22. Keine Illusionen

Wir platzten in sein Haus wie Soldaten nach der schlimms-

ten Schlacht, die ihnen alles abverlangt hatte. Er stieß die

Tür auf und wartete, bis ich eingetreten war, bevor er sie

ebenso achtlos ins Schloss fallen ließ. Ich trug die schwere

Kamera in der Tasche um meine Schulter und hätte schwö-

ren können, dass an dem leichten Tragegurt eine Kanonen-

kugel hängen würde. Istvan machte ebenfalls den Eindruck,

die Last der Welt auf seinen Schultern zu tragen. Er ging

gebückt, noch immer endlos weit davon entfernt, er selbst

zu sein, ins Wohnzimmer und blieb mitten im Raum stehen,

ohne zu wissen, wieso. Ich hielt es nicht aus, auch nur eine

Minute still zu stehen und dieser nicht enden wollenden

Stille weiterhin beizuwohnen. Also ging ich schnurstracks

in sein Schlafzimmer, wo noch immer mein Laptop stand.

Wie ferngesteuert setzte ich mich an den Schreibtisch und

klappte den Computer auf, nahm die Kamera und das Ver-

bindungskabel aus der Tasche. Ich schloss, mithilfe automa-

tisierter Bewegungsabläufe, die Kamera an den Laptop an

und rief die Bilder vom Teich auf. Ein dumpfes Gefühl sagte

mir, dass ich bei ihrem Anblick ausflippen müsste oder ir-

gendetwas empfinden sollte, doch in mir war im Moment nur

gedämpfte Leere. Sonst empfand ich nichts. Ich wählte lieb-

los ein paar ganz passable Bilder aus, ohne sie zu überprüfen,

und lud sie auf den Redaktionsserver, wie ich es versprochen

hatte. Sie würden morgen früh dort sein, wo sie sein sollten.

Im Moment konnte ich das von mir nicht im Mindesten be-

haupten. Ich wusste gar nichts mehr. Jede Zukunft, auch der

noch so kleinste nächste Augenblick, schien mir dunkel und

unmöglich vorherzusagen. Ich konnte das, was zuvor passiert

war, mit nichts vergleichen. Es gab keine Anhaltspunkte, wie

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man sich nach so einem Tag verhalten sollte, wie man ihn

einigermaßen überstehen konnte und noch an eine Zukunft

glauben sollte. Wie spät war es eigentlich? Ich konnte nicht

mal mit Sicherheit sagen, ob es nur zwielichtig oder bereits

dunkel gewesen war auf der Heimfahrt. Jegliches Zeitgefühl

hatte ich verloren. Das Einzige, was ich überhaupt in den

letzten Minuten wahrgenommen hatte, war, dass Istvan kurz

vor der Tür gelungert hatte, um nach mir zu sehen. Die gan-

zen langen Sekunden dieses Moments hatte ich nicht vom

Computer hochgesehen, dennoch bemerkte ich seinen fas-

sungslosen Ausdruck, als ihm klar wurde, dass ich tatsäch-

lich fähig war, meine Arbeit zu erledigen. Selbst jetzt. Er

verstand offenbar nicht, dass ich diese stupide Normalität

brauchte, um wieder einigermaßen normal empfinden zu

können. Wie sollte er es auch verstehen, ich verstand mich

doch selbst nicht. Aber sein anhaltendes Schweigen auf der

Heimfahrt hatte mich in diese Stimmung versetzt. Erst als

ich bemerkte, dass es jetzt draußen vollkommen dunkel war,

und sein lautes Stöhnen aus dem Wohnzimmer bis zu mir

vordrang, war ich alarmiert genug, um aus meinem Dämmer-

zustand aufzuwachen. Ich ging durch die Schlafzimmertür

den Flur entlang. An der Stelle, wo der Flur in das Wohnzim-

mer mündete, blieb ich stehen. Ich verschanzte mich hinter

der kalten Ecke und lauschte, an die Wand gedrückt, seinen

heftigen Atemstößen, die wie Schmerzensschreie aus sei-

nem Körper gedrückt wurden. Der Klang erschreckte mich

so sehr, dass ich es nicht wagte, mich auch nur einen Zenti-

meter aus meiner verborgenen Position zu bewegen. Aber

Istvan schien mich gar nicht wahrzunehmen. Hörte er mei-

nen Herzschlag nicht mehr? War er taub geworden? Wieso

blickte er nicht in meine Richtung? Als ich den Mut fand,

um die Ecke zu lugen, erblickte ich ihn auf dem Sofa sitzend.

