24

Mein Vater und ich trugen eine Kiste Vorräte und einen Coleman-Propangasofen in die Hütte. Die Wände waren mit verrückten Graffiti beschmiert: Ich wollte Mutter nicht verletzen. Sie haben mir Handschellen angelegt. Sie haben mir die Haut abgezogen.

»Wer ist dein Innenarchitekt?«, fragte ich Cartwright.

Er schaute die Wände an. »Ach das. Letztes Jahr hatten sich ein paar Junkies hier eingenistet.«

Wir befanden uns in den Hügeln bei Leesburg. Cartwright, der über zahllose Nebenjobs auf dem Schwarzmarkt verfügte, hielt sich die Dreizimmerhütte für Fälle, in denen er hundertprozentige Abgeschiedenheit brauchte.

»Und der Geruch?« fragte ich. Es roch nach einer Mischung aus Körperschweiß und Socken.

»Letzte Woche hatte ich einen Haufen Salvadorianer hier, neunzehn oder zwanzig.«

Alles klar.

»Hast du alles?«, fragte ich.

Er nahm die sechs Konservendosen für mein Chili aus der Tasche und einen Briefumschlag. Darin befand sich eine schwere goldene Dienstmarke, die oben mit einem Adler abschloss. In der Mitte prangte das Wappen des Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives mit den Schriftzügen »Department of Justice« darüber und »Special Agent« darunter.

Ich schaute auf meine Uhr. Annie hätte schon vor zwei Stunden kommen sollen. Seit unserer Begegnung im Wald letzte Nacht hatte ich sie nicht mehr gesehen. Ich befürchtete, dass Marcus und Henry ihr doppeltes Spiel entdeckt und sie getötet oder ihr etwas Schlimmes angetan haben könnten. Weiß Gott, wozu sie fähig waren.

Mein Vater hatte stundenlang die Grundrisspläne des Justizministeriums studiert. Nach dem, was Langford mir erzählt hatte, waren nur die Kellerräume groß genug für die Menge an archivierten Akten. Dort musste sich der Beweis gegen Henry befinden.

In der Brandschneise, die unterhalb der Hütte verlief, tauchten Scheinwerfer auf. Cartwright machte das Licht aus. Wir nahmen unsere Plätze ein: mein Vater mit der Schrotflinte an der Vordertür, Cartwright und ich mit AR-15-Gewehren an den Fenstern.

Wenn sie Annie zum Reden gebracht hatten, dann hatte sie Henry und Marcus zu uns geführt.

Der Wagen hielt an. Eine Autotür wurde zugeschlagen. In der mondlosen Nacht war nicht zu sehen, wer sich der Hütte näherte.

»Plastik«, rief Annie.

Das Passwort. Es sollte nicht melodramatisch klingen, so war ich auf Die Reifeprüfung gekommen. Wir ließen die Waffen fallen. Ich lief nach draußen, schloss Annie in die Arme und führte sie in die Hütte.

»Reizend«, sagte sie, als sie unsere Bruchbude betrat und ihre Jacke auf einen Stuhl warf.

»Jeffrey Billings«, sagte sie.

Mein Vater und ich schauten uns an.

»Der Name auf der Akte?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie.

Jetzt hatten wir alles, was wir brauchten, um Henry zu erledigen. Ich hob sie hoch und wirbelte sie herum. Sie verzog das Gesicht vor Schmerzen.

»Alles okay?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie.

Etwas stimmte nicht. Sie hatte rote Ränder um die Augen. Als hätte sie geweint. Vorsichtig schob ich den Ärmel ihrer Bluse zurück und schaute mir ihren Unterarm am. Über ihrem Handgelenk hatte sie einen blauen Fleck.

»Henry? Weiß er Bescheid? Bist du deshalb zu spät gekommen? Hat er dir etwas angetan?«

»Nein«, sagte sie und lachte, um den Schmerz zu überspielen. »Nicht Henry. Als er im Wald mein Gesicht gesehen hat, hat er sofort angenommen, dass du versucht hättest, mich zu töten. Er hat nicht den leisesten Verdacht. Sie sind unvorsichtig geworden. Ich hab zufällig gehört, wie sie über den Namen auf der Akte gesprochen haben.«

»Das da«, sagte sie und deutete auf ihr Handgelenk. »Das war Dragovi´c

»Radomir? Er ist im Land?«

»In DC. Als ich heute Abend aus dem Büro kam, waren da plötzlich diese beiden Typen, die für ihn arbeiten. Sie haben mich an den Armen gepackt und gezwungen, in ihren Wagen zu steigen. Wir sind zu einem Nachtclub gefahren.«

Das White Eagle. Eine alte Beaux-Arts-Villa, wo Aleksandar und Miroslav Hof hielten. Tummelplatz der arabischen und neuen osteuropäischen Geldelite.

