1. Wie aus dem Nichts
Der Regen war mittlerweile so dick, dass ich nur noch sche-
menhaft die Straße erkennen konnte. Ich verringerte die
Geschwindigkeit meines Wagens, um die Wahrscheinlich-
keit, im Straßengraben zu landen, zu verringern. Wie merk-
würdig, dachte ich. Die kurze Strecke zwischen Rohnitz und
St. Hodas kannte ich seit über zwanzig Jahren auswendig.
Knapp drei Kilometer vertrauter Weg bis zur Dorfgrenze.
Doch in diesem schweren Regen, bei Dunkelheit und tief
liegendem Nebel erkannte ich so gut wie nichts wieder. Jede
Kurve schien überraschend auf mich zuzukommen und ich
versuchte, nur noch zu reagieren und alles, was ich konnte,
im Blickfeld zu behalten, was nicht gerade leicht war.
Und meine müden Augen waren dabei bestimmt auch
keine Hilfe. Wieso musste diese Pressekonferenz zum The-
ma „Wildunfälle“ ausgerechnet abends stattfinden und dann
auch noch bei diesem Wetter? Sollte man es nicht vermei-
den, genau bei diesen Bedingungen mit dem Auto zu fah-
ren – und dann auch noch zur Wildwechselzeit?
Also manchmal hasste ich meinen Job als Lokalreporte-
rin wirklich, bei aller Liebe zum Lokaljournalismus. Es war
einer dieser Tage gewesen, an denen man nicht mal zum
Essen kommt, weil ständig Arbeit ansteht oder etwas zu er-
ledigen ist. Ich hatte seit meinem späten Frühstück nichts
gegessen und war den ganzen Tag auf dieser Ferienmesse
gewesen, hatte fotografiert und mehr Leute über ihren
Messebesuch ausgefragt, als ich zählen konnte. Als ich um
sechs nach Hause kam, war ich schon total erledigt. Doch
ich war noch nicht mal richtig zur Tür hereingekommen, da
klingelte schon mein Handy. Es war mein Redakteur. „Eine
Pressekonferenz steht noch an“, hatte er gesagt. „Gleich bei
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dir um die Ecke“, hatte er mir versichert. „Wurden zu spät
darüber informiert. Beginn ist um acht“, so seine Worte.
Ich wusste sofort, dass niemand außer mir so schnell dort
sein konnte, also sagte ich zu. Ich strich das geplante Es-
sen, lud rasch die Fotos von der Kamera auf den Rechner
und tauschte die Batterien meines Blitzgerätes aus. Ich tat
noch einen kurzen Blick in den Spiegel, der mir, wie meis-
tens, die Wahrheit zeigte: eine vierundzwanzigjährige Frau
mit langen, blonden Haaren, ovalem Gesicht und dunklen
Schatten unter den blauen Augen. Es blieb mir gerade noch
genug Zeit, um meine vom Wind zerzausten Haare zu bän-
digen und die Schuhe zu wechseln. Und schon war ich wie-
der aus dem Haus.
Die Pressekonferenz verlief unspektakulär und es fiel
mir schwer, allzu großes Interesse für unsere anwesenden
Lokalgrößen aufzubringen. Es ging um einen Anstieg der
Wildunfälle auf den Landstraßen unserer Region. Eigentlich
ein Dauerthema, doch es war Mitte September und Haupt-
wechselzeit der Rehe. Die Unfälle waren nicht schwer, aber
häuften sich. Uns teilnehmenden Journalisten gab man eine
Infomappe mit den neuen Statistiken und sowohl die zustän-
dige Landesrätin wie der Polizeivertreter erläuterten die Ver-
haltensweisen bei dieser Art von Unfällen.
Ich hörte nur halb zu und versuchte, mir den einen oder
anderen Kommentar zu notieren. Ich war einfach viel zu
müde und erschöpft. Nachdem der offizielle Teil endlich er-
ledigt war, stand man bei Kaffee noch zusammen und mach-
te Small Talk über rücksichtslose Autofahrer und unzurei-
chende Wildschutzmaßnahmen. Ich versuchte, mich mit
angeblichem Redaktionsschluss aus der Affäre zu ziehen,
und schnappte mir meinen grünen Parka.
