19. Die Hetzjagd beginnt
Auch wenn jeder von uns beiden nur allzu gerne in unse-
rem Versteck geblieben wäre, sich weiterhin in dem zwei mal
zwei Meter Rechteck des Bettes zusammengekauert hätte,
gab es wichtige Notwendigkeiten, die dagegen sprachen. Die
erste Vollmondnacht stand unmittelbar bevor und es muss-
ten noch weitere Vorkehrungen getroffen werden.
Er stand jetzt vor mir, groß und stark, mit diesem sanften,
nervösen Lächeln, das nur meiner Beruhigung diente. Aber
Istvan täuschte mich keine Sekunde. Ich wusste genau, wie
es in ihm aussah, wie besorgt und wachsam er war. Schon
allein der ständige Blick auf das Handy verriet seinen wahren
Gefühlszustand. In wenigen Stunden mussten wir uns auf-
machen zum Lagerplatz im Wolftanzwald und da gäbe es nur
eingeschränkten Empfang, deshalb wollte er bis dahin si-
cherstellen, dass sich der kleine, gelbe Punkt nicht von dort
wegbewegte, wo er bisher so brav verweilt hatte. Ich hatte
ihm mehrmals angeboten, die Nächte in einem Hotel zu ver-
bringen, vielleicht in der Umgebung von Wien. Ich dachte,
das könnte es ihm leichter machen. Doch davon wollte er gar
nichts wissen. Er machte mir klar, dass er es nicht aushalten
könnte, wenn er nicht wüsste, wo ich mich befände, und er
keine Möglichkeit hätte, mich selbst zu beschützen. Einer-
seits war ich froh darüber, aber andererseits bedeutete es für
ihn eine dreitägige Tortur, bei der er am Tag in meinem Haus
das Überwachungssystem anstarren und nachts in seiner
Wolfsform das gesamte Waldgebiet seines Reviers ablaufen
müsste. Das war meine größte Angst, dass er sich so ver-
ausgaben könnte, dass er am Ende noch zusammenklappen
würde. Ich wusste genau, er würde sich nicht eine Minute
Schlaf gönnen, wie sehr ich auch darum betteln würde.
325
Ich versuchte, die Angespanntheit der Situation mit mei-
ner praktischen Veranlagung im Zaum zu halten. Die Vor-
kehrungen schienen ihn und mich etwas zu beruhigen. Wir
suchten warme und praktische Kleidung für die Nächte he-
raus und legten sie vorsorglich auf die Kommode in meinem
Zimmer. Ich kaufte im Supermarkt eine Palette Mineralwas-
ser. Damit wollte ich die Lagervorräte aufstocken. Wir holten
zwei der Decken, die ich für die Ankunft der Valentins be-
sorgt hatte, aus dem Weinkeller, um sie im Auto zu platzie-
ren. Ansonsten gab es leider nicht viel, was wir tun konnten,
um unsere Nerven zu beruhigen.
Der Plan war einfach. Die Tage des Vollmondzyklus sollte
ich in meinem Haus verbringen, wo er auf mich aufpassen
könnte. Er hielt es für besser geeignet, da es vom Dorf ent-
fernt lag, und sollten wir, so unwahrscheinlich es auch war,
doch angegriffen werden, wäre es einfacher zu verteidigen,
wie er mir immer und immer wieder versicherte. Unser Haus
stand relativ frei und dicht am Waldrand, sodass er einen
Angreifer bald ausmachen und darauf reagieren könnte. Ich
hielt das für unmöglich. Farkas würde niemals als Mensch
angreifen und schon gar nicht am helllichten Tag. Aber Ist-
van murmelte ständig diesen abgedroschenen Spruch mit
der Vorsicht und der Porzellankiste. Für die Nächte war der
Plan schon etwas konkreter. Jeden Abend müssten wir um
sechs in den Wald fahren. Am Lagerplatz würde er darauf
warten, dass die Verwandlungsschmerzen einsetzten und er
sich verwandelte. Währenddessen sollte ich die ganze Zeit
im Camaro bleiben, den Istvan gleich in der Nähe parken
würde. Ich musste hoch und heilig versprechen, den Camaro
niemals zu verlassen, solange er noch ein Wolf wäre. Leider
gab es keine Möglichkeit, meinen Geruch zu überdecken
oder meinen Herzschlag unhörbar zu machen, wofür ich
sehr dankbar gewesen wäre. Ich war mir bewusst, wie leicht
es für die Farkas-Wölfe sein würde, mich aufzuspüren, wenn
sie es darauf anlegten. Das verschaffte mir ein flaues Ziehen
in der Magengrube, was ich natürlich verschwieg.
326
Um fünf Uhr waren wir noch immer bei mir und saßen in
meinem Zimmer auf der kleinen Couch gegenüber meinem
Bett. Er saß eher steif da, während ich mich an seine Brust
anschmiegte und versuchte, etwas lockerer zu wirken. Ein
peinlicher Versuch, zugegeben. Er schlang seinen Arm um
meinen Oberkörper. Ich hatte das Gefühl, er wolle mich in
diesem Moment gefangen halten, um mich nicht der poten-
ziellen Gefahr des nächsten Momentes ausliefern zu müs-
sen. Immer wieder hörte ich seine tiefen, unregelmäßigen
Atemzüge, die sich auf meinen Brustkorb übertrugen und
meinen Körper ebenfalls in Alarmstimmung versetzten. Mei-
ne Muskeln spannten sich, ohne meine Zustimmung, auto-
matisch an.
