17. Die Oper erfahren
Istvan hatte zwar eine weitere Woche gebraucht, um sich
von Serafinas System einigermaßen überzeugen zu lassen.
Es brauchte allerdings noch einige Überredungskunst mei-
nerseits, damit er mir meine Freiheiten wieder vollends zu-
rückgab. Doch vier Tage nach Serafinas Abschied konnte
ich endlich wieder allein meinen Aufträgen nachgehen. Ich
durfte zwar abends noch nicht alleine sein, aber dagegen
hatte ich ja nichts einzuwenden. Es war ganz in meinem
Sinne. Nun war es mir wieder erlaubt, so lange alleine zu
bleiben, dass ich Gelegenheit hatte, Istvan zu vermissen.
Das gefiel mir sehr. Ich war überzeugt, dass gerade mir die
Dauerüberwachung so schwerfiel, weil ich gewohnt war,
immer für mich selbst zu sorgen. Ich war eigentlich im-
mer sehr unabhängig gewesen und passte auf mich selbst
auf. Sich nun völlig auf andere verlassen zu müssen, war
schwer und führte dazu, dass ich mich machtlos fühlte. Ich
wünschte verzweifelt, selbst auch einen Beitrag zu unserem
Schutz leisten zu können, wusste aber, dass dies ein reiner
Wunschtraum war. Was könnte ich schon tun? Ich konn-
te nur versuchen, geduldig zu sein. Das allein war Heraus-
forderung genug für mich. Nach der ersten Woche schien
Istvan jedenfalls einigermaßen zufrieden mit dem Warnsys-
tem. Hatte er in den ersten Tagen noch stündlich auf den
blinkenden Punkt der Karte gestarrt, checkte er ihn jetzt
nur noch alle vier Stunden. Im Grunde war alles so lange
in Ordnung, im grünen Bereich, solange keine Notfallnach-
richt von einem der Valentin-Überwacher kam. An dieser
Front gab es im Osten nichts Neues. Wofür ich sehr dank-
bar war. Es hatte sich noch etwas verändert. Nach meiner
Entführung und der Zeit der strengen Überwachung steuer-
289
ten wir wieder auf eine Neumondphase zu, was mich sehr
zuversichtlich machte, Istvan für ein paar Stunden von sei-
nen Bodyguardpflichten ablenken zu können. Ich plante, in
der kommenden Nacht das Thema vorsichtig anzusprechen.
Bisher hatte Istvan weder die Geduld noch die Ruhe für die-
se Art von Gesprächen und ich wollte ihn nicht auch noch
mit meinen animalischen Bedürfnissen belasten. Doch im-
merhin war unsere Neumondabmachung noch immer gültig
und es war schwer, jede Nacht im selben Bett mit Istvan
zu schlafen und immer die Finger und Lippen im Zaum
zu halten. Es war an der Zeit, etwas forscher vorzugehen.
Es gab da noch einen anderen Grund, eine Argumentation
dafür, die ich vorbringen konnte. Mein fünfundzwanzigster
Geburtstag stand vor der Tür. Istvan wusste nichts davon,
aber immerhin hieß es, man könne einem Geburtstagskind
keinen Wunsch abschlagen. Ich hoffte, das für mich nutzen
zu können.
Es gab da nur ein kleines Problem. Mein Bruder, Paula
und Carla hatten mich bereits zum Geburtstagsessen am
Samstag eingeladen und es gab keine Möglichkeit, mich da-
vor zu drücken. Ich musste also meinen Plan um einen Tag
verschieben. Es gefiel mir gar nicht, dass ich Istvan nicht
dabeihaben konnte, aber so standen die Dinge nun einmal
und es sah nicht so aus, als ob sich diese Situation in naher
Zukunft ändern würde. Ich hatte dafür meine Nachgeburts-
tags-Privat-Party. Das tröstete mich in meiner Enttäuschung.
Ich müsste ihn nur ein paar Stunden von dem Bildschirm
des Handys wegkriegen, das würde schon helfen. Doch vor-
erst galt es, den Samstag hinter mich zu bringen. Ich konn-
te Carla zum Glück davon abhalten, eine große Party zu
schmeißen, wie ich es zu ihrem fünfundzwanzigsten getan
hatte. Doch ich war eher der Typ für eine kleine Runde von
Freunden mit einem guten Essen. Carla respektierte mei-
nen Wunsch und reservierte einen Tisch für uns fünf bei
unserem Lieblings-Chinesen. Das war mir recht und vieles
sprach dafür, dass es ein ruhiger, angenehmer Abend unter
290
Freunden werden würde. Und sobald ich mit meiner Familie
und meiner besten Freundin gefeiert hätte, könnte ich mich
auf mein nächstes Projekt konzentrieren.
Ich hatte bis zum letzten möglichen Augenblick gewar-
tet. Erst am Samstagvormittag machte ich mich auf zur Bib-
liothek. Ich wusste, Istvan würde dort sein und den Buch-
klub des Frauenvereins betreuen. Er öffnete extra für sie am
Wochenende. Die Frauen brachten Kuchen mit und Istvan
spendierte den Kaffee dazu. Die Damen trafen sich alle
zwei Wochen, um ein Buch zu besprechen. Die Anwesen-
heit der acht oder zehn Frauen würde mir dabei helfen, Ist-
vans Panikreaktion wegen des geplanten Geburtstagsessens
zu unterbinden. Ich hatte mich noch nie so darauf gefreut,
eine Gruppe von Hausfrauen um mich zu wissen. Ich ging
schnell den Flur entlang und stieß im Deutschen Saal auf
die neun etwas älteren Damen. So gut wie alle drehten sich
sofort nach mir um. Ich erntete irritierte Blicke, die meiner
unpassenden Anwesenheit galten. Ich ließ mich davon nicht
einschüchtern.