Mit ein paar schnellen Schritten sprintete ich zum Auto,
einem dunkelgrünen Sportcoupé, bugsierte Kamera und No-
tizen auf den Beifahrersitz und stieg ein. Als ich vom Park-
platz wegfuhr, begann es auch gleich zu regnen. Ein plötz-
licher, sintflutartiger Wolkenbruch ergoss sich über ganz
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Rohnitz. Und bis ich die Dorfgrenze erreicht hatte, gesellten
sich auch noch Donner, Nebel und Dunkelheit dazu.
Da war ich nun. Auf einer gefährlichen Straßenstrecke
mit nachgewiesenen Wildunfällen und nasser Fahrbahn. Ein
mulmiges Gefühl begleitete mich auf den letzten Kilome-
tern und ich konnte es kaum erwarten, endlich in meinem
sicheren, trockenen Haus zu sein. Ich sagte mir selbst, dass
meine Angst lächerlich wäre. Schließlich war ich hier schon
tausendmal vorbeigefahren, ohne auch nur einen Kratzer
abzubekommen. Aber irgendwie hatte ich so ein komisches
Gefühl. Ich wusste nur nicht, ob die Unfallstatistik von vor-
hin der Auslöser war oder doch etwas anderes.
Ich musste meine Geschwindigkeit weiter verringern,
denn es war kaum noch klare Sicht vorhanden. Der Schei-
benwischer quietschte in flottestem Tempo über die Wind-
schutzscheibe, um mir das Sehen wenigstens etwas zu
erleichtern. Als ich nur wenig das Bremspedal betätigte,
schlingerte der Wagen kaum, aber genug, um meine Kamera
auf den Autoboden fallen zu lassen. Instinktiv griff ich nach
der Kameratasche und ließ dabei die Straße aus den Augen.
Da kam die Katastrophe schon auf mich zu. Als ich mich wie-
der über das Lenkrad beugen wollte, sah ich es bereits aus
den Augenwinkeln. Etwas befand sich mitten auf der Straße.
Ich sah nur zwei reflektierende Augen, konnte jedoch nicht
sagen, auf was ich da zusteuerte. War es ein Reh? Nein, die
Größe stimmte nicht. Es musste eher ein Hund oder ein
Wolf sein. Es blieb mir keine Zeit, den Gedanken zu Ende
zu führen. Auszuweichen konnte ich vergessen. Es war nicht
einmal mehr genug Zeit, um zu bremsen. Ein dumpfer Auf-
prall stoppte den Wagen, der leicht nach rechts ausbrach.
Ich wurde hart gegen den Sicherheitsgurt gepresst. Mein
Kopf schleuderte nach vorne und wieder zurück in den Sitz.
Ich hielt die Luft an. Der Schock, sagte ich mir. Oh Gott, was
hatte ich angefahren? Hatte ich gar etwas getötet?
Beim Versuch den Gurt zu öffnen, bemerkte ich, dass
meine Hände eiskalt vor Schreck waren und kaum merklich
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zitterten. Ich hatte Angst auszusteigen und sehen zu müs-
sen, was ich angefahren, was ich verletzt hatte. Doch wenn
es wirklich verletzt wäre, müsste ich schnell handeln. Mit
einem festen Ruck stieß ich die Fahrertür auf. Nebel und
Regen verhinderten, dass ich sofort sah, was einen Meter
vor meinem Wagen lag. Ich musste blinzeln, um etwas durch
den Regen erkennen zu können. Mit zaghaften Schritten nä-
herte ich mich meinem Unfallopfer und mit jedem Zenti-
meter, den ich näher kam, lichtete sich der Nebel. Bis ich es
sehen konnte.
Auf der regennassen, glitzernden Fahrbahn lag kein Hund
oder irgendein anderes Tier. Dort lag ein Mann. Vollkommen
nackt. Mitten auf der Straße. Sein Rücken war mir zugewandt
und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Sonst konnte ich
fast alles erkennen. Ich hatte einen Menschen angefahren.
Wie konnte das sein? Ich hatte doch ein Tier gesehen.
