21. Orions Schmerz

Ein paar Tage nach dem Vollmond hatte Istvan sich so weit

gesammelt, dass er das Vorübergehend-geschlossen-Schild

vor der Bibliothek wieder entfernte. Er versuchte zwar, sei-

ner Tätigkeit nachzugehen, bekam aber jedes Mal einen

hysterischen Anfall, wenn ich dasselbe tat. Aber ich konn-

te schließlich nicht ewig Aufträge ablehnen. Ich nahm ein

paar kleinere Termine wahr. Einen Konzertbesuch, eine

Gemeinde ratssitzung und ein kurzes Interview mit einem

Bauunternehmer, nichts Großes. Die gewohnte Routine half

dabei, mich wieder einigermaßen normal zu fühlen.

Doch wenn ich nicht für das Lokalblatt unterwegs war,

bestand Istvan darauf, dass ich entweder in der Bibliothek

vorgab zu lesen oder die restliche Zeit in seinem Haus zu-

brachte. Ich fing deshalb keinen Streit an, immerhin hatte

ich ja bei der letzten Katastrophe gemerkt, was dann pas-

sieren würde. Wenn ich auf stur schaltete, verausgabte er

sich völlig und das konnte ich nicht zulassen. Also versuchte

ich, so umgänglich wie möglich zu sein. Es war allerdings

schwierig, fast meine ganze Freizeit bei ihm zu verbringen,

also auch die Zeit während des Tages, ohne von jemandem

gesehen zu werden. Einmal passierte es sogar, dass eine alte

Frau, die gerade dabei war, die Gräber auf dem Friedhof zu

pflegen, sah, dass ich in die Richtung des alten Pfarrhauses

ging. Ich musste weitergehen und an der Ecke zur Straße

so lange warten, bis sie weg war, um doch noch in Istvans

Haus zu gelangen. Es war alles nicht so einfach. Ich konn-

te mir auch gut vorstellen, dass meine Daueranwesenheit in

der Bücherei langsam aufzufallen begann, auch wenn nur

noch sporadisch Besucher die Ruhe der Büchersäle stör-

ten. Aber das waren nur die geringsten Probleme, die Ist-

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van und mich beschäftigten. Über uns hing ständig dieses

Damoklesschwert der drei kriegerischen Werwölfe und ihres

niederträchtigen Anführers, die schon in wenigen Wochen

zurückkommen würden, um uns sprichwörtlich den Wölfen

zum Fraß vorzuwerfen. Istvan telefonierte jetzt alle paar Tage

mit Serafina. Immer ging es um die Vorgehensweise beim

nächsten Vollmond oder um die Fortschritte, die Serafina bei

ihrem Vater gemacht hatte. Immerhin war es ihr gelungen,

Valentin von der Notwendigkeit eines baldigen Eingreifens

zu überzeugen. Als Serafina Istvan die gute Neuigkeit mit-

teilte, war es schon März und wir standen zwei Tage vor dem

Neumond. Die Freudennachricht erhellte Istvans Gemüt.

Nach endlosen Tagen voller düsterer Besorgnis und halbher-

zigem Zusammensein mit ihm, wobei ich in jeder Minute

spürte, dass er nie ganz bei mir war, sondern seine Gedan-

ken um das bevorstehende Gefecht kreisten, fand ich end-

lich Ruhe. Ich versuchte, Verständnis dafür zu haben, aber

es war belastend für mich, ständig sein nervöses Zucken in

der Nacht zu spüren und zu wissen, dass er in den meisten

Nächten kaum noch schlief, egal was ich tat.

Doch in diesen ersten Märztagen strahlte er endlich wie-

der, als wäre die Sonne aus ihrem langen Winterschlaf er-

wacht. Das erste Mal seit Wochen funkelten seine grünen

Augen nicht besorgt, sondern erleichtert und er sah mich

ohne Schuld an. Er schenkte mir wieder seinen liebevolls-

ten Blick, der mein Innerstes erreichte und den bitteren Ge-

schmack der letzten Tage vertrieb, fast als wären sie gar nicht

geschehen.

Nachdem er mir von Serafinas Erfolg erzählt hatte, saßen

wir lange zusammen in seinem Schlafzimmer. Er ruhte sich

auf dem Bett aus und konnte sich endlich so weit entspan-

nen, dass er für ein paar Minuten eingeschlummert war. Ich

saß an dem kleinen Schreibtisch und tippte den letzten Ab-

satz meiner Kritik zu Ende, dann klappte ich den Laptop zu

und legte mich an seine Seite. Die gleichmäßigen Atemzüge

seines schlafenden Körpers hätten auch mich beinahe ein-

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geschläfert, wenn ich nicht vom Anblick seiner Gesichtszü-