„Guten Tag, die Damen. Ich will nicht stören. Könnten
Sie mir sagen, wo ich Istvan finde? Ich bräuchte dringend
seinen fachmännischen Rat“, sagte ich und schüttelte dabei
ein dickes Buch, das ich vorsorglich zur Tarnung mitgebracht
hatte.
Die älteste von ihnen, eine kleine, zarte Frau mit kurzen,
dauergewellten Haaren, antwortete mir prompt.
„Der Bibliothekar ist hinten im Kroatischen Saal, in der
Küche.“
Ich dankte ihnen und spürte weiterhin ein Unbehagen
über meine Anwesenheit im Raum. Im Kroatischen Saal ging
ich zum letzten Bücherregal und öffnete die Tür dahinter.
Istvan begrüßte mich schon zuvor. Er stand in der winzigen
Einbauküche und kochte zwei Kannen Kaffee gleichzeitig.
„Hi! Gute Cover-Story, die könnten wir noch ausbauen!“,
scherzte er.
Er war offensichtlich gut gelaunt, was mir entgegenkam.
291
„Selber Hi“, scherzte ich zurück und nahm mir ein Stück
von dem köstlichen Kuchen auf den Servierplatten.
„Eigentlich wollten wir uns erst am Nachmittag sehen.
Gibt es etwas Wichtiges?“, fragte er mich und platzierte die
Milchkannen auf die Tabletts.
„Na gut, es ist so. Ich habe heute Geburtstag und mein
Bruder und Carla haben mich zu einem Essen in Wart ein-
geladen, heute Abend. So, jetzt ist es raus!“
„Ach so, ich verstehe. Du willst da hin und ich kann nicht
da hin. Kann es sein, dass du denkst, ich würde versuchen,
dich davon abzuhalten?“, fragte er erstaunt und schien etwas
beleidigt über meine Annahme.
„Na ja, immerhin warst du nicht gerade verhandlungsbe-
reit, was die nächtlichen Freigänge anging. Aber ich muss da
hin und mal ehrlich, es sind ständig Leute um mich herum“,
merkte ich an, um die Unbedenklichkeit des Essens hervor-
zuheben.
„Es ist dein fünfundzwanzigster Geburtstag. Es ist klar,
dass du mit deinen Freunden feiern willst. Ich schlage dir
einen Kompromiss vor. Ich bin ein braver Junge und mache
keinen Aufstand wegen heute Nacht, wenn du dafür den
Sonntag für mich freihältst. Schließlich hab ich auch einen
Anspruch auf einen Tag mit dem Geburtstagskind, oder?“,
bot er an und lächelte mich breit an. Seine Augen funkelten
erwartungsvoll.
Ich umarmte ihn linkisch.
„Da fragst du noch? Natürlich bin ich einverstanden. Der
Sonntag ist nur für Sie reserviert, Mister“, sagte ich schmun-
zelnd und vergrub mein Gesicht an seiner Schulter.
Er presste mich plötzlich von sich und richtete sein ver-
rutschtes Hemd. Zuerst verstand ich nicht, doch dann hörte
ich es ebenfalls. Zwei der Frauen kamen in unsere Richtung
und er war nur auf Diskretion bedacht. Als sie die Schiebe-
tür aufzogen, war die Szene schon völlig unverfänglich. Die
beiden waren gekommen, um die Getränke und den Kuchen
zu holen. Ich half Istvan noch, die Tabletts nach draußen zu
292
bringen, und machte mich schnell davon, ehe die Damen
doch noch Lunte rochen.
Der Samstag kam schnell und ich brauchte nicht allzu lange,
um mich auf das Geburtstagsessen vorzubereiten. Ich trug
ein schlichtes, schwarzes Jersey-Kleid, eines der wenigen
Kleider, die ich überhaupt besaß. Ich traf mich mit Paula
und Viktor in ihrem Haus. Von da aus fuhren wir weiter mit
Viktors Wagen nach Wart. Um Punkt acht kamen wir beim
Chinesen an und ich sah, dass Carla und Christian schon
auf uns warteten. Carla hatte dafür gesorgt, dass unser Tisch
etwas geschmückt war. Rote Rosen steckten in roten Glas-
vasen und der Tisch war festlich gedeckt. In der Mitte des
langen Tisches wartete ein Käsekuchen mit roten Kerzen da-
rauf, verspeist zu werden. Ich umarmte Carla zur Begrüßung
und sie und Christian wünschten mir alles Gute. Nachdem
wir uns gesetzt hatten, musste ich einige Anekdoten über
mich ergehen lassen, wie eigentlich jedes Mal, wenn wir in
dieser Runde zusammensaßen. Ich lachte über mich, über
die peinlichen Geschichten aus der Kindheit, die mein Bru-
der zum Besten gab, über die Dummheiten, die mir in der
Schul- und Studienzeit passiert waren und die Carla aus-
schmückte. Es war alles in allem ein gelungener Abend.
Christian und Carla hatten mir das schönste Geschenk ge-
macht. Sie schenkten mir eine DVD-Kollektion mit Holly-
wood-Klassikern, die Christian sorgfältig eingepackt hatte.