Wieso bewegte er sich nicht? Durch den Nebel und mit-
hilfe meiner Scheinwerfer erkannte ich, dass ich den Mann
verletzt hatte. Mein Blick schweifte von seinen Beinen,
vorbei an seinem Rücken zu seiner blutenden Hüfte. Auch
seine Hände und Arme schienen einige Schürfwunden ab-
bekommen zu haben. Was jetzt? Ihn bewegen, ihn umdre-
hen? Was zuerst? Wie war das noch gleich? Sollte ich den
Erste-Hilfe-Kasten holen oder ihn zuerst untersuchen oder
doch gleich den Notruf alarmieren? Ich bekam Panik. Was
für eine Ironie, wenn ich vorhin bei den Unfalltipps besser
aufgepasst hätte, wüsste ich nun genau, was zu tun wäre.
Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, als
ich sah, dass er sich noch immer nicht bewegt hatte. Ich lief
schnell zum Wagen mit der offenen Fahrertür zurück und
fasste unter den Sitz, wo sich der Kasten mit dem Verbands-
zeug befand. Ich konnte das Plastik sofort spüren und griff
danach. Meine tropfnassen Haare waren mir ständig im Weg
und ich strich sie hinter meine Ohren.
Die kalte Nässe! Ich würde auch eine Decke für ihn brau-
chen. Ich zwängte mich zwischen den Vordersitzen durch
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und schnappte mir die alte, blaue Decke von der Rückbank.
Mit meinen Utensilien vollgepackt, rannte ich linkisch zu
dem verletzten Mann zurück. Auch beim zweiten Anblick
setzten mein Herz und meine Lungen für eine Sekunde aus.
Jetzt stand ich direkt über ihm und zusätzlich zu dem Re-
gen tropfte auch noch Wasser aus meinen langen Haaren
auf seine Schulter. Ich wollte die Decke auseinanderfalten
und über ihn legen, um ihn zu wärmen. Dabei hatte ich
den Erste-Hilfe-Kasten vergessen und er prallte mit einem
Scheppern auf dem Asphalt. Verbandszeug und Scheren lan-
deten auf der Straße. Ich kniete mich nieder, in eine Pfütze.
„Ach ja, stabile Seitenlage“, murmelte ich vor mich hin.
„Wie geht das noch gleich?“ Ich nahm die Brandschutzdecke
von der Straße und breitete sie unter seinem Rücken aus. Ich
musste ihn umdrehen. Nur so konnte ich sehen, wie schwer
ich ihn tatsächlich verletzt hatte und wo die Schrammen wa-
ren. Ich fasste seine Schulter mit beiden Händen und zog
seinen Körper zu mir. Mit einer fließenden Bewegung lan-
dete sein Rücken auf der Branddecke. Ich schloss für eine
Sekunde die Augen und atmete laut aus. Ich konnte es noch
nicht über mich bringen, ihm ins Gesicht zu sehen. Ohne
allzu genau hinzublicken, breitete ich die blaue Decke aus
meinem Wagen über seinem Körper aus. Bevor ich ihm ins
Gesicht sah, untersuchte ich seine Hüfte. Er schien keinen
Bruch zu haben, soweit ich das beurteilen konnte. Aber eine
Wunde war deutlich zu sehen. Meine Mutter war Kranken-
schwester, deshalb befand sich immer eine Flasche mit Des-
infektionsmittel in unseren Erste-Hilfe-Kästen. Dafür war
ich jetzt sehr dankbar. Ich nahm mir eine der Kompressen,
riss die Verpackung mit den Zähnen auf, beträufelte sie mit
der Desinfektionslösung und legte sie auf die rote Stelle an
seiner Hüfte. Ein paar Streifen Pflaster brachte ich an den
Seiten zur Fixierung an. Was nun? Ach ja, ich sollte mir den
Oberkörper noch ansehen, erinnerte ich mich.
Ich beugte mich über ihn und sah deutliche Prellungen
über seinen linken Rippen. Sie mussten angeknackst oder
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gebrochen sein. Seine Hände und Arme waren voller Ab-
schürfungen, Blut und Kies von der Fahrbahn. Er musste
den Aufprall mit den Händen abgefedert haben. Ich konnte
es nicht länger hinauszögern. Schuldgefühle hin oder her.
Ich musste diesem Mann ins Gesicht sehen, so weh es auch
tat zu wissen, wem ich das angetan hatte.
Ich hatte keine Wahl.