Seine Augen konnte ich nicht sehen. Er ließ den Kopf hän-

gen. Sein Scheitel war genau in meine Richtung gerichtet.

Erst schien er sich kaum zu bewegen, doch dann erkannte

ich das leichte Heben seiner Schultern. Er machte auf mich

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den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Zuerst wollte ich

meine Angst hinunterschlucken und an seine Seite stürmen,

doch dann sah ich, wieso er kein einziges Mal hochsah. Im-

mer wieder erwischte ich ihn dabei, wie er seine Hände an-

starrte, beinahe so, als wären sie nicht Teil seines Körpers. Er

öffnete seine Hand, schloss sie wieder, drehte sie mehrmals

herum und ballte sie anschließend zu einer Faust. Er ballte

sie so fest, dass seine Knöchel stark und weiß hervortraten

und ich fast hören konnte, wie sich seine kurzen Fingernägel

in das Fleisch seiner Handinnenflächen bohrten. Ein paar

Mal war sein Druck so fest, dass tatsächlich Blut aus seiner

Handfläche floss. Doch als er die Faust, die er noch immer

anstarrte, öffnete, war die Wunde längst versiegt. Wäre eine

Machete in der Nähe gewesen, hätte er sie sich eigenhändig

abgehackt. Das verriet schon sein Blick. Er besah sich seine

Hände wie eine Bombe, die entschärft oder am besten gleich

vernichtet werden müsste, damit sie nie mehr fähig war,

Schaden anzurichten. Ihn dabei zu beobachten, wie er sich

so quälte, zerfleischte mir das Herz. Ich wäre so gerne zu ihm

gegangen und hätte versucht ihn zu trösten. Doch hätte ich

mit dieser heiseren, schmerzvollen Stimme zu ihm gespro-

chen, auch wenn es versöhnliche Worte des Trostes gewe-

sen wären, er wäre vollkommen durchgedreht. Das wäre der

letzte Sargnagel gewesen. Irgendwann, ich hatte noch immer

kein Zeitgefühl, schien er dennoch meine Anwesenheit zu

bemerken und sah mich so schmerzerfüllt an, dass ich fast

losgeheult hätte. Doch ich unterdrückte die Tränen, um ihn

nicht noch mehr zu foltern. Er litt schon genug. Ich muss-

te es nicht noch herausfordern. Mit zögerlichen Schritten

ging ich auf ihn zu. Ich setzte mich ihm gegenüber in den

Ledersessel. Er schien nicht besonders erleichtert, dass ich

mich in seine Nähe begab. Jedes Mal, wenn ich mich in mei-

nem Stuhl nach vorne beugte, begann er, sich gleichzeitig in

seinem Sofa zurückzulehnen. Als wären wir zwei Magnete,

die sich plötzlich gegenseitig abstießen. Als hätte sich unse-

re frühere Anziehung, die uns aufeinander zustürmen ließ,

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wie von selbst nun ins Gegenteil verkehrt. Das versetzte mir

einen Stich. Dafür würde Farkas büßen, das schwor ich mir

in diesem Moment.