Der erste Gedanke, der mir beim Auspacken kam, war: Ich
muss diese Filme unbedingt mit Istvan sehen, der sie auch zu
würdigen weiß.
Christian sah zwar ganz anders aus als mein Bruder, er
hatte nämlich feine, zarte Gesichtszüge und braunes, län-
geres Haar, ein echter Frauentyp, aber auch er hatte dieses
angenehme Wesen, bei dem man sich immer gut aufgehoben
fühlt und bei dem es leichtfällt, lustig und locker zu sein. Ich
war froh, dass Carla mit ihm zusammen war. Er tat ihr sehr
gut, denn sie war zwar ein sehr humorvoller Mensch, neigte
293
jedoch manchmal dazu, die Dinge zu ernst zu nehmen und
sich zu sehr zu sorgen. Von daher passten sie gut zusammen.
Während des Essens hatte ich mehrmals diese vertrauten
Blicke zwischen ihnen wahrgenommen, die ich schon von
Paula und Viktor kannte. Ich fragte mich, ob Istvan und ich
uns je so würden ansehen können, ganz offen. Es machte
mich etwas traurig. Normalerweise machte es mir nichts
aus, zwischen Paaren zu sitzen, nicht mal als Single. Doch
jetzt war ich mir überdeutlich bewusst, am Ende einer Tafel
allein zu sein, während sich links und rechts von mir Liebes-
paare befanden. Ich bemerkte, dass Christians charmante
Art und sein gutes Aussehen sich gut mit Carlas natürlicher
Schönheit und ihrem humorvollen Wesen verbanden und
dass Viktors neckende Liebenswürdigkeit sehr gut zu Paulas
Engelsgeduld passte. Ich fühlte mich plötzlich fehl am Platz
und wünschte mir, wieder zu Hause zu sein. Bei dem Gedan-
ken fiel mir auf, dass ich bei dem Wort „zu Hause“ nicht an
mein eigenes Haus gedacht hatte, sondern an Istvans. Das
erschreckte mich. Ich begann, mich in meinem eigenen Le-
ben fremd zu fühlen, während mir Istvans merkwürdige Welt
immer vertrauter wurde. War mein Lachen zuvor noch echt
und gelöst gewesen, wurde es nun leicht gezwungen und auf-
gesetzt. Es war mittlerweile Mitternacht und ich war froh zu
wissen, dass es bereits offiziell Sonntag war. Es würde nicht
lange dauern, gerade mal bis Mittag, bis ich Istvan wieder-
sehen und erfahren würde, was er für mich geplant hatte.
Am Sonntag kam ich also zum Mittagessen zu Istvan. Es war
etwas schwierig, auf dem Weg zu seinem Haus nicht gese-
hen zu werden. St. Hodas hatte unter der Woche den Vorteil,
so gut wie menschenleer zu sein. Die meisten Einwohner
waren dann bei der Arbeit und man konnte sich relativ frei
bewegen, ohne gesehen zu werden. Die Wochenenden wa-
ren schwieriger. Dennoch schaffte ich es heimlich zu ihm
und kam wie meistens durch die Hintertür. Ein umwerfen-
der Duft, nach rauchigem Fleisch und würzigem Gemüse,
294
empfing mich. Also ging ich zur Küche, wo ich meinen
Chefkoch auch fand. Istvan wendete gerade das Rindfleisch.
Zwei riesige, saftige Steaks brutzelten auf dem Elektro-Grill,
daneben Tomatenscheiben, Frühlingszwiebeln und Auber-
ginenscheiben.
„Hallo Geburtstagskind, du kommst etwas zu früh. Aber
in fünf Minuten ist das Fleisch perfekt“, begrüßte Istvan
mich.
Ich atmete den herrlichen Duft des Essens ein und nä-
herte mich ihm. Ich wollte ihn zur Begrüßung küssen. Dazu
legte ich meine Hand auf seine Schulter und wartete nicht
mal, bis er sich zu mir umdrehen konnte. Er hatte mir seinen
Körper gerade mal halb zugewandt, da umfasste ich schon
seinen Oberkörper und drängte mich dicht an ihn. Mit
einem leichten Druck in seinen Nacken zog ich sein Ge-
sicht zu mir herab. Meine Lippen presste ich fest auf seine
und begann meinen Mund leicht zu öffnen. Ich fühlte die
Bewegung seiner heißen Unterlippe auf meiner Oberlippe
und bekam wieder dieses Herzrasen, das auch ihn forscher
werden ließ. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und er-
widerte meinen Begrüßungskuss mehrmals. Und hätte das
Fleisch nicht plötzlich begonnen zu zischen, hätten wir uns
noch viel länger geküsst.
„Jetzt wären beinahe deine Geburtstagssteaks verbrannt.
Aber das wäre es wert gewesen“, neckte er mich und fuhr mit
seiner Nase zart an meiner entlang.
„Ich halte mich nur an mein Versprechen, die Qualität
meiner Begrüßungen zu verbessern, du erinnerst dich?“, fra-
ge ich ihn im Spaß.
„Ich erinnere mich an alles, was uns angeht, Joe. Beson-
ders wenn es mir wieder mal gelungen ist, dich dranzukrie-
gen“, scherzte er mit aufgerissenen Augen und lachte ausge-
lassen. Wer zur Hölle war dieser Mann und was hatte er mit
meinem selbstquälerischen Istvan angestellt?