Unsicher wandte ich meinen Blick von seiner Brust ab
und seinem Gesicht zu. Ich erkannte ihn sofort, obwohl ich
diesen Mann erst ein einziges Mal in meinem Leben gesehen
hatte. Doch ihn hätte ich immer wiedererkannt. Dieser lang
gezogene Brauenbogen, die hohen slawischen Wangenkno-
chen, das markante Kinn mit dem Dreitagebart und dieser
zarte, gerade Nasenrücken. Ich hatte keinen Fremden ange-
fahren. Es war der neue Mann im Dorf. Der junge Bibliothe-
kar, der erst vor zwei Wochen nach St. Hodas gezogen war.
Ich kannte ihn eigentlich nicht. Ich hatte nur kurz für die
Bibliotheksstory mit ihm gesprochen, auch wenn mir dieses
Gespräch noch ganz klar im Gedächtnis war. Wieso musste
es ausgerechnet er sein? Wieso musste ich ausgerechnet die-
sen jungen Mann verletzen? Wieso musste mein Unfallopfer
Istvan sein? Wieso musste das hier passieren?
Es traf mich wie ein Blitz. Ich hatte noch immer keinen
Notarzt gerufen. Jetzt stieg die Panik erneut wie ein saurer
Schwall in mir hoch. Wie konnte ich das nur vergessen, wie
konnte ich mich von seinen Gesichtszügen so ablenken las-
sen, dass ich sogar vergaß, ihm die nötige Hilfe zu besorgen?
Ich kramte hektisch in meiner Tasche nach meinem Handy.
Ich hielt es in der rechten Hand und versuchte es mit der
linken, vor dem Regen zu schützen. Ich tippte hektisch die
Notrufnummer ein und presste das Handy an mein Ohr. Mit
angehaltenem Atem lauschte ich dem Wählton.
Plötzlich, völlig aus dem Nichts, umfasste eine blutver-
schmierte Hand meinen Arm und flehte: „Auflegen. Bitte!“
Ich gehorchte automatisch der hypnotischen Stimme, als
hätte ich gar keine Wahl. Er war nicht länger bewusstlos,
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doch er lag noch immer auf der Straße, in meine Decke ge-
hüllt. Ich dachte, er hätte einen Schock, und überlegte mir
ein paar beruhigende Worte: „Keine Sorge, du wirst wieder.
Es tut mir so leid, ich habe dich angefahren. Es tut mir so
leid, aber ich besorge dir sofort Hilfe. Versprochen. Ich muss
nur kurz einen Notruf machen.“ Er schien mir aufmerksam
zuzuhören.
Sein Gesicht zeigte keinerlei Anzeichen von Schmerzen.
Er schien völlig ruhig zu sein. Ich konnte es mir nur so erklä-
ren, dass er noch an posttraumatischem Schock litt und des-
halb noch keine Schmerzen fühlte. Ich drückte erneut die
Wähltaste meines Handys. Wieder zog er an meinem Arm.
„Kein Notarzt. Bitte ruf niemanden an. Bitte. Ich brauche
deine Hilfe!“, beschwor er mich erneut, wobei mich seine
grünen Augen bedeutungsvoll anfunkelten. Wieso wollte er
keine Hilfe? Hier kam um diese Zeit sobald kein Auto vorbei
und er musste doch zu einem Arzt. Was war bloß mit ihm?
Hatte er sich etwa den Schädel angeschlagen?
„Ich versuche ja zu helfen. Ich weiß nicht, wie ich dich
richtig versorgen kann. Es tut mir so leid. Ich muss dir doch
einen Arzt besorgen“, redete ich auf ihn ein.
„Joe!“, sprach er mich mit fester Stimme und durchdringen-
den Blick an. Er kannte noch meinen Namen. Das verblüffte
mich völlig. Also, sein Kopf schien nichts abbekommen zu
haben. Er wiederholte meinen Namen:
„Joe, ich bitte dich mir zu helfen. Du darfst niemanden
rufen. Wenn du mir wirklich helfen willst, dann bring mich
einfach nach Hause.“ Seine Bitte, sein Flehen klangen wie
der herzerweichende Wunsch eines Kindes, den man unmög-
lich abschlagen konnte. Also tat ich, was für mich undenkbar
war. Ich tat nicht das, was offensichtlich „das Richtige“ war,
sondern worum er mich gebeten hatte. Ich ließ mein Handy
in meiner Tasche verschwinden und löste mich von seinem
starken Griff. „In Ordnung“, gab ich ihm zu verstehen und
blickte ihm direkt in die Augen. Sofort löste sich seine An-
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spannung und er sank erleichtert auf die Straße zurück. Er
stieß einen langen Seufzer aus und wandte sich mir erneut
zu.