»Sie haben mich in ein Hinterzimmer geführt. Als ich fliehen wollte, haben sie mich an den Handgelenken gepackt und festgehalten.« Sie zog den Ärmel wieder herunter. »Dann haben sie mich zu Dragomir gebracht. Er war gerade beim Abendessen.«

»Was wollte er?«

»Dich«, sagte Annie. »Ich habe ihm gesagt, dass du verschwunden bist, dass ich auf ihrer Seite stehe, dass ich für Henry arbeite und der zusammen mit der Polizei versucht, dich zu finden. Das schien ihn alles gar nicht zu interessieren.

Ich habe versucht, ihn abzuschrecken. Ich habe ihm gesagt, dass Henry es nicht hinnehmen würde, wenn man mich so behandelte, dass er ein sehr einflussreicher Mann sei. Das sei ihm alles egal, sagte Dragomir. Henry könne ihn nicht aufhalten, niemand könne ihn aufhalten, für die Ehre sei ihm kein Preis zu hoch.

Er stand dicht hinter mir, ich konnte seinen Atem auf meinem Nacken spüren. ›Ich habe meine Tochter geliebt‹, sagte er. ›Mr. Ford liebt Sie. Mr. Ford hat meine Tochter getötet, und deshalb …‹« Sie verstummte für einen Augenblick. »Er hat den Satz nicht beendet. Er hat sich wieder hingesetzt, Butter auf sein Brötchen geschmiert und sein Weinglas hin- und hergeschwenkt.« Sie schaute auf den Boden und zögerte weiterzusprechen.

»Was hat er gesagt, Annie?«

»Das Ultimatum läuft morgen Abend um acht ab. Wenn er dich bis dahin nicht hat, schnappt er sich mich.«

»Wofür?«

Sie presste die Lippen zusammen und schloss die Augen. »Nichts Gutes.«

Ich nahm sie in die Arme. Sie zitterte.

»Er hat dir nichts angetan.«

»Nein. Nur ein bisschen hart angefasst.«

Ich schaute von ihr zu meinem Vater. Sie waren alles, was ich hatte. Und ich war dafür verantwortlich, wenn sie wegen meiner Fehler, wegen meines Kreuzzugs gegen Davies, sterben mussten. Davies wollte mich zurück. Er hatte recht gehabt: Ich wusste nicht, wie hoch der Preis für Rechtschaffenheit wirklich war. Vielleicht hatte er jetzt meinen Preis herausbekommen.

Was krankhafte Bösartigkeit anging, stellte Rado Henry in den Schatten, aber Henry besaß genügend Macht, um sich Rado vom Leibe zu halten. Wenn ich mich Henry ergab, dann würde er vielleicht dafür sorgen, dass Rado Annie in Ruhe ließ. Sicher, dafür müsste ich meine Seele verpfänden, aber den Deal hatte anscheinend schon halb Washington gemacht. Sie hatten es überlebt. Und das würde ich auch.

»Hört zu«, sagte ich. »Ich kann nicht zulassen, dass ihr wegen mir Probleme kriegt. Ich kann zu Henry gehen und …«

Annie und mein Vater schauten sich an.

Mein Vater verdrehte die Augen.

Annie schüttelte den Kopf.

»Kommt nicht infrage, Mike«, sagte er. »Er ist der furchterregendste Mann in der ganzen Stadt, und endlich hat er mal Angst. Da draußen laufen jede Menge Leute rum, die er in der Tasche hat und die ihn loswerden wollen. Er behauptet, dass es für jeden einen Hebel gibt. Wir haben den für ihn. Die Chance kannst du nicht einfach sausen lassen.«

»Also, wie machen wir es?«, fragte Annie.

Ich zeigte auf die Grundrisspläne.

»Das ist das Justizministerium«, sagte ich.