„Es wird alles gut gehen“, versicherte ich ihm und ver-
suchte damit, uns beide davon zu überzeugen.
„Ich hoffe es“, stöhnte er und ich konnte die Panik hören,
die seine schöne Stimme überlagerte.
„Wir haben an alles gedacht. Die Valentins werden ihren
Job machen und wir müssen nur diese drei Tage und Nächte
überstehen. Das ist machbar“, sagte ich vor mich hin und
war bemüht, einen neutralen Tonfall zu halten.
Istvan legte sein Kinn an meinen Scheitel und zog seinen
Griff fester um meine Brust.
„Es ist machbar“, wiederholte er meine letzten Worte, als
handle es sich dabei um eine Beschwörungsformel, die wahr
würde, indem man sie mehrmals wiederholte, was er auch tat.
Ich befreite mich aus seinem Griff und lehnte meinen
Kopf an seine Schulter, damit ich in seine Augen sehen
konnte. Der leere, traurige Ausdruck darin erschreckte mich.
Ich küsste ihn sanft in der Hoffnung, diesen angsterfüllten
Ausdruck dadurch zu vertreiben. Es gelang mir nur teilwei-
se. Sein Gesicht entspannte sich ein wenig. Seine Augen
blieben aber weiterhin sorgenvoll. Dagegen war einfach kein
Kraut gewachsen.
„Gibt es irgendwas, was ich tun könnte? Du machst hier
die Hölle durch und ich fühle mich so nutzlos. Ich wünsch-
327
te, ich könnte irgendwas tun, um zu helfen oder es dir we-
nigstens etwas leichter zu machen“, ließ ich ihn wissen und
strich dabei seinen Unterarm entlang. Die Geste sollte ihn
etwas besänftigen. Auch das schien nicht zu funktionieren,
nicht wirklich.
„Ich fürchte, da gibt es nichts. Und ich werde dir nicht
erlauben, etwas Verrücktes zu tun, das dich in Gefahr bringt.
Das kannst du gleich vergessen. Aber eine Sache geht mir
nicht aus dem Kopf. Wenn ich erst ein Wolf bin, dann bist du
schutzlos im Auto. Das macht mich total krank. Ich wünsch-
te, wir hätten eine Waffe für dich“, meinte er trocken und
ich erschrak allein schon bei dem Gedanken, eine Waffe in
meiner Hand zu halten.
„Eine Waffe?“, stieß ich erschrocken hervor.
„Was sollte ich damit? Ich kann doch mit so was nicht um-
gehen. Ich denke nicht, dass ich mich mit so was besonders
gut mache. Außerdem würde es gegen die Werwölfe ohne-
hin nicht viel ausrichten. Eure Selbstheilungskräfte machen
euch doch beinahe immun“, merkte ich resignierend an und
wurde mir zu spät darüber klar, dass das auch für ihn galt.
„Es würde sie nicht töten, aber im Notfall lange genug
aufhalten, damit du fliehen kannst. Ich würde mich einfach
viel besser fühlen, wüsste ich, dass du etwas bei dir hast,
womit du dich verteidigen kannst!“, sagte er nochmals und
zog mich dabei ganz fest an sich.
Plötzlich durchzuckte mich ein Geistesblitz. Es gab eine
Waffe in diesem Haus. Ich hatte es ganz vergessen. Vielleicht
war sie auch nicht mehr da. Zuletzt hatte ich sie mit eigenen
Augen gesehen, da war ich sechzehn gewesen.
„Istvan, was, wenn ich vielleicht eine Waffe hätte?“, taste-
te ich mich gedanklich vor.
„Was? Wäre das möglich? Welche Waffe? Spann mich
nicht so auf die Folter“, bat er mich und war dabei in seiner
Sitzposition hochgefahren.
„Es ist eine Leuchtpistole. Mein Vater hat sie früher in
seinem alten Werkzeugschrank aufbewahrt. Ich habe ihn nie
328
danach gefragt. Vermutlich stammt sie aber von seiner Bun-
desheerausbildung. Ich weiß nicht, ob sie noch da ist, aber
wir könnten nachsehen“, schlug ich vor. Bei dem Gedanken,
in meinem eignen Haus nach einer Waffe zu suchen, wurde
mir fast schlecht. Es kam mir so falsch, aber dennoch not-
wendig vor.
Istvan schnellte von der auf Couch und zog mich eben-
falls hoch. Ich ging mit schnellen Schritten die Treppe hi-
nunter, er immer einen winzigen Schritt hinter mir. Vor dem
Schlafzimmer meiner Eltern, das ich noch kaum betrat, seit
sie aufgebrochen waren, befand sich die Tür zum Keller. Ich
stemmte die leicht verzogene Tür auf und hetzte die Treppe
hinunter. Im dunklen, muffigen Keller angekommen, nahm
ich gleich die erste Tür links zum Abstellraum. In der Ab-
stellkammer befanden sich mehrere Regale und Ablagen für
diverses Zeug, das sich in den Jahren angesammelt hatte.
Hinter der letzten Stellage stand der alte, zerkratzte Werk-
zeugschrank, in dem nur noch Dinge aufgehoben wurden,
die schon lange keinen Zweck mehr erfüllten. Ich drehte
den Schlüssel und mit einem unangenehmen Quietschen
öffnete ich die Flügeltür. Istvans Atem spürte ich dabei
die ganze Zeit in meinem Nacken. Er war ungeduldig. Das
passte gar nicht zu ihm. Ungeduld war bisher eher meine
Domäne gewesen. Obwohl ich seit Jahren nicht mehr in
den Schrank gesehen hatte, fand ich die schwarze Schach-
tel, in der mein Vater die Leuchtpistole seit jeher aufhob.