„Danke. Dafür werde ich dir ewig dankbar sein.“
Der Lärm des Regens hätte seine sanften Dankesworte fast
übertönt. Ich fühlte, wie eine unbekannte Nervosität in mir
hochkam, die so gar nicht zu der Situation passte. Ich ver-
suchte, mit Humor dieses seltsame Gefühl in mir zu über-
spielen: „Hey, schließlich habe ich dich angefahren. Ich
schulde dir was.“ Er hatte sofort verstanden, dass ich einen
unangebrachten Witz gemacht hatte, und lächelte schief,
wobei sich ein leises „Aua“ in sein Lächeln mischte.
„Ich schaffe dich jetzt wohl besser von der Fahrbahn. Du
liegst hier schon ewig mitten im Regen. Und eine Lungen-
entzündung ist das Letzte, was du gebrauchen kannst“, gab
ich ihm zu verstehen, während ich versuchte, ihn beim Auf-
stehen zu stützen. Er war schwerer, als ich gedacht hatte.
Sein schlanker, drahtiger Körper hievte sich von der Straße,
wobei seine Arme die Decke festhielten, die seinen nack-
ten Körper vor der Kälte schützte. Ich versuchte, mich auf
die Seite seiner unverletzten Hüfte zu schieben, und stützte
sein Gewicht, indem ich seinen Arm um meine Schulter leg-
te. Dabei kam er mir ganz nahe und ich bemerkte, dass von
seinem Körper eine deutlich wahrnehmbare Hitze ausging,
obwohl er ohne Kleidung in der nassen Kälte gelegen hatte.
Das irritierte mich noch mehr als der rasende Puls, den seine
Nähe bei mir auslöste.
Linkisch öffnete ich die Beifahrertür und half ihm beim
Einsteigen, wobei ich ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen
sah. Ich konnte mir keinen vernünftigen Grund für dieses
Lächeln vorstellen. Ja, wenn er meine Verlegenheit erahnen
könnte, vielleicht. Aber objektiv betrachtet war die Situation
zu ernst für ein Lächeln. Ich entfernte mich von ihm, was
mir ein merkwürdiges Unwohlsein und ein Leeregefühl ver-
schaffte, um die Verbandssachen von der Straße zu sammeln.
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Ich schmiss alles achtlos auf den Rücksitz und schnallte
mich zuerst an. Dann lehnte ich mich auf seine Seite, um
ihm den Sicherheitsgurt anzulegen, wobei er wieder dieses
schiefe Lächeln aufsetzte und mein Herz automatisch poch-
te, als würde ich an einen Defibrillator angeschlossen und
sein Lächeln wäre der Auslöser.
Erschrocken wich ich zurück und startete den Motor. Der
Wagen fuhr langsam über die Stelle, wo wir uns beide noch
kurz zuvor befunden hatten. Wie ferngesteuert fuhr ich die
Straße entlang und bog bei der zweiten Möglichkeit rechts
ab. Er durchbrach die Stille mit einer Feststellung.
„Du fährst ja zu dir und nicht zu mir.“
„Woher weißt du, dass es hier zu mir geht?“, fragte ich
völlig verdutzt.
„Ich … glaube, jemand hat mir mal gezeigt, wo du wohnst“,
stellte er klar.
„Ach so“, antwortete ich unsicher.
„Ich bringe dich zu mir. Du weigerst dich ja beharrlich, in
ein Krankenhaus zu fahren oder einen Arzt zu sehen. Mei-
ne Mutter ist Krankenschwester und es befinden sich eine
Menge medizinische Artikel bei uns im Haus. Und außer-
dem weiß ich ja nicht, wie gut deine Hausapotheke bestückt
ist. Du hast doch nichts dagegen, dass ich versuche, dich bei
mir zusammenzuflicken? Schließlich habe ich einiges bei dir
gutzumachen“, sagte ich und wartete neugierig und gespannt
auf seine Reaktion.
„Nein, ich habe nichts dagegen. Ich bin dir sehr dankbar
dafür. Für alles. Auch für dein Verständnis“, ließ er mich auf-
richtig wissen.
