu öffnen. Ich

wurde an meinem Rücken von seiner Wärme durchdrungen

und konnte die Länge seines ganzen, menschlichen Körpers

fühlen. Seine Hand strich eine Strähne meines Haares von

meiner Wange hinter mein Ohr und er hauchte, beinahe un-

hörbar:

„Ich kann nicht glauben, dass du geblieben bist. Ich kann

nicht glauben, dass du noch da bist. Ich kann nicht glauben,

dass du es bist.“

Er entfernte sich wieder von mir und ich hörte, wie er

etwas von dem Wasser trank, das sich noch in der Kiste be-

fand.

Nun rührte ich mich ein wenig und ließ ihn wissen, dass

ich wach war. Er lächelte mich an. Der ganze Morgen eines

ganzen Lebens schien mich anzulächeln, neu und unver-

braucht. Keine Spur der Reue oder des Bedauerns auf sei-

nem Gesicht.

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Ich würde auch morgen wieder bei ihm sein dürfen und

auch in der letzten Nacht. Ich würde jeden Morgen wieder

da sein, um ihn abzuholen. Das wussten wir beide. Und so

kam es auch.

Ich kam jeden Abend und half ihm, so gut es ging, die

Schmerzen zu ertragen und am nächste Morgen holte ich

ihn vom Südlager ab, wobei er an den nachfolgenden Mor-

gen nie wieder so nahe an mich herankam wie an dem ersten.

Der einzige weitere Unterschied war, dass ich nun jedes Mal

den nackten Istvan auf mich zukommen sah, der seine Blöße

ungeschickt umfing, woraufhin mir jedes Mal die Schames-

röte ins Gesicht stieg und ich ertappt zu Boden starrte, um

ihm danach ungeschickt die Anziehsachen zu reichen.

Aber trotz allem war ich zufrieden. Ich hatte gesehen, was

ich sehen musste, und mein Versprechen gehalten. Ich wür-

de auch weiterhin seine Freundin sein und konnte ihn nun

noch besser verstehen. Das würde vieles leichter machen,

hoffte ich zumindest.

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