ge derart abgelenkt gewesen wäre. Ich presste mein Gesicht

in das Kissen und begann mit der anderen Hand, die Form

seiner Nase, seiner Lippen und seiner hohen Wangenkno-

chen nachzuzeichnen. Normalerweise wäre er davon sofort

wach geworden, aber seine Erschöpfung ließ ihn in einen

tiefen Schlaf sinken. Ich fühlte jetzt wieder diese Woge des

Glücks, die Serafinas schmerzliche Worte vor dem Abschied

vergessen machten. Ich ließ meine Hand auf seiner Schulter

ruhen, bevor ich die Augen schloss, um ein wenig an sei-

ner Seite zu dösen. Nach einer Weile fiel mir auf, dass mein

Körper sich seinen Atemzügen angepasst hatte und unsere

Brust sich synchron zu heben und zu senken begann. Mit

geschlossenen Augen genoss ich dieses Gefühl der Zweisam-

keit. Erst sein warmer Kuss riss mich aus dieser Wonne und

bot mir ein neues Spektrum des Glücks. Mein Kopf wurde

tief in das Kissen gedrückt durch den fordernden Druck sei-

nes Mundes. Ich öffnete meinen Mund mit geschlossenen

Augen und fühlte die warmen Bewegungen seiner Zunge,

die auch den letzten Gedanken an Schlaf vertrieben. Meine

Hände begannen sich in seinem Sandhaar zu vergraben und

ich nahm den festen Griff seiner Hände um meine Hüften

wahr. Der wilde Schwindel setzte ein und ich rang bereits

nach Luft, als ich zum ersten Mal die Augen öffnete. Seine

grüne Iris war mir so nahe, dass ich den Eindruck hatte, vom

Himmel aus auf eine saftige, grüne, irische Landschaft zu

blicken. Ich verlor mich vollkommen in seinen grünen Au-

gen und konnte meine nicht einmal schließen, als er mich

weiterhin küsste. Natürlich war auch das Herzhämmern

wieder da, und als er es kommen hörte, presste er sein Ohr

an meinen Busen und lauschte wie besessen dem Pochen

in meinem Brustkorb, während er mit seinen Händen mei-

nen Unterbauch umklammert hielt. Mir wurde unerträglich

heiß, wie meistens in seiner Nähe. Plötzlich bemerkte ich

den Stand der Zeiger auf der Uhr, die auf dem Schreibtisch

gegenüber stand. Es war vier Uhr nachmittags und ich muss-

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te noch ein paar Bilder des St. Hodaser Fischteiches machen

für die Fotoserie der idyllischen Teiche im Bezirk. Ich hatte

es seit Tagen aufgeschoben und bis zur letzten Minute ge-

wartet und ausgerechnet jetzt fiel mir ein, dass ich nur noch

ein paar Stunden Licht hatte, um die Bilder zu schießen. Ich

riss mich widerwillig aus seiner Umklammerung und erklärte

Istvan, was ich noch zu erledigen hatte. Er schien mindes-

tens so enttäuscht darüber wie ich, verstand aber mein Di-

lemma. Ich hatte bereits versprochen, die Bilder bis morgen

früh zu schicken. Aber unsere wiederentdeckte Leidenschaft

bewirkte, dass Istvan mich nicht allein gehen lassen wollte.

„Der Teich liegt doch außerhalb, hinter einem Ulmen-

hain. Dort sieht uns bestimmt niemand. Und ich könnte im

Wagen warten, bis du die Fotos geschossen hast“, schlug er

vor und bemerkte zuerst gar nicht, dass es gar nicht nötig

war, mich zu überzeugen. Denn ich wollte genauso wenig

von ihm weg wie er von mir. Ich wollte nur schnell diese

Fotos machen und dann zurück zu ihm und dort weiterma-

chen, wo wir gerade unterbrochen hatten.

„Einverstanden. Aber du solltest wirklich im Wagen

bleiben. Mit seiner neuen Lackierung sieht er wenigstens

nicht mehr verdächtig aus, obwohl er noch immer auffällt

wie ein bunter Hund“, sagte ich ihm und begann, mir dabei

die Jeans anzuziehen. Er streifte sich sein Hemd über und

wir fuhren gemeinsam bei mir vorbei, damit ich noch die

Kamera aus meinem Zimmer holen konnte. Ich schnappte

mir die schwarze Kameratasche, die vorbereitet neben mei-

nem Schreibtisch stand, und hetzte die Treppen hinunter,

bis ich wieder bei Istvan im Wagen war. Wie sehr ich diese

getönten Scheiben liebte. So konnten wir gemeinsam zum

anderen Ende des Dorfes fahren, wo der Gemeindeteich

angelegt worden war. Früher war an dieser Stelle nur ein

schlammiger Löschteich gewesen, wie Istvan mir erklärte.

Aber schon vor meiner Geburt wurde der Tümpel gesäu-

bert und neu angelegt. Die Gemeinde pflanzte Weiden und

Akazien um den runden, kleinen Teich. Wir parkten gleich

365

neben der geschotterten Zufahrtsstraße. Wir, und auch der

Wagen, wurden von den vier oder fünf Meter hohen Ulmen

vollkommen verdeckt. Das Licht war nicht mehr optimal,

aber es würden dennoch sehr malerische Fotos werden. Das

lag an der bescheidenen Zierde dieses Kleinodes. Der der-

zeitige Pächter gab sich viel Mühe, das Beste aus seiner An-

lage herauszuholen. Er hielt das Schilf unter Kontrolle, hatte

uns gegenüber eine kleine Blockhütte mit grünen Schindeln

errichtet, wo die Angelutensilien aufbewahrt wurden, und

zusätzlich versuchte er, mit riesigen Natursteinen eine Art

Dekorationseffekt zu erzeugen. Sein Vorgänger ließ einen

kleinen Holzsteg anbauen, der zu einer winzigen Insel in

der Mitte führte, in deren Zentrum eine riesige Trauerweide

wuchs, die einem Angler im Sommer wunderbaren Schatten

spendete.

Ich hatte meine Wagentür bereits geöffnet und stellte die

Kameratasche auf die Fußmatte unter mir. Istvan sah mir

dabei zu, wie ich die Spiegelreflexkamera zusammenstellte.

Als ich fertig war, gab ich sie ihm kurz, damit ich mir meinen

Parka anziehen konnte. Obwohl er die schwere Kamera in

der einen Hand hielt, gelang es ihm dennoch, meine Haare

zu halten, damit sie mir nicht im Weg waren, als ich den

Parka überstreifte. Er gab mir die Kamera zurück und setzte

sich auf meinen Platz, als ich ausstieg. Die Wagentür ließ

ich offen. Ich machte ein paar Schritte auf den Teich zu und

begann, einige Testfotos zu machen. Der bewölkte Himmel

verlieh dem Teich eine etwas düstere Stimmung, wie ich auf

dem LCD-Bildschirm feststellen konnte. Ich versuchte, die

Kameraeinstellungen daraufhin anzupassen. Die nächsten

Bilder waren zwar ebenso atmosphärisch und zeigten deut-

lich, dass es noch keine Frühlingsbilder waren, doch sie ho-

ben die einladende Schönheit des Teichs besser hervor. Der

Teich war eines der wenigen Wasserlöcher, die mir keine

Angst machten, da ich genau wusste, dass das Wasser zu

seicht war, um darin ertrinken zu können. Deshalb wagte ich

mich auch auf den Steg. Ich machte ein paar Nahaufnah-

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men von der Trauerweiden-Insel, von der ich wusste, dass

kein anderer Teich im Bezirk so etwas zu bieten hatte.