„Es ist ja nicht so, dass ich auch nur ansatzweise verstehe,
wieso du keinen Arzt möchtest, aber ich verspreche dir, dich
so gut ich kann zu versorgen. Das schulde ich dir. Du wirst
ja einen guten Grund haben, einen Notarzt zu verweigern,
obwohl es mir nicht gefällt. Schließlich könntest du innere
Verletzungen haben. Die sind verflucht gefährlich!“, ermahn-
te ich ihn mit überschlagender Stimme.
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„Ich habe bestimmt keine inneren Verletzungen, Joe.
Du musst dir keine Sorgen machen. Es hat mich wirklich
nicht schlimm erwischt“, versicherte er mir mit tiefer, sanf-
ter Stimme und legte seine Hand zärtlich auf meinen Arm,
der sich am Lenkrad befand. Instinktiv blickte ich zu ihm.
Sanfte, grüne Augen strahlten mich beruhigend an. Und da
war es wieder. Poch, poch. Mein Herz fand wieder zu seinem
Galopprhythmus zurück.
Wieso versuchte er, mich zu beruhigen, und warum war
er kein bisschen sauer auf mich? Ich hatte ihn immerhin an-
gefahren. Ich musste ihn danach fragen.
„Wieso bist du nicht wütend auf mich? Herrgott, ich habe
dich angefahren!“, schrie ich förmlich.
„Unfälle passieren nun mal. Es war nicht deine Schuld.
Du hattest keine Zeit mehr zu reagieren. Ich hätte nicht auf
der Straße sein dürfen. Niemand hat Schuld.“ Er sprach noch
immer mit fester, sanfter Stimme und ließ mich dabei nie aus
den Augen, während ich nur stur geradeaus auf den Weg sah.
Mittlerweile waren wir vor meinem Haus angekommen. Es
schien mir plötzlich völlig fremd und wenig vertraut. Ich
wollte ihm wieder beim Aussteigen helfen, doch als ich auf
seiner Wagenseite angelangt war, stand er auch schon vor
mir. Noch immer keinerlei Anzeichen von Schmerzen oder
Schock. Er musste übermenschliche Stärke im Ertragen
von Schmerzen besitzen. Ich war beeindruckt. Von der Auf-
fahrt war es nur ein kurzes Stück bis zum Eingang. Ich hielt
vor den Stufen zur Eingangstür und wartete, falls er meine
Unterstützung bräuchte. Doch er ging langsam und mit si-
cheren Schritten vor mir her und wartete geduldig, bis ich
den Schlüssel aus meinen Jeans hervorgekramt hatte. Ich
schloss die Holztür auf und schaltete das Licht ein. Ich war-
tete, bis er im Haus war, dann tat ich einen tiefen Atem-
zug und ließ die kalte Nachtluft in meine Lungen. Dabei
bemerkte ich, dass es immer noch regnete. Doch immerhin
nicht mehr ganz so stark.
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Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Er wartete, ein-
gehüllt in die Decke, mitten im Vorraum meines Hauses auf
mich. Ich führte ihn zwei Zimmer weiter in die Küche und
versuchte das Licht anzumachen, wobei die Deckenlampe
mit einem Knall durchbrannte. „Verdammtes Gewitter! Jetzt
ist bestimmt die Sicherung rausgeflogen!“, schimpfte ich vor
mir her. Ich schob ihm einen Sessel hin und wartete, bis er
sich gesetzt hatte, wobei ich versuchte einen geschäftsmä-
ßigen Ton anzustimmen, als ich ihm sagte:
„Bitte warte hier. Ich hole eine Lampe und ein paar Sa-
chen, damit ich deine Wunden säubern und verbinden
kann.“
Er nickte kurz und sah mich mit staunenden Augen an,
die ich auch zu spüren glaubte, als ich ihm schon den Rü-
cken zugewandt hatte.
Mit schnellen, hektischen Schritten ging ich zum Bad
und öffnete das Schränkchen mit der Hausapotheke. Alles,
was ich brauchen würde, befand sich darin. Desinfektions-
mittel, Wundsalbe, Verbände, Kompressen, Pflaster und ein
paar saubere Tücher. Ich kippte alles in eine große Schüssel,
die am Badewannenrand stand, und ging ins Wohnzimmer.
Ohne das Licht anzuschalten, durchquerte ich den Raum
und schnappte mir die Schreibtischlampe, die auf dem Tisch
stand. Mit vollen Händen ging ich zurück in die Küche, wo
er noch immer, genau wie ich ihn verlassen hatte, auf dem
Stuhl saß.