Irgendetwas war im Busch, ich hatte nur keine Ahnung,
was es sein könnte. Zuerst war er so schnell bereit gewe-
295
sen, mich nachts ohne Schutz ausgehen zu lassen, und jetzt
scherzte er herum. Er prüfte auch nicht ständig das Handy,
was mich erleichterte. Was immer er für diesen Sonntag ge-
plant hatte, es versetzte ihn in Hochstimmung. Das sollte
mir helfen, wenn ich später das fleischliche Thema auf den
Tisch packen würde und damit waren bestimmt nicht die
Steaks gemeint.
Er servierte das Essen auf dem gedeckten Tisch und al-
les schmeckte, wie erwartet, köstlich. Das Fleisch war, trotz
der kleinen Unaufmerksamkeit, zart und saftig. Zum Nach-
tisch brachte er eine halbe Pfirsichtorte. Als ich sah, welche
Frucht auf dem Teigboden lag, musste ich sofort grinsen, fast
so breit wie er. Ich erkannte die Torte sofort.
„Naschkatze, habe ich recht?“, fragte ich und zeigte mit
der Gabel auf die Torte.
„Ja genau. Gute Bäckerei, blöder Name!“, merkte er an
und schüttelte ungläubig den Kopf, fast genauso, wie Carla
und ich es immer taten.
„Jetzt, da wir das Essen hinter uns haben, sagst du mir
endlich, wieso du heute so blendende Laune hast, oder muss
ich raten?“, wollte ich endlich wissen.
„Ein Vierteljahrhundert Joe zu feiern, ist Grund genug,
um sich zu freuen. Aber ehrlich gesagt hat meine gute Stim-
mung mehr mit deinem Geschenk zu tun, von dem ich es
kaum erwarten kann, es dir endlich zu geben“, sagte er und
grinste mich verschwörerisch über den Tisch hinweg an.
„Es ist schon etwas schwer zu glauben, dass ich mein Vier-
teljahrhundert feiere, während du dein Dreivierteltes schon
lange hinter dir hast. Der Gedanke ist schon etwas schräg.
Aber jetzt hast du mich verdammt neugierig gemacht. Was
schenkst du mir denn?“, fragte ich aufgeregt und hoffte, sein
Geschenk würde sich mit meinem Plan überschneiden.
„Ich muss dir gestehen, dass ich meinen Geburtstag gar
nicht feiere. Ich habe mein Geburtsdatum so oft geändert,
dass ich mich kaum noch an das echte erinnere. Es macht
Spaß, nach so vielen Jahren endlich mal jemandem ein Ge-
296
schenk machen zu können. Das war eine sehr interessante
Erfahrung. Ich glaube, daran könnte ich mich gewöhnen“,
meinte er und setzte sich nun zu mir.
„Vielleicht solltest du auch anfangen, deinen Geburtstag
zu feiern. Immerhin hast du jetzt schon mal einen Stammgast.
Mich!“, scherzte ich und setzte mich auf seinen Schoß.
„Aber jetzt zu meiner Überraschung. Bitte lass mich nicht
raten, darin bin ich ganz mies!“, flehte ich ihn an und legte
meine Wange an seine.
„Na gut, dann kein Ratespiel. Ich hoffe, es gefällt dir auch.
Zuerst wollte ich dir eine Erstausgabe schenken, doch das war
mir nicht ausgefallen genug für einen 25er. Danach hatte ich
genau die richtige Eingebung. Also hör gut zu! Heute Abend
fahren wir nach Wien in die Staatsoper zu einer Aufführung
von La Traviata. Überraschung gelungen?“, fragte er gebannt.
„Definitiv. Ich kann es gar nicht fassen. Moment mal, ich
habe dir doch erst gestern Mittag von meinem Geburtstag
erzählt, wie kannst du jetzt schon Karten haben? Und das
am Wochenende!“, bohrte ich ungläubig nach und starrte ihn
fassungslos an. Seine grünen Augen funkelten belustigt.
„Um ganz ehrlich zu sein, habe ich die Karten schon vor
einem Monat vorbestellt“, gestand er und tippte mir dabei
auf die Nasenspitze.
„Woher wusstest du mein Geburtsdatum?“
„Ah, das bleibt mein kleines Geheimnis. Ich habe da mei-
ne eigenen Mittel“, deutete er, noch immer amüsiert, an. Ich
bohrte nicht weiter und beschloss, diesen Abend und die
Opernstimmung für meine Zwecke einzusetzen.
„Es gibt da nur ein kleines Problem. Ob du es glaubst
oder nicht. Ich war noch nie in der Oper und habe auch
nichts Passendes anzuziehen“, gestand ich ihm und es war
mir peinlich es zuzugeben.
„Und so was nennt sich nun Musikjournalistin!“, feixte er
und setzte eine verärgerte Mine auf.
„Hey, du weißt doch genau, dass die Oper nicht mein
Spezialgebiet ist. Außerdem hatte ich immer Bedenken we-
297
gen der lächerlichen Kostüme. Aber mein Kleidungsproblem
ist ein echtes Hindernis!“, ließ ich ihn wissen und bekam
ungewollt einen verlegenen Ausdruck in der Stimme.