Direkt vor mir lag nun also jene Waffe, die ich zum Selbst-
schutz mit mir führen sollte. Ich wollte sie nicht selbst he-
rausnehmen.
„Ganz hinten links“, deutete ich Istvan an und ging einen
Schritt beiseite. Er zögerte nicht und nahm die Schachtel an
sich. Istvan drückte den Deckel auf und brachte eine kleine,
schwarze Pistole und zwei große Patronen zum Vorschein.
„Nur zwei Patronen, aber wenigstens hast du jetzt eine
Waffe zu deinem Schutz“, merkte er an, während er den Lauf
und die anderen Funktionen der Waffe überprüfte. Ich frag-
329
te erst gar nicht danach, woher er wusste, wie das gemacht
wird.
„Sie funktioniert noch, keine Sorge“, sagte er und hielt sie
mir hin. Ich zögerte einen Moment und nahm sie dann doch
in meine Hand. Das kalte Metall und das überraschende Ge-
wicht fühlten sich fremd in meiner Hand an.
„Ich nehme sie, wenn du darauf bestehst. Du musst mir
zeigen, wie man sie benutzt.“
„Es ist ganz einfach. Wirklich. Du musst nur diesen Kol-
ben hier drücken. Hier. Dann öffnet sich die Leuchtpistole
und du kannst die Patrone in den Lauf schieben. Danach
musst du nur noch abdrücken. Vorsicht vor dem Rückstoß.
Am besten hältst du sie mit beiden Händen, o. k.?“, fragte er
mich und suchte in meinen Augen nach einem Zeichen von
Einverständnis.
„Ich denke, ich weiß, wie es geht. Aber wird dieses Ding
tatsächlich einen Werwolf aufhalten können?“, fragte ich un-
sicher nach.
„Diese Dinger können schon einigen Schaden anrichten.
Es wird sie nicht schwer genug verletzen. Sie können trotz-
dem angreifen, aber der Treffer gibt dir ein paar Minuten, die
du nutzen kannst. Und wenn du doch nicht auf ihn schießen
kannst, kannst du mir damit wenigstens ein Signal geben!“,
merkte er an und strich mir über die Wange, um mich zu
beruhigen.
Wir gingen wieder zu mir hoch. Ich musste noch etwas
aus meinem Zimmer holen, bevor wir gehen konnten. Er
wartete vor meiner Tür, während ich mir über den engen,
grauen Kapuzenpulli, den ich vorhin angezogen hatte, noch
eine schwarze Trekkingweste überstreifte. Danach schnürte
ich mir noch die festen, schwarzen Stiefel um die Knöchel
und steckte die Stulpen meiner dunklen Jeans hinein. Wäh-
rend ich mein Haar kämmte und es zu einem Pferdeschwanz
zusammenführte, bemerkte ich seinen vielsagenden Blick
auf mir und starrte zurück. Ich wünschte mir in diesem Mo-
ment, mehr als alles andere, seine Gedanken lesen zu kön-
330
nen, denn sein grüner Blick erschütterte mich im Innersten,
ohne dass ich genau sagen konnte, wieso.
Wir kamen etwas nach sechs Uhr am Lagerplatz an und
warteten so lange, bis die Sonne anfing unterzugehen. Dann
erst stiegen wir aus dem Wagen. Istvan überprüfte seine im
Boden eingegrabene Vorratskiste und kam dann zu mir zu-
rück. Er legte mir seinen Arm aufmunternd auf die Schulter
und küsste mich auf die Wange. Seine Lippenhaut war schon
sengend heiß, aber die Verwandlung begann noch nicht. Es
war gut, dass wir das Wolfsfieber im Wald hinter uns brach-
ten. Hier würde er es schnell hinter sich haben und es würde
weniger langwierig und schmerzhaft vonstattengehen.
Langsam wurde es kalt. Wir näherten uns zwar langsam
dem Ende des Winters, doch nachts sanken die Temperatu-
ren gewaltig. Ich zog mir die Lederhandschuhe an. Istvan er-
laubte mir nicht, die Heizung im Wagen anzustellen, da das
verräterische Geräusch zu laut und zu leicht auszumachen
wäre. Er holte eine Decke aus dem Kofferraum und gab sie
mir. Dann stieg er wieder zu mir ins Auto, still und voller
Sorge. Er holte das Handy aus seiner Jeanstasche und legte
es vor sich auf das Armaturenbrett. Ich wickelte mich unge-
schickt in die Decke und schlug dabei mehrmals gegen das
Lenkrad. Er half mir dabei und schon allein durch die Nähe
seiner hilfsbereiten Arme wurde mir jetzt wohlig warm.
„Bevor es losgeht, noch ein paar Dinge. Sieh ab und an
nach dem blinkenden Punkt. Sollte er mehr als zehn Kilome-
ter schwanken, dann feure ein Signal ab. Ich komme dann
sofort zu dir. Steig nicht aus dem Wagen. Bitte!“, ermahnte er
mich zum hundertsten Mal. Ich nickte, wie schon so oft.
Das Licht im Wald begann sich zu verändern. Die Däm-
merung brach an. Die untergehende Sonne brachte nicht
nur die Schmerzen für Istvan mit sich, sondern ließ ihn seine
Nerven vollends verlieren. Er sprach nun mit schmerzver-
zerrter Stimme, während er sich im Wagen wand.
