3. Konfrontationen
„Wer oder was bist du?“
Ich wiederholte die Frage noch mal, diesmal mit mehr
Dringlichkeit in der Stimme. Es gab seinerseits keinerlei Be-
reitschaft zu antworten. Er stand noch immer dicht vor mir,
in die Ecke gedrängt, und versuchte vergeblich, die Arme,
die sein vermeintliches Geheimnis preisgaben, unter seinen
Achseln zu verstecken. Zwecklos. Denn ich hatte bereits ge-
sehen, was ich nicht sehen sollte. Sein Anblick war kaum zu
ertragen, doch ließ ich mich davon nicht abhalten. Ich muss-
te wissen, was mit ihm nicht stimmte, was es mich auch
kosten würde. Ich überlegte, wie es mir gelingen könnte, ihn
dazu zu bringen, mir sein Geheimnis anzuvertrauen. Sollte
ich ihn beruhigen und versuchen, sein Vertrauen zu gewin-
nen? Nein, das würde nicht funktionieren. Sollte ich ihm
vielleicht drohen? Wie könnte ich das? Schließlich hatte ich
ihn angefahren und lauerte ihm jetzt auch noch in seinem
eigenen Zuhause auf. Er hatte mir vor nicht mal fünf Mi-
nuten noch seine besänftigende Umarmung gegeben. Wie
könnte ich ihn da jetzt angreifen oder ihm gar wehtun?
Ein Bluff. Ja, das ist es, dachte ich und handelte sofort.
Ich kramte in meiner Hosentasche und zog das silberne
Handy hervor, das er schon letzte Nacht nicht gerne gesehen
hatte. Sein Blick verfinsterte sich und seine grünen Augen
funkelten mich erschrocken an. Mein Magen verkrampf-
te beim Anblick seines verzweifelten Ausdrucks. Doch ich
durfte mich davon nicht ablenken lassen, sonst würde ich
nie wieder den Mut haben, mein Vorhaben durchzuziehen,
um so das Geheimnis, das Istvan umgab, zu lüften.
Mit aufgesetztem, hartem Blick und fester Stimme stellte
ich ihn zur Rede.
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„Wenn du mir nicht bald sagst, was mit dir nicht stimmt,
dann werde ich dieses Handy benutzen, um einen alten
Bekannten anzurufen. Er ist der Polizeikommandant unse-
rer Gegend. Ich werde ihm dann erzählen müssen, wie ich
dich gestern Nacht angefahren habe. Und danach mache
ich einen weiteren Anruf in der Redaktion, um zu ver-
künden, dass ich einen, sagen wir mal, Mann angefahren
habe, der offenbar übermenschliche Selbstheilungskräfte
besitzt.“
Ich war über mich und meine eigenen Worte erschrocken.
Wie konnte ich nur so kalt sein, und das gerade zu ihm? Aber
ich durfte nun keine Schwäche zeigen, sonst würde er mei-
nen unfairen Bluff sofort durchschauen. Ich musste mich
ohnehin sehr zusammennehmen, um diesen verzweifelnden
Mann nicht in meine Arme zu reißen und zu trösten.
Er sprach immer noch nicht. Vollkommen stumm und
mit panischer, in sich gekehrter Miene starrte er mich an,
wie ein Wesen aus einer fremden Welt.
„Bitte!“, flehte ich. „Sag mir, was los ist, oder ich muss
diese Anrufe machen. In 10, 9, 8, 7 …“
Ich zählte langsam und deutlich, wobei ich meinen Dau-
men immer näher an die Tasten des Handys führte.
„6, 5, 4, 3, 2 … Verdammt, dir läuft die Zeit weg, Istvan!
Rede mit mir, bitte!“ Mein letztes „Bitte“ war eigentlich nur
noch ein leises Flehen.
Plötzlich durchbrach seine wunderbar samtene Stimme
mit dem dezent rauen Unterton die Stille des Raums und die
Starre seines Körpers.
„Gut. Ich sage dir, was du wissen willst, auch wenn du
es noch bereuen wirst, dass du mich dazu zwingst. Aber nun
steck das verdammte Ding wieder weg.“ Dabei deutete er auf
mein Klapphandy. Ich gehorchte sofort und ließ es zurück in
meine Tasche gleiten.
Seine ganze Körperhaltung hatte sich verändert, während
er mich ansprach, so als ob er eine Entscheidung getroffen
hätte, die sein ganzes Wesen verändern würde. Er war wie-
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der derselbe Mann, den ich in der Küche besorgt gepflegt
hatte, der mir vertraut vorkam wie ein Freund.
„Ich verspreche dir, du bekommst deine Antworten. Aber
du musst mir schwören, dass du niemandem etwas über letz-
te Nacht erzählst. Absolut niemand darf jemals wissen, was
gestern passiert ist. Versprich es mir!“, forderte er mich ernst
auf. Ich musste nicht mal eine Sekunde überlegen. Ich hatte
nie vorgehabt, irgendjemandem davon zu erzählen.
„Ich schwöre es dir. Du hast mein Ehrenwort“, versicher-
te ich ihm aufrichtig.
Er schien mir zu glauben, denn sofort nahm er mich bei
der Hand und führte mich durch sein Haus und gab mir
dabei zu verstehen:
„Komm mit! Ich möchte es dir im Garten sagen. Dort hast
du die Möglichkeit sofort wegzulaufen, wenn du das willst.
Du sollst keine Angst haben, dass ich dir etwas antun könn-
te“, stellte er mit tiefer, trauriger Stimme klar.
Ein besorgtes, leeres Gefühl breitete sich in meinem Kör-
per aus, das ich versuchte, so gut wie möglich zu ignorieren.
Er öffnete die Hintertür zum Garten, wo ein lauer Mor-
gen auf uns wartete. Der kleine Pfarreigarten war mit drei
großen Bäumen bestückt, die mittlerweile derart gewachsen
waren, dass sie sich gegenseitig im Weg standen und eine
Art Dach aus Blättern bildeten. Darunter stand eine Holz-
bank. Diese malerische Kulisse bildete einen zu grotesken
Gegensatz zu dem dunklen Geständnis, das ich auf mich zu-
kommen fühlte.
Er wartete, bis ich mich gesetzt hatte, und nahm neben mir
Platz, ohne dass er mir auch nur einmal im Vorbei gehen ins
Gesicht gesehen hätte. Seine Hände hielten sich verkrampft
an der Bank fest, während ich meine ebenso angespannt
zwischen meine Schenkel drückte. Für einen ahnungslosen
Beobachter mussten wir aussehen wie ein schüchternes Lie-
bespaar aus dem 19. Jahrhundert, das zum ersten Mal allein
miteinander sein durfte. Nur war es in Istvans und meinem
Fall ganz anders.
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„Ich halte das nicht mehr aus. Sag es mir jetzt“, flüsterte
ich mit gesenktem Blick.
„Das ist schwer für mich. Vor allem, weil ich es noch nie
jemandem gesagt habe. Und dann musst ausgerechnet du
hinter mein Geheimnis kommen.“
„Wieso, was macht es für einen Unterschied, ob ich es
bin oder jemand anders?“, fragte ich ahnungslos.
Dabei sah er mich irritiert an, als hätte ich einen unaus-
gesprochenen Pakt zwischen uns gebrochen.
„Ich will nicht, dass du weißt, was ich bin. Ich will, dass
du mich als Mann siehst und nicht als das, was ich wirklich
bin. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du mich
verabscheuen wirst“, gestand er mir offen.
Jetzt war sein Gesicht zu mir gedreht und wir sahen uns
direkt in die Augen. Diese grünen, traurigen Augen, wie
könnte ich sie jemals verabscheuen oder den Mann, dem sie
gehörten? Der Gedanke schien mir vollkommen unmöglich.
„Ich könnte dich nie verachten. Das ist undenkbar. Wieso
sollte ich auch?“, gestand ich ihm im Gegenzug.