„Damit kommen wir zum zweiten Teil meines Geschenks“,
deutete er an und verließ kurz den Raum. Istvan kam mit
einem großen, weißen Karton zurück. In der Mitte stand in
schwarzen Großbuchstaben das Wort „Burberry“. Ich wuss-
te, dass dieser Designer die bekannten Trenchcoats herstell-
te, hatte aber keine Ahnung, wieso er mir so einen teuren
Mantel schenken sollte. Er bedeutete mir, den Karton zu
öffnen, was ich tat. Unter dem dünnen Papier fand ich einen
schwarzen Bleistiftrock. Der Stoff fühlte sich weich und an-
schmiegsam an, es musste sehr feine Wolle eingearbeitet
sein. Daneben lag ein enges Oberteil aus schwarzer Seide in
mehreren Lagen. Es hatte lange Ärmel und war definitiv zu
chic für jemanden wie mich. Ich traute mich gar nicht erst,
nach dem Preis zu fragen oder woher er exakt meine Größe
kannte, denn als ich es anprobierte, saß es wie eine zweite
Haut. Schon beim ersten Blick in den Spiegel erkannte ich
mich fast nicht wieder. Er klopfte und wollte sehen, wie es
mir stand. Ich musste mich einmal rumdrehen und kam mir
außerordentlich dämlich dabei vor. Ich blickte beschämt zu
Boden.
„Ich wusste es. Ich habe ein gutes Augenmaß. Es steht
dir hervorragend. Du musst dich nicht verstecken“, wies er
mich an und hob mein Gesicht, indem er seine Finger unter
mein Kinn schob.
„Es ist das erste Mal, dass ich mit dir am Arm in der Öf-
fentlichkeit sein darf. Das Letzte, was ich will, ist, dass du
dabei die ganze Zeit beschämt zu Boden siehst. Hast du gar
nicht nötig. In diesem Punkt kannst du dich ganz auf mich
verlassen, mein Pfirsich“, stellte er klar und küsste mich auf
die Wange. Wir fuhren noch schnell bei mir vorbei, damit
ich mir ein Paar passende Schuhe anziehen und den schwar-
zen Mantel holen konnte. Meine billigen Schuhe, die ich
ansonsten ohne Bedenken trug, wirkten jetzt ziemlich un-
298
passend. Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen.
Ich ging schnell noch in mein Zimmer und bürstete meine
Haare. Irgendwo fand ich noch einen schwarzen Haarreif
aus Satin, der mir wenigsten den Anschein einer Frisur in
den ansonsten naturgewellten Haaren verlieh. Ich legte noch
schnell einen rosa Lippenstift auf, um wenigstens ein biss-
chen so auszusehen, als würde ich mir bei meinem Äußeren
Mühe geben. Als ich wieder nach unten kam, saß er in der
Küche und ich bemerkte, dass er gerade dabei war, das Vor-
warn-Handy zu checken. Ich tat so, als würde ich es nicht
sehen, um die Stimmung des heutigen Abends nicht zu zer-
stören.
„Fertig!“, rief ich in seine Richtung und zog mir den Man-
tel an.
„Wenn ich mir dich so ansehe, dann bin ich mir sicher,
dass Violetta heute Abend bestimmt nicht die aufregendste
Frau in der Oper sein wird!“
Auch wenn sein Kompliment reichlich überzogen war,
hörte ich an seiner Stimme, dass es ehrlich gemeint war, und
wurde ganz verlegen.
„Danke“, wisperte ich. Er trug einen schwarzen Anzug
und eine blau-schwarze Krawatte. Ich hatte ihn noch nie so
gesehen. Normalerweise machte ich mir nichts aus diesem
Aufzug bei Männern. Aber Istvan wirkte im feinen Zwirn ge-
nauso umwerfend wie in seiner Jeans. Das hatte bei ihm mit
dieser natürlichen Anmut zu tun, die er nie verbergen konn-
te. Man merkte ihm an, dass er noch eine Zeit kannte, in
der es völlig normal war, ständig so gekleidet herumzulaufen.
Etwas, das ich mir kaum vorstellen konnte. Er brachte mich
zum Auto und führte mich dabei wieder mit seiner Hand
in meinem Kreuz. Irgendwie konnte er sich den Gentlemen
nie ganz verkneifen. Obwohl er doch nie Frauen ausgeführt
hatte, wie er mir immer wieder versicherte.
Wir fuhren über das Günser Gebirge nach Wien. Auf
der Autobahn raste er dann mit schnellem Tempo über die
Fahrbahn. Um diese Zeit fuhren nicht besonders viele Autos
299
stadteinwärts und so lagen wir gut in der Zeit. Die Oper soll-
te um halb acht beginnen und wir würden schon um sieben
ankommen. Auf der halben Strecke der Autobahn klingelte
plötzlich mein Handy. Ich kannte die Nummer. Es war mei-
ne Mutter. Ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb sie heu-
te anrief. Sie hatte mir schon gestern gratuliert und eigent-
lich vermied sie unnötige Anrufe. Der Auslandstarif war zu
teuer dafür. Ich nahm ab und war mir in derselben Sekunde
bewusst, dass es das erste Mal war, dass ich mit einem mei-
ner Eltern in seiner Anwesenheit sprach. Es wurde mir etwas
mulmig zumute.
„Hallo. Wie geht es euch?“, fragte ich schnell, als ich ab-
hob.
„Ja, es geht uns gut. Was machst du gerade?“, wollte mei-
ne Mutter wissen. Sie fragte am Telefon immer nach dem
Standort oder der Tätigkeit, die man gerade ausführte. Eine
Eigenheit von ihr.
„Ich bin gerade auf dem Weg nach Wien. Eine alte Freun-
din aus dem Studium hat mich zu meinem Geburtstag in die
Oper eingeladen“, log ich und sagte dennoch halbwegs die
Wahrheit. Das war meine Art, mit dem Lügen klarzukom-
men. Istvan reagierte etwas irritiert, als er meine Flunkerei
mit verfolgte.