„Ich bin nie weit weg von dir, versprochen. Ich laufe die
Reviergrenzen ab. Sollte … Ah … ich auch nur eine einzige
331
verdächtige Spur wittern, komme ich sofort zurück zu dir.
Ah … das hier ist Wahnsinn. Ich … Wie konnte ich dir nur
erlauben, so tief in meine Welt verstrickt zu werden. Was
bin ich für ein selbstsüchtiges Monster“, waren seine letzten,
schmerzverzerrten Wortfetzen, ehe er aus dem Auto fiel. Ich
stieg sofort aus dem Wagen, befreite mich aus der Decke
und eilte zu ihm. Die Verwandlung war im vollen Gange und
ging, wie erwartet, deutlich schneller. Schon jetzt verkrampf-
ten sich seine Muskeln, was es Istvan unmöglich machte,
selbst zur Decke auf dem Lagerplatz zu kommen. Also ver-
suchte ich, ihn vom Boden zu stemmen. Er war schwer und
sein Körper wehrte sich dagegen. Das Zittern erschwerte
es mir ebenfalls. Aber mit einiger Anstrengung meinerseits
humpelten wir gemeinsam bis zur Decke, auf die er mit
einem dumpfen Geräusch aufschlug. Als er sich bewusst
wurde, dass ich ihm wieder geholfen und ihn während der
Verwandlung berührt hatte und dazu ausgestiegen war, be-
kam er fast einen hysterischen Anfall.
„Bist du wahnsinnig? Geh sofort zurück ins Auto! Na los,
Joe! Sofort!“, war sein letzter Schrei, bevor das Menschliche
in ihm verdrängt wurde von dem Wolfswesen, das durch-
brach.
Als ich mich zurück ins Auto setzte, ließ ich ihn dennoch
nicht aus den Augen. Mit aufgerissenem Mund starrte ich
auf seinen verkrümmten, schrumpfenden Körper, der im-
mer mehr und mehr nach Wolf aussah. Bis ich die Wagentür
geschlossen hatte und mein Gesicht an der Fensterscheibe
platt drückte, war schon das Fell durchgebrochen und kurze
Zeit später erhob sich der vertraute Wolf an derselben Stelle,
an der ich Istvan, den Mann, zurückgelassen hatte. Der Wolf,
mein Wolf, und ich blickten uns durch die Scheiben des
Camaro an, während der Wald in dunkles, vom Mondlicht
durchflutetes Nachtlicht getaucht wurde. Istvan zögerte. Ich
fühlte, dass auch der Wolf mich nicht verlassen wollte. Aber
am Ende blieb ihm keine Wahl. Der Drang des Wolfes befahl
ihm zu rennen und seine Erinnerung rief ihm die Aufgabe,
332
die es in dieser Nacht zu erfüllen galt, ins Gedächtnis. Bevor
er sich davonmachte, um die Grenzgebiete abzulaufen und
seine Patrouillen zu absolvieren, drehte er nochmals seinen
grauen Hals nach mir um. Die irisierend grünen Augen des
Wolfes Istvan starrten mich ein letztes Mal an. Dann rannte
er blitzschnell davon und wurde von den dürren Zweigen ver-
schluckt.
Sobald er weg war und ich allein in dem Auto zurück-
blieb, um mich der dunkle, verschlungene Wald, kroch die
Angst in meine Knochen. Ich hatte mich schließlich den
ganzen Tag angestrengt, meine Angstgefühle weitestgehend
zu verdrängen. Istvan durfte nämlich auf keinen Fall mitbe-
kommen, dass ich eine Heidenangst verspürte. Zu meinem
Vorteil fiel mir das Verdrängen von Angst schon immer eini-
germaßen leicht und seit meiner Grenzerfahrung mit Farkas
hatte sich diese Fähigkeit noch um einiges gesteigert. Heute
hatte ich sie genutzt, um damit meinen Herzschlag unter
Kontrolle zu halten. Schließlich war er immer das verräte-
rischste Indiz, wenn Istvan versuchte, hinter meine wahren
Gefühle zu kommen. Es mochte zwar sein, dass ich meinen
Herzschlag niemals im Zaum halten konnte, wenn es um
ihn und seine Wirkung auf mich ging, aber mit Angst und
Panik war das eine ganz andere Sache. Ich hoffte nur, dass
er in diesem Moment schon so weit von mir entfernt sein
würde, dass er das nervöse Pochen meines Pulses nicht hö-
ren konnte.
Denn jetzt war ich diejenige, die panisch nach dem Han-
dy von Serafina griff und den gelben Punkt fixierte. Der
Empfang auf der rechten Seite des Bildschirmes zeigte zwei
Balken an, die in unvorhersehbarem Rhythmus zu einem
einzigen wechselten. Diese Tatsache beunruhigte mich. Ich
kannte schließlich die Tücken des Empfangs auf dem Ge-
schriebenstein. Hatte man in der einen Minute noch genug
Empfang, um zu telefonieren, war in der nächsten Minute
schon die Verbindung zum Netz völlig verschwunden. Aber
noch blinkte der Punkt weiter vor sich hin und schwankte nie
333
mehr als zwei Kilometer, was noch nicht mal als Bewegung
angezeigt wurde. Ich begann mich zu fragen, wer hinter dem
Punkt steckte, ob es noch immer Woltan war, der aufpassen
musste, oder ob die Valentins bereits jemand anderen ge-
schickt hatten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das eigene
Leben und das Leben von Istvan in die Hände eines fremden
Mannes gelegt zu haben, der mir nie begegnet war.
