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Sosehr ich mich mit der High Society gut stellen wollte, ich hatte immer noch den kleinen Punk und ein bisschen Stolz in mir. Wollen Sie wissen, wofür ich mich auf Chips Party schließlich entschied? Zum Teufel mit Sir Lawrence Clark. Er war sowieso ein hoffnungsloser Fall. Der Bursche hatte mich von Anfang an auf der Rolle gehabt, und mir gingen auch schon ein paar Ideen durch den Kopf, wie ich ihn mir vom Hals schaffen konnte. Ich zwinkerte ihm demonstrativ quer durch den Raum zu und verließ mit Walker die Party.
Der einzige Mensch, dem ich tatsächlich etwas verdankte, war Davies. Ich verdankte ihm alles: den Neustart, den Job, das Haus, die Gelegenheit, Annie kennenzulernen. Ich würde alles tun, was die Davies Group von mir verlangte. Wenn ich vorsichtig wäre und auf mich aufpasste, dann konnte ich Walker bei seiner lasterhaften Mitternachtstour auf den Fersen bleiben, ohne Annie zu betrügen. Schließlich erledigte ich nur meine Arbeit, einen offiziellen Auftrag. Wenigstens redete ich mir das ein, während Walker mir etwas Unheilvolles über diese Tina ins Ohr flüsterte.
»Soll ich auf dich warten?«, simste Annie.
»Wird später, Schatz. Arbeit. Tut mir leid. Ich vermisse dich!«, simste ich zurück. Was genau genommen stimmte. Als ich losfuhr, tippte Walker etwas in das Navi seines Cadillacs ein. Schweigend fuhren wir durch die Stadt. Die einzigen Geräusche waren ein gelegentliches Knacken, wenn Walker an seinen Fingernägeln herumkaute, und die fröhliche weibliche Stimme, die uns leitete. »Folgen. Sie. Der. Wisconsin. Avenue. Dreieinhalb. Kilometer.«
Ich glaube, wir waren schon in Maryland. Hinter ein paar Supermärkten bogen wir vom Highway in ein Neubaugebiet namens »Foxwood Chase« ein. Dabei handelte es sich um eins der planierten Waldstücke, auf denen sie die Häuser so schnell hochzogen, dass kein Baum und kein Busch mehr übrig blieb – nur Häuser rund um einen Rückhalteteich, der aussah wie ein Baggerloch. Ich sah leere Häuser und unbebaute Grundstücke, kein ungewöhnlicher Anblick im Speckgürtel von DC. Viele Bauträger waren pleitegegangen, viele Häuser zwangsversteigert worden. Man kam sich vor wie in einer Geisterstadt.
Die flötende Navi-Stimme dirigierte mich vor das Tor einer Einfahrt. Walker lehnte sich aus dem Beifahrerfenster und winkte in eine kleine Überwachungskamera am Zaun. Sesam, öffne dich. Wir hielten vor einer protzigen Pseudovilla: Säulen, drei Stockwerke hoher Eingang, spiralförmige Büsche, das volle Programm.
Ein Bodybuilder-Typ – jung, vielleicht hundertvierzig Kilo – öffnete die Tür. Er hatte ein mit Grübchen verziertes Babygesicht und trug ein Muskelshirt. Auf seinem Kopf saß in verwegenem Winkel eine weiße Baseballkappe der Cleveland Indians. Walker und das Muskelpaket begrüßten sich, indem sie ihre Hände umfassten und sich gegenseitig auf die Schultern klopften. Der Typ beäugte mich misstrauisch, bis Walker sagte: »Alles cool, Squeak, ich bürge für ihn.« Squeak knipste sein Lächeln wieder an und führte uns ins Haus.
Wie wahrscheinlich viele andere Menschen auch schleppe ich jede Menge Vorurteile über Bordelle mit mir herum. Ich sehe eine viktorianische Villa in New Orleans vor mir, eine elegante, immer noch bildschöne ältere Dame, haufenweise Tüll und Spitze.
Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab das, was ich hier sah: ein vierhundert Quadratmeter großer Kasten von Haus, unmöbliert, bis auf einige schwarze Ledersofas und einen Sechzig-Zoll-Plasmafernseher. Ich hatte eine Bar erwartet oder das Interieur eines Striplokals, wo ich es mir beqeum machen und Walker im Auge behalten konnte, ohne dass ich etwas tun musste, wofür ich mich zu sehr hassen würde. Hier herrschte allerdings VIP-Betreuung, keine Chance, sich irgendwo zu verstecken. Zögernd nahm ich auf einem Sofa Platz.