„Ach so, dann will ich dich nicht beim Autofahren stören.
Ich wollte dir nur kurz Bescheid geben, dass alles Weitere
geregelt ist. Wir können also länger bleiben“, sagte sie mir
und ich konnte im Hintergrund den Straßenlärm von Kairo
hören.
„Das freut mich. Ich wünsche euch noch einen schönen
Abend. Grüßt die Pyramiden von mir. Ich rufe nächste Wo-
che wieder an, wie abgemacht. Ciao.“
„Pass gut auf dich auf, du fehlst uns!“, schniefte meine
Mutter und ich hörte, dass es ihr schon schwer fiel, meine
Stimme länger zu hören.
„Ihr mir auch. Ciao!“, antwortete ich schnell und legte
auf, ehe meine Mutter anfangen konnte zu weinen.
300
„Was ist geregelt?“, fragte Istvan wie aus der Pistole ge-
schossen.
„Könntest du es bitte lassen, meine Privatgespräche zu
belauschen, das ist ganz schön irritierend.“
„Ich kann das nicht abstellen, tut mir leid. Aber was klappt
nun, ich bin neugierig?“, bohrte er nochmals weiter.
„Meine Eltern kommen nun doch nicht wie geplant im
August zurück. Sie hängen noch einen Monat in Italien dran,
die Idee meines Vaters, und werden erst Ende September
nach Hause kommen“, erklärte ich ihm.
„Oh. Italien. Guter Mann. Scheint offenbar Geschmack
zu haben“, merkte er an und ich wusste nicht, ob ich tatsäch-
lich mit Istvan über die Geschmäcker meines Vaters reden
wollte, und wechselte das Thema.
„Also, noch ein paar Kilometer und wir sind da. Ich hoffe
doch, es ist eine klassische Inszenierung und nicht eine die-
ser postmodernen Produktionen, in der Violetta als Crack-
Prostituierte zurechtgemacht ist“, scherzte ich, um das The-
ma so weit wie möglich von meiner Familie abzubringen.
„Haha! Nein, bestimmt nicht. Ich finde solche Insze-
nierungen auch grässlich, auch wenn ich es nicht ganz so
drastisch formuliert hätte“, meinte er und konnte sich vor
Schmunzeln kaum auf den Verkehr konzentrieren.
Mein Humor war eine Waffe, mit der ich gut umgehen
konnte. Ich wünschte nur, das würde auch für meine Ver-
führungskünste gelten.
Ich war seit fast drei Monaten nicht mehr in Wien gewe-
sen, seit der letzten Redaktionssitzung des Online-Musik-
magazins, die nur alle drei Monate stattfand. Ich hatte ganz
vergessen, wie umwerfend das Operngebäude war, auch
wenn ich die Außenfassade nicht halb so erstaunlich fand
wie den opulenten Marmorüberschwang des Foyers, der sich
nun über, unter und neben mir präsentierte. Ich schämte
mich noch immer eine wenig dafür, dass ich es in vier Jahren
Studium nicht einmal geschafft hatte, hierher zu kommen.
301
Ich war zwar in einigen Theatern gewesen, aber niemals in
der Staatsoper. Es war viertel acht und die meisten anderen
Opernbesucher waren ebenfalls schon eingetroffen. Istvan
zeigte mir den Weg zur Garderobe, so sicher, als wäre er hier
angestellt. Er half mir dabei, meinen Mantel auszuziehen
und legte seinen dazu. Wir gingen die riesige Treppe hoch
und bekamen von einer jungen, hübschen Frau zwei Gläser
Sekt gereicht. Ich nahm einen Schluck und fühlte sofort die
Wirkung des Prickelwassers. Istvan hatte beinahe die ganze
Zeit seinen Arm um meine Hüfte gelegt und zusammen mit
dem Sekt wirkte seine Wärme jetzt umso stärker. Mir stieg
die Hitze auf und plötzlich fühlte ich mich auf den hohen Ha-
cken sehr wackelig, aber ich hatte ja Istvan, der mir Halt gab.
Als wir das Glas geleert hatten, begann man schon mit dem
ersten Läuten und wir gingen zu unserer Loge. Ich saß noch
niemals in so etwas. Als Studentin musste ich mich oft genug
mit einem Stehplatz oder einem der billigsten Sitzplätze in
der Menge begnügen. Jetzt waren wir auf den roten Samtsit-
zen ganz unter uns. Ich setzte mich und Istvan schloss hinter
mir die Tür. Der dritte Sitz in unserer Loge blieb leer. Ich
war mir sicher, er hatte die Karte dafür ebenfalls bezahlt. Ich
las aufmerksam das Programm, da ich kein Wort Italienisch
konnte und trotzdem alles mitbekommen wollte. Aber das
hätte ich mir sparen können, denn Istvan schaffte es, mir in
den zehn Minuten, eher der Vorhang hochging, die gesamte
Geschichte jeden Aktes zu erzählen. Inklusive einiger Zitate
aus den Arien, die er Wort für Wort ins Deutsche übersetz-
te. Sein Timing war so perfekt, dass in dem Moment, als
die Oper begann, seine Ausführungen endeten. Aus irgend-
einem Grund war ich plötzlich ganz nervös und spielte hek-
tisch mit den Seiten des Programmheftes. Istvan legte seine
Hand beruhigend auf meine Finger, was die Bewegung zwar
stoppte, mein Innerstes dafür aber aufwühlte.