Jetzt schloss er mit schmerzverzerrter Miene die Augen
und atmete schwer und laut aus. Mit geschlossenen Augen,
sein Gesicht zu den Baumkronen erhoben, sprach er es aus:
„Weil ich kein Mensch bin! Du hast bereits gesehen, was
ich bin, auch wenn dein Verstand nicht bereit war es zu glau-
ben. Du kennst die Wahrheit.“
„Ein Wolf. Ich habe einen Wolf gesehen. Ich habe einen
Wolf angefahren. Ich, ich habe dich angefahren“, stammel-
te ich mit atemloser Stimme. Mein Herz raste und mein
Verstand drehte sich in absurden Bahnen und widersprach
meinen eigenen Beobachtungen. Aber das alles war egal.
Ich wusste, was ich in dieser Nacht gesehen hatte. Und
so absurd es auch war, es war die einzige Erklärung, zu der
alle Fakten passten. Ich zählte alles noch mal laut für ihn
auf.
„Dass du nackt warst! Die zu tiefe Delle an meinem Wa-
gen. Dein plötzliches Verschwinden und deine Angst, von
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jemandem untersucht zu werden. Du bist kein Mensch! Ich
habe ein Tier gesehen! Was bist du eigentlich?“
Jetzt drängte er sich ganz weit von mir weg und saß fast
schon auf der Banklehne. Doch nicht einmal dort hielt er es
aus. Istvan sprang mit einer schnellen Bewegung in die Luft
und landete gekonnt hinter der Bank. Er lehnte mit dem Rü-
cken am Baum und sah auf mich hinunter. Als er sich mit
dem Gesicht etwas näher zu mir herunterbeugte, sagte er:
„Du würdest mich wohl einen Werwolf nennen! Das ist
es, was ich bin!“
Ich fragte mich, ob mein Gesicht einen entsetzen Aus-
druck machte oder ob nur mein Inneres vollkommen auf-
gewühlt war. Ich hoffte auf Letzteres, da es ihn weniger ver-
schrecken würde. Ich musste einen Witz machen, vielleicht
würde das seine Anspannung lösen und meine auch.
„Verdammt! Da fahre ich einmal einen heißen, nackten
Mann an und dann gehört er nicht mal zur selben Spezies
wie ich. War ja klar!“
Er lachte nicht. Nicht mal sein mir mittlerweile wohlbe-
kanntes leichtes Grinsen schenkte er mir. Er schien ohnehin
über sein Geständnis noch geschockter zu sein als ich, falls
das überhaupt möglich war.
„Ich versteh dich nicht. Ich habe zwar keinerlei Erfahrung
damit, Menschen die Wahrheit über mich zu gestehen, aber
ich hatte Schreie und panische Fluchtversuche erwartet!“,
stellte er irritiert fest.
„Tut mir leid dich zu enttäuschen. Ich kann ja etwas
schreien, wenn dir das lieber ist“, bemerkte ich mit einem
leicht gezwungenen Lächeln.
„Langsam glaube ich dir, dass du zu unangebrachten
Scherzen neigst.“
Jetzt lächelte auch er leicht. Meine Strategie ging auf. Er
entspannte sich etwas. Istvan setzte sich sogar wieder neben
mich. Ich interpretierte das als gutes Vorzeichen und be-
merkte, wie ich seinen Körper nach irgendwelchen Anzei-
chen für seine Wolfsexistenz absuchte. Ich fand nichts.
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„Ich kann gut verstehen, wieso du es niemandem erzählst,
aber wieso hast du dich doch dafür entschieden, dich mir an-
zuvertrauen? Abgesehen von meinem lahmen Erpressungs-
versuch natürlich!“, wollte ich von ihm wissen.
„Du hast mir keine Wahl gelassen und ich wollte dich
nicht belügen. Ein Teil von mir sehnte sich auch danach, dir
die Wahrheit zu sagen, obwohl ich weiß, wie falsch es ist.“
Von dieser Beichte war ich fast noch überraschter als von
seinem Geständnis, ein Wolf zu sein. Ich wusste nicht, was
ich sagen sollte.
„Wie kann das sein, du kennst mich doch gar nicht?“,
bohrte ich weiter.
„Ich denke, es liegt an der Art, wie du dich gestern um
mich gekümmert hast. Niemand sonst hätte auf meine unge-
wöhnliche Bitte reagiert. Und an diesem vertrauten Gefühl,
das ich für dich empfinde“, offenbarte er mir.
Ich fühlte wieder dieses gewisse Herzrasen, das Istvan
bei mir auslöste, wenn er mich so ansah, wie er es in diesem
Moment tat. Als gäbe es auf der ganzen Welt nichts anderes
außer ihm und mir und alles andere wäre nur unscharf und
bedeutungslos. Aber starrte ich gebannt in die Augen eines
Mannes oder waren das die Augen eines Wolfes? Ich musste
wissen, woran ich bei ihm war.
Wieso hatte ich bloß keine Angst? Kannte ich nicht auch
diese zahlreichen Horrorfilme, in denen die Werwölfe des
Öfteren junge Frauen in Stücke reißen? Sollte ich denn
nicht eher den Drang unterdrücken, vor ihm zu flüchten, als
das Verlangen, ihn zu berühren? Es war absurd.
Ich konnte dafür keine Erklärung finden. Ihm ging es of-
fenbar ähnlich, denn er fragte mich noch mal:
„Wieso hast du bloß keine Angst? Sollte das Wort Wer-
wolf, sogar nur Wolf, dir nicht einen Schauder über den Rü-
cken jagen? Du machst den Eindruck, als hätte ich dir bloß
gesagt, ich wäre ein Ex-Knacki, und nicht, als hätte ich dir
eben erst gestanden, ein Freak zu sein, ein Raubtier sogar“,
merkte er fassungslos an.
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„Ich kann es mir doch selbst nicht erklären. Vielleicht
liegt es daran, dass auch du mir so vertraut vorkommst. Oder
daran, dass du mir ja eigentlich nur ein Wort gestanden hast.
Es ist schwer vorstellbar, vor einem Wort tatsächlich Angst
zu haben. Ich denke, wirklich glauben kann ich es erst, wenn
ich dich als Wolf sehe!“, erklärte ich ihm sachlich.
Worüber er sich offenbar sehr aufregte, denn er war wie-
der aufgestanden und tigerte aufgeregt vor mir hin und her,
wobei er lamentierte.
„Das kannst du gleich vergessen. Du wirst niemals dabei
sein, wenn ich mich verwandle. Das könnte ich nicht aus-
halten. Du sollst mich nicht so sehen, als Tier. Außerdem ist
es ganz anders, als du es dir vielleicht vorstellst.“
„Ich stelle mir gar nichts vor. Wie sollte ich das auch?
Kannst du es mir nicht doch zeigen? Ich verspreche auch,
nicht durchzudrehen“, verlangte ich neugierig.
„Nein. Selbst wenn es möglich wäre, nein. Ich kann mich
nicht verwandeln, wie ich will. Es ist keine Fähigkeit. Es ist
eine Bürde, die ich tragen muss. Nur in den Vollmondnäch-
ten bin ich dazu verdammt, als Wolf zu leben, und dann auch
nur nachts.“
„Vollmondnächte?“
„Das sind die Vollmondnacht selbst und die Nächte davor
und danach. So wie gestern. Gott sei Dank war gestern die
letzte Nacht. Du siehst also, dass ich nun fast vier Wochen
ein Mensch sein darf. Na ja, fast wie ein Mensch“, fügte er
erklärend hinzu.
Bei ihm schien der Knoten geplatzt zu sein und er war be-
reit, sein Geheimnis mit mir zu teilen. Ich saugte alles, was
er mir sagen wollte, gierig wie ein Schwamm auf.
„Wenn es keine Fähigkeit ist, sondern eine Bürde, wer
hat sie dir dann auferlegt und wieso? Was meinst du damit,
dass du in der Zwischenzeit ‚fast‘ ein Mensch bist?“ Meine
Fragen strömten aus mir heraus und verlangten nach einer
Antwort, die er mir auch, immer leicht widerwillig und un-
sicher, gab.