Als ich von der Kamera hochsah, bemerkte ich Istvans lä-

chelnden Blick auf mir und warf ihm ein ebenso breites Lä-

cheln zurück. Mit der Kamera in der Hand war ich vollkom-

men in meinem Element und ich nahm kaum wahr, was um

mich geschah. Ich konzentrierte mich nur auf das nächste

Motiv und auf das Bild, das mir im Sucher angezeigt wurde.

Ich hatte bereits eine ganze Runde um den Teich gedreht,

als ich merkte, dass Istvan nicht mehr im Wagen saß. Ich sah

mich nervös nach ihm um und hängte mir dabei die Kamera

mit dem Tragegurt um. Er war einfach nicht zu finden. Ner-

vös und mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch ging ich

zurück zum Wagen. Wo zur Hölle war Istvan hingegangen?

Dann sah ich ihn. Istvan kam durch die hintere Reihe der

Ulmen auf der anderen Seite des Teiches. Seine Gesichts-

farbe war kaum noch vorhanden, als ich registrierte, dass er

auf mich zu rannte. Instinktiv warf ich die Kamera auf den

Rücksitz und stieg in den Wagen. Erst meine sitzende Posi-

tion erlaubte es mir zu sehen, dass Istvan verfolgt wurde. Von

Farkas. Er war so dicht hinter ihm, dass es schien, als wäre er

sein Windschatten. Ich starrte fassungslos auf die zwei Män-

ner, die auf mich zu gerannt kamen. Als Istvan mich beinahe

erreicht hatte, konnte ich in allerletzter Minute meinen Fuß

aus der Tür ziehen, ehe er die Wagentür hinter mir zupress-

te. Ich drückte automatisch den Riegel hinunter. Istvans zu

Tode erschrockener Gesichtsausdruck starrte mich erschüt-

tert durch die Scheibe an. Ich musste ebenso erschrocken

zurückstarren, denn Istvans Besorgnis schien sich noch zu

steigern. Mein Herz schlug mir sofort bis zum Hals, als mir

klar wurde, dass Istvan sich seinem Vater würde stellen müs-

sen. Plötzlich schnellte Istvans Kopf gegen die Scheibe und

ich sah, dass er eine Platzwunde an der Stirn davon bekam.

Der Aufprall war dumpf und laut. Ich schrie atemlos auf.

Dann erkannte ich ihn. Farkas stand direkt hinter Istvan und

presste ihn mit seinen riesigen, brutalen Händen gegen die

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Scheibe. Er hatte seine Finger so sehr um seinen Nacken ge-

schweißt, dass es mir schwerfiel zu glauben, dass Istvan noch

atmen konnte. Sein Blick war so schmerzerfüllt und seine

Hand stützte sich am unteren Ende der Scheibe ab. Ich legte

meine Hand darauf und sah Istvan mit Tränen in den Augen

an. Sein grüner Blick war unbeschreiblich. Ich wäre beinahe

umgekippt, als Farkas gegen das Autodach schlug. Seine an-

dere Hand hämmerte wild gegen das Blech.

„Los, Mädchen, komm aus dem Wagen oder ich mache

kurzen Prozess mit ihm“, drohte er mir und mit diesen hass-

erfüllten Worten war die raue Schreckensstimme von Farkas

zurück in meiner Welt. Der Gedanke verursachte mir Übel-

keit. Ich wollte sofort nach der Wagentür auf der anderen

Seite greifen, um Istvan zu retten.

„Nein. Tu nicht, was er sagt, Joe. Nein, nicht!“, schrie Ist-

van mich an. Ich konnte die Panik in seinem Gesicht deut-

lich lesen.

„Istvan, er tötet dich, wenn ich es nicht tue!“

„Nein. Er blufft nur. Bleib im Wagen, Joe!“, wies er mich

an.

Farkas lachte laut und irr. Dann riss er Istvans Kopf zu-

rück und schleuderte ihn mit einer derartigen Wucht gegen

die Scheibe, dass der ganze Wagen wackelte. Ich stöhnte

laut auf und presste die Augen zu, um nicht sehen zu müs-

sen, wie sehr es Istvan wehtat.

„Mädchen, ich sage es nicht noch einmal. Komm raus

oder dein Geliebter ist Fischfutter!“, schrie er mich an und

drängte sein verdrecktes Gesicht gegen den übrigen Teil

der Scheibe. Bei seinem Anblick gefror mir das Blut in den

Adern und dennoch gehorchte ich seiner unwirschen Auffor-

derung. Ich stieg auf der anderen Seite aus dem Camaro, be-

gleitet von Istvans ständigen „Nein, Nein, Nicht“-Ausrufen.

Auf wackeligen Knien stieg ich aus und blickte über das

Wagendach. Farkas grinste mich dämonisch an und hielt

immer noch Istvan in seiner Gewalt, eine Hand auf seinem

Nacken, mit der anderen hielt er seine Hände gefangen.

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Langsam und ohne dabei das Monster aus den Augen zu las-

sen, ging ich am Wagen entlang, bis ich vor ihm stand. In

seiner gebückten Haltung hatte ich das Gefühl, dass Istvan

kleiner war als Farkas. Ich wusste aber, dass sie gleich groß

waren. Istvan in Farkas’ Gewalt zu sehen, erschütterte mich

im tiefsten Innersten und jagte eine Woge der Verzweiflung

durch meinen Kreislauf. Farkas sah nicht viel anders aus als

in meiner Erinnerung, bloße, verdreckte Füße, abgetragene,

zerschlissene Jeans, ein olivgrüner Pullover mit zahllosen Lö-

chern darin und dieser Bart, der seine brutale Männlichkeit

unterstrich.

Also war ich ihm wieder einmal hilflos ausgeliefert und

dieses Mal hatte er den richtigen Trumpf ausgespielt. Er be-

drohte Istvans Leben. Wir starrten uns lange schweigend an.