Eine schöne, leicht mollige Russin mit schwarzen Haa-
ren sang die Violetta und, soweit ich das beurteilen konnte,
schrie sie sich dabei die Seele aus dem Leib. Ich starrte ge-
302
bannt auf ihr pompöses Kleid und ihre ausladenden Gesten,
und obwohl mir diese Gestik sonst immer übertrieben vor-
kam, war ich schon nach den ersten Minuten völlig in der
Musik und in der Geschichte gefangen. In dem Moment, als
Alfredo auf der Bühne zum ersten Mal Violetta begegnete,
bemerkte ich, wie Istvan mich von der Seite anstarrte und
dabei süffisant lächelte. Ich blickte kurz zurück und erwider-
te sein Lächeln. Eigentlich betrachtete ich mich als jemand,
der nicht sehr nahe am Wasser gebaut war, aber in den dra-
matischsten Szenen, als Violetta ihren Geliebten glauben
lässt, sie wolle ihn nicht mehr, da kämpfte ich gewaltig gegen
den Gefühlsausbruch in meinem Inneren an, und als nach
der Pause die Geschichte sich zuspitzte, hielt ich mich kaum
noch auf meinem Sitz. Diese übergroße Musik und die Tra-
gik der Geschichte hatten eine derartige Wirkung auf mich,
dass ich fast alles um mich vergaß und auf dem Geländer vor
mir lehnte. Nur Istvans grünes Starren war das Einzige, was
ich nicht ausblenden konnte, was ich niemals ausblenden
konnte. Als die Musik zum letzten Mal anschwoll, um Violet-
tas Tod und die Wiedervereinigung mit Alfredo zu unterma-
len, presste ich bereits atemlos meine Faust gegen meinen
Mund. So unfassbar traf mich das Ende der beiden Opern-
figuren. Als sich die Sänger zum Applaus auf die Bühne ge-
sellten, hatte ich mich noch immer nicht gefangen. Istvan
lächelte aus irgendeinem Grund ständig in sich hinein. Er
schmunzelte hinter vorgehaltener Hand. Ich verstand seine
Reaktion nicht. Schließlich gab es gerade eben ein trauriges
Ende zu bestaunen.
„Was ist? Wieso lächelst du so verstohlen?“, frage ich ihn
völlig perplex.
„Das ist schwer zu erklären. Du müsstest wie ich hören
können, wie dein Herzrhythmus sich ständig der Musik und
der Handlung anpasst. Es ist erstaunlich. Ich habe in mei-
nen ganzen neunzig Jahren noch nie jemanden erlebt, der
sich so in eine Geschichte hineinsteigern und mit den Cha-
rakteren fühlen kann. Es ist faszinierend geradezu. Als wärst
303
du ein zusätzliches Instrument im Orchester“, versuchte er
mir seine Konzentration auf mich zu erklären. Dabei wurde
mir bewusst, dass er wohl die meiste Zeit eher mir als dem
Ensemble zugehört haben musste. Das schüchterte mich
dann doch ein. So was konnte ich aber gar nicht gebrau-
chen, schließlich plante ich noch eine Verführung. Dabei ist
Schüchternheit von immensem Nachteil.
„Es freut mich, dass ich und mein Herzschlag dein Opern-
vergnügen noch steigern konnten“, spaßte ich und versuchte,
so selbstsicher wie möglich zu klingen.
Während die anderen Besucher bereits aus dem Saal
gingen, saßen wir noch eine Weile auf unseren Plätzen und
sahen uns in die Augen. Wir machten uns erst zum Gehen
bereit, als die Musiker anfingen zusammenzupacken. Auf
dem Rückweg, die Treppe hinab, wollte ich ihm gerade die
entscheidende Frage des Abends stellen, als er mir zuvor
kam.
„Es ist normalerweise nicht meine Art, so mit der Tür ins
Haus zu fallen. Aber es gibt da etwas, was ich dir gestehen
muss. Ich habe uns ein Hotelzimmer reserviert. Ich hoffe,
das war nicht zu forsch von mir?“, fragte er mit hochgezo-
gener Augenbraue und ich konnte meine zustimmende Re-
aktion natürlich nicht verbergen. Ich fiel ihm stürmisch um
den Hals und meinte dazu nur.
„Ich werde versuchen, über Ihre Anmaßung hinwegzu-
sehen, Mister“, sagte ich geziert affektiert und küsste ihn
leidenschaftlich in aller Öffentlichkeit, vor den letzten ver-
sprengten Besuchern und vor dem Opernpersonal. Ich wur-
de mit einem füchsischen Lächeln belohnt.
Er fuhr natürlich über der Geschwindigkeitsbegrenzung
und wir waren in kürzester Zeit vor dem Hilton Vienna Plaza.
Ich kannte das Hotel nur deshalb, weil es in der unmittel-
baren Nähe der Universität lag. Ich hätte jedoch nie den Mut
gehabt, ohne Istvan dort allein hineinzugehen. Wozu auch,
ich hätte mir die Zimmerpreise dort nicht leisten können. Es
hätte mir auch nichts ausgemacht, in einer günstigen Abstei-
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ge zu übernachten, solange er nur bereit war, die Möglich-
keiten der Neumondnächte in Anspruch zu nehmen.