Sofort bekam ich weibliche Gesellschaft, die umgehend in meine Privatsphäre eindrang und sich vorstellte: »Mein Name ist Natasha. Ich bin aus Russland.«
»Sehr originell.«
»Vielen Dank.«
Tja, womit soll ich bei Natasha anfangen? Sie hatte ein Monroe-Piercing – einen falschen Diamanten in der Oberlippe, der wohl Marilyns Schönheitsfleck ähneln sollte. Sie trug Glitzer-Make-up und etwas, was ich hier wohlwollend ein Kleid nennen möchte. Sie wurde gleich ein wenig handgreiflich, was mich aber nicht sonderlich beunruhigte. Wenn nötig, würde ich eben eine Szene machen oder einfach abhauen, jedenfalls würde ich nicht Katz und Maus mit ihr spielen. Mir war egal, was Marcus sagte. Irgendwo musste ich die Grenze ziehen.
An Walker schmiegte sich eine Koreanerin mit einem Rattenschwanz, deren Namen ich nicht verstanden hatte. In meinem aufgewühlten inneren Monolog nannte ich sie fortan Hello Kitty. Beide Mädchen waren frisch vom Dampfer, man konnte fast noch die Verpackung riechen. Kitty konnte Natasha, was deren Trash-Look anging, nicht das Wasser reichen, sie war sogar ziemlich hübsch und machte einen naiven Eindruck. Glücklicherweise hatte ich das Mädchen erwischt, das mich komplett abtörnte. Keine Versuchung.
Meine Abwehrreihen waren gut geschlossen, als Natasha mit zwei Fingern ihrer linken Hand an meinem Oberschenkel hinaufkrabbelte, sodass ich tatsächlich glaubte, ich würde unversehrt an Leib und Seele aus dieser Geschichte herauskommen. Ich konnte mich fast entspannen.
Nur der Bursche in der Küche beunruhigte mich. Er war schmächtig und jung, gerade erst College-Alter, und achtete nicht auf das, was sich im Wohnzimmer abspielte (das Haus hatte einen offenen Grundriss, in dem alle Geräusche widerhallten). Der Junge saß auf einem Hocker an der Kücheninsel. Sein Handy nahm ihn vollkommen in Anspruch, sein Blick war der eines Toten. Er tippte mit dem Daumen pausenlos auf die Tasten, während er mit der anderen Hand an den Aknenarben in seinem Gesicht herumzupfte. Wenn ich es mal geschafft hatte, ihn zu ignorieren, drang durch den Äther irgendetwas Lustiges an sein Ohr, worauf er in ein mädchenhaftes Gegacker ausbrach, das sich im ganzen Haus ausbreitete und mir die Haare zu Berge stehen ließ. Das Bürschchen wog höchstens fünfundfünfzig Kilo, machte mir aber aus irgendeinem Grund mehr Angst als Squeak.
Natasha schienen inzwischen die Arme einer Krake gewachsen zu sein. Der Junge kicherte wieder. Gerade als ich glaubte, jetzt könne es wohl nicht mehr gruseliger werden, ging Squeak zu der Stereoanlage und legte eine CD ein. Streicherklänge quollen aus den riesigen Lautsprechern. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich sie einordnen konnte. Das war Dusty in Memphis, »Just a Little Loving«.
Irgendwie hievte das die ganze Geschichte auf Albtraumebene. Es reichte. Ich war draußen. Das war es nicht wert, meine Anwaltszulassung zu verlieren (seit Februar hatte ich meine Zulassung für Virginia) oder Annie zu betrügen. Die Frage war, ob ich mich verdrücken konnte, ohne meine bisherige Arbeit mit Walker zu ruinieren.
Als ich aufstand, wurde per Augenkontakt sofort eine wortlose Kommunikation zwischen Walker und Squeak in Gang gesetzt. Squeak nickte und griff nach einem lackierten Kasten, der auf dem Beistelltisch stand. Bezüglich des Inhalts hatte ich eine böse Vorahnung.
Ich schätze, es demonstriert mein Unbehagen an der gesamten Situation, dass ich erleichtert war, als er Drogenzubehör herausholte: eine Glaskugel.