Ich versuchte, einigermaßen gefasst auszusehen und meinen

Herzschlag zu beruhigen. Es gelang. Istvan kannte diese Fä-

higkeit von mir noch nicht, er war ja nicht dabei, als ich sie

bei Farkas das letzte Mal entdeckt hatte. Er starrte mich ver-

wundert an, als er hören konnte, wie sich mein Puls immer

weiter senkte.

„So. Nun hast du, was du wolltest. Lass ihn los und tu

mit mir, was du willst“, bot ich ihm an und versuchte dabei,

wieder zu dem frechen Ton zurückzufinden, den ich schon

bei unserem letzten Zusammentreffen benutzt hatte.

„Oh, ich sehe, wir sind noch immer so frech wie eh und

je. Gefällt dir das an ihr, Sohn, ihre Kämpfernatur?“, fragte

Farkas Istvan interessiert und leckte sich dabei amüsiert die

Lippen. Istvan wand sich in Farkas’ festem Griff und wollte

sich daraus befreien.

„Ich bin nicht dein Sohn, Bastard. Was mir an ihr gefällt,

wirst du nie verstehen. Und wenn du sie auch nur anrührst,

dann schwöre ich dir, dass du deines Lebens nicht mehr

froh wirst, alter Mann“, schrie er ihn an, wobei seine Augen

mich ständig fixierten. Der hasserfüllte Ton in seiner schö-

nen Stimme tat mir weh. So kannte ich ihn gar nicht. Es

erschreckte mich.

369

„Nur ruhig, junger Spund. Ich hab gar nicht vor, deiner

Kleinen ein Haar zu krümmen. Dein Menschlein muss keine

Angst vor mir haben. Dieses Mal bringe ich keine ihrer hüb-

schen, goldenen Locken durcheinander“, spie Farkas Istvan

ins Ohr und grinste dabei breit und verschwörerisch.

Ich konnte nur völlig verdutzt dreinblicken. Ich verstand

die Welt nicht mehr. Wenn er nicht hier war, um mich zu

töten, was wollte er dann? Wollte er Istvan etwa mitnehmen?

Nein, das durfte nicht passieren.

Istvan wand sich noch mehr und schaffte es, sich irgend-

wie aus Farkas’ Griff zu befreien. Er stieß ihn zu Boden und

hastete an meine Seite. Er drängte mich hinter seinen Rü-

cken und ich hielt mich an seiner Schulter fest. Endlich fühl-

te ich wieder festen Boden unter den Füßen. Seine Wärme

zu fühlen, brachte den Atem zurück in meine Lungen.

„Was willst du, alter Mann?“, fragte Istvan genervt und

wir sahen dabei zu, wie Farkas sich völlig entspannt vom Bo-

den hochhievte.

„Nur reden, mein Kleiner. Nur reden“, murmelte er und ging

mir mit seiner unbeeindruckten Art furchtbar auf die Nerven.

„Reden, pah“, blaffte ich und konnte den sarkastischen

Unterton in meiner Stimme kaum zügeln.

„Gott, was ist die Menschenfrau gereizt“, kommentierte

er meinen beißenden Tonfall.

„Sei still oder ich zeige dir, wie sehr Wolf ich sein kann!“,

drohte ihm jetzt Istvan, was seltsamerweise Farkas’ Laune

noch mehr hob.

„Ja, bitte. Das würde ich nur zu gerne sehen, mein Junge“,

ätzte er und lachte wieder aus voller Kehle. Ein Dämon in

Menschengestalt, kam mir in den Sinn.

„Wieso bist du hier? Warum kannst du mich nicht end-

lich in Ruhe lassen? Ist es nicht schon genug, dass du meine

Mutter ermordet hast?“, stieß Istvan verletzt hervor und wich

dabei langsam zurück, vorbei am Steg.

„Mord? Nein, dazu kommen wir später. Du willst also

wissen, wieso ich hier bin. Natürlich deinetwegen, mein

370

Sohn. Ich dachte, deine kleine Spielgefährtin hätte dir klar-

gemacht, dass ich nicht aufgeben werde. Ich werde erst

dann Ruhe geben, wenn du endlich deinen Platz einnimmst,

wenn du bist, wo du hingehörst, an die Seite deiner Brü-

der, an meine Seite“, lamentierte er und täuschte dabei eine

Willkommensgeste vor. Er breitete seine Hände vor Istvan

aus, als wolle er ihn väterlich in die Arme schließen. Istvan

schüttelte nur angewidert den Kopf und wich, immer noch

an mich gepresst, weitere Schritte zurück.

„Ich werde niemals an deine Seite kommen. Niemals,

hörst du? Ich bin nicht wie du. Ich gehöre nicht zu deiner

Bande aus seelenlosen Bestien und Mördern. Egal was du

tust, ich bleibe hier“, knallte ihm Istvan mit fester Stimme

vor den Latz und wich weiter zurück. Wir waren mittlerweile

schon kurz vor dem Fischerhäuschen.

„Ach, bist du dir da so sicher, Sohn?“, fragte Farkas kryp-

tisch und sah dabei komischerweise mich an, was ich nicht

verstand.

„Was ist mir dir? Bist du dir sicher, dass er so anders ist

als ich und meine Familie?“, fragte er mich mit einem selbst-

sicheren Grinsen. Wie aus der Pistole geschossen stieß ich

hervor: „Absolut sicher. Istvan hat nicht das Geringste mit dir

gemein!“ Ich legte Istvan meine Hand auf die Schulter.

„Liebe macht wohl tatsächlich blind. Es scheint, als wür-

dest du deinen Liebhaber wohl nicht so gut kennen, wie

du glaubst. Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass du

einen Mörder in dein Bett gelassen hast?“, deutete er an und

durchbohrte mich prüfend mit seinem finsteren Blick.