Wir hetzten nun von der Parkgarage, wo er plötzlich einen
Übernachtungskoffer für mich aus dem Kofferraum zog, in
das Hotelfoyer. Während Istvan uns anmeldete, versuchte
ich verstohlen, mein Äußeres mithilfe der vielen Spiegel
nahe dem Empfang zu richten. Ich wurde richtig nervös und
konnte mich kaum noch beherrschen. Als er endlich mit dem
Schlüssel zurückkam, nahmen wir die Treppen, weil uns
der Aufzug zu langsam schien. Nachdem er aufgeschlossen
hatte, blieb mir kaum noch Zeit, die Möbel und die andere
Einrichtung des Zimmers zu bewundern. Sobald Istvan die
Tasche auf der dunklen Holzanrichte abgestellt hatte, kam er
schon auf mich zu und umarmte mich stürmisch. Ich wäre
beinahe umgefallen, so energisch war seine Umarmung. Wir
standen vor dem riesigen Bett und ich konnte noch immer
nicht glauben, dass es so einfach war. Ich musste erst gar
nicht verführen, ganz im Gegenteil, ich wurde verführt. Da-
mit hatte ich nicht gerechnet. Es brachte mich ganz aus dem
Konzept.
Sein erster Kuss, der auf die Umarmung folgte, ließ mich
dann doch stürzen. Das riesige Doppelbett fing meinen Sturz
ab und ich landete weich zwischen den weißen Kissen. Ich
kam gar nicht erst dazu, Luft zu holen, denn Istvan lag im
Bruchteil einer Sekunde auf mir, ohne mich tatsächlich zu
berühren. Er stützte sich mit seinen Armen vom Bett so weit
ab, dass sein ganzer Körper über mir war, seine Muskeln
deutlich angespannt. Ich wusste nicht, worauf er wartete.
Vielleicht auf mein Einverständnis. Ich sah ihm fest in die
Augen und zog ihn am Kragen seines Blazers zu mir hi nab.
Wieder war diese Hitze auf mir, die mich umfing und sich
ausbreitete. Seine Lippen suchten erneut meinen Kuss,
diesmal sanfter. Er rutschte an meine Seite, ohne mich dabei
wirklich loszulassen. Ich zeichnete die Form seines Wangen-
knochens mit meinen Fingern nach. Er nahm danach meine
Finger in die Hand und küsste sie sanft. Die Hitze seiner
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Lippen verbrannte die empfindlichen Fingerkuppen beinahe
und das Gefühl dabei machte mich ganz atemlos. Er grinste
wieder und meinte dazu.
„Jetzt klingt dein Puls ähnlich wie vorhin, als Alfredo Vio-
letta seine Liebe gestand.“
„Vermutlich weil ich genauso aufgeregt bin wie Alfredo in
diesem Moment“, erklärte ich ihm und öffnete die Knöpfe
seines Blazers.
„Das kann ich gut nachvollziehen“, war sein einziger Kom-
mentar, bevor wir beide aufhörten mit Worten zu sprechen.
Von da an überließen wir das Sprechen unseren Körpern.
Meine Finger erklärten ihm mein Bedürfnis, unter sein
Hemd zu fassen, während seine Hände mir davon erzähl-
ten, wie man Beine entlang streichelt. Er ließ seine warme
Hand dabei von meinen Knöcheln bis hinauf zwischen mei-
ne Schenkel gleiten. Im Vergleich mit der heißen, weichen
Haut seiner Handflächen wirkte der feine Designerstoff fast
rau. Schon als er mir das Seidentop auszog, war ich völlig
im Rausch gefangen. Ich nahm nur noch verschwomme-
ne Eindrücke wahr. Den Honig-Wald-Geruch seiner Haut,
den festen Griff seiner Hand auf meinem Oberarm oder auf
meinem Schenkel. Wir versuchten, uns lange Zeit zu lassen.
Es war schwer nach einem so langen Zeitraum, nicht sofort
übereinander herzufallen. Wir hielten uns aber ganz tapfer.
Bis er dann, als ich bereits völlig entkleidet auf dem Laken
lag, ganz zart mit den Fingerspitzen von meiner Achsel über
meine Taille bis zum höchsten Punkt meiner Hüfte streichel-
te. Von da an war es vorbei mit meiner Zurückhaltung. Ich
presste seinen Körper zwischen meine Schenkel und küsste
ihn dabei ganz leidenschaftlich. Auch er konnte nicht länger
warten und war nun wieder ganz nahe bei mir. Die Wüs-
te vereinigte sich wieder mit der feuchten Oase und beide
wurden von einem brausenden Sandsturm verschluckt. Als
wir unseren Durst gestillt hatten, umarmten wir uns noch
lange. Wir saßen ineinander verschlungen auf dem Bett
und pressten immer noch unsere Oberkörper aneinander.
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Mein Herz pochte so schmerzhaft, dass sich die Vibration
auf seinen Brustkorb übertrug. Er wollte dieses Gefühl so
lange wie möglich festhalten, während ich mit der Wange
auf seiner Schulter versuchte, das Pochen wenigstens etwas
unter Kontrolle zu halten. Die einzige Bewegung, die von sei-
nem Körper ausging, war das ruhige Spiel seiner Finger mit
meinen Haarspitzen und Strähnen. Wir mussten sehr lange
so still beieinander gewesen sein, denn es kam bereits die
schwache Morgensonne durch die schweren Vorhänge und
im ganzen Hotelzimmer breitete sich ein gedämpftes, dun-
kles Licht über das Bett und unsere entblößten Körper aus.
Während der anbrechende Morgen meinen Herzschlag lang-
sam beruhigte, fielen wir müde in die Kissen und schliefen
fest nebeneinander ein.
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