Es war zwischen uns noch immer kein Wort gesprochen

worden. Wir sprachen nicht, als es begann, Nacht zu wer-

den. Wir sagten keinen Ton, als er mir aus der Küche zwei

Säckchen mit gefrorenen Erbsen brachte, die er mir um die

Schultern und den Hals legte, sorgfältig darauf bedacht, mich

nicht zu berühren. Er brachte sich danach so schnell in seine

alte Sitzposition zurück, dass ich das Gefühl bekam, giftig

zu sein. Kein schönes Gefühl. Ich versuchte, mir die kühlen

Erbsen auf die schmerzenden Stellen zu legen, und musste

feststellen, dass es mir sehr gut tat. Ich wollte mich schon für

den Einfall bedanken, da fiel mir im letzten Moment wieder

meine Schreckensstimme ein und ich brach meinen Sprech-

versuch sofort ab. Er stierte schon wieder auf meinen Hals,

auf die dunklen Flecken darauf. Sein Gesicht sah so aus, als

müsse er sich bei dem Anblick übergeben. Das machte mich

wahnsinnig. Wieso konnten meine Würgemale nicht ein-

fach so schnell und gründlich heilen wie seine Platzwunde

auf der Stirn, von der nur noch ein blasser, rosa Fleck übrig

war, der in ein paar Stunden vollkommen verschwunden sein

würde. Es war einfach unfair. Nicht nur, dass ich damit fertig

werden musste, dass ich beinahe von Istvan erwürgt worden

wäre, sondern ich musste ebenfalls noch verwinden, dass er

mich deswegen mied, und konnte nicht einmal die eindeu-

tigen Beweise dafür verschwinden lassen. Nach einer Stun-

de mit den schmelzenden, gefrorenen Erbsen um meinen

Hals entschied ich, dass es an der Zeit war, endlich wieder zu

sprechen, bevor er vielleicht noch mal anfing, seine Hände

zu foltern oder gar Schlimmeres versuchte.

Ich räusperte mich zwei- oder dreimal. Es tat schrecklich

weh. Meine Kehle schien noch immer wie zugeschnürt. Ich

versuchte es dennoch und kam gleich zur Sache.

„Wieso hast du es mir nicht erzählt? Du weißt, was ich

meine“, krächzte ich, meine Stimme ein heiserer Flüsterton.

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„Ich konnte nicht. Nur Valentin weiß es. Ich habe ver-

sucht, es zu vergessen. Ich konnte den Gedanken nicht er-

tragen, dass du es jemals erfahren könntest.“ Seine Antwor-

ten gab er dem Raum, nicht mir. Er schien gar nicht richtig

beteiligt, als würde er Routinefragen in einer Arztpraxis be-

antworten. Seine wahre Stimmung war unmöglich zu erken-

nen in diesem ausdruckslosen, leeren Starren.

„Wieso? Wieso hast du mir nicht vertraut? Wieso musste

ich es ausgerechnet von ihm erfahren? Ich kann verstehen,

wie es dazu kam. Ich kann dir vergeben, das kann ich dir

versichern. Aber ich verstehe einfach nicht, wieso du mich

anlügen musstest“, warf ich ihm vor. Jedes einzelne Wort

brannte in meiner Kehle und mein Hals tat weh. Ich ver-

suchte, es mir nicht anmerken zu lassen.

„Ich schwöre dir, es hat nichts mit zu wenig Vertrauen zu

tun. Ich hatte einfach Angst. Wie konnte ich von dir erwar-

ten, dass du mir vergibst, wenn ich es selbst nicht kann? In

dem Moment, in diesem schrecklichen Moment, als ich ver-

stand, dass er tot war, dass ich ihn getötet hatte, starb alles in

mir. Ich dachte, wenn ich wirklich bereue und mir alles ent-

sage, dann könnte mir vergeben werden. Aber nicht einmal

dazu war ich stark genug. Ich hatte nicht mal die Kraft, mich

von dir fernzuhalten. Ich wusste genau, dass ich das mit uns

nicht verdiene, und habe es trotzdem getan. Ich habe mir

etwas genommen, was mir nicht zustand. Es war so unerträg-

lich, dass du schon akzeptieren musstest, dass ich dieses

Ding bin, aber dann noch ein M…“, seine Stimme brach bei

dem letzten Wort weg und war nur noch ein Schluchzen.

„Hör auf, das zu sagen. Du bist kein Mörder. Du kannst

nichts dafür, was mit dir geschehen ist. Und du hast dir auch

nichts genommen, was ich dir nicht freiwillig gegeben habe.

Du hast dich sogar heftig dagegen gewehrt. Ich war es, die

dich dazu gedrängt hat. Wenn du jemandem die Schuld ge-

ben willst, dann gib sie mir, verdammt!“, knallte ich ihm jetzt

vor den Latz. Ich hasste es, dass er über unsere Beziehung

sprach, als wäre sie etwas Abstraktes und nichts Reales.