„Der einzige Mörder hier bist du, Farkas. Hör auf, mich

zu manipulieren. Das gelingt dir doch nicht“, sagte ich

selbstsicher und bemerkte plötzlich, dass Istvan seinen

Rücken von mir entfernte. Als ich meinen Satz zu Ende

gesprochen hatte, stand Istvan bereits zwischen mir und

Farkas und wandte mir weiterhin den Rücken zu. Farkas lä-

chelte selbstzufrieden. Ich verstand nicht, was hier eigent-

lich vorging.

371

„Sieht so aus, als wäre dein Liebster nicht ganz deiner

Meinung, Mädchen. Istvan weiß nämlich ganz genau, wo-

rauf ich hinaus will. Nicht wahr, mein Sohn?“ Farkas’ Stim-

me klang wie die eines Seelenklempners aus der Hölle.

Istvan antwortete nicht. Er sagte kein Wort. Er drehte

sich nur zur Seite und sah beschämt zu Boden. Hatte ich

meinen Herzschlag bisher unter Kontrolle, verlor ich diese

jetzt vollkommen. Mein Puls raste, aber Istvan blickte nicht

hoch, um nach mir zu sehen. Ich sah nur sein trauriges Profil

und fühlte den Schmerz, der ihn plötzlich umhüllte.

„Istvan? Was hat das zu bedeuten?“, wollte ich atemlos

wissen. Er antwortete nicht, sah mich nicht an.

„Vielleicht sollte ich deine Frage beantworten. Ich habe

nämlich auch ein bisschen recherchiert, nach unserer letz-

ten Begegnung. Es gab da immer etwas, das mich hellhörig

gemacht hat. In seinem Notizbuch gab es ein paar heraus-

gerissene Seiten. Winter 1988, bevor er mit den Jammer-

einträgen anfing, fehlten genau dort ein paar Seiten. Und

seit wenigen Tagen weiß ich auch, wieso. Eigentlich muss

ich dir und deinen Zeitungsfritzen ja dankbar sein. Denn

ohne ihre Archive wäre ich nie auf die Eintragungen gesto-

ßen. Die Wiener Lokalzeitung brachte einen kleinen Bei-

trag. Was denkst du, wer der Held in diesem Beitrag war?“,

fragte er mich und starrte auf Istvan, der wie eine leblose

Salzsäule zwischen uns stand und nicht auf mein Ziehen an

seinem Ärmel reagierte. Er schien paralysiert oder so etwas

Ähn liches.

„Natürlich unser Istvan. Aber in dieser kleinen Geschich-

te zieht er kein kleines Mädchen aus dem Wasser. Nein, in

dieser Episode sitzt er deprimiert in einer Bar und kann sich

nicht mal betrinken. Na, jedenfalls ist er in dieser Bar, in

den weniger noblen Bezirken von Wien. Ein paar Betrun-

kene beginnen sich über seine Anwesenheit aufzuregen. Er

versucht, es zu ignorieren. Die anderen sind sturzbetrunken.

Ein besonders streitlustiger Mann geht immer wieder auf

ihn los. Er geht nicht darauf ein. Da waren alle Zeugen einer

372

Meinung. Dann schubste der Betrunkene unseren Helden

und nennt ihn eine Missgeburt. Da platzt dem sonst so fried-

fertigen Istvan der Kragen. Er beginnt eine wilde Schlägerei

mit dem Betrunkenen. Der Mann verliert, natürlich. Doch

als Istvan gehen möchte, bevor die Anwesenden sehen kön-

nen, dass seine Wunden bereits verheilen, stürmt ihm der

Mann hinterher und schreit ständig: ‚Missgeburt, fahr zur

Hölle‘, bis Istvan dann endgültig ausrastet. Er prügelt dem

Besoffenen die Seele aus dem Leib. Nicht einmal als dieser

bereits bewusstlos auf der Straße liegt, hört er auf. Als er das

Blut auf dem Asphalt bemerkt, schnellt er hoch, zu spät. Der

Mann liegt längst schon tot auf der Straße. Unser Möchte-

gern-Pazifist hat ihm den Schädel eingeschlagen. Wie nennt

ihr Menschen das? Auseinandersetzung mit Todesfolge, Un-

falltod? Ich nenne es Mord. Wie nennst du es, Joe?“, fragte

er mich und ich konnte das dumpfe Dröhnen in meinem

Kopf nicht abstellen. Istvan hatte einen Menschen getötet.

Das hätte ich auch in meinen wildesten Träumen nicht für

möglich gehalten. Wieso hatte er es mir nicht erzählt? Wieso

musste ich es ausgerechnet von Farkas erfahren?

„Wie nennst du es, Joe?“, brüllte Farkas mich nun an und

ich konnte den Klang meines Namens aus seinem Mund

kaum ertragen. Was mich wirklich zur Verzweiflung brachte,

war Istvans bebender Körper, der sich völlig in sich selbst

zurückzog, und die Tränen, die ich in seinen Augenwinkeln

sah. Er hasste sich dafür. Ich konnte es sehen. Ich wollte ihn

trösten. Ich konnte ihm vergeben, das sollte er doch wissen.

„Wie ich es nenne? Ich sage, das alles konnte nur pas-

sieren, weil du ihm das angetan hast. Ich weiß nicht, was

1988 tatsächlich passiert ist, aber ich weiß, dass Istvan nie

jemanden absichtlich verletzen oder gar töten würde.“ Ich

versuchte, Farkas selbstsicher anzusehen und hob das Kinn,

so hoch ich konnte.

„Gott, wie naiv bist du eigentlich? Er konnte es nicht kon-

trollieren. Du verstehst es nicht. Nicht Istvan wollte diesen

Mann töten, damit hast du schon recht, aber die dunkle Seite

373

seines Wolfes wollte es und sie hat letzten Endes gewonnen.

Es gibt da nämlich ein kaum bekanntes Phänomen in unse-

rer Welt, manche nennen es das Wolf-im-Mann-Phänomen.