Es war ein Bundesgebäude und unterlag wie das Hauptquartier des FBI der Sicherheitsstufe IV. Schärfer bewacht wurden nur die CIA und das Pentagon. Das hieß: Abgleich der Smart-Chip-Ausweise mit einer zentralen Datenbank, Besucherbegleitung rund um die Uhr, Geländeüberwachung, zentral gesteuerte Überwachungskameras, Röntgen- und Magnetometergeräte an allen Eingängen, Klasse-II-Schlösser (genau, die guten alten Dinger von Sargent & Greenleaf).

Das Gebäude war der Sitz des FBI, des Marshals Service, des Justizministers, der Drogenbekämpfungsbehörde und der Verwaltung für die Bundesgefängnisse: die gefürchtetsten Feinde des Kriminellen, zweckdienlich unter einem Dach.

»Ich breche da ein und stehle die Akte«, sagte ich.

»Und dann?«, fragte sie.

»Feilsche ich mit dem Teufel.«

Am Eingang des Justizministeriums waren vier Wachen postiert. Alle bewaffnet. Damit nicht genug, trugen die bei-den Beamten des Federal Protective Service neben dem Eingang HK-MP5-Maschinenpistolen. Taschen und Aktenmappen liefen auf einem Band durch die Röntgenschleuse. Die Menschen traten durch einen der vier Metalldetektoren, wo sie fünf Sekunden lang gescannt wurden, bevor sie weitergehen durften.

Es war Samstag, ein Feiertagswochenende, sodass das Gebäude fast leer war. Die turbulente Hauptgeschäftszeit wäre mir lieber gewesen, aber wir hatten es eilig. Annie hatte aufgeschnappt, dass Henry und Marcus bei ihrem Gespräch über den Beweis das Eastern Shore erwähnt hatten. Ich weiß nicht, wie sie darauf gestoßen waren, vielleicht über das gestohlene Handy des Anwalts, aber sie würden Langford bald aufspüren, wenn sie ihn nicht schon gefunden hatten. Sie hätten sicher keine Hemmungen, Gewalt anzuwenden. Wenn sie erst mal wussten, wo sich die Akte befand, dann würde ich im Justizministerium Gesellschaft bekommen.

Annie hatte mir in unserem Schlupfloch die Haare geschnitten und gefärbt, Cartwright hatte mir noch eine kleine Beule an der Nase verpasst. Ein kleines Stückchen Latex, das aber ausreichte, dass ich mich im Spiegel kaum wiedererkannte.

Die Verkleidung hatte mein Selbstvertrauen gestärkt, allerdings war es jetzt, als ich auf die Wachposten zuging, wie weggeblasen.

Als ich meinem Vater in der Hütte die Ausdrucke des Grundrisses gezeigt hatte, bemerkte er abfällig: »Was du nicht sagst, die erklären dir im Internet, wie man ins Justizministerium einbricht?«

Das stimmte tatsächlich. Die Aufpasser des Kongresses, das Government Accountability Office, führten etwa alle fünf Jahre Tests durch. Sie versuchten an den Wachposten vorbei in die Gebäude der CIA, des FBI, des Justizministeriums, von Bundesgerichten usw. zu gelangen. Und dann waren sie auch noch so nett, die Ergebnisse – wie und wo sie es gemacht hatten – genau aufzuschreiben und zu veröffentlichen, damit sich unternehmungslustige Jungkriminelle wie ich weiterbilden konnten. Unsere Steuergelder bei der Arbeit. Am Ende fand sich sogar ein hübscher kleiner Absatz, in dem man darüber aufgeklärt wurde, dass sich an diesen Missständen aufgrund fehlender Mittel so bald nichts ändern würde. Das hoffte ich doch stark.

Der Wachmann schaute mich finster an.

Wenn man in Washington die Augen aufsperrt, dann begreift man schnell, dass wie in den meisten Bürokratien neunzig Prozent aller Anstrengungen darauf abzielen, den Anschein zu erwecken, dass etwas getan wird. Auf dem Gebiet Sicherheit ist der Prozentsatz wahrscheinlich noch höher. Mehr Wachen, mehr Waffen, mehr Absperrgitter. Unsummen werden ausgegeben, um zu beweisen, dass Unsummen ausgegeben wurden, damit es vor jedem Gebäude nur so wimmelt von bewaffneten Männern, damit man die Öffentlichkeit und die Jungs in den oberen Etagen mit einer großartigen Demonstration der Stärke in Sicherheit wiegen kann.