Ich stellte alles, was ich trug, auf den Tisch und wandte
mich ihm zu.
„Ich komme gleich. Ich muss nur die Sicherung wieder
einschalten.“ Er nickte wieder und sah mir nach. Im Vor-
raum öffnete ich auf der Seite das kleine Kästchen. Ein kur-
zer Schnipp und es gab wieder Strom. In nicht einmal einer
Minute war ich wieder in der Küche.
Er schien sehr ruhig und schweigsam. Ich nahm mir den
Stuhl, der neben ihm stand, und setzte mich ihm gegenüber.
Die Lampe stellte ich zwischen uns und knipste sie an.
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„Wo hast du Schmerzen?“, fragte ich ihn mit besorgter
Stimme.
„Eigentlich nirgends. Aber ich glaube, meine Hüfte könn-
te etwas Jod vertragen“, sagte er scherzhaft.
Ich schüttelte den Kopf und musste unwillkürlich zu-
rücklächeln. Den Blick behielt ich dabei gesenkt. „Also,
dann kümmern wir uns um deine Hüfte! Ich fürchte, dazu
musst du aufstehen.“
Kaum hatte ich den Satz beendet, da stand er schon vor mir
und ich blickte auf seinen nackten Bauch. Die Decke hat-
te er in einem Schwung bis zu seinen Hüften hinunterge-
schoben. Ich musste schlucken bei dem Gedanken, dass ich
gleich seine Haut berühren sollte, doch ich hatte es vor nicht
einmal einer Stunde schon einmal getan. Und dennoch stieg
mir jetzt die Hitze auf, als ich ganz zart die Decke von seiner
Haut schob, um an die Wunde zu kommen. Er schien nicht
im Mindesten verschämt zu sein, und selbst wenn, ich hätte
ihm jetzt bestimmt nicht ins Gesicht gesehen, um sicherzu-
gehen. Ich entfernte den notdürftig angebrachten Verband
und war verwirrt. Wo noch zuvor eine deutliche Wunde zu
sehen war, zeigten sich nur noch eine dunkle Prellung und
verkrustetes Blut.
Wie konnte das sein? Ich konnte es mir nicht erklären.
Ich blickte kurz zur Seite, damit er meine Verwunderung
nicht bemerkte. Mit dem feuchten Tuch entfernte ich das
angetrocknete Blut und zog die Decke über die Hüfte.
„Du kannst dich wieder setzen“, sagte ich ihm.
„Wie geht es deinen Rippen? Kannst du atmen?“, frage
ich dann.
Er atmete tief ein, hielt die Luft an und atmete wieder aus.
„Alles bestens. Siehst du?“, bekräftigte er und schlug sich
dabei gegen die Brust, wo keine blauen Flecken mehr zu se-
hen waren. Ich musste mich vorhin getäuscht haben, was
seine Rippen betraf. Es war auch sehr dunkel gewesen und
noch dazu der starke Regen. „Gut“, nickte ich zustimmend.
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„Dann muss ich mich nur noch um deine Hände und
Arme kümmern.“
Ich griff nach seinen Armen, die er in seinen Schoß gelegt
hatte. Ich nahm beide Hände in meine und drehte sie mehr-
mals herum, um mir alles genau anzuschauen. Es waren vie-
le Abschürfungen, Kies und Blutstriemen zu sehen. Er ließ
meine Begutachtung über sich ergehen und beobachtete da-
bei genau meine Bewegungen und Handgriffe. Ich nahm mir
zuerst die feuchten Tücher und strich damit vorsichtig über
seine Arme. Der Schmutz und die Blutspuren blieben auf
dem Tuch hängen. Ich wiederholte die Prozedur mehrmals,
bis seine Hände annähernd sauber waren. Dann nahm ich
jede Hand einzeln in meine und entfernte mit einer Pinzette
etwaige Steinchen und den Kies. Danach beträufelte ich die-
se Stellen und die Abschürfungen mit dem scharfen Des-
infektionsmittel.