Es ist sehr selten und tritt nur bei gebissenen Werwölfen

auf, die ihren eigenen Wolf und seine niederen, anima-

lischen Bedürfnisse unterdrücken. Wenn diese Männer in

eine extreme Situation geraten, wenn sie nur noch rotsehen,

dann kann der Wolf in ihnen, auch mitten am hellsten Tag,

durchbrechen. Die menschlichen Stresshormone wirken ab

einer gewissen Konzentration im Blut wie das Mondlicht auf

uns und wir beginnen uns zu verwandeln. Doch es ist keine

echte Verwandlung. Du wirst noch sehen, was ich meine“,

waren seine letzten Worte an mich, ehe er sich an seinen ge-

lähmten Sohn, an meinen leidenden Istvan wandte.

Farkas trat noch näher an ihn heran und flüsterte ihm ins

Ohr, während er mich mit seinem stechenden Blick festhielt.

„Was wirst du jetzt machen, Istvan? Hm. Ich habe deine

Mutter umgebracht und jetzt habe ich deiner großen Lie-

be dein schmutziges, kleines Geheimnis verraten. Denkst

du wirklich, dass sie dich jetzt noch mal ranlassen wird? Sie

hasst dich, mach dir nichts vor, mein Junge“, zischte er hass-

erfüllt und grinste immer breiter. Die Panik stieg in mir auf,

als ich begann, seinen Plan zu durchschauen. Er wollte Ist-

vans Wolf wecken, genau in diesem Moment, damit seine

dunkle Seite von Istvan Besitz ergreifen konnte. Das durfte

ich nicht zulassen.

„Istvan, sieh mich an. Er lügt. Ich hasse dich nicht. Hör

nicht auf ihn, bitte, Liebling“, versuchte ich ihn mit meiner

sanften Stimme zu beschwichtigen. Ich konnte die Angst

nicht ganz aus ihr verscheuchen. Istvan sah weder mich noch

Farkas an. Er starrte nur stur zum Boden. Die Tränen waren

versiegt. Er war nun ein gebrochener Mann, eine verlorene

Seele, am Ende eines langen, verzweifelten Weges.

Farkas und ich waren jetzt Mephisto und Gott, die um

Istvans Seele kämpften, und ich musste diesen Kampf ge-

winnen, unser beider Leben hing davon ab.

374

„Du bist doch ein kluger Junge. Sie liebt dich nicht mehr.

Du weißt es. Du bist ein Mörder. Wie könnte deine Joe einen

Mörder lieben?“, fragte Farkas und setzte ihm weiter zu. Das

Wort Mörder im selben Satz wie meinen Namen zu hören,

weckte Istvans Körper auf. Er begann nun merklich zu zit-

tern. Seine Muskeln spannten sich verhärtet an und er fasste

sich auf dieselbe Weise an die Stirn, wie er es oft vor einer

Verwandlung tat. Die Wut und die Schuld lösten das von

Farkas beschriebene Phänomen aus. Ich konnte kaum noch

atmen oder sprechen. Ich war dabei zu verlieren. Ich war

drauf und dran, Istvan an Farkas zu verlieren.

„Nein“, schrie ich aus vollem Hals. Es hatte leider den

falschen Effekt. Es verstärkte Istvans Schmerzen. Er brach

zusammen und sank zu Boden. Er stöhnte und Farkas half

ihm auf die Beine. Siegessicher warf er mir ein breites Grin-

sen zu. Ich starrte fassungslos auf Istvans Arm, der nach Far-

kas’ Unterarm fasste. Der Anblick brachte mich fast um den

Verstand.

„Bitte, Istvan, kämpf dagegen an. Er versucht dich nur

zu manipulieren. Du weißt, dass ich immer auf deiner Sei-

te bin. Immer“, versuchte ich ein letztes Mal das Blatt zu

wenden. Als er in die Richtung meiner gebrochenen Stimme

blickte, waren es nicht Istvans Augen, die zurückstarrten.

Die irisierenden Wolfsaugen durchbohrten mich in Istvans

menschlicher Gestalt. War es bereits zu spät? Konnte mein

Istvan mich überhaupt noch hören oder hatte der Wolf in

ihm bereits das Kommando an sich gerissen?

Wieder kam mir Farkas zuvor.

„Diese Frau darf nicht weiterleben. Du hast dein Geheim-

nis so gut gehütet. Nicht einmal Valentin weiß etwas davon,

oder? Du musst diese Frau töten oder sie wird jedem verra-

ten, was du getan hast. Sie wird es Joe erzählen. Diese Frau

wird zu deiner Joe gehen und ihr sagen, dass du ein Mörder

bist, dann wird sie vor dir fliehen. Du kannst es verhindern.

Töte sie!“, wies er ihn an. Ein eiskalter Blitz durchfuhr mich.

Farkas hatte nicht gelogen, er würde mir kein Haar krüm-

375

men. Er wollte, dass Istvan mich umbrachte. Der Gedanke

ließ mich fast umkippen.

Wieso sprach er mit Istvan – oder dem Wolf, der ihn jetzt

beherrschte –, als wäre ich jemand anderes? Erkannte mich

Istvan in seinem Zustand noch nicht einmal? Farkas wies

ihn noch einmal an, mich zu töten. Istvans Blick schnellte

in meine Richtung. Seine Augen betrachteten mich unver-

wandt. Da war kein Zeichen des Wiedererkennens zu entde-

cken. Was immer er jetzt war, ich bedeutete diesem Wesen

nichts. Es erkannte noch nicht mal mein Gesicht. Sogar sein

Aussehen schien sich verändert zu haben. Es wirkte fast ani-

malisch. Es waren noch Istvans schöne Züge, unverkennbar,

aber etwas Bedrohliches, Gewalttätiges überschattete sie.

Sein Anblick machte mir Angst. Ich hätte das nie für mög-

lich gehalten. Seine grünen, verfremdeten Augen taxierten

mich und beobachteten jede meiner kleinen Bewegungen,

als wäre ich seine ausgesuchte Beute. Das Blut rauschte in

meinen Ohren. Fast hätte ich nicht gehört, wie Farkas ihn

noch einmal aufforderte.