Vielleicht half es ja, aber es gab immer noch Möglichkeiten, sich hineinzuschmuggeln, und dieses Hardlinergetue konnte sogar nach hinten losgehen, weil die Verwundbarkeit des Systems damit lediglich vertuscht, aber nicht behoben wurde. Gut für mich. Denn vom Standpunkt des Hochstaplers aus gesehen, ließ sich die Situation gut ausnutzen. Wenn die Leute, die man reinlegen wollte, so absolut an Polizei und Waffenkraft glaubten, dann verwandelte man sich einfach selbst in einen Polizisten.

»Morgen«, sagte ich, als ich mit meinem besten High-Noon-Bullen-Gang auf den Wachmann zuging und meine Dienstmarke zückte. »Ich soll im Büro des DAG ein paar Unterlagen abgeben.«

Ich hob meinen kleinen Aktenkoffer hoch. Der Mann schaute von dem Koffer auf meine Marke und saugte an seinen Zähnen.

»In Ordnung«, sagte er. Um den Detektor zu überlisten, hatte ich im metallenen Sicherheitsfach des Köfferchens ein flaches Stemmeisen versteckt, aber er winkte mich einfach durch. Ich hätte mit einer Claymore-Mine da reinmarschieren können.

Die hätte ich auch gebrauchen können, angesichts der Frau, die der Wachmann zu mir herüberwinkte – verspannter Gesichtsausdruck, strenger Hosenanzug, frisch vom College. Mit einem Aufpasser muss man rechnen, aber es macht die Sache kniffliger. In den meisten Sicherheitsstufe-IV-Gebäuden bekommt man, außer man hatte eine Unbedenklichkeitsbescheinigung und einen Dauerausweis, immer ein Kindermädchen an die Seite. Ein Freund von mir im Außenministerium hatte sechs Monate warten müssen, bis seine Unbedenklichkeitsbescheinigung genehmigt war. Jedes Mal, wenn er pissen gehen wollte, musste er um Erlaubnis fragen und einen Aufpasser mitnehmen.

Ich war also vorbereitet. Auf dem Weg zückte ich mein Handy und fing an zu tippen (in Washington fiel man auf, wenn man nicht dauernd wie ein Zombie auf sein Blackberry starrte). »Jetzt!«, tippte ich und drückte auf Senden.

Wir brauchten etwa zehn Minuten bis zum Büro des Deputy Attorney General, kurz DAG. Sie blieb vor der Tür stehen. »Da wären wir.«

»DAOG«, sagte ich.

»Der Beamte unten hat mir gesagt, Sie wollten zum Deputy.«

»Nein, zur Debt Accounting Operations Group.«

Ein kurzes, wütendes Schnauben drang aus ihrer Nase, dann rang sie sich ein Lächeln ab. »Also schön.«

Ich spielte auf Zeit. Ich hätte ihr wahrscheinlich einfach mein Stemmeisen überziehen und sie in die nächste Toilette schleifen können, aber so machte es mehr Spaß.

Wir hatten etwa die Hälfte des Weges zu unserem neuen Ziel zurückgelegt, als die Alarmleuchten zu blinken anfingen und aus der Lautsprecheranlage eine angenehme weibliche Stimme zu uns sprach. »Notfallevakuierung. Dies ist keine Übung. Bitte begeben Sie sich langsam zum nächsten Ausgang. Bitte bewahren Sie Ruhe. Dies ist kein Probealarm. Ich wiederhole. Dies ist kein Probealarm.«

»Wir müssen das Gebäude verlassen«, sagte sie sichtlich erschrocken und ging wieder zurück. Kurz vor dem Ausgang nutzte ich das allgemeine Durcheinander und verdrückte mich in Richtung Treppenhaus.

Meine SMS war das Signal für meinen Vater gewesen, im Justizministerium anzurufen und eine Bombendrohung durchzugeben. Er hatte seine Strafe abgesessen. Mit der eigentlichen Drecksarbeit, dem Einbruch, sollte er nichts zu tun haben, das war ganz allein meine Sache.

Das Gebäude war jetzt vollkommen leer. Nachdem ich mit dem Stemmeisen zwei Türen aufgebrochen hatte, befand ich mich im untersten Kellergeschoss, wo laut Langford der Beweis gegen Henry versteckt sein musste.

