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Bevor ich Sir Larry kennenlernte, hatte ich die Klassenvorbehalte, die mich belasteten, schon weitgehend abgelegt. Egal, wie übel einem das Leben mitspielt, ab einem bestimmten Punkt kommt einem das alles ein bisschen lächerlich vor – der Punkt war bei mir wohl erreicht, als ich das Haus gekauft und die Vorteile meiner steuerbegünstigten Rentenversicherung ausgeschöpft hatte. Ich beschloss, ein paar Eigenheiten aus meiner wechselvollen Vergangenheit beizubehalten, aber bloß, um meine Persönlichkeit zu unterstreichen, ansonsten ließ ich alle Bitterkeit fahren.

Sir Larry lebte im Norden Virginias in »Hunt Country«, nur dreißig oder vierzig Minuten von dem Ort entfernt, an dem ich aufgewachsen war, wo ich in den Wäldern hinter dem Einkaufszentrum so viele idyllische Sommer verlebt hatte, wo ich nach Juicy Fruit schmeckende Küsse getauscht, mit allen möglichen Sachen gezündelt und mit dem Revolver von Rich Ianuccis Vater gespielt hatte. Und trotzdem hatte ich keine Ahnung, dass sich nur eine kurze Fahrt von der Spielwiese meiner Jugend entfernt ein Paradies für Washingtons Geldelite befand.

Zwischen Middleburg und den Ausläufern der Blue Ridge Mountains erstreckt sich grüne Hügellandschaft. Das in riesige Anwesen parzellierte Land ist gesprenkelt von idyllischen, hyperreichen Städtchen, deren Wirtschaftskraft auf lunchenden Damen und possierlichem Schnickschnack ruht. Die gesamte Gegend ist in höchstem Maße anglophil. Das gesellschaftliche Leben spielt sich bei den samstäglichen Fuchsjagden und in Tavernen mit Namen wie Old Bull & Bush ab, in denen unweigerlich George Washington aus diesem oder jenem Grund eingekehrt war. Dort war Annie aufgewachsen. Und nachdem wir ein paar Monate zusammen waren, nahm sie mich mit zum Landsitz ihres Vaters.

Wenn Sie mir eine kleine Abschweifung in Liegenschaftspornografie gestatten: Wir sprechen hier von tausend Hektar mit Blick auf den James River, einer Kolonialvilla aus den 1790ern mit acht Schlafzimmern, einem Sechstausend-Flaschen-Weinkeller, Zwanzig-Boxen-Stallungen, Swimmingpool drinnen und draußen, Tennisplätzen, Rugbyfeld, Pistolen- und Tontaubenschießstand, Golfübungsplatz, Softballfeld mit Spielerbänken, Anzeigetafel und Freilufttribüne (weil: was hat ein Spielchen im Garten für einen Sinn, wenn man keine Sitzplätze für sechzig Zuschauer anzubieten hat?). Ich könnte die Liste fortsetzen.

Jen, Annies Freundin aus dem Büro, war einmal übers Wochenende dort gewesen und hatte derart geschwärmt, dass ich ziemlich aufgeregt war. Dauernd hatte sie von Annies coolem Dad erzählt, von dem unglaublichen Küchenmeister, von den Grand Crus, mit denen sie sich betrunken hatten, und davon, was sie sonst noch so alles getrieben hatten in Sir Larrys privatem Xanadu.

Die Auffahrt war locker eine halbe Meile lang. Vor dem Haus stieg ich aus meinem Jeep, von dem schon der Lack abplatzte, drehte mich um und sah, dass über den weitläufigen Rasen sechs schwarzbraune Dobermänner auf uns zugaloppierten und den Abstand zu uns in kaum fassbarer Zeit verkleinerten. Ihre Mäuler bewegten sich, als ob sie bellten, aber es war kein Geräusch zu hören. Das war furchteinflößend, klar, aber es war vor allem mehr als gruselig, die schnappenden Kiefer dieser schlanken Muskeltorpedos zu sehen, aber nichts zu hören. Ich fragte mich, ob ich vielleicht ein bisschen schwer von Begriff sei. Vielleicht hatten sie mich längst erreicht, und ich war bereits tot.