„Töte sie oder du verlierst Joe für immer!“, waren seine

Abschiedsworte, bevor er mir noch belustigt eine Kusshand

zuwarf und hinter den Ulmen verschwand. Offenbar wollte

er nicht dabei sein, wenn Istvan wieder zu sich kam und mei-

nen Leichnam entdecken würde. Farkas wollte Istvan zwar

in eine Bestie verwandeln, ihr aber nicht selbst zum Opfer

fallen.

Istvan kam langsam, Schritt für Schritt, immer näher auf

mich zu, noch immer nicht er selbst. Ich wich jeder seiner

Annäherungen aus, bis ich die Holzpaneele der Blockhütte

in meinem Rücken hatte. Ich saß nun in der Falle. In eine

Ecke gedrängt, aus der es kein Entkommen gab, blickte ich

mich verzweifelt um. Ich entdeckte nichts. Es gab nichts zu

entdecken, nur diese starren, grünen Augen, die immer nä-

her auf mich zukamen mit dem Wunsch, mich zu töten. Ich

wollte schreien, konnte aber nicht die Kraft dazu finden. Ich

wollte mit zitternden Händen in sein Gesicht fassen in der

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Hoffnung, er würde vielleicht meine Berührung oder mei-

nen Geruch wiedererkennen. Diese Sinne müssten doch

jetzt überempfindlich sein. Aber diese Gelegenheit sollte ich

erst gar nicht wahrnehmen können. Als ich nicht mal halb

meinen Arm gebeugt hatte, wich er zurück. Ich fuhr genauso

zusammen, als ich merkte, dass er vor mir zurückschreck-

te, als wäre ich der Feind. Ich wusste nicht besonders viel

über Wölfe trotz meiner engen Verbindung mit einem von

ihnen. Aber ich hatte einmal in einer Dokumentation gese-

hen, dass man sich einem Tier, das versuchte, einen anzu-

greifen, mit gebeugtem Kopf nähern soll, um seine Autorität

anzuerkennen oder sich zu ergeben. Wenn Istvan jetzt mehr

Tier als Mensch war, sollte ich ihn vielleicht so behandeln.

Ich beugte mich angespannt und atemlos vor, versuchte, ihn

dabei dennoch im Auge zu behalten, und strich mir das Haar

aus dem Genick. Ich streckte ihm meinen bloßen Nacken

entgegen. Eine Geste der Unterwerfung, von der ich hoff-

te, er würde sie annehmen. Als ich mich wieder aufrichtete,

schnellte er bereits auf mich zu und seine Hände kamen auf

mich zugeschossen. Mit einer einzigen schnellen Bewegung

hatte er seine Hände um meinen Hals verschränkt und seine

Finger drückten mir die Kehle zu. Es war nicht der Schmerz,

der mir jetzt die Tränen in die Augen trieb, es war die Tat-

sache, dass Istvan mich würgte. Ich war drauf und dran, von

dem Mann getötet zu werden, den ich über alles liebte. Das

nahm mir auch den letzten Funken Mut im Leib. Er drückte

immer fester zu. Ich hörte, wie dieses geräuscharme Stöh-

nen aus meinem Mund kam. Das Blut rauschte pochend in

meinen Ohren und silberne Flocken begannen vor meinen

Augen zu tanzen und den leeren, wütenden Ausdruck mei-

nes Angreifers zu überlagern. Wie von selbst versuchte mein

Körper, vor dem Schmerz zurückzuweichen, und so presste

sich mein Schädel immer mehr gegen das Holz. Ich konn-

te fühlen, dass Späne in meine Kopfhaut getrieben wurden.

Den Schmerz nahm ich nicht wahr. Der Schock und das Ent-

setzen saßen viel zu tief, um für andere Empfindungen Platz

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zu machen. Die Anstrengung, die es Istvan kostete, mich zu

würgen, verzerrte sein Gesicht und ließ ihn furchterregend

erscheinen. Meine Wangen wurden jetzt von Tränen über-

strömt, die bis zu seinen Händen flossen. Nicht einmal das

konnte das Herz seines Raubtieres erweichen. Ich wusste ja,

dass er nicht wirklich mich töten wollte, sondern vielmehr

versuchte, das auszumerzen, von dem Farkas ihm eingere-

det hatte, es würde uns trennen. Dennoch brachte es mich

um. Es erschütterte mich im Innersten, von ihm getötet zu

werden. Ich versuchte mit einer letzten, verzweifelten Geste,

seine Hände von meinem Hals zu lösen. Sein Griff war fest,

dennoch gelang es mir, ihn so weit zu lockern, dass ich hus-

ten und ein paar erstickte Worte hervorpressen konnte.

„Ich bin’s, Joe. Istvan, sieh mich an. Bitte sieh mir in

die Augen!“, flehte ich, meine Stimme ein heiseres, leises

Krächzen.

„Lügen. Alles nur Lügen“, war die Antwort seiner rauen,

leeren Stimme. Er drückte wieder fest zu. Ich bekam kaum

noch Luft und zappelte mit allen Gliedmaßen. Bevor mir

schwarz vor Augen wurde, gelang es mir erneut, seinen Griff

zu lockern.

„Istvan, du tötest uns! Komm zurück zu mir, Istvan. Ich

flehe dich an. Komm zurück“, schrie ich erstickt und würgte

unkontrolliert. Er glaubte mir immer noch nicht.

Istvan drückte fester zu. Meine Arme lagen kraftlos auf

seinen Handgelenken und waren immer hilfloser. Ich hör-

te, wie mein Blutrauschen anschwoll und danach schwächer

wurde.

Das Ende kam.

Ich presste meine Augen zu. Ich wollte nicht, dass das

Letzte, was ich in dieser Welt sehen würde, die Augen mei-

nes Mörders und die Augen meiner verlorenen Liebe sein

sollten. Meine Arme fielen jetzt kraftlos zur Seite, mein Kör-

per fügte sich seinem Schicksal. Wie soll man friedlich ge-

hen, wenn man von demjenigen getötet wird, den man am

meisten liebt? Darauf gab es keine Antwort. Ich hörte, weit

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entfernt, in meinem schwarzen Dämmerzustand mein eige-

nes Wimmern und Schluchzen, vermischt mit seinem wü-

tenden Knurren.