Es sah aus, als wäre seit den Siebzigern niemand mehr hier unten gewesen. Die Wände waren aus Beton. In etwa eineinhalb Meter hohen Industrieregalen stapelten sich verstaubte Aktenkartons. Metallkäfige unterteilten den Raum, und dicht über meinem Kopf verliefen Leitungsrohre.

Irgendwo in diesem Labyrinth versteckte sich das Einzige, was jetzt noch meinen Arsch retten konnte – und den von meinem Vater und von Annie: der Aktenordner, auf dem ein Etikett mit dem Namen Jeffrey Billings klebte. Ich betrat den ersten Käfig, klappte Ordner auf und blätterte. Manche waren alphabetisch geordnet, andere nicht. Ich überflog die Namen auf den Ordnerrücken, suchte in den Beschriftungen nach Hinweisen auf den Inhalt. Ich konnte kein System erkennen. Auf manchen standen Daten, auf anderen Namen oder Kennziffern. Ich durchsuchte alle Ordner, deren Beschriftung auf Akten mit dem Anfangsbuchstaben ›B‹ hindeutete. Ich fand keinen Billings.

Ich konnte hören, dass draußen Sirenen heulten. Viel Zeit hatte ich nicht, bis das Bombenräumkommando anrückte und das Gebäude durchkämmte. Ich trat einen Schritt zurück und versuchte ruhig und systematisch zu denken. In der Akte mussten sich Blut- und Gewebeproben und das Protokoll der Polizei befinden. Sie musste dick sein. Ich stand in der Mitte des Raums und schüttelte meine Hände aus.

Irgendwo links von mir quietschte eine Tür. Ich war nicht allein. Ich duckte mich hinter eine Reihe Kartons und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Schritte, von vorn.

Ich ging vorsichtig hinter den Kartons entlang und schaute durch die Zwischenräume und die Gitter der Metallkäfige.

Dann sah ich sein Gesicht. Man ist nie allein, wenn William Marcus hinter einem her ist. Ich bewegte mich von ihm weg. Ich musste die Akte finden, bevor er sie oder mich entdeckte. Ich hatte das Stemmeisen. Er hatte eine Knarre. Ich war mir ziemlich sicher, dass er mich nicht gesehen hatte. Andernfalls würde er sich bereits in meine Richtung bewegen.

Er drehte langsam eine Runde durch den Raum. Ich ging ihm im Schutz der Kartons ein Stück voraus, blieb hinter einem Regal stehen, hob das Stemmeisen hoch und wartete, dass er an mir vorbeikam. Ich hatte einen Versuch. Wenn ich ihn ausschaltete, konnte ich mich ungestört auf die Suche nach der Akte machen.

Ich konzentrierte mich, atmete flach durch den Mund. Er musste jeden Augenblick auftauchen. Ich umfasste den Griff des Stemmeisens fester, spürte den kalten Schweiß auf dem Metall.

Fünf Sekunden vergingen. Zehn. Zwanzig.

Er kam nicht.

Dann hörte ich ein metallisches Scheppern. Ich schaute in den Gang. Die Tür war zu. Von Marcus nichts zu sehen.

Ich wartete noch ein paar Sekunden. Stellte er mir eine Falle? Hatte er die Akte schon gefunden? Dann roch ich es. Ich kannte diesen Geruch gut. Er hatte mich durch meine ganze Kindheit begleitet: der nach abgestandenem Kohl riechende Gestank von austretendem Gas.

Marcus hatte das Ventil von einer unter der Decke verlaufenden Gasleitung abgeschlagen. Das Leck war etwa fünfzehn Meter von mir entfernt. Qualm breitete sich aus. Dann roch ich brennendes Papier. An der gegenüberliegenden Wand schlugen unten aus einem Kartonstapel Flammen.

Er hatte weder die Akte noch mich gefunden und sich dafür entschieden, beide Probleme mit einem netten kleinen Inferno aus der Welt zu schaffen. Ich drehte mich um und entfernte mich von den Flammen. Ich befand mich im Innern eines der Käfige, aber um zum Ausgang zu gelangen, musste ich auf das Feuer zugehen.

Ich hörte ein Brausen. Das Gas hatte sich entzündet. Eine heiße Druckwelle rollte über mich hinweg. Jeden Augenblick würden die Flammen folgen. Ich würde es nie schaffen, aus dem Keller herauszukommen. An einer Seite des Käfigs stand ein leerer, offener Tresor, etwa eineinhalb Meter breit und hoch und einen Meter tief. Ohne nachzudenken, duckte ich mich hinein und warf hinter mir die Tür zu.