Fast hätte ich Natasha umarmt – fast. Das waren keine Prostituierte! Das waren Drogenschlampen. Fast hätte ich mir mit der Hand gegen die Stirn geschlagen. Ich hatte schon seit Jahren kein Gras mehr geraucht, aber ich erkannte eine Wasserpfeife, wenn ich eine sah. Ich hatte gute Lust, meine neuen Freunde in Foxwood Chase an meiner Erleichterung teilhaben zu lassen. Ich könnte sogar (eines Tages vielleicht) Annie die ganze Geschichte erzählen. Sie hätte ihre helle Freude daran: Der Abgeordnete Eric Walker fährt zu seinem Dealer, um mit mir ein bisschen Gras zu rauchen, und ich raste fast aus, weil ich glaube, er schleift mich in einen Puff. Scheiße, nachdem ich mich derart in die Sache reingesteigert hatte, hätte ich sogar einen Zug vertragen können.
»Auch ein paar Steine?«, fragte Squeak.
»Nein, danke«, sagte ich. Squeak schaute mich an, als wäre ich von der Drogenfahndung, füllte die Wasserpfeife aber trotzdem. Den Slangausdruck »ein paar Steine« hatte ich noch nie gehört, dachte mir aber nichts dabei, schließlich war ich ja nicht gerade zu Hause in der Szene. Auch dem Bunsenbrenner, den Squeak aus dem Kasten holte, oder dem sanft klimpernden Geräusch, als er die Kugel füllte, maß ich keine besondere Bedeutung bei.
Erst als er das verdammte Ding anzündete und mir ein ekelerregend süßlicher, an chemische Reinigungsmittel erinnernder Duft in die Nase stieg, erkannte ich, dass es hier nicht um das gute alte amerikanische Ganja aus seligen Collegezeiten ging.
Ich wollte Squeak nicht aufregen, vor allem jetzt nicht, da er seine Lungen mit welcher Droge auch immer vollgepumpt hatte. Ich versuchte also auf die beiläufige Tour, mehr zu erfahren.
»Ach so, das ist …«
»Tina«, sagte Walker.
»Tina, richtig.«
»Ice«, fügte Squeak hinzu, was mir auch nicht weiterhalf.
Crack? War das Crack? War ich in einem verdammten Crackhaus gelandet?
»Ah, richtig«, sagte ich. »Koks.«
»Nein, Tina. Crystal.«
Natasha kicherte über meine Sprachprobleme, was mir ziemlich unverschämt vorkam. Also … Crystal Meth! Aha. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade bei Cluedo gewonnen und wäre jetzt um die Winzigkeit schlauer, dass meine neuen Freunde jedenfalls kein Crack rauchten.
Folgendes wusste ich über Crystal Meth (aus der Navy, wo eine nicht unerhebliche Zahl der Bilgenratten aus dem Maschinenraum methsüchtig war oder gewesen war): Das Zeug lässt deinen Pimmel schrumpfen wie ein Bad im Nordatlantik und macht dich gleichzeitig unglaublich geil, ein extremes Paradoxon, das zu allen möglichen Problemen führt, die ich unter allen Umständen vermeiden wollte.
Natasha blies eine riesige Methwolke in die Luft, und ihre Augen tasteten mich ab wie ein Dinnerbuffet. Squeak, Kitty und Walker verdrückten sich, wobei mir auffiel, dass die beiden Herren vorher noch ein paar Pillen einwarfen. Ich blieb allein zurück mit meinem Russenmädchen, das jetzt mit dem Kopf einen Scheinangriff lancierte, dann erfolgreich meine Verteidigung durchbrach und mich eingehend begrapschte. Ich zog ihre Hand weg und stellte sicher, dass mir dabei nicht wichtige Teile meiner Anatomie abhandenkamen.
Ehrlich gesagt, schaute sie mich an, als hätte ich ihr das Herz gebrochen. Sie zitterte fast, so stark war die Wirkung der Droge.
»Hör zu, es tut mir leid. Du bist sehr nett. Aber ich bin nicht so ein Typ. Ich muss jetzt gehen.«
Und dann, Gott sei Dank, lehnte sich Natasha zurück und schenkte mir ein süßes Heiligenlächeln. »Ich verstehe dich.«
»Schön. Es ist nichts Persönliches. Ich muss jetzt einfach gehen.«
»Ja. Du bist Schwuchtel. Kein Problem. Ich kann helfen.«
»Nein, nein«, sagte ich.
Sie sagte etwas zu dem Jungen in der Küche, was sich mehr nach Polnisch als nach Russisch anhörte, und rief es dann noch einmal, lauter, damit er überhaupt reagierte. Er schien verärgert zu sein und schlurfte schmollend nach oben. Ich hätte den Knallkopf vom ersten Augenblick an als Speedfreak erkennen müssen.