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„Ich weiß nicht, wer mir das angetan hat. Aber als ich
fünfzehn war, wurde ich gebissen. Ich habe so gut wie kei-
ne Erinnerung daran. Aber danach war ich dazu verdammt,
bei Vollmond als Wolf zu wandeln. Es gibt auch andere Ver-
änderungen an mir, dauerhaftere, die mich auch in meiner
menschlichen Gestalt ständig begleiten.“
„Welche?“, fragte ich mit unsicherer Stimme und wartete
gespannt auf seine Antwort.
„Wie du ja bereits gesehen hast, heilen meine Wunden
extrem schnell. Auch ist mein Körper robuster als der eines
normalen Mannes. Ich kann sehr schnell, ohne große An-
strengung, rennen. Wie ein Wolf eben. Auch meine ande-
ren Sinne sind geschärfter. Mehr animalisch als mensch-
lich. Und wie dir vielleicht schon aufgefallen ist, ist meine
Körpertemperatur höher als deine“, gab er mir zu verstehen,
indem er meine Hand auf seine Halsschlagader presste. Da-
bei konnte ich feststellen, dass sein Herzschlag viel kräftiger
und schneller war als meiner. Eher als würde man den Herz-
schlag einer Katze oder eines Geparden prüfen.
Ich zog meine Hand sanft zurück, ohne ihm Anlass zur Sor-
ge zu geben, dass ich vor seiner Berührung zurückschreckte.
„Du bist fast heiß“, stellte ich erstaunt fest.
„Ja. Gestern war die letzte Vollmondnacht. Also liegt mei-
ne Körpertemperatur noch bei knapp vierzig Grad. Üblicher-
weise pendelt sie zwischen 38 und 42 hin und her, je nach
Mondphase.“
„Aber du schwitzt nicht. Du müsstest eigentlich Fieber-
symptome haben.“
„Ich habe nur Fieber in den Nächten, bevor ich mich ver-
wandle“, stellte er klar.
„Im Klartext heißt das, ich kann dich erst in einem Monat
als Wolf verwandelt sehen?“, fragte ich nach und hatte ihn
gleich mit meinem angedeuteten Vorhaben verärgert.
„Im Klartext heißt das: Du wirst niemals dabei sein, wenn
ich mich verwandeln muss. In was auch immer“, blaffte er
mich wütend an.
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„Wieso nicht? Ich weiß doch jetzt, was du bist. Und ich
habe keine Angst vor dir“, wiederholte ich nochmals.
„Etwas zu wissen und etwas mit eigenen Augen zu se-
hen, sind zwei völlig verschiedene Dinge“, bemerkte er ab-
weisend.
„Es ist schon gefährlich genug, dich an meinem Geheim-
nis teilhaben zu lassen. Da muss ich nicht auch noch Öl ins
Feuer gießen und dich wie ein Schaf unter die Wölfe sen-
den“, fügte er dramatisierend hinzu.
„Gefährlich für wen? Ich erinnere dich nur ungern daran.
Aber gestern Nacht warst du ein Wolf und ich habe dich an-
gefahren“, wandte ich ein.
Verzweifelt über meine Sturheit schüttelte er den Kopf.
„Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich da einlässt.
Niemand darf wissen, dass es so eine Kreatur wie mich gibt.
Mein Leben und das Leben derer, die wie ich dazu verflucht
sind, in der Wolfshaut zu leben, hängen davon ab. Und um
ganz ehrlich zu sein: Jetzt, wo du es weißt, könnte auch dein
Leben gefährdet sein. Deshalb ist es immens wichtig, dass
du kein Wort darüber verlierst. Am besten, du hältst dich so
weit fern von mir, wie du nur kannst!“, sagte er zu mir mit
aufgerissenen, besorgten Augen.
„Ich fürchte, dazu ist es längst zu spät. Jetzt, wo ich Be-
scheid weiß, will ich alles über dich wissen. Ich kann nicht
anders. Du wirst es nicht schaffen, mich zu vergraulen!“,
stellte ich mit überzeugter, sturer Miene klar und rückte
mit jedem Satz näher an ihn heran. Wir blickten uns jetzt
stumm, voneinander gefesselt, in die Augen. Keiner traute
sich etwas zu sagen. Keiner konnte den Blick abwenden. Ich
wagte nicht mal zu blinzeln. Für den Bruchteil einer Sekun-
de dachte ich, Istvan würde versuchen mich zu küssen, da
sein Kinn noch näher an mein Gesicht kam, sodass unsere
Lippen bloß noch wenige Zentimeter voneinander entfernt
waren.
Würde ich gleich tatsächlich einen Werwolf küssen?
Würde ich tatsächlich gleich von Istvan geküsst werden? Ich
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konnte nicht sagen, welche der beiden Vorstellungen mich
nervöser machte.
Doch es sollte anders kommen. Kurz vor Erreichen mei-
ner zitternden Lippen drehte er sein Gesicht auf die Seite
und stammelte angestrengt:
„Es ist schon spät – in der Früh. Ich meine, es ist früh,
aber eigentlich auch schon spät. Jedenfalls sollte ich längst
auf dem Weg sein und die Bibliothek öffnen.“
Ich musste schmunzeln bei der Vorstellung, dass ich der
Auslöser für seine Nervosität sein könnte. Der Gedanke ge-
fiel mir. Vielleicht sogar zu sehr angesichts der außergewöhn-
lichen Umstände.
„Ich sollte auch versuchen, nach Hause zu gehen und et-
was Schlaf nachzuholen. Obwohl ich nicht weiß, wie ich das
anstellen soll“, stimmte ich ihm zu und fragte gleich darauf:
„Wann werden wir uns wiedersehen? Ich habe noch eine
Million Fragen an dich, wie du dir denken kannst.“
„Wie wäre es, wenn ich dich morgen Abend abhole? Ich
möchte dir etwas zeigen, damit du alles besser verstehen
kannst, und heute Abend passt das Wetter nicht“, sagte er
kryptisch.
„Morgen Abend dann. Das gibt mir genug Zeit, um mir
noch mal eine weitere Million Fragen zu überlegen“, scherzte
ich.
„So etwas hatte ich befürchtet. Aber vergiss nicht: zu nie-
mandem ein Wort. Was machst du eigentlich mit dem Wa-
gen?“, fragte er, besorgt, dass dieser ihn verraten könnte.
„Ich bringe das Auto zu meinem Bruder. Er ist Mecha-
niker und wird keine Fragen stellen. Schon deshalb, weil
ich ihm erzählen werde, dass ich eine Säule gerammt habe“,
merkte ich beruhigend an.
„Es tut mir so leid, dass du meinetwegen deinen Bruder
belügen musst.“
„Keine Sorge. Ich habe einen wirklich guten Grund dafür.
Ich kann Lügen eigentlich nicht ausstehen, aber in deinem
Fall kommt es mir fast wie eine noble Tat vor“, erklärte ich
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ihm, noch immer in der Absicht, seine Bedenken zu zer-
streuen.
„Es ist sehr rücksichtsvoll von dir, es so zu sehen. Danke
auch dafür, dass du nicht davongelaufen und mit den Dorf-
bewohnern im Schlepptau wiedergekommen bist, um mich
mit Fackeln aus der Gegend zu vertreiben“, neckte er nun
zurück.
Obwohl ich eigentlich gar nicht gehen wollte, machte
sein letzter, etwas gelöster Eindruck es mir etwas leichter,
mich doch zu verabschieden. Er ging mit mir zum Gartentor
und öffnete es zuvorkommend, wobei er leicht lächelnd „Bis
bald“ zu mir sagte.
Ich drehte mich langsam von ihm weg und ging in den
beginnenden Tag hinein, der mir nun vollkommen irreal vor-
kam.