Ein paar lange Sekunden donnerte die Feuerwalze vorüber wie ein Düsentriebwerk. Die Stahlwände des Tresors wurden wärmer und wärmer. Dann ließ das brausende Geräusch wieder nach. Ich drückte gegen die Tresortür. Sie rührte sich nicht.

Ich hatte mich eingeschlossen. Das war mal was anderes. Ich war selbst die Beute, und musste mich aus dem Tresor herausholen.

Die dünner werdende Luft schmeckte verbrannt. Ich machte mich so klein wie möglich, um mich nicht an den heißen Tresorwänden zu verbrennen.

Um einen Tresor in einem staatlichen Gebäude zu knacken, braucht man normalerweise zwanzig Stunden – natürlich unter der Voraussetzung, man knackt ihn von außen. Ich saß im Dunkeln und tastete den Schlosskasten hinter dem Zahlenknopf ab. Der Kasten war etwa so groß wie meine Hand und mit zwei Kreuzschlitzschrauben an der Tresortür befestigt. Ich brach sie mit meinem Stemmeisen heraus und nahm das Gehäuse ab.

Die Hitze machte mich benommen. Juckender Schweiß lief mir in die Augen. Das Hemd klebte auf meiner Haut.

Es war ein Klasse-II-Schloss mit vier Scheiben. Alle Zahlenschlösser, ob ein billiges Vorhängeschloss oder das eines Tresorraums, bewahren ihre Geheimnisse auf drei oder vier drehbaren Scheiben mit je einer Einkerbung auf. Aus jeder Scheibe ragen kleine Stifte heraus, die so angeordnet sind, dass, wenn man den Zahlenknopf in der richtigen Reihenfolge vor- und zurückdreht, die Einkerbungen auf einer Linie liegen und das Schloss entriegelt wird.

Es war jetzt so heiß, dass mir der Geruch von versengtem Haar in die Nase stieg. Keuchend klemmte ich den kleinen Finger in den Mechanismus und tastete nach den Einkerbungen auf den Scheiben. Eine knifflige, schmerzhafte Arbeit.

Ich stellte die erste Scheibe ein, dann die zweite. Die heiße Luft brannte auf meiner Haut. Erst hatte der Tresor mich vor dem Feuer geschützt, jetzt war er ein Backofen. Ich drehte die dritte und die vierte Scheibe an die richtige Stelle und betete, dass das Feuer so weit erloschen war, dass es mich nicht ansengte, wenn ich die Tresortür öffnete.

Der Raum war rußschwarz, als ich den Kopf aus der Tresortür steckte. Flammen züngelten hie und da. Ich zog mir das Hemd über die Nase, befeuchtete es mit dem bisschen Spucke, das ich noch hatte, und kroch über den Boden.

Die Hitze brannte mir auf der Haut. Bei jedem flachen Atemzug hatte ich das Gefühl, als stäche mir jemand mit einem Messer in die Lungen. Aber ich schaffte es bis zum Ausgang, schlug die Tür hinter mir zu und rappelte mich auf.

Durch das kleine Türfenster warf ich einen Blick zurück in den Kellerraum. Dichter schwarzer Qualm, Feuer, brennendes Papier. Henrys Geheimnis ging in Flammen auf. Als ich zur Treppe stolperte, platzte hinter mir die Fensterscheibe aus der Tür, und die gierigen Flammen sogen den Sauerstoff in den Raum, den sie brauchten, um alles zu Asche zerfallen zu lassen. Der Beweis, das einzige Druckmittel gegen Henry Davies, sein einziger Fehler und meine einzige Chance, existierte nicht mehr.

Ich schleppte mich die Treppe hinauf. Die Hitze wurde erträglicher, der Rauch verzog sich allmählich, und ich konnte endlich wieder besser atmen. Über mir sah ich verschwommen ein rotes Schild, auf dem AUSGANG stand. Je näher ich dem Schild kam, desto schärfer wurden seine Konturen. Ich drückte die Klinke einer schweren Tür hinunter und stolperte ins Freie. Ich reckte mein Gesicht der Sonne entgegen. Noch vor einer Minute hätte ich nicht geglaubt, sie je wiederzusehen.