Am schwierigsten für mich war jedoch die unerträgliche
Stille des Waldes bei Nacht, abgesehen von dem gespens-
tischen Rascheln des Windes in den Bäumen, das mir
Gänse haut verursachte. Ich verbrachte zwei lange Stunden
allein im Wagen, wobei ich im Zehn-Minuten-Rhythmus das
Handy checkte. Obwohl ich vorsorglich in der Nacht davor
ausgeschlafen hatte, überfiel mich jetzt eine lähmende Mü-
digkeit, die ich auf die angespannte Nervosität des Tages zu-
rückführte und gegen die ich ankämpfte. Zum Glück war
Istvan so fürsorglich gewesen, dass er an die Dinge gedacht
hatte, die mir entgangen waren. So entdeckte ich eine sil-
berne Thermoskanne auf dem Rücksitz, die mit köstlichem,
lauwarmem Kaffee gefüllt war. Er hatte ihn stark genug
gemacht, um jeglichen Anflug von Müdigkeit sofort zu ver-
treiben. In Gedanken musste ich wieder einmal in mich hi-
neinlächeln, als ich mir vorstellte, wie er in meiner Küche
gestanden haben musste, während ich gebadet hatte, um
den Kaffee für mich zu brühen. Schon allein dieses Wissen
ließ jeden Schluck köstlich schmecken.
Die Uhr hinter dem Lenkrad zeigte mir die Zeit an. Ich
hatte schon fünf weitere wache Stunden hinter mir. Es war
bereits zwei Uhr morgens. Ich hatte mir angewöhnt, alle volle
Stunde zusätzlich das Vorwarnhandy zu kontrollieren. Mei-
ne Hände, die noch immer in den Handschuhen steckten,
griffen erneut nach dem schwarzen Rechteck. Doch plötz-
lich durchfuhr mich ein Schock. Kein gelber Punkt auf dem
Bildschirm zu sehen. Keine Karte. Kein Menü. Der weiße
Bildschirm zeigte nur einen schwachen Balken im rechten
Eck, vollen Akku-Stand, und in der Mitte des Bildschirmes
334
prangten die Worte, die mir das Blut zu Eis gefrieren ließen:
Kein Netz vorhanden.
In meiner plötzlichen Panik stürzte ich aus dem Wagen
und vergaß völlig mein Versprechen, genau das nicht zu tun.
Ich stolperte panisch auf dem Waldboden hin und her und
streckte das Handy in alle Richtungen von meinem Körper,
doch ohne Veränderung. Das Handy zeigte immer nur die-
selben Worte an, die mir zuerst den Atem verschlugen und
dann zu heftigen, unregelmäßigen Atemzügen führten.
Wo ich auch hinlief, in welche Richtung ich das ver-
dammte Ding auch hielt, ich bekam einfach nicht genug
Empfang, um in das Navigationsmenü zurückzukommen.
Es war zum Verzweifeln. Langsam verwandelte sich mein
Schock in Jähzorn und ich begann das kleine Ding in meiner
Hand zu verfluchen.
„Wieso kannst du nicht endlich wieder funktionieren, du
dummes, überteuertes Spießerspielzeug?“, stieß ich aufge-
regt hervor.
Nach dem zwanzigsten gescheiterten Versuch wollte ich
gerade wieder zurück in den Wagen steigen, da sah ich von
Weitem zwei reflektierende Augen zwischen den Baumrin-
den hervorblitzen. Ich erstarrte sofort in meiner Bewegung.
Meine Beine drohten mir wegzubrechen. Dann erkannten
meine Augen das vertraute Grün der näher kommenden
Wolfsaugen. Istvan kam zurück. Aber die Geschwindigkeit,
in der er auf mich zukam, gefiel mir nicht. Er machte den
Eindruck, gehetzt zu werden, nicht nur auf etwas zuzulau-
fen, sondern genauso getrieben vor etwas zu flüchten. Er-
neut überschlug sich mein Puls und das Blut rauschte in
meine Ohren. Wovor auch immer er weglief, ich konnte es
nicht sehen. Er war nur noch ein paar Schritte von mir ent-
fernt, als er endlich seine Bewegungen verlangsamte. Als er
vor mir stand, bemerkte ich sofort den vorwurfsvollen Blick
in seinen Augen. Er war mir böse, weil ich aus dem Wagen
gestiegen war. Ich sah auf ihn herunter und versuchte ent-
schuldigend zu lächeln. Doch plötzlich schnappte sein Maul
335
nach mir, was mich zu Tode erschreckte, und er biss sich
in meinem Jeanssaum fest. Seine Schnauze zerrte mit aller
Kraft an mir und versuchte, mich in Richtung des Wagens zu
dirigieren. Ich verstand sofort. Ich sollte gefälligst zurück ins
Auto. Aber wieso benutzte er diese unsanfte Art, um mich
dazu zu bewegen? Ich musste nicht lange erst darüber nach-
denken. Schon als ich die Frage in meinem Kopf zu Ende
formuliert hatte, begannen meine Sinne, den Grund für sei-
ne gehetzte Panik zu erkennen. Am Hügel vor mir tauchten
weitere blitzende Augenpaare auf. Vier an der Zahl. Zwei
Wölfe kamen in einem schier unglaublichen Tempo auf Ist-
van und mich zugestürmt. Sie schienen mir derart schnell zu
sein, dass ihre Pfoten kaum noch den Waldboden berühr-
ten. Der Schock über ihre Anwesenheit ließ mich erstarren
und ich konnte nicht einmal die Autotür vor mir in die Hand
nehmen. Aber Istvan und sein Wolfskörper holten mich aus
meiner panischen Trance. Er zog noch einmal heftig an mei-
ner Jeans und knurrte mich verzweifelt an. Mit der Schnauze
stupste er in Richtung des Autos. Ich reagierte automatisch.