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„Gott, Joe! Wie kannst du jetzt auch noch die Schuld auf

dich nehmen. Nach allem, was heute geschehen ist. Nach

allem, was ich dir heute angetan habe. Ich hätte dich heute

um Haaresbreite getötet. Ich dachte, diese Nacht ’88 wäre

der schrecklichste Moment meines Lebens gewesen, aber

im Vergleich mit heute war es gar nichts. Als ich wieder zu

mir kam und sah, dass meine Hände um deinen Hals lagen,

wäre ich am liebsten auf der Stelle zur Hölle gefahren. Wie

konnte ich dir nur je wehtun? Das ist unverzeihlich. Wie

konnte ich dich nur beinahe …“, schrie er sich selbst an. Ich

unterbrach ihn hektisch.

„Aber das hast du nicht getan. Ich lebe noch. Du hast es

geschafft. Du konntest dich dagegen wehren, weil du stärker

bist als dieser dunkle Fleck in dir. Was immer Farkas in dir

aufgeweckt hat, du kannst es kontrollieren. Ich weiß, dass du

selbst mir nie wehtun würdest, nicht mit Absicht“, versuchte

ich ihm zu erklären. Aber er hörte gar nicht zu. Meine An-

sichten schienen nicht besonders zu zählen, zumindest nicht

im Vergleich mit seinen Schuldgefühlen.

„Joe, mach dir nichts vor. Damals ist etwas Ähnliches

passiert und ich konnte mich nicht rechtzeitig zusammen-

nehmen. Und wenn du heute nicht so unglaublich tapfer ge-

wesen wärst, vielleicht wäre es dann zum Äußersten gekom-

men. Seit ich dich damals aus dem Wasser gezogen hatte,

dachte ich – Gott, so hochmütig –, dass ich es überwunden

hätte. Dass es ein einmaliger Ausnahmezustand war, den

ich überwunden hätte, für immer. Doch heute hat Farkas

mir den Beweis geliefert, dass ich mir nur etwas vorgemacht

habe. Es ist in mir und es geht auch nicht weg. Nicht mal du,

nicht mal wir, konnten es vertreiben. Ich soll verdammt sein,

wenn ich zulasse, dass du noch mal in eine solche Gefahr

gerätst!“, presste er hart hervor und ich wusste, er war dabei

sich einzureden, dass wir aufhören mussten. Das versetzte

mich in blanke Panik. Deshalb klang meine Stimme jetzt ge-

hetzt, noch immer heiser, als würde ich vor einem Lauffeuer

davonlaufen.

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„Tu das nicht! Rede dir nicht ein, dass du mir hilfst, in-

dem du vor mir davonläufst. Das ist genau, was er will. Er

versucht, das Band zwischen uns zu zerstören. Er macht dich

glauben, dass du wie er wärst, aber das ist nicht wahr. Du

magst diese dunkle Seite in dir haben, aber sie beherrscht

dich nicht. Glaub mir, im Moment kenne ich dich besser als

du dich selbst. Vertrau mir, bitte!“, flehte ich ihn aus vollem

Herzen an. Er blickte mich skeptisch an. Seine grünen Au-

gen flackerten unentschlossen.

Er antwortete mir nicht. Er nickte nur sehr schwach und

ich wusste, dass wir in dieser längsten aller Nächte nichts

mehr klären konnten. Nach ein paar Minuten begannen mir

die Augen zuzufallen. Ich konnte die Schwere meiner Lider

nicht bezwingen, wollte mich aber genauso wenig von ihm

entfernen, weil ich Angst hatte, er könne nicht mehr da sein,

wenn ich die Augen wieder aufschlagen würde. Er bemerkte

meine drückende Müdigkeit.

„Ich bitte dich, Joe! Du schläfst ja schon halb. Geh doch

endlich zu Bett“, befahl er mir sanft, ohne dabei auch nur

eine Bewegung zu machen, die mir andeutete, dass er mir

folgen würde.

„Ich gehe erst ins Bett, wenn du mitkommst. Basta!“,

zischte ich, tonlos, schläfrig und rührte mich nicht von der

Stelle. Wieder nickte er schwach und stand auf. Ich hatte

gehofft, er würde mir ins Bett helfen. Doch er fasste mich

nicht an. Er ging mit einem Fuß Abstand hinter mir her. Als

ich mich auf das Laken fallen ließ, beinahe vollständig be-

kleidet, setzte er sich langsam und erschlagen auf die ande-

re Seite und wartete so lange, bis ich unter die Decke ge-

schlüpft war. Erst dann legte er sich an meine Seite – über

der Decke. Man hätte meinen können, zwischen uns läge

die Chinesische Mauer, so stur hielt er sich auf seiner Seite.