Ich hatte es tatsächlich geschafft, ein paar Stunden zu schla-
fen. Wobei mich Träume von einem graubraunen Wolf ver-
folgten, der in einem dunklen, tiefen Wald auf mich zugelau-
fen kam, mich aber nie wirklich erreichte. Müder als vorher
stand ich auf und ging unter die Dusche. Das warme Wasser
und die vertraute Umgebung halfen mir dabei, wieder zur
Besinnung zu kommen. Was für eine Nacht! Was für ein
Morgen!
Ich hatte in den letzten Stunden mehr gesehen, gefühlt
und erfahren, als ich je für möglich gehalten hätte.
Mein ganzes Leben lief plötzlich in Highspeed, nachdem
es sich eine halbe Ewigkeit lang an Slowmotion gewöhnt
hatte. Und meinem Verstand fiel es schwer, damit Schritt
zu halten. Die Stille im Bad, abgesehen vom Plätschern des
Wassers, schien mir fast gespenstisch. Ich konnte den mor-
gigen Abend kaum erwarten. Was würde ich noch alles er-
fahren?
Was war es wohl, das er mir zeigen wollte? Wie sollte ich
nur die Zeit rumkriegen? Es schien eine halbe Ewigkeit bis
dahin zu sein.
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Sobald ich fertig geduscht hatte, nahm ich mir meine
Haare vor und föhnte sie trocken. Wieder einmal gelang es
mir nicht, das Mähnenhafte meiner goldblonden Haare ganz
wegzubekommen. Mit flotten Bewegungen legte ich etwas
Make-up auf und schminkte meine Lippen in einem leicht
rosa Ton. Für mehr fehlte mir, wie meistens, die Geduld.
Die Sachen, die ich gestern schmutzig gemacht hatte,
warf ich schnell in den Wäschekorb und schnappte mir eine
frische Jeans und mein hellblaues Hemd. Danach kramte
ich noch meine Lieblingsstiefel aus braunem Leder unter
meinem Bett hervor und schlüpfte hinein.
Ich war nun bereit, mich zum Haus meines Bruders auf-
zumachen, um meinen Teil der Abmachung zu erfüllen.
Er war zu Hause, das sah ich gleich an seinem Pick-up,
der vor dem Zaun geparkt stand. Ich musste mir nur noch
eine glaubwürdige Geschichte zurechtlegen und ihn dazu
bringen, das Auto unserer Eltern, das ich gestern geschrottet
hatte, zu reparieren. Seine Frau, eine kleine, zarte Person mit
kurzen, schwarzen Haaren, öffnete mir die Tür, nachdem ich
mehrmals ungeduldig geklingelt hatte. Ihr Name war Paula.
Sie begrüßte mich mit ihrem breiten Lächeln, das sie mir
meistens schenkte, woraufhin ich etwas unhöflich sofort zur
Sache kam.
„Hi! Ist der Meister zu Hause? Ich bräuchte was von
ihm.“
„Viktor, deine Schwester braucht etwas von dir. Kommst
du mal?“, schrie sie in das Haus hinein.
„Er kommt bestimmt gleich. Willst du nicht reinkom-
men?“, lud sie mich mit einem freundlichen Lächeln ein.
„Nein, danke. Ich habe es eilig und brauche ihn sowieso
in der Werkstatt“, erklärte ich ihr meine Verweigerung ein-
zutreten.
„Oh, verstehe.“
Mein Bruder tauchte auf und schien noch etwas Essbares
zu kauen.
„Sag mal, störst du mich mit Absicht beim Essen!“
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„Haha! Halt die Klappe. Ich brauche dich als Fachmann
und nicht als Komiker“, konterte ich seine flapsige Bemer-
kung.
„Was hast du denn kaputt gemacht?“, fragte er leicht
sauer.
„Na ja, um ehrlich zu sein – den Wagen unserer lieben
Eltern“, beichtete ich ihm lieber gleich.
„Oh Mann!“, war sein einziger Kommentar, wobei er
gespielt nervös durch seine hellblonden Haare fuhr. Seine
Sommersprossen leuchteten im Sonnenlicht.
„Sieh es dir selbst an!“, bot ich ihm an und deutete auf
das Auto, das ich in der Einfahrt geparkt hatte. Seine Frau
Paula ging wieder zurück in die Küche.
„O. k., du hast einiges zu erklären. Kannst froh sein,
dass unsere Eltern gerade durch die Weltgeschichte reisen,
sonst …“, ätzte er.
„Ja, ich weiß. Es war ein dummer Unfall. Ich bin gestern,
als es so geschüttet hat, von einer späten Pressekonferenz
weggefahren und hab beim Ausparken einen dieser stei-
nernen Blumenkästen nicht gesehen. Verdammter Wolken-
bruch!“, log ich, ohne rot zu werden, und hoffte, dabei auch
überzeugend genug zu sein.
„Na gut. Kann passieren. Ich krieg das wieder hin. Lass
mich das Auto mal genauer ansehen“, tröstete er mich ein
wenig.
„Super, danke!“
Er fuhr das Sportcoupé in seine Garage, seine eigene pri-
vate Werkstatt, und sah sich die Schäden an.
„Das kann ich ausbeulen. Etwas Lack muss da drauf.
Alles nichts Gravierendes“, kommentierte er laut, mehr für
sich als für mich, und inspizierte dabei die rechte Seite des
Wagens, der ansonsten noch ziemlich neu war.
„Für die Arbeit berechne ich dir natürlich nichts. Familien-
tarif! Aber den Scheinwerfer muss ich erst bestellen. Kann et-
was dauern. Den musst du allerdings schon berappen“, sagte
er mir und stieß mir dabei amüsiert in die Rippen.
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„Alles klar. Ich bezahle natürlich. Ich fahre so lange mei-
nen alten Jetta“, erklärte ich ihm.
„Wenn du dich traust, damit durch die Gegend zu fah-
ren!“ Er lachte laut auf.
„Sehr witzig, kleiner Bruder. Ich denke, ich werde die
Schande überleben!“, parierte ich. Mit Viktor verfiel ich im-
mer in geschwisterliche Verhaltensweisen, die eher in die
Schulzeit gehörten. Aber so war das immer zwischen uns.
Ein Schlagabtausch auf fairer, freundschaftlicher Basis. Er
gehörte zu den Menschen, denen man niemals wirklich böse
sein kann. Während er sich wieder dem Autoschaden zu-
wandte, dachte ich über die junge Ehe meines Bruders nach.
Die beiden kamen mir manchmal wie zwei gegenüberliegen-
de Seiten eines Farbspektrums vor. Er mit seinen blonden,
längeren Haaren und der blassen Haut und Paula mit ihren
kurzen schwarzen Haaren und der Bräune. Sie teilten auch
fast keine Interessen und doch, trotz dieser augenschein-
lichen Unterschiede, hatten Paula und Viktor dasselbe
sonnige, unbekümmerte Gemüt. Dass beide ein ähnliches
Temperament besaßen, machte sie perfekt füreinander und
erklärte auch, wieso sie immer glücklich auf mich wirkten.
Das brachte mich dazu, mir einzugestehen, dass Istvan und
ich andererseits nicht einmal dieselbe Bluttemperatur vor-
weisen konnten. Diese Tatsache stimmte mich traurig. Doch
ich hatte keine Gelegenheit, diesen Gedanken weiterzuver-
folgen, denn Viktors Frage riss mich prompt aus meiner Grü-
belei.
„Und was hast du heute noch so vor? Außer unschul dige
Blumenkästen umzufahren und den Jetta zu reanimieren,
natürlich“, wollte er mit breitem Grinsen von mir wissen.
„Eigentlich habe ich nichts Besonderes vor. Ich … ver-
dammt!“, stieß ich erschrocken hervor.
Plötzlich fiel es mir wieder ein. Ich war mit Carla, meiner
besten Freundin, zum Essen verabredet. Wie konnte ich das
nur vergessen?
Mein Bruder starrte meinen erschütterten Ausdruck an.
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„Ich habe das Essen mit Carla völlig vergessen. Es ist
in vierzig Minuten“, erklärte ich ihm und sah dabei auf die
Uhr.