Von da an ging alles unfassbar schnell. Ich hechtete in den
Wagen und zog die Tür mit zitternden Händen hinter mir zu.
Ich verriegelte alle vier Türen und presste mich in den Fah-
rersitz. Als ich aus der Windschutzscheibe starrte, um nach
Istvan zu sehen, war da nichts, noch nicht einmal ein Ge-
räusch. Wo er geblieben war, konnte ich mir nicht erklären.
Ich lehnte mich weit über das Lenkrad und versuchte, tiefer
in den Wald zu sehen, als genau in der Sekunde ein weißer
Wolf auf die Motorhaube sprang und mich mit gefletschten
Zähnen anknurrte. Reflexartig schnellte ich in meinen Sitz
zurück und konnte meine aufgerissenen Augen nicht von
dem aggressiven Tier abwenden, das jede winzige Bewegung
von mir verfolgte. Dann wurde ich durch ein jaulendes Ge-
räusch von den wasserblauen Tieraugen vor mir weggerissen.
Von links hörte ich ein schmerzverzerrtes Jaulen, das nur von
ihm stammen konnte. Ich kannte seine Wolfslaute mittler-
weile gut genug, um sie nicht mit anderen zu verwechseln.
336
Das Herz blieb mir stehen. Aber ich konnte ihn nicht sehen.
Erst nachdem der weiße Wolf vor mir mich noch ein paar
Mal angeknurrt hatte, tauchte im Rückspiegel Istvans Wolfs-
gestalt auf. Ich wendete abrupt den Kopf und verriss mir da-
bei schmerzhaft den Nacken. Die Bedrohung vor mir schien
mir plötzlich unwichtig, als ich Istvan von hinten auf mich
zu humpeln sah, verfolgt von einem schwarzen Wolf, der von
dem dunklen Hintergrund beinahe völlig verschluckt wurde.
Mein Herz setzte erneute aus. Istvan war verletzt und würde
erneut angegriffen werden. Der schwarze Wolf war nur eine
Länge hinter ihm und sprang auf sein Rückgrat. Die heftige
Bewegung zog beide zu Boden und sie rangen miteinander.
Dann noch ein Jaulen, diesmal von dem pechschwarzen
Wolf. Ich stieß ein Dankgebet aus. Der schwarze Wolf wand
sich und das ermöglichte Istvan zu entkommen. Er sprang
mit einem gewaltigen Satz auf den Kofferraum und warf mir
einen kurzen Blick zu, dann hörte ich sein Gewicht auf dem
Autodach aufschlagen und sah instinktiv nach oben, was den
weißen Wolf ebenfalls veranlasste, in diese Richtung zu se-
hen. Zu spät. Istvan war bereits auf seinen Rücken gesprun-
gen und biss kräftig in seine Flanke. Der weiße Wolf jaulte
laut auf und fiel von der Motorhaube. Istvan gleich hinterher.
Jetzt konnte ich sie nicht mehr sehen, nur noch hören. Knur-
ren, scharren und ständig ein Jaulen. Mal von meinem armen
Istvan, mal von seinen brutalen Angreifern. Ich wusste nicht,
wie lange er gegen zwei Wölfe durchhalten konnte. Ich fühl-
te erst, dass ich Tränen der Angst und Panik vergoss, als ich
nichts mehr sehen konnte. Plötzlich kamen alle drei vor dem
Auto hervor, sodass ich sie wieder sehen konnte. Sie belau-
erten sich gegenseitig. Istvan stand mit den Hinterbeinen zu
mir, in einer Art Verteidigungsstellung, seine Angreifer dro-
hend vor ihm. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund grif-
fen ihn die zwei fremden Wölfe in Schwarz und Weiß nicht
an. Es war eine Angst einflößende Situation. Fast schlimmer
als der geräuschvolle Kampf von vorhin. Worauf warteten die
zwei bloß? Sie waren ihm doch überlegen und griffen den-
337
noch nicht an. Es ergab keinen Sinn, bis ich es dann sah.
Am Waldweg, auf meiner rechten Seite, tauchte noch ein
Wolf auf mit geschecktem, zotteligem Fell. Ein riesiges Tier
mit stark ausgeprägter Muskulatur. Die Angreifer hatten auf
Verstärkung gewartet. Mein Atem setzte jetzt vollends aus.
Ich stöhnte nur noch unkontrolliert, voller Angst um meinen
Istvan. Wie sollte er gegen drei Wölfe gleichzeitig kämpfen?
Die Worte hallten in meinem Kopf nach. Drei. Drei. Drei
Wölfe. Ein eisiger Blitz durchzuckte meinen ganzen Körper
und jagte Wellen der Panik durch meinen Kreislauf, als mir
klar wurde, dass Istvan mich gegen „Die Drei“ verteidigen
musste. In einer Minute würde sich der neue Wolf mit sei-
nen Brüdern vereinigen und zusammen würden sie gegen
Istvan kämpfen. Die gefährlichsten Krieger der Werwolfwelt,
Jakov, Dimitri und Vladimir waren drauf und dran, mir Istvan
wegzunehmen. Der Gedanke brachte mich fast um den Ver-
stand, mehr noch, er brachte mich fast um. Ich zitterte wie
Espenlaub. Mein verdammter Herzschlag musste Istvan da
draußen zusätzlich belasten, denn ich konnte den Schmerz
meines hämmernden Herzmuskels kaum noch ertragen.