Ich wollte nicht einschlafen, aber ich konnte nicht anders.

Ich war so müde, so fertig. Mehrmals tastete meine Hand im

Halbschlaf auf seine Seite, um zu überprüfen, ob er noch da

war. Ich fühlte seinen starren Körper auf der anderen Seite,

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von dem kaum ein Hauch des Lebens ausging. Trotz meiner

üblen Verfassung fiel ich in einen traumlosen, tiefen Schlaf,

aus dem ich gegen vier Uhr morgens kurz erwachte, nur um

zu sehen, dass er noch immer wach neben mir im Bett lag

und traurig an die Decke starrte. Sein Anblick erschreckte

mich so sehr, dass ich es nicht mehr wagte, erneut einzu-

schlafen. Ich versuchte, für ihn, vorzugeben, noch ein paar

Stunden zu schlafen. Gegen halb acht hatte ich lange genug

so getan, schlug die Augen auf und drehte mich auf seine

Seite, wo Istvan noch immer in derselben Pose verharrte. Er

machte den Eindruck einer erstarrten Statue.

„Hast du überhaupt eine Minute geschlafen?“, fragte ich

ihn sanft und wollte über seine Braue streifen, wie ich es

manchmal am Morgen tat. Er schnellte aus dem Bett, bevor

meine Finger seine Haut überhaupt berühren konnten. Sein

Verhalten versetzte mir einen Stich. Ich versuchte, es nicht

zu schwer zu nehmen, versuchte, sein Verhalten und seinen

Schmerz zu verstehen. Es fiel mir nicht leicht und machte

mich noch trauriger. Ich verschwand im Bad, weniger um

mein Morgenritual durchzuführen und mich umzuziehen, als

um ihm etwas Ruhe zu gönnen. Im kleinen Badspiegel sah ich

die deutlichen Abdrücke an meinem Hals, die sich von einem

dunklen Rot und Blau in ein schwärzliches Blau mit grünen

und violetten Rändern verwandelt hatten. Ich fragte mich,

wie ich diese Stellen verstecken sollte. Make-up schied aus,

dafür war der Bereich zu groß. Ich würde hoch geschlossene

Rollis und Tücher brauchen. Ich konnte ja meine Heiserkeit

als Ausrede benutzen. Als meine Finger über die jetzt feuch-

ten Stellen fuhren, konnte ich den pochenden Schmerz der

Blutergüsse fühlen. Es fiel mir immer noch schwer zu glau-

ben, dass ausgerechnet Istvan mir das angetan haben sollte.

Ich war dabei gewesen, hatte in die irisierenden Augen seines

Raubtieres geblickt und konnte es dennoch nicht glauben.

Wenn er mich jetzt, mit diesen deutlichen Malen sehen wür-

de, würde er ausrasten. Ich hatte aber keine Möglichkeit, sie

zu verstecken, herunterzuspielen. Passende Utensilien waren

389

auch nicht bei der Hand. Ich würde durch diese Hölle ge-

hen müssen, das war klar. Ich ging gerade aus dem Bad, da

sah ich einen Schal auf der Couch im Bücherzimmer gegen-

über, den ich vor ein paar Tagen hier vergessen hatte. Ich

versuchte, so lautlos wie möglich in das andere Zimmer zu

schleichen, streifte den Schal von der Lehne und huschte auf

Zehenspitzen zurück in das Schlafzimmer. Über meiner blau-

en Bluse schlug ich den violetten Paschminaschal mehrmals

um meinen Hals und die Schultern, sodass beides fast ganz

bedeckt war. Meine Haare band ich im Nacken zusammen,

damit sie mir nicht den Schal herunterstreifen konnten. Ich

war bereit, ihm gegenüberzutreten, doch ich wusste nicht,

wo er war. Eigentlich müsste er die Bücherei aufsperren, aber

ich hielt es für unmöglich, dass er an einem Tag wie heute

tatsächlich bereit wäre, das zu tun. Ich täuschte mich nicht.

Natürlich würde er mich nicht lange allein lassen. Nach ein

paar Minuten hörte ich die Haustür und schreckte auf dem

Bett hoch. Seine Schritte kamen in meine Richtung. Als er

sich der Tür näherte, hätte ich ihn fast nicht erkannt. Seine

Augen waren leer und tiefe, dunkle Schatten waren darunter

zu sehen. Sein ganzes Gesicht schien die Fähigkeit verloren

zu haben, etwas auszudrücken.