Und seltsamerweise waren die letzten Bilder, die mir,

jetzt kurz vor dem Ende, in dem Sinn kamen, ausschließlich

Bilder und Eindrücke von Istvan, von uns und unserer Liebe.

Ich sah, wie wir auf dem Turm so nahe beieinander gewesen

waren. Ich fühlte die Geborgenheit von damals. Ich erinnerte

mich an den Rausch des ersten Kusses, an meine Nervosität

in unserer ersten Nacht, an jeden einzelnen Blick. Ich küsste

jeden einzelnen Kuss der letzten Monate und umarmte jede

einzelne Umarmung noch einmal. Aber ich sah noch mehr.

Ich sah, wie er mich damals gesehen haben musste, als ich in

unserem Wintergarten getanzt hatte. Offenbar halluzinierte

ich bereits. Meinem Gehirn fehlte der nötige Sauerstoff. Ich

sah und fühlte, wie es damals gewesen sein musste, als er

mich aus dem Wasser gerettet hatte, und ich erinnerte mich

am deutlichsten an den Moment im Wald, als ich dachte,

ich hätte ihn für immer verloren, an den Moment, als ich

wusste, dass ich ihn immer lieben würde. Ich war nicht be-

reit, das alles aufzugeben. Ich war noch nicht bereit zu ge-

hen. Ich konnte ihn nicht verlieren. Ich würde nicht sterben

und ihn allein zurücklassen. Ich wollte ihn nicht mit dieser

Bürde, dieser Schuld zurücklassen und ich wollte auf keinen

Fall, dass Farkas über Istvan und mich siegte. Ich tauchte

aus dem Meer der Dunkelheit auf.

Als ich die Augen aufriss, wurde ich mir wieder bewusst,

dass ich schon lange keine Luft mehr bekommen hatte, und

mit dem unglaublichsten Adrenalinstoß aller Zeiten raffte

ich alle Reserven meines Körpers zusammen und bewegte

meine Arme wieder. Ich fasste in sein Gesicht. Beim An-

blick meines wiedererwachten Körpers erschrak er genug,

um meine Berührung zuzulassen. Wie ich vermutet hatte,

wirkte die Erinnerung an meinen Geruch. Er lockerte seinen

Griff von selbst. Ich würgte und hustete. Meine Stimme war

kaum noch vorhanden. Dennoch fand ich die Fähigkeit zu

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sprechen. Jede Silbe brannte in meiner Kehle und tat ver-

dammt weh.

„Istvan, komm zurück zu mir. Komm zurück. Ich liebe

dich. Bitte. Komm zurück!“, bettelte ich und durchbohrte

ihn mit meinen feuchten Augen.

Er schien mir zumindest zuzuhören. Seine Augen verän-

derten sich, wurden etwas weicher, menschlicher. Aber sein

Griff hielt mich immer noch gefangen. Er verstärkte die Um-

klammerung wieder etwas, ließ mir aber genug Luft übrig,

um noch zu sprechen.

Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten und ließ

sie jetzt ungehindert fließen. Ich presste die Hand, die ge-

rade noch auf seiner Wange gelegen hatte, fest gegen seine

Brust.

„Komm zurück zu mir. Komm zurück. Orion! Bitte bleib

bei mir!“, stöhnte ich in sein Gesicht und presste dabei wei-

ter auf das Medaillon unter seinem Hemd. Als er sich des

kalten Metalls auf seiner Brust bewusst wurde und ich sehen

konnte, wie seine Gedanken dessen Bedeutung wiederent-

deckten, riss er sofort die Hände von meinem Hals. Ich sank

sofort erleichtert nach vorn und hustete unkontrolliert und

trocken.

Als ich mich etwas gefangen hatte, sah ich nach ihm. Er

war vor mir zusammengebrochen und kniete im Gras. Seine

Hände stützten sich ab und er atmete fast genauso schwer

wie ich. Ich stürzte sofort zu ihm und sank ebenfalls kraftlos

zu Boden, nahm sein Gesicht in meine Hände und drehte

es energisch zu mir hoch. Ich musste wissen, ob der Wolf

in ihm wieder verschwunden war. Er war weg. In seinen

Augen spiegelten sich nur noch menschlicher Schmerz und

Verzweiflung. Das Grün war wieder das, das ich kannte und

liebte, auch wenn jetzt schuldbewusste Tränen aus seinen

Augen flossen und er nur noch ein Schatten seiner selbst

war.

Als ich es zuerst versuchte, wich er mir schluchzend aus.

Er erlaubte sich nicht, in meine Nähe zu kommen. Aber ich

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gab nicht auf und umklammerte ihn so fest, dass er mich

umarmen musste. Als ich mich an ihn presste, konnte ich

schon fühlen, wie er sich meiner Umarmung hingab. Er ver-

schränkte seine Arme so fest hinter mir, als wolle er mich nie

wieder loslassen. Ich drückte mich genauso verzweifelt und

unkontrolliert an ihn. Denn ich wusste, wenn diese Umar-

mung zu Ende war, würde nichts so sein wie vorher. Deshalb

wehrte ich mich jedes Mal dagegen, wenn er versuchte, sich

mir zu entziehen. Aber ich konnte genauso fühlen, wie auch

er jedes Mal dagegen ankämpfte, wenn ich meinen Griff lo-

ckerte. Als die Nacht hereinbrach, hatte ich keine Tränen

mehr übrig, die ich vergießen konnte, und auch er schien

kaum noch Kraft in seinen Armen zu haben. Er sammelte

mich vom Boden auf und brachte mich zum Wagen zurück.

Wir sprachen nicht ein Wort. Bevor er losfuhr, sah er mich

lange an und ich fühlte, dass sein Blick auf meinem Hals

verweilte. Der Ausdruck in seinen Augen, als er meinen Hals

musterte, brachte mich beinahe mehr auf als die Ereignisse

meines Beinahe-Todes.

Wie sollte es jetzt bloß weitergehen?

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