„Na dann beeil dich mal. Das wird knapp. Der Jetta
braucht mindestens eine halbe Stunde nach Wart.“
Also hetzte ich zu Fuß nach Hause, was allein schon zehn
Minuten dauerte, und streifte die Plane vom alten, grünen
Jetta ab. Ich wusste, dass noch etwas Benzin im Tank sein
musste, da Viktor ihn ab und an fuhr. „Nur um den Motor bei
Laune zu halten“, wie er es formulierte.
Ich hatte Glück. Er sprang sofort an und ich bog schnell
aus der Einfahrt und fuhr in Richtung Dorf, denn unser Haus
lag etwas abgelegen, schon fast am Waldrand. Ich übertrat
etwas die Geschwindigkeitsbegrenzung und holte auf der
Landstraße tatsächlich 100 Sachen aus dem alten Jetta he-
raus. Als ich ihn dann auf Tempo 110 brachte, zitterte bereits
die ganze Karosserie. Es nützte alles nichts. Ich würde zu
spät kommen. Aber ich hatte wenigstens eine gute Ausrede,
dank des Jettas. Den wahren Grund, nämlich Istvan, würde
ich ihr leider verschweigen müssen. Doch wie macht man so
etwas? Wie belügt man seine beste Freundin, ausgerechnet
den Menschen, zu dem man bisher immer ehrlich war?
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4. Lügen lernen
Der Jetta raste von der Landstraße auf das kurze Stück der
Autostraße und polterte bei jedem einzelnen meiner Versu-
che, ihn auf 120 km/h zu beschleunigen. Ich würde so was
von zu spät kommen, das war klar.
Und ich hatte keine brauchbare Ausrede parat, die ich ihr
anbieten konnte. Nur eine Menge Ideen für diverse Lügen-
geschichten, von denen ich aber wusste, ich könnte Carla,
meiner besten Freundin, keine von ihnen erzählen, ohne von
nagenden Schuldgefühlen gepeinigt zu werden.
Aber das war vermutlich der Preis für die Bekanntschaft
eines so außergewöhnlichen Mannes wie Istvan. Man musste
bereit sein, Opfer zu bringen, wenn man seine Welt und sein
Geheimnis ergründen wollte, und das wollte ich unbedingt.
Es war ein Drang, den ich nicht im Mindesten unter Kon-
trolle hatte. Ich brannte darauf, alles über ihn zu erfahren.
Ich musste wissen, wo er herkam. Was es für ihn bedeutete,
ein Wolf zu sein oder, so wie er es eher andeutete, ein Wolf
sein zu müssen.
Aber er hatte recht. Ich durfte andere Menschen da nicht
mit hineinziehen.
Meine fixe Idee sollte niemanden außer mir selbst in
Gefahr bringen. Auf keinen Fall durfte jemand, der mir so
wichtig war wie Carla, in eine, wie auch immer geartete, Ge-
fahr geraten. Das könnte ich mir nie verzeihen. Ja, ich würde
lügen. Ich würde lügen, um zu beschützen. Wie auch Istvan
log und sich verbarg aus guten Gründen, die vielleicht sogar
ehrenwert waren.
Und doch, wie sollte ich ihr heute beim Essen gegen-
übersitzen und so tun, als wäre alles wie immer, als hätte sich
nicht meine ganze Welt über Nacht völlig verändert, als wäre
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ich noch die alte Joe, die unangebrachte Witze machte und
keine Geheimnisse vor ihr verbarg?
Langsam, eigentlich im Schritttempo, näherte ich mich der
Stadt. Wart war wie immer gut besucht. Es war Einkaufstag
und die Leute strömten nur so von Geschäft zu Geschäft.
Es gab deshalb kaum Parkplätze in der kleinen Stadt und
ich musste zum Ausweichparkplatz am Bahnhof fahren.
Alles um mich herum schien mein Zeitproblem noch zu
verschlimmern. Ich schnappte mir den ersten freien Park-
platz. Die engste Lücke, in die sich je ein abgefahrener,
dunkelgrüner Jetta gedrängt hatte, da war ich mir sicher. Ich
konnte kaum die Tür aufkriegen. Als ich mich vom Parkplatz
entfernte, fiel es mir dann doch auf. Mein antiker Jetta stach
unter den anderen Autos, polierten VWs, BMWs und Sko-
das, hervor wie ein bunter Hund mit drei Beinen. Viktor hät-
te sich prächtig über diesen Anblick amüsiert. Auch darüber,
dass ich wie ein aufgescheuchtes Huhn durch den Stadtpark
rannte und beim Überqueren der Hauptstraße fast ausge-
rutscht wäre. Ich war bereits zwanzig Minuten zu spät und
musste nur noch die Treppen hochhetzen, dann würde ich in
Carlas Gesicht sehen.
Ich erblickte sie sofort, als ich die Tür unseres Lieblings-
chinesen aufstieß. Sie war sauer. Ich hatte erfolgreich ver-
drängt, wie sehr sie Unpünktlichkeit hasste, und das zeigte
sie ganz deutlich, indem sie, in meine Richtung gewandt,
geziert auf ihre Uhr tippte. Beim Versuch, hastig zu ihrem
Tisch zu kommen, hätte ich beinahe den Kellner umgesto-
ßen, der dabei war, Essen zu servieren.
„Entschuldigung, mein Fehler“, gestand ich knapp und
drehte mich zu Carla um.
„Hi! Ich weiß, du hältst es für ein Zeichen von Unhöflich-
keit, wenn man sich verspätet, und ich weiß, ich hätte anru-
fen sollen …“, lamentierte ich. Doch sie unterbrach mich:
„Wenn du so gut Bescheid weißt, wieso zum Teufel lässt
du mich dann fast eine halbe Stunde warten? Ah!“
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Geduld gehörte nicht zu Carlas Tugenden.
„Tut mir leid. Ich hatte, ehrlich gesagt, unsere Verabre-
dung vergessen. Es war ein blödes Versehen“, gestand ich ihr
unterwürfig und fand es gut, das Gespräch mit Aufrichtigkeit
zu beginnen, bevor ich mit den weniger aufrichtigen Details
weitermachen würde. Ich setzte mich endlich.
„Schon gut. Es passt nur nicht zu dir. Ich glaube, du hast
dich nicht mehr verspätet, seit wir in der 5. Klasse waren.
Was war eigentlich so wichtig, dass du unsere Verabredung
ganz verschwitzt hast?“, wollte sie von mir wissen. Genau die
Frage, auf die ich keine ehrliche Antwort hatte.
„Ich habe seit gestern Probleme mit dem Auto und
musste es heute zu meinem Bruder bringen. Er versucht, es
zu reparieren. Das hat mich so beschäftigt, dass ich unsere
Verabredung zum Mittagessen vergessen habe. Du kennst
mich ja, wenn ich mich über etwas ärgere, vergesse ich al-
les andere“, erklärte ich ihr mein Versäumnis und hoffte,
durch meine selbstironische Bemerkung ihr Interesse zu
zer streuen.
Es schien zu klappen, denn ihre rehbraunen Augen lä-
chelten mich hell an und lachend stieß sie hervor:
„Typisch Joe. In deiner Wut vergisst du sogar zu atmen!“
Ihr ganzer Körper bebte nun vor Lachen und sie musste
ein paar hellbraune Strähnen ihres langen, glatten Haares
aus ihrem Gesicht wischen. Sie waren ihr, durch das schal-
lende Gelächter, vor die Augen gefallen.
„Beruhige dich mal wieder. So witzig war das auch nicht.
Bei dir klingt das ja, als wäre ich Miss Jähzorn“, warf ich
etwas beleidigt ein und merkte erst jetzt, dass wir in unserer
gewohnten, lockeren Art herumalberten. Ich hatte mein Ziel
erreicht, ohne es gleich zu bemerken. Es herrschte Normali-
tät zwischen uns. Aber das hätte ich mir denken können.
Carlas Anwesenheit gab mir immer das angenehme Gefühl,
verstanden zu werden. Bei ihr konnte ich ganz ich selbst
sein, ohne Anstrengung. Das war genau das, was ich nach all
den ungewöhnlichen Ereignissen brauchte.