„Ich musste nur kurz das Geschlossen-Schild an der Bib-

liothek aufhängen“, erklärte er mir und sah dabei nicht mich,

sondern die Dielen an. Als er den gesenkten Blick endlich

hob, kam auch die menschliche Mimik in seine Gesichts-

züge zurück. Aber der Ausdruck, der jetzt, bei meinem An-

blick, auf seinem Gesicht zu lesen war, gefiel mir gar nicht.

Er schien mir verflucht wütend über etwas zu sein, so wü-

tend hatte ich ihn noch nie gesehen. Er stürmte auf mich zu

und riss mich vom Bett hoch. Er berührte mich, ich fasste

es kaum. Zuerst merkte ich gar nicht, dass es alles andere als

sanft war, als er mich zornig schüttelte.

„Was denkst du dir nur dabei? Kennst du denn keine

Grenzen?“, schrie er mich erbost an. Ich verstand nicht, wo-

rüber er sprach, worüber er so aufgebracht war.

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„Wovon sprichst du? Was hab ich getan, Istvan?“, fragte

ich kleinlaut. Meine Stimme hörte sich etwas besser an.

Er packte mich am Oberarm und zog mich ins Wohnzim-

mer. Dort schupste er mich vor den großen Spiegel mit dem

dicken Goldrahmen am Ende des Raums. Er stellte mich

direkt davor. Ich wusste noch immer nicht, worum es ging.

Im Spiegel erkannte ich mich. Ich stand viel zu dicht davor

und sah sein schnaubendes Gesicht hinter mir abgebildet,

das noch immer verärgert aussah.

„Wie kannst du nur so tun, als wäre das nichts? Hör auf,

es mir leichter zu machen! Hör auf, mich zu schützen! Sieh

dich an! “, befahl er mir und riss mir dabei den Schal mit

einem einzigen Ruck vom Hals. Unter dem violetten Stoff

kam mein blasser Hals hervor und die dunkelblauen Prellun-

gen darauf, bei denen ich nun deutlich sah, dass man Fin-

gerabdrücke im Muster der Blutergüsse ausmachen konnte.

Automatisch wendete ich den Blick ab, sah zur Seite. Istvan

packte meinen Kopf, sodass ich gezwungen war, mich selbst

verletzt im Spiegel zu sehen. Meine Augen erschreckten

mich mehr als der Anblick meines zerschundenen Halses.

Meine Augen waren panisch, gehetzt. Das Blau erinnerte an

einen übertretenden Fluss und machte mir Angst, fast noch

mehr Angst als das unerbittlich traurige Grün, das mir aus

Istvans Augen entgegenstarrte.

„Sieh genau hin! Sieh dir genau an, was ich dir angetan

habe, und jetzt sag mir: Wie kannst du das ertragen, wie

kannst du mich noch in deiner Nähe ertragen?“, fragte er

mich und seine tiefe Stimme war nur noch ein Trauermeer,

voller Zorn und Verachtung für sich selbst.

Ich antwortete nicht und starrte nur lange auf die Refle-

xionen unserer Körper im Spiegel. Ich dachte gründlich über

seinen Vorwurf nach. Das tat ich wirklich. Aber ich wollte es

dennoch. Ich wollte ihn in meiner Nähe haben. Wenn ich in

seine Augen im Spiegel sah, sah ich weder Farkas darin noch

das Wolfsmonster, das gestern versuchte, mich zu töten. Alles,

was ich in seinen grünen Augen sah, war er selbst und was

391

ich schon immer darin gesehen hatte, auch wenn mich seine

Traurigkeit darin noch tiefer berührte als je zuvor. Ich sah ihn

und mich. Jetzt, da er einen Arm auf meiner Schulter hatte

und sein anderer Arm meinen Oberarm umklammerte, wurde

mir bewusst, dass es noch immer da war, trotz allem, der unbe-

zähmbare Wunsch, ihm nahe sein zu wollen, ihn zu berühren.

Das würde meine Antwort sein. Ich legte meine linke Hand

auf seine Hand, die meine Schulter umfasste. Seine Wärme

erstaunte mich immer noch. Er schreckte nicht sofort zurück.