Freiheit. Zumindest bis ich den Kopf wieder senkte und vor mir zahllose Streifen- und Krankenwagen sowie Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr, Spezialeinheiten und FBI sah. Jeder Mann in der Hauptstadt des Landes, der eine Cargohose oder Taschenlampe sein Eigen nannte, der einen Bürstenschnitt oder aus der Mode gekommenen Schnauzbart trug, belagerte diesen einen Block der Pennsylvania Avenue und stürmte mir entgegen.

Wenn mich jemals ein immer wiederkehrender Albtraum plagen sollte, dann der: eine anrückende Armee aus Zombiebullen. Der Erste packte mich am Arm. Es war vorbei. Ich war ein Mann auf der Flucht, der von Bullen geschnappt wurde, die Henry jederzeit bestechen konnte oder schon bestochen hatte. Ich hatte gerade meinen einzigen Trumpf in Rauch aufgehen sehen. Ich hob die Arme und ergab mich.

»Alles in Ordnung, mein Junge?«, fragte der Polizist und rief dann: »Hey, macht mal ein bisschen Platz. Wo bleibt denn der Sani? Ich hab ihn. Er ist hier.«

Anscheinend hatte man sich Sorgen um den vermissten Beamten vom ATFE-Bureau gemacht – sprich: um mich. Sie führten mich durch die Absperrgitter, mit denen sie für den Fall einer Explosion das Justizministerium weiträumig abgeriegelt hatten.

Die vielen Polizistenaugen, die mich anstarrten, verunsicherten mich mehr als mein versengter Schädel. Ich fächelte mir mit der Hand Luft zu, worauf man mich gleich auf eine Trage legte und ein Sanitäter eine Sauerstoffflasche brachte. Ich hoffte, dass die Sauerstoffmaske, die versengten Haare und das rußgeschwärzte Gesicht dafür sorgen würden, dass ich noch eine Zeit lang unerkannt blieb. Ich betastete meine Nase, aber die Latexbeule war entweder abgefallen oder weggeschmolzen.

Die Sanitäter bepackten mich mit Eisbeuteln. Ein halbes Dutzend anderer Personen saß auf dem Randstein oder lag auf dem Boden und wurde ärztlich versorgt.

In etwa hundert Metern Entfernung stand ein weiteres Absperrgitter, das die Neugierigen zurückhalten sollte. Die Medienmeute war überall, die Gitter waren gespickt mit Kameraobjektiven. Die Evakuierten hatte man in einem anderen Bereich eingepfercht. Sie wurden von Polizisten befragt und durften dann durch eine schmale Öffnung im Zaun den abgesperrten Bereich verlassen. Das war der einzige Weg hinein oder hinaus.

Außerhalb des Zauns entdeckte ich William Marcus, der mit einem Polizisten sprach und dabei jede in die Freiheit entlassene Person genau unter die Lupe nahm. Ein Zivilpolizist nickte ihm zu und schob für ihn das Gitter zur Seite. Marcus ging auf die Krankenwagen zu, auf mich.

Meine Verkleidung hätte vielleicht ausgereicht, um mich an den Polizisten vorbeimogeln zu können, aber nicht an Marcus. Ich hoffte, dass etwas Schlimmes passieren möge – Schock, Herzstillstand, irgendwas –, was die Sanitäter nötigen würde, mich in einen Krankenwagen zu verfrachten und in Sicherheit zu bringen, aber für einen medizinischen Notfall oder Kollaps lebenswichtiger Organe reichte meine Willenskraft nicht aus.

Während Marcus näher kam, schaute er sich alle Gesichter genau an – die der Polizisten wie der Verletzten. Ich versuchte mich aufzusetzen und von der Trage zu steigen, aber gegen den Sanitäter – ein Bursche mit Pferdeschwanz und Händen wie Schraubzwingen – kam ich nicht an.

Marcus ging schnurstracks auf mich zu. Ich schaute senkrecht in die Luft und betete, dass er vorbeigehen möge. Aber er kam nie an.

Als ich wieder schaute, war er weg. Ich drehte mich um und sah, dass er zum Gitter zurückging. Henry Davies winkte ihn zu sich. Sie redeten kurz und überquerten dann zusammen die Pennsylvania Avenue. Sie gingen auf einen Mann zu, der neben einer schwarzen Limousine stand.

Der Mann stieg mit Davies und Marcus in den Wagen, dann fuhren sie zusammen weg. Der Mann war mein Vater gewesen.