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„Was sollen wir denn essen? Mir ist nach Nasi-Goreng,
und dir?“, fragte sie mich und schmökerte in der riesigen
Speisekarte.
„Ich habe schrecklichen Hunger. Ich denke, das Acht-
Schätze-Menü ist da genau richtig.“
„Ja, das klingt auch gut. Ich werde mal einen Kellner be-
sorgen. Heute ist die Hölle los!“, sagte Carla und deutete auf
die vollen Mittagstische, die das kleine chinesische Lokal
kleiner wirken ließen, als es eigentlich war.
Carla machte sich zur Bar auf, die etwas zu bemüht auf
Chinesisch gestylt war, um unsere Bestellung abzugeben.
Sie brauchte nicht mal fragen, was ich trinken wollte. Sie
kannte meine Vorlieben auswendig. Ich wartete darauf, dass
sie zurückkommen würde, und bemerkte die vielen Mittags-
gäste, die beim Essen angeregt miteinander sprachen. Ich
fragte mich, worüber sie redeten. Wie viele von ihnen wa-
ren hierhergekommen, um Freunde zu belügen oder über
Tier-Menschen zu sprechen, die sie angefahren hatten? Be-
stimmt kein Einziger von ihnen. Ich kam mir plötzlich so
befremdlich vor und fühlte mich unwohl in meiner Haut.
Ich bekam den Eindruck, als müsse ich inmitten von Test-
personen eines Experimentes sitzen und wäre die Einzige,
die man eingeweiht hätte. Die Wahrheit, obwohl ich gerade
mal eine schemenhafte Vorahnung davon hatte, schien mich
schon jetzt von allen anderen zu isolieren. Eigentlich machte
mir das nicht wirklich etwas aus. Ich war nie der Gruppen-
Typ gewesen. Aber würde mich die Tatsache, dass Istvan Ge-
heimnisse hatte, auch von einer wahren Freundin isolieren,
die mir sehr viel bedeutete und die ich schon mein halbes
Leben lang kannte? Ich machte mir zu viele Gedanken und
ich neigte zum Grübeln, das wusste ich. Es würde schon
nicht so schlimm werden, wenn ich mich nur genügend an-
strengte.
Carla hatte unsere Order an den Mann gebracht und kam
auf mich zu. Es war mir noch immer unbegreiflich, wie mei-
ne beste Freundin ihre ganze Schulzeit lang denken konn-
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te, sie wäre kein Männertyp. Denn mindestens vier Männer
starrten ihr auf ihrem kurzen Rückweg hinterher. Aber keiner
von ihnen hatte eine Chance, denn Carla war bereits in fes-
ten Händen und wohnte seit drei Jahren mit Christian zu-
sammen. Er war Arzt im selben Krankenhaus, in dem Carla
als OP-Schwester arbeitete. Eigentlich war es das einzige
Krankenhaus in der Gegend. Da war es auch nicht weiter
erstaunlich, dass auch meine Mutter die letzten dreißig Jah-
re ihres Lebens als Krankenschwester im gleichen Hospital
Dienst getan hatte.
Als sich Carla wieder hinsetzte, fiel mir ein, dass ich mich
noch gar nicht nach ihr und Christian erkundigt hatte:
„Sag, wie geht es Christian eigentlich? Habt ihr beide
noch immer diese Monsterschichten abzuleisten oder ist es
schon besser geworden?“
„Christian geht es gut. Er ist nur ständig hundemüde,
wie ich auch. Diese verrückten Verwaltungstypen lassen uns
noch immer 36-Stunden-Schichten machen. Es wird ein-
fach nicht besser. Ich weiß bald nicht mehr, wie mein Bett zu
Hause aussieht. Ich glaube, es ist aus Holz oder so“, scherzte
sie mit sarkastischem Unterton, wobei sie ihre Verärgerung
nicht verbergen konnte und auch nicht wollte.
„Gott, das ist ja furchtbar. Ich sollte da mal was über euch
schreiben. Vielleicht hilft es ja“, bot ich ihr an und registrier-
te sofort ihren ablehnenden Ausdruck.
„Nein. Bist du wahnsinnig? Du weißt ja, wie schnell man
heutzutage fliegt. Vergiss das mal lieber schnell. Erzähl mir
lieber, was es bei dir so Neues gibt“, lenkte sie ab und stellte
genau die Frage, die ich nicht hören wollte.
Was zur Hölle sollte ich darauf antworten? Etwa:
Ach, nicht viel. Hab nur Istvan, den Bibliothekar, angefah-
ren. Habe mal kurz von ihm erzählt. Ach ja, es stellte sich am
Ende raus, dass ich ihn doch nicht umgebracht habe. Denn er ist
ein Werwolf und steckt solche Unfälle ganz gut weg. Heute Mor-
gen hat er es mir dann gestanden, und anstatt schreiend davon-
zulaufen, hätte ich ihn beinahe geküsst, glaube ich jedenfalls.
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Zumindest wäre das die Wahrheit gewesen. Doch ich
konnte nicht mal ansatzweise etwas davon erwähnen. Ich
musste jetzt ganz schnell lernen, wie man überzeugend log.
Carla hatte mein Zögern bereits bemerkt. Das war nicht
gut. Ich sollte bald mal was sagen, aber mein Mund fühl-
te sich staubtrocken an und so konnte ich auf keinen Fall
überzeugend lügen. Ich hustete, als ob ich ein starkes Krat-
zen im Hals hätte, und schüttelte dabei noch gekünstelt den
Hals. Die diesjährigen Oscar-Anwärter würden durch meine
schauderhafte Schauspielleistung nicht das große Zittern be-
kommen.
Nach meinem Hustenanfall räusperte ich mich und nahm
einen Schluck von dem Wasser, das der Kellner, ein kleiner,
älterer Chinese, auf den Tisch gestellt hatte.
„Na, geht’s wieder?“, fragte sie mit besorgter Miene. Ein
Wunder war geschehen. Sie kaufte mir den Auftritt tatsäch-
lich ab.
„Ja, danke. Frosch im Hals. Nicht so schlimm“, ließ ich
sie wissen und log.
„Also, was gibt es nun Neues in St. Hodas und bei dir
natürlich?“, bohrte sie weiter.
„Alles eigentlich wie immer … langweilig wie immer“, er-
klärte ich knapp und nahm weitere Schlucke aus meinem
Wasserglas.
„Komm schon. Erzähl mir, was hast du so die letzten Tage
gemacht? Wolltest du nicht auf diese Messe, wie war es?“,
fragte sie begierig weiter.
„Ich war auf der Messe. War ganz schön viel los für eine
kleine Ferienmesse. Gut besucht. Hab die letzten Tage nur
gearbeitet. Geschrieben größtenteils. Sonst nichts“, gab ich
ihr knapp zur Antwort und merkte, dass ich plötzlich im Tele-
grammstil sprach, was ich sonst nicht tat. Ich wusste sofort,
dass ich einen dummen Fehler gemacht hatte. Es fiel ihr auf,
denn sie fragte mich gleich danach:
„Was ist denn mit dir? So kurz angebunden kenne ich
dich gar nicht. Du redest mit mir, als wäre ich ein unliebsa-
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mer Bekannter, den du möglichst schnell loswerden möch-
test.“
Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie deutlich irritiert
war. Ich konnte ihr nichts vormachen.
„Entschuldige. Es war nur so ein langer Tag gestern und
dann kam das auch noch mit dem Wagen hinzu. Dem Auto
meiner Eltern, du verstehst?“, klärte ich sie auf und versuch-
te, damit die Wogen wieder zu glätten.
„Du machst dir Sorgen wegen des Autos deiner Eltern!