„Ich sehe uns, das sehe ich. Ich ertrage deine Nähe nicht

nur, Istvan, ich suche sie, auch jetzt. Sieh in meine Augen

und sag mir, dass ich lüge!“, forderte ich und blickte durch

den Spiegel entschlossen in seine Augen hinter mir.

Er starrte lange zurück und ich konnte fühlen, wie seine

Wut sich langsam verzog, und dennoch zog er seine Hand

unter meinen Fingern weg.

Ich drehte mich schnell um, bevor er sich davonmachen

konnte.

„Ich habe dir längst vergeben und werde nicht aufgeben,

so lange, bis du dir selbst verzeihen kannst. Du kennst mich,

ich habe einen Dickschädel!“, erinnerte ich ihn mit einem

leichten, schiefen Lächeln.

Er lächelte nicht zurück. Istvan schüttelte nur ratlos den

Kopf. Offenbar hatte ich ihn aus dem Konzept gebracht. Ich

würde jeden Einwand und jeden Vorwurf, den er vorbrin-

gen konnte, ebenso energisch zurückweisen. Ich war fest

entschlossen. Ich hatte keine Angst vor ihm. Vielleicht lag

es daran, dass ich in ihm immer mehr meinen Retter und

den Mann, den ich liebte, sah als den Wolf oder was sonst

noch in ihm schlummerte. Ich fühlte nach wie vor diese

Geborgenheit, auch wenn er bereits dabei war, sie mir zu

entziehen, um mich zu schützen. Das beunruhigte mich

zutiefst. Ich ging vom Spiegel weg. Zugegeben, ich wollte

nicht ständig auf meinen entstellten Hals starren. Ich war ja

eigentlich nicht masochistisch veranlagt. Obwohl Istvan das

augenscheinlich anders sah.

392

„Joe, du gehst einen gefährlichen Weg und ich weiß nicht,

ob ich dir folgen kann. Bitte verlang das nicht von mir. Ich

kann nicht dein Leben riskieren, während wir versuchen

herauszubekommen, ob ich es tatsächlich unter Kontrolle

habe. Hast du mal daran gedacht, was alles schiefgehen

kann, jetzt, wo ich nicht nur versuchen muss, dich vor Farkas

zu beschützen, sondern auch vor mir selbst?“, fragte er mich

ernst und legte die Stirn dabei angestrengt in Falten.

„Ich bin nicht naiv. Ich weiß, dass jetzt vieles anders wird.

Ich weiß, dass es dir jetzt viel schwerer fällt, mit mir zusam-

men zu sein. Ich weiß, du denkst, dass deine Nähe ein Risiko

für mich ist. Aber, Istvan, du irrst dich. Ich denke, dass das,

was immer gestern in dir hochgekommen ist, überwunden

wurde, als du von selbst zu dir gekommen bist. Ich bin mir

da ziemlich sicher“, wandte ich ein und versuchte, überzeugt

zu klingen.

„Ziemlich sicher ist nicht genug für mich. Und, Joe, ich

bin nicht von selbst zu mir gekommen. Du hast mich da

rausgeholt. Ich bin nicht bereit, deine Theorie zu testen. Hör

auf, dir Illusionen zu machen. Wir können nicht da weiter-

machen, wo wir aufgehört haben. Nicht solange ich ständig

dieses Bild vor Augen habe“, gestand er mir und schüttelte

dabei angewidert und von Angst überwältigt den Kopf. Seine

Augen presste er zu, um das Bild zu verdrängen.

„Was für ein Bild?“, fragte ich tonlos. Meine Stimme flüs-

terte ihn an.

„Das Bild, wie meine Hände dich würgen. Deine aufge-

rissenen Augen, die mich voller Entsetzen und Todespanik

anstarren, und ich kann nichts dagegen tun und muss zu-

sehen, wie meine Hände dabei sind, dich zu töten. Ich höre,

wie dein Herzschlag immer schwächer und schwächer wird,

meinetwegen, und kann nichts dagegen tun und muss dabei

zusehen. Machtlos. Ich will nie wieder sehen, dass du so lei-

dest. Schon gar nicht wegen mir. Nie wieder!“, sagte er und

ich konnte seiner bedrückten, tiefen Stimme anhören, dass

er es todernst meinte. Mit jedem Wort, das er mir dabei ge-

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stand, wich er einen winzigen Schritt von mir zurück. Würde

das jetzt die Entfernung sein, von der aus er mich ertragen

konnte? Eine Armlänge entfernt? Genau die Entfernung,

von der aus ich seine Wärme nicht mehr fühlen konnte. Eine

grausame Entfernung. Ich hatte das komische Gefühl, dass

ich einen großen Fehler gemacht hatte, als ich von Istvan

verlangte, mir zu sagen, welches Bild ihn quälte. Denn ein-

mal ausgesprochen, stand es nun für immer zwischen uns.