Wir sprachen beide kein Wort. Der Schein der Lampe
erlaubte uns nur, unsere Aufmerksamkeit auf die erleuch-
teten Stellen im Raum zu konzentrieren. Und das waren in
diesem Moment unsere Hände. Das Gesicht des jeweils an-
deren befand sich im Dunkeln. Ich bemerkte, dass ich seine
Hand noch nicht losgelassen hatte, obwohl ich schon längst
mit meiner Behandlung fertig war. Ich konnte ganz deutlich
fühlen, wie seine Hände an meinen entlangfuhren. Das jag-
te mir einen Schauer über den Rücken, den ich bis zu den
Zehen spüren konnte. Ich schloss die Augen. Ich wagte es
nur, da ich mir sicher war, dass er es nicht sehen konnte.
Doch er musste dennoch irgendetwas bemerkt haben, da er
im selben Moment einen leisen, wohligen Seufzer ausstieß.
Ich erstarrte. Der Schreck veranlasste mich, sofort die Augen
aufzureißen und meine Hände zurückzuziehen. Ich wagte
nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Ich musste unbedingt
einen Moment allein sein. Mich für eine paar Minuten sei-
ner Nähe entziehen.
„Ich … ich denke, ich sollte nachsehen, ob ich nicht ein
paar Sachen für dich zum Anziehen finde. Ich habe bestimmt
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ein paar alte Sachen, die mein Bruder hiergelassen hat“, sag-
te ich, mehr an die Dunkelheit denn an ihn gewandt. Wäh-
renddessen fuhren meine Finger ständig nervös meinen Hals
entlang.
Mit einem Satz war ich aus der Tür und sprintete die
Treppen hoch. Ich hastete in das alte Zimmer meines Bru-
ders und schloss die Tür hinter mir. Ich lehnte mich gegen
die Tür und genoss die einsame Stille des Raums. Mein gan-
zes Wesen war in Aufruhr, als würden die Unruhe und Panik
des Unfalls erst jetzt richtig ausbrechen. Ich atmete ein paar
Züge tief ein und aus. Es schien zu helfen. Ich entspannte
mich ein wenig.
Mit einer hastigen Bewegung öffnete ich den Kleider-
schrank und nahm mir das Erstbeste heraus, was mir in die
Finger kam. Ich hielt ein paar alte Jogginghosen, sehr weite,
in der Hand und ein lockeres T-Shirt. Das würde gehen, vor
allem weil ich mir mit der Größe nicht sicher war. Ich leg-
te die Sachen auf die alte, zerschlissene Couch und suchte
noch nach einer warmen Jacke. Nach zwei Fehlgriffen fand
ich auch schon eine alte Arbeitsjacke, die eine Uni-Größe
hatte. Ich nahm mir die Sachen von der Couch und legte
alle Klamotten über meinen linken Arm. Beim Hinausgehen
musste ich an einem Spiegel vorbei, der mir trotz Dunkelheit
ein verfremdetes Bild meines Ichs zeigte. Der verwirrte, un-
ruhige Ausdruck in meinem Gesicht erschreckte mich dabei
am meisten.
Ich beschloss, meine Gedanken auf etwas anderes zu
konzentrieren. Schließlich wartete in der Küche Istvan auf
mich, der mich brauchte und dem ich meine Hilfe verspro-
chen hatte. Ich stürzte die Treppe hinunter und musste da-
bei sehr aufpassen, nicht hinzufallen. Vom Vorraum aus sah
ich den schwachen Lichtkegel und bewegte mich zaghaft
und aufgeregt darauf zu. Ich wollte den Raum ganz lässig be-
treten, so, als wäre gar nichts geschehen, und überlegte mir,
vielleicht ständig zu plappern, um meine Nervosität damit zu
überspielen.
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So setzte ich schon vor der Türschwelle zu einer Ansage
an.
„Da bin ich wieder. Ich habe ein paar passende …“
Der Rest meines Satzes blieb mir im Hals stecken. Er war
weg. Nichts. Kein Lebenszeichen in diesem Raum, außer
meinem eigenem. Alles war noch genauso, wie ich es verlas-
sen hatte. Die zerknüllten Tücher lagen auf dem Tisch. Die
Lampe leuchtete die beiden Stühle aus. Aber kein Istvan. Er
war zusammen mit meiner blauen Decke verschwunden. Ich
stand bewegungslos im Raum, die Kleidung noch immer im
Arm und spürte einen kalten Luftzug aus der Ecke. Die Hin-
tertür der Küche war nur angelehnt und schwang im Nacht-
wind hin und her. Er war verschwunden. Ohne ein Wort.
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