Warum sagst du das nicht gleich? Ich bin sicher, sie sind
nicht sauer. Und wenn schon. Sie kommen doch erst in
einem dreiviertel Jahr von ihrer Weltreise zurück. Bis dahin
ist das doch Schnee von vorgestern“, tröstete sie mich und
schenkte mir diesen warmen Blick, bei dem mir immer wie-
der bewusst wurde, was für ein Glück ich hatte, Carla zur
besten Freundin zu haben.
„Ja, du hast recht. Ich hab wohl etwas überreagiert. Es
war nur so ein verrückter Tag …“, fing ich an zu erzählen und
unterbrach mich schnell, bevor ich noch mehr verriet.
„Wieso denn, was war denn so verrückt?“, fragte sie natür-
lich weiter.
Derselbe kleine Kellner kam in diesem Moment mit den
riesigen Essensportionen zu unserem Tisch und türmte die
duftenden chinesischen Spezialitäten vor uns auf. Es war
mehr ein Essensberg als ein Menü, aber es kam gerade recht.
Ich war schon ganz ausgehungert und stürzte mich sofort auf
den Reis. Zum Glück lenkte gutes Essen Carla immer von
dem ab, was sie gerade machte, und ich war erst mal aus
dem Schneider.
Während Carla genussvoll und langsam ihr Reisgericht
aß, zwang ich das Essen im schnellen Tempo in meinen Ma-
gen und mir wurde fast übel. Aber immerhin hatte ich lan-
ge nichts gegessen und mein Körper schien nun nach allem
Essbarem zu gieren.
„Gott, du bist ja echt ausgehungert“, kommentierte Carla
mein etwas peinliches Essverhalten.
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„Ja. Du weißt ja, Selbstversorgerin“, kommentierte ich
kurz und wandte mich wieder dem Hühnerfleisch zu, das
ich jetzt wieder genießen konnte.
Als wir fertig waren, hatte ich die riesige Portion völlig
vernichtet und Carla starrte mich an.
„Eigentlich bin ich doch die große Esserin von uns. Aber
heute hast du es mir gezeigt. Ich gebe es zu. Nachtisch?“
„Ja. Aber den werde ich nicht so hinunterstürzen, verspro-
chen“, versicherte ich ihr lächelnd und zauberte auch auf ihr
Gesicht ein leichtes Schmunzeln.
„Na gut. Aber den Nachtisch bestellst du.“
Ich winkte unseren Kellner herbei und orderte die flam-
bierten Bananen, die Carla hier immer bestellte. Während
wir auf das Dessert warteten, fand Carla wieder zu ihrer ur-
sprünglichen Absicht zurück und begann mich weiter aus-
zuquetschen. Ich wusste, dass es nur aufrichtiges Interesse
ihrerseits war und dass sie ja nicht ahnen konnte, dass sie
mich mit ihrer Fragerei in die Bredouille brachte.
„Was war denn gestern so schlimm? Jetzt rück schon raus
damit, du weißt, dass ich nicht locker lassen werde“, stellte
sie klar und erinnerte mich damit an unsere größte Gemein-
samkeit. Die absolut verbohrte Sturheit, die uns beide im-
mer verbunden hatte.
„Ich habe gestern diesen Istvan wiedergesehen. Den Bib-
liothekar, von dem ich letztens mal erzählt habe“, gestand ich
ihr und bereute gleich den Anfang meines Satzes. Sie hatte so-
fort angebissen, so wie ich ihn ihr damals beschrieben hatte.
„Und?“, fragte sie entflammt.
„Und nichts. Ich hab dir doch erzählt, dass er irgendwie
seltsam ist, oder?“
„Ja, die Sache mit dem Foto. Ich erinnere mich. Hat er es
aufgeklärt?“, wollte sie jetzt wissen, völlig in ihrem Element
als neugierige Freundin.
„Nein. Er hat sich mir gegenüber nur blöd verhalten, das
ist alles. Das regt mich immer noch auf. Er hat gestern, als
ich ihn wiedergesehen habe, so getan, als würde er sich nicht
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an mich erinnern. So ein Mistkerl!“, sagte ich. Ihn auch nur
in einer Lüge zu beschimpfen, fiel mir schwer, weshalb mein
„Mistkerl“ auch etwas kraftlos wirkte.
„Wieso, denkst du, hat er das getan?“, fragte sie besorgt.
„Keine Ahnung. Ich habe dir doch gesagt, dass ich irgend-
wie einen Draht zu ihm habe?“ Ich wollte ihr Gedächtnis in
mein Lügengespinst einbauen.
„Ja. Du sagtest sogar, du hättest das Gefühl ihn zu ken-
nen“, erinnerte sie sich deutlich.
„Tja, das war wohl ein Fehler. Er scheint offenbar etwas
gegen mich zu haben. Soll mir nur recht sein, wenn er mit
jedem außer mir redet. Er ist sowieso nicht mein Typ. Ich
war wohl an dem Tag etwas durcheinander“, stellte ich, ge-
spielt sauer, klar.
Sie überlegte und sagte schließlich:
„Ist aber schon merkwürdig. Erst flirtet er mit dir und
jetzt macht er auf eiskalte Schulter. Schade, so wie du erst
von ihm erzählt hast, dachte ich schon, da würde sich was
anbahnen“, gestand sie mir etwas enttäuscht.
„Erstens habe ich nie behauptet, dass er bei der Eröffnung
mit mir geflirtet hat, und zweitens soll er doch mit sich selbst
tanzen. Ich geh dem Typ lieber aus dem Weg“, setzte ich noch
einen drauf und übertrieb die Istvan-Lügerei ein wenig.
„Ja, stimmt schon, du hast nichts von Flirten erzählt. Aber
so wie du von ihm gesprochen hast, dachte ich … Na was
soll’s. Vergiss den Kerl. Es gibt Tausende wie ihn“, verkünde-
te sie mir geschwisterlich.
Sie hatte ja keine Ahnung, wie sehr sie sich in diesem
Punkt täuschte. Es gab niemanden auf der ganzen Welt wie
ihn und vielleicht nur ein paar „Menschen“, die ihm halbwegs
ähnlich waren. Ich dachte, ich hätte genug Abschreckendes
über Istvan verkündet, dass es in Zukunft unwahrscheinlich
wäre, dass sie mich noch mal nach ihm ausfragen würde.
Aber es war schon unheimlich, dass Carla bereits das
erste Mal, als ich ihn ihr gegenüber kurz erwähnt hatte, zu
merken schien, dass er etwas ihn mir auslöste.
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Zu meinem und zu Istvans Glück war ihre ansonsten gute
Intuition gegen meine Lügen nicht immun. Denn sie schien
mir wirklich abzunehmen, dass ich Istvan nicht ausstehen
konnte. Ich hatte also mein Ziel erreicht. Auch wenn ich dafür
meine beste Freundin anlügen musste, zum allerersten Mal.
Ich würde schon morgen Abend erfahren, ob es die Lü-
gerei wert war. Ob auch er sein Versprechen halten und mir
von sich und seinen Besonderheiten erzählen würde.
Noch war ich mir nicht sicher, dass er Wort hielt. Viel-
leicht würde er auch wieder verschwinden, genauso wie er
in mein Leben gekommen war, völlig aus dem Nichts. Was,
wenn er dahin zurückkehren würde? Darauf hatte ich keine
Antwort parat.
Ich aß meinen Nachtisch auf und hörte Carla zu, wie sie
von den neuen Möbeln erzählte, die sie sich zusammen mit
ihrem Freund angeschafft hatte. Größtenteils ließ ich sie reden
und versuchte, den halben Nachmittag lang nicht zu sehr an
Istvan zu denken. Ich war Carla sehr dankbar für die kleinen
Geschichten voller Normalität, die sie mir in ihrer lustigen
Art, erzählte, wild gestikulierend und bunt ausgeschmückt.
Sie erzählte von den schwierigen Operationen, bei denen
sie schon assistieren durfte, und von Christians neuestem
Beziehungs-Fauxpas, wie dem ständigen Fragen nach der
Notwendigkeit von zehn verschiedenen Paar Schuhen. Es
tat gut, mit Carla über ihr Liebesleben zu scherzen und sich
dabei ganz normal zu fühlen. Ich wusste ja nicht, wie normal
ich mich noch nach morgen Abend würde fühlen können.