Wir waren gefangen in einer Pattsituation. Keiner von uns

ließ sich von der Position des anderen überzeugen oder gab

seine eigene auf. Wir kämpften beide einen aussichtslosen

Kampf, einen Kampf gegeneinander und füreinander. Was

es zusätzlich erschwerte, war, dass jeder von uns glaubte, er

würde das einzig Richtige tun. Es ging tagelang so weiter. Er

nutzte die Tage, um sich in der Bibliothek zu verkriechen, ich

nutzte die Tage und Wochenenden, um mich hinter meiner

Arbeit zu verstecken. Ich schrieb sogar Kritiken, von denen

ich wusste, dass sie nie veröffentlicht würden, nur um etwas

zu tun zu haben. In der restlichen Zeit waren wir zusam-

men, wenn man das so nennen konnte. Ich schlief sogar bei

ihm und er bei mir. Waren wir jedoch bei mir, schlief er auf

der Couch. Er erlaubte es sich nicht mehr, in die geheiligte

Privatsphäre meines Zimmers einzudringen. Ich versuchte,

in seinem Haus oft im Schlafzimmer zu bleiben und ihn so

an glücklichere Zeiten in diesem Zimmer zu erinnern. Es

funktionierte überhaupt nicht. Am schlimmsten waren die

Nächte. Am Tag gab es viel, womit man sich ablenken konn-

te, wie Streiten oder Arbeit. Aber nachts lagen wir nebenei-

nander, dieser unüberwindliche Graben zwischen uns, und

ich musste ständig dieses Verlangen unterdrücken, ihn zu

berühren, das Bedürfnis, den Graben zu überwinden. Mit je-

dem weiteren Tag, der verging, fühlte es sich hoffnungsloser

an. Ich kam einfach nicht an ihn heran. Er schien sich voll-

kommen in sich selbst zurückgezogen zu haben. Er vertraute

sich jetzt wieder seinem Notizbuch an, und nicht mehr mir.

Ein weiterer Stich in mein verwundetes Herz. Während Ist-

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van jetzt nachts von Albträumen geplagt wurde und es mir

nicht mal erlaubte, ihn zu trösten oder zu berühren, war ich

es jetzt, die schlaflos wach lag und Tränen der Verzweiflung

hinunterschluckte. Nur wenn er tief und fest schlief, konnte

ich es mir erlauben, ihn anzusehen, wie ich es früher tat.

Dann kamen all die Erinnerungen hoch, jene Erinnerungen,

die mich aus den Klauen des Todes befreit hatten und jetzt

dabei waren, mich jede Nacht aufs Neue zu foltern, weil ich

mittlerweile wusste, dass die reelle Möglichkeit bestand,

dass mir nichts außer ihnen blieb. Ich hatte bisher nie viel

mit Dantes Göttlicher Komödie anfangen können, aber in

diesen dunklen Tagen verstand ich zum allerersten Mal die

Bedeutung der Worte, die beinahe jeder kannte, ohne wirk-

lich darüber nachzudenken. „Lasst fahren alle Hoffnung.“

Ja, so musste die Hölle sein. Hoffnung, die mit jedem Tag

schwand und das Herz in tausend Stücke zerriss, nur damit

man am nächsten Tag dieselbe Hölle erlebte.

Wie lange würde ich durchhalten und wie lange würde

seine Mauer standhalten, ehe sie anfing, Risse zu bekom-

men? Das war die einzige Hoffnung, die mir noch geblieben

war. Ich hoffte auf einen kleinen Riss in seiner Mauer, durch

den ich zu ihm durchdringen konnte. Doch was könnte sie

zum Einsturz bringen? Welcher Schock war nötig, um ihn

aus seinem Gefängnis zu reißen?

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