Der neue Wolf stand nun Flanke an Flanke mit seinen
Brüdern. Sie alle fletschten die Zähne und knurrten Ist-
van bedrohlich an, der mit angespannten Flanken laut und
motorenartig zurückknurrte. Wie sollte er diesen Kampf
nur gewinnen, wie sollte er ihn überhaupt überleben? Die
Grausamkeit der Mathematik war eindeutig. Es war ein
Kampf 3 : 1. Also würde es ein unfairer, unsauberer Kampf
werden. Genau das, was man von einem Farkas erwartete.
Dieser Mistkerl schickte seine Krieger, um Istvan den Rest
zu geben. Er hatte offenbar aufgegeben, ihn für sich haben
zu wollen. Oder doch nicht? Immerhin griffen „Die Drei“
noch immer nicht an. Dann plötzlich wieder dieses Jaulen.
Der weiße Wolf war vorgeprescht, um Istvan anzugreifen.
Er hatte ihm in die Vorderpfote gebissen, genau wie damals
Farkas. Doch das heizte seine Brüder an und sie fielen jetzt
alle drei gemeinsam über Istvan her. In diesem wilden, zu-
338
ckenden Durcheinander von Wolfskörpern konnte ich nicht
genau ausmachen, wer über wen triumphierte. Ich sah nur
wogende Teile aus Fell, die geräuschvoll auf und ab zuck-
ten, und Teile von aufgerissenen Rachen, die nach Haut
und Knochen eines anderen Tierkörpers schnappten. Ihre
Kampfbewegungen waren so schnell, dass ich nichts Ge-
naues ausmachen konnte. Ich schaltete den Scheinwerfer
des Wagens ein in der Hoffnung, dass die an das Mondlicht
gewöhnten Augen von dem hellen Licht geblendet würden,
sodass Istvan vielleicht die Möglichkeit haben würde zu flie-
hen. Es half. Die Wölfe sprangen irritiert voneinander. Doch
schon nach ein paar Sekunden gingen sie erneut aufeinander
los. Die paar Sekunden hatten jedoch gereicht, um zu sehen,
dass Istvan zahlreiche Bisswunden auf seinem Körper hatte,
während „Die Drei“ nur leicht oder gar nicht verletzt waren.
Dieses Wissen ließ die Wut in mir überkochen. Ich riss das
Handschuhfach auf, nahm die Signalpistole raus, öffnete
den aufklappbaren Lauf, wie Istvan es mir gezeigt hatte, und
bugsierte die blaue Patrone in den Metalllauf. Mit einem
Schnappgeräusch brachte ich die Leuchtpistole in ihre ur-
sprüngliche Form zurück. Bevor ich die Wagentür aufstieß,
atmete ich tief ein, um das pochende Blutgeräusch in meinen
Ohren zu unterdrücken. Durch meinen heftigen Tritt öffnete
sich die Wagentür. Ich stürzte durch sie hindurch und fiel,
dank meiner vor Angst weichen Knie, auf den Waldboden.
Unter der Autotür, die mir jetzt unbeabsichtigt als Schutz
diente, sah ich die raufenden vier Werwölfe. Ich konnte Ist-
van nicht genau erkennen, aber der weiße und der schwarze
Wolf traten deutlich aus dem Kampfhaufen hervor. Mit der
Waffe versuchte ich, auf den schneeweißen Wolf zu zielen,
der am weitesten von Istvan entfernt schien, wie ich jetzt
ausmachen konnte. Der eiskalte Waldboden unter mir roch
stark nach feuchter Erde, was mich seltsamerweise schwin-
delig machte. Ich versuchte dennoch, den weißen Wolf im
Visier zu behalten, und richtete den Lauf der Pistole mit bei-
den Händen auf den hinteren Teil seiner Flanke. Ich atmete
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tief ein, hielt instinktiv die Luft an und drückte den Abzug.
Die Patrone wurde mit einem lauten Zischen abgefeuert und
traf wie durch ein Wunder ihr Ziel. Ich hatte es getan, ich
hatte den weißen Wolf angeschossen. Erschrocken fiel er zu
Boden. Die anderen schreckten ebenfalls auf und alle vier,
auch Istvan, sahen in meine Richtung, Istvan angsterfüllt,
die anderen drei rasend vor Wut. Ich hechtete so schnell ich
konnte zurück ins Auto und zog mich auf den Sitz. Im Auto
verriegelte ich sofort wieder die Tür hinter mir und ließ die
Waffe auf den Beifahrersitz fallen. Meine Aktion war nicht
umsonst. Der verletzte weiße Wolf lag noch da und wartete
wohl, bis seine Wunde einigermaßen verheilt war. Die ande-
ren beiden sprangen nun erneut in meine Richtung. Zusam-
men hechteten sie jetzt auf die Motorhaube und ignorierten
Istvan. Sie waren ganz auf mich fixiert, weshalb sie Istvan
nicht aus dem Hinterhalt kommen sahen. Er sprang hinter
ihnen hervor und biss dem gescheckten Wolf in die Kehle.