Nach einem kurzen Anruf von Christian verabschiedete
sie sich und brachte mich noch zum Wagen. Ich umarmte sie
und sagte: „Wir sehen uns hoffentlich bald mal wieder.“
„Ja, klar. Selbe Stadt, selber Chinese!“, scherzte sie und
fragte mich verwundert:
„Sag mal, ist das etwa dein alter Jetta oder sehe ich Gespens-
ter? Den hast du doch seit der Schule nicht mehr gefahren. Ich
dachte, der wäre längst in der Schrottpresse gelandet!“, witzelte
sie weiter, als sie sah, dass sie mich damit drankriegen konnte.
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„Nicht du auch noch! Mein Jetta ist durchaus noch fahr-
tüchtig und der kommt nicht auf den Schrottplatz. Er ist die
Art fahrbarer Untersatz, die dir in einer Auto-Krise beisteht.
Einfach nicht tot zu kriegen eben!“, konterte ich und konnte
endlich einige Auto-Witz-Punkte wieder gutmachen.
Sie lachte schallend und winkte mir zum Abschied.
„Ich sehe dich bald. Mach’s gut, verrückte Jetta-Joe!“,
wünschte sie mir und ging zurück in den Park.
Auf der ganzen Heimfahrt, diesmal mit moderaten 80 ge-
fahren, dachte ich über die Lügen nach, die ich heute erzählt
hatte. Wie ich versucht hatte, Carla davon zu überzeugen, dass
Istvan mir egal sei. Was war weiter entfernt von der Wahrheit?
Ich hatte schon reichlich geflunkert, dabei aber nichts
so Schlimmes erzählt, dass ich Carla niemals wieder unter
die Augen treten konnte. Was blieb mir denn anderes üb-
rig, wenn ich uns alle beschützen und Istvan vor jeglicher
Verdächtigung bewahren wollte. Lügen war der einzige Aus-
weg. Niemand würde es auch nur ansatzweise verstehen,
noch nicht einmal die ansonsten aufgeschlossene Carla. Wie
könnte sie auch? Ich verstand es doch selbst nicht, wieso
ich bereit war, so viel für Istvan zu tun. Ich fühlte mich noch
nicht mal schuldig. Ich wusste irgendwie, dass ich ihm das
schuldete. Ich würde lernen müssen, damit zu leben. Mit
Lügen und allem, was noch kommen würde.
Nach einer guten halben Stunde war ich zu Hause an-
gekommen und verbrachte den Rest des späten Nachmittags
und den Abend mit dem Schreiben des Artikels zur Wildun-
fall-Pressekonferenz. Ich musste verdammt gut aufpassen,
in den Bericht nicht Istvans Namen einzutippen. In meiner
Erinnerung war er so sehr mit den Ereignissen dieser Nacht
verbunden wie der Regen mit den Wolken. Meine Finger
musste ich immer wieder daran hindern, zu schreiben: Er ist
ein Werwolf oder Wolf gesichtet.
Welche Ironie! Da war ich als Lokalreporterin auf die Sto-
ry des Jahrhunderts gestoßen und konnte sie nie jemandem
erzählen. Und zu meiner Schande wollte ich das auch gar
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nicht. Ich wollte ihn und seine Geheimnisse ganz für mich
allein. Ich wollte das mit niemandem teilen außer ihm.
Ich konnte die Spannung kaum noch aushalten. Deshalb
schlief ich die ganze Nacht lang unruhig. Es blitzten immer
wieder Bilder von Istvan auf, wie er nackt im Regen auf der
Straße lag. Ich sah ihn immer wieder vor mir, auf meinem
Küchenstuhl sitzend. In meinem Traum schreckte ich nicht
vor seiner Hand zurück und ließ es zu, dass seine Finger mei-
nen ganzen Arm entlangfuhren. Träumend hatte ich auch
den Mut, ihn auf dieselbe Weise zu berühren. Ich träumte
jedoch nicht davon, ihn zu küssen. Das war einfach unvor-
stellbar, im wahrsten Sinne des Wortes.
Im Laufe der Nacht veränderten sich die Bilder. Anstatt
mir zu zeigen, was bereits passiert war, zeigten sie mir Versio-
nen von dem, was bald passieren könnte. Einmal kam er auf
einem Feld neben dem Wald als Wolf auf mich zugestürzt
und biss in meine Kehle. Ich wachte irritiert auf. Erschro-
cken. Ich schalt mich in Gedanken aus. So eine lächerliche
Vorstellung. Er würde morgen Abend nicht als Wolf auftau-
chen. Der Vollmond war vorbei. Lächerlich. Ich zwang mich
weiterzuschlafen und schlüpfte tiefer unter die Decke. Doch
ich war hellwach und hatte Angst vor den Bildern, die mir
noch erscheinen würden, wenn ich es wagte, noch mal die
Augen zu schließen. Irgendwann am frühen Morgen gelang
es mir dann doch noch zu schlafen. Ich war völlig weggetre-
ten, als ich erst nach Mittag aufwachte, komplett erledigt.
Den ganzen Tag konnte ich mich auf nichts konzentrieren.
Mir blieb nur ein Artikel, eine einzige Musikkritik, zur Ab-
lenkung, sonst nichts.
Ich musste irgendetwas finden, das die Zeit bis zum
Abend schneller vergehen ließ, aber keinerlei geistige Fähig-
keiten erforderte. Hausarbeit!
So putzte ich den ganzen ersten Stock des Hauses. Ich
arbeitete mich vom Vorraum aus zur Küche, zu den Schlaf-
zimmern, zum Bad und Wohnzimmer vor.
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Ich war dabei gründlich und leider auch zu schnell. So war
es erst kurz nach drei, als ich damit fertig wurde. Am Ende
machte ich mich auch noch über die Wäsche her und dachte
dabei ständig an den verwunderten Ausdruck, den mein Va-
ter machen würde, könnte er mich jetzt sehen. Schließlich
weigerte ich mich ständig die Wäsche zu machen, da wir im-
mer noch keinen Trockner hatten und das ewig lange Bügeln
mich zur Verzweiflung brachte. Heute war ich dafür dankbar,
als hätte ich im Lotto gewonnen.
Gott, wie würde mein Vater Heinrich jetzt staunen. Seine
Joe bügelte die gesamte Wäsche der Woche, ohne zu mau-
len, und hatte dabei einen zufriedenen Ausdruck auf dem
Gesicht. Das würde ihm gefallen.
Ich vermisste ihn und seine praktische Art, die Dinge zu
sehen, die er an mich weitergegeben hatte. Ich stellte mir
gerne vor, wie meine Mutter und mein Vater vor der Chine-
sischen Mauer standen und mein Vater meiner Mutter er-
klärte, dass die Mauer einen durchaus praktischen Zweck
erfülle und nicht nur architektonisch sehr schön anzusehen
sei. Ich stellte mir das geduldige Gesicht meiner Mutter Es-
ther vor, die wieder einmal Vaters Vorträge über sich ergehen
lassen musste. Ich stellte mir gerne vor, wie glücklich sie sein
mussten, jetzt, da sie sich endlich ihren Lebenstraum erfül-
len konnten: die Welt zu sehen, und zwar die ganze.
Ihr halbes Leben hatten sie, mit Lehrtätigkeit, Kranken-
hausarbeit und der Erziehung von zwei Kindern, schwer ge-
schuftet und alles gespart, um jetzt, nach ihrer Pensionie-
rung, die ultimative Reise machen zu können: eine Weltreise
für fast ein ganzes Jahr. Der Gedanke an meine Eltern mach-
te mich traurig. Gleichzeitig war ich aber froh, dass sie nicht
gerade jetzt in meiner Nähe waren. Wer weiß, wie gefährlich
es seit letzter Nacht war, sich bei mir aufzuhalten!
Bald schon würde ich besser einschätzen können, worauf
ich mich eingelassen hatte.
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