Ich schaltete mein Handy ein. Eine SMS von Annie: »Todmüde, Sweetie. Nacht. Drück mich, wenn du kommst.«
Ich hatte mich schon vorher gefühlt, als würde ich sie betrügen, aber das streute noch zusätzlich Salz in die Wunde. Ich ging in die Diele und schrie die Treppe hinauf: »Ich muss Eric Bescheid sagen, dass ich gehe.«
Ich wartete eine Minute, trat von einem Fuß auf den anderen und schaute gelegentlich mit einem idiotischen, nervösen Lächeln zu Natasha.
Schließlich tauchte der junge Bursche oben an der Treppe auf und winkte mich hoch. Im ersten Stock war es noch kahler als im Erdgeschoss. Er führte mich durch einen langen Gang in einen kleinen Raum, der an zwei Seiten Schiebetüren hatte, wie man sie als Raumteiler in Hotelsuiten findet.
»Warten Sie hier«, sagte er und verschwand.
Eine Minute verging, dann eine zweite. Ich dachte daran abzuhauen, aber Marcus hatte mir ausdrücklich gesagt, Walker nicht aus den Augen zu lassen. Also dachte ich mir, um Marcus zufriedenzustellen, sollte ich unserem Abgeordneten wenigstens Bescheid sagen, bevor ich mich davonmachte. Schließlich tauchte Squeak auf, das Monster mit dem Babygesicht. Er trug einen Bademantel, und seine Backen glänzten rosa. »Ich muss nur kurz mit Eric sprechen, aber vielleicht könnten Sie ihm ja sagen, dass …«
Squeak deutete mit einem Kopfnicken auf eine der Schiebetüren und machte sie dann weit auf.
»Hey, Eric«, sagte ich, als ich den Senator entdeckte. Dann verschlug es mir die Sprache. Er war der Mittelpunkt einer Orgie, die fast so kunstvoll arrangiert aussah wie eine Cheerleader-Choreografie. Ich wandte sofort den Kopf zur Seite, worauf ich nun in ein anderes Zimmer schaute, wo ein älterer Mann, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass er auch im Haus war, mit zwei Damen beschäftigt war.
Ich war für einen Augenblick wie paralysiert und starrte an die Wand vor mir. Dann versuchte ich die Kontrolle über meine Muskeln zurückzugewinnen, um mich so schnell wie möglich zu verpissen, als ich plötzlich Walkers Stimme hörte. »Hey, Mike! Na los, komm rein.«
Squeak öffnete seinen Bademantel. Welche Pille er auch eingeworfen hatte, den einen Nebeneffekt des Crystal Meth machte sie locker wett. »Natasha meinte, du willst was von mir«, sagte er.
Ich drehte mich zu der Tür um, die mich von alldem erlösen würde. Squeak trat einen Schritt vor und versperrte mir den Weg.
»Wo liegt das Problem?«, fragte er. Ich schaute zur Decke und bewegte mich mit seitlichen Trippelschritten in einem großen Bogen um Squeak herum Richtung Tür. »Ich meine, Eric hat schon für alles bezahlt.«
Squeak rückte mir auf den Pelz wie eine unbarmherzige Zombie-Armee. Normalerweise lasse ich mir nur ungern eine Party oder einen guten Deal entgehen, aber jetzt rannte ich so schnell, wie ich noch nie gerannt war. Für die von Ihnen, die zu Hause meine Trefferquote mitschreiben, stimmt, ich lag falsch damit, als ich den Laden für ein gutes altes Freudenhaus hielt, und mit meinem Tipp Opiumhöhle lag ich auch daneben. Nein, meine Damen und Herren, wir hatten den Jackpot geknackt: Der noble Gentleman aus Mississippi hatte mich in ein methverräuchertes Bordell mit Komplettservice geschleift.
Ich stand unter Schock und versuchte das alles aus meinem Hirn zu tilgen, während ich, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunterrannte, unten angekommen stolperte, mich wieder aufrappelte und dann vor mir die Bullen stehen sah.
Für den Bruchteil einer Sekunde war ich fast froh. Die Kavallerie würde mich vor diesen bösen, bösen Menschen und Squeaks riesigem Schwengel beschützen. Als jedoch die Handschellen klickten, begann ich zu begreifen, in was für eine gigantische Monsterscheiße ich mich geritten hatte. Hier ging es nicht um ein paar locker abzureißende Tage wegen Hausfriedensbruchs, das Schlimmste, was mir nach meiner Spindnummer im Met Club hätte passieren können. Jetzt hatte ich zwei oder drei schwere Straftaten am Hals. Und zwar in Virginia, wo es vor Richtern wimmelte, die noch auf den Galgen schworen.
Aber das Einzige, woran ich denken konnte, war mein Vater. Der alte Bastard hatte mir das immer prophezeit.