Eine Unmenge Blut spritzte hervor. Istvan musste ihm eine
Ader zerbissen haben. Er fiel vom Auto und blieb reglos lie-
gen. Nicht tot, aber für eine ganze Weile außer Gefecht. Jetzt
waren nur noch Istvan und der dunkle Wolf übergeblieben,
die sich weiter bekämpften. Sie sprangen sich an und bissen
sich gegenseitig, ohne dass einer von ihnen je die Oberhand
gewann. Als der schwarze Wolf erneut eine Attacke gegen
Istvan starten wollte, sprang plötzlich noch ein Wolf aus dem
Wald hervor. Ein schwarzer Wolf mit vielen braunen Fle-
cken, der etwas kleiner war als die anderen und mir dennoch
große Angst einjagte. Wo zum Teufel kamen jetzt auf einmal
diese ganzen Wölfe her? Ich dachte, es handelt sich um eine
vom Aussterben bedrohte Tierart.
Aber meine Sorge war unbegründet. Der neue Wolf war
kein weiterer Angreifer. Er schlug sich auf Istvans Seite und
beide griffen gemeinsam den pechschwarzen Wolf an. Der
völlig zerschundene, schwarze Wolf begann sich langsam zu-
rückzuziehen und stieß einen merkwürdigen Laut aus. Es
war ein Heulen, aber mit einem seltsam hellen Unterton,
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der die beiden anderen Wölfe weckte. Zusammen wurden
„Die Drei“ von Istvan und dem kleineren Wolf zurück in den
Wald gedrängt. Es war ein Wunder geschehen. „Die Drei“,
die furchterregenden „Drei“, begannen tatsächlich zu flie-
hen. Istvan und sein Kampfgefährte nahmen die Verfolgung
auf. Sie verschwanden hinter demselben Hügel, hinter dem
sie hervorgekommen waren.
Eine lange Weile war es ganz still, bis ich ein lautes Heu-
len von zwei Werwölfen gleichzeitig hörte, das fast nach
einem Siegesschrei klang und mir endlich erlaubte, meinen
Puls auf ein erträgliches, menschliches Niveau zu senken.
Ich schloss erleichtert die Augen und wagte es tatsächlich,
aus dem muffigen Auto auszusteigen, das angefüllt war mit
meiner verbrauchten Luft. Die kalte Morgenbrise war mir
noch nie so wundervoll vorgekommen wie an diesem anbre-
chenden Tag. Obwohl es noch ziemlich duster war, konnte
man dennoch fühlen, wie sich die Morgensonne ihren Weg
durch die Wolken bahnte und langsam Ruhe und Frieden in
den Wald einkehrten, der so lange so unheimlich still gewe-
sen war. Denn solange fünf Werwölfe hier gewandelt waren,
blieb es stumm. Jetzt am Morgen waren die Waldgeräusche
zurückgekommen und gaukelten mir Normalität vor, die ich
jetzt dringend nötig hatte nach dieser schrecklichen Nacht.
Ich ging zum Lager, mit noch immer zögerlich vorsich-
tigen Schritten, und trank eine halbe Wasserflasche in einem
einzigen Zug leer. Todesangst und Schlaflosigkeit verursach-
ten offenbar ungeheuren Durst, den ich jetzt endlich stillen
konnte. Sobald ich sicher war, dass der Morgen endgültig über
die Nacht gesiegt hatte, begann ich nach Istvan Ausschau zu
halten. Ich bugsierte meinen müden Körper zur Motorhaube
und setzte mich auf dieselbe Stelle, auf der meine Angreifer
mich in Schach gehalten hatten. Aber in meiner Müdigkeit
machte mir das nicht viel aus. Ich verschränkte meine Arme
über der Brust, um mich selbst zu stützen. Der Lack hatte ei-
niges abbekommen. Schade um das tolle Auto, war das Letz-
te, was ich denken konnte, ehe meine Augenlider ungewollt
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zufielen. Erst als ich das Rascheln des Waldbodens in weiter
Ferne hörte, fuhr ich hoch und öffnete die schweren Augen
wieder. Auf dem Hügel vor mir kamen Istvan und Serafina,
nackt, Seite an Seite, auf mich zu. Automatisch wandte ich
den Blick von ihnen ab. Es war mir unangenehm, Serafina
nackt anzusehen. Aber ihr schien das nichts auszumachen.
Sie versuchte auch nicht, ihre Nacktheit zu verdecken, so
wie Istvan das meistens tat. Sie war eben als Werwolf ge-
boren. Das gehörte für sie zu ihrer Natur. Mit gesenktem
Kopf betrachtete ich die beiden, während sie immer näher
auf mich zukamen. Es fiel mir sofort auf, auch wenn ich ver-
suchte, den Gedanken weit von mir zu schieben. Aber es
war zu offensichtlich. Istvan und Serafina so nebeneinander
gehen zu sehen, beide nackt, beide von derselben Art, beide
fähig, zusammen zu kämpfen, machte mir bewusst, dass es
so für Istvan besser, natürlicher sein würde. Wäre er mit je-
mandem wie Serafina zusammen oder mit ihr selbst, hätte er
einen passenden Gefährten. Jemanden, der ihm nicht stän-
dig das Leben komplizierter machte und dafür sorgte, dass
er in unfaire Kämpfe geriet. Aber ich war nun einmal ein
verliebter Mensch, und auch wenn ich wusste, dass es viel-
leicht gegen die Natur war und verdammt unvernünftig, war
ich um keinen Preis der Welt bereit, Istvan aufzugeben oder
an jemanden anderen zu verlieren. Ich würde auf meine Art
kämpfen. So, wie ich es schon heute Nacht getan hatte. Ich
würde mir meinen Platz in seiner Welt erkämpfen, so wie er
sich seinen Platz in der Welt der Menschen erstritten hatte.
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