»Aus«, sagte eine herrische Stimme.

Die Hunde blieben sofort stehen und legten sich etwa eineinhalb Meter vor Annie und mir auf den Boden. Ihre Augen fixierten mich auch weiterhin, und ich fühlte mich wie ein großes köstliches Schweinerippchen. Lawrence Clark hatte rotblonde Haare und dauergebräunte Haut, war eins neunzig groß und früher Verbindungshalb der englischen Rugbynationalmannschaft gewesen (seinen Adelstitel hatte er sich mit Rugbysiegen und Wohltätigkeit verdient). Heute trug er einen Overall, der aussah, als wäre er aus Umzugsdecken zusammengenäht, und ein Gebilde, das einem zusammengerollten Stück Teppichrest ähnelte.

»Nur eine kleine Trainingseinheit für die Hündinnen«, sagte er. Da fiel mir auf, dass er auch eine Peitsche trug. Er küsste Annie auf die Backe, warf einen Blick auf den Jeep und streckte dann die Hand aus. Er taxierte mich einige lange, ungemütliche Sekunden.

»Willkommen«, sagte er und knipste ein routiniertes Lächeln an. Das Hausmädchen und der Butler halfen uns mit dem Gepäck und zeigten uns unsere Zimmer, erst Annies und dann meins, das am entgegengesetzten Ende des langen Flügels lag. »Sir Lawrence sagte, dass Sie hier schlafen sollen.«

Botschaft verstanden. Allerdings hätte ich Sir Larry süffisant darauf verweisen können, dass es nun ja wohl ein bisschen zu spät sei, um diese Stalltür zu verrammeln. Ich stand am Fenster und beobachtete ihn unten auf dem Rasen. Er trug dieses zusammengerollte Ding um seinen Arm und schrie und schlug mit der Peitsche auf die Dobermänner ein, während sie mit knirschenden Zähnen an dem Ding herumrissen.

Ich war gespannt, was er mit mir vorhatte.

Beim Abendessen, das wir drei an einem Tisch für zwanzig einnahmen, versuchte ich ein Gespräch über Wein anzufangen. »Wow«, sagte ich nach dem ersten Schluck und schaute auf die Flasche Mouton-Rothschild, die vor uns auf dem Tisch stand. »Der Null-Sechser war offenbar ein guter Jahrgang für Bordeaux.« Ich hielt das für einen ganz passablen Einstieg in ein Gespräch bei vornehmen Leuten.

»Ich dachte mir, etwas …« Er musterte mich eingehend. »… Gefälliges wäre passend.« Das darauf folgende Lächeln ließ seine Augen unberührt. Dann erforderte plötzlich der Blumenkohl auf seinem Teller seine Aufmerksamkeit.

Sir Larrys Gefühle mir gegenüber waren unzweifelhaft frostiger Natur. Das war nicht der Mensch, den Jen mir geschildert hatte. Natürlich wusste ich, dass es vermutlich sehr viel einfacher war, mit dem alten Briten eine »klasse Zeit« zu verbringen, wenn man kein Parvenü war, der seine Tochter aufs Kreuz legte. Aber vielleicht bildete ich mir das alles nur ein: In dem erlesenen britischen Akzent, den Sir Lawrence pflegte, war es kaum möglich, irgendetwas zu sagen, das nicht herablassend klang.

Annie war auch keine große Hilfe. Nachdem ich mich für die Nacht in mein Zimmer – grün-weiß gestreifte Tapeten, Zeichnungen zum Thema Bärenhatz, sieben Regalbretter voller gruseliger antiker Puppen – zurückgezogen hatte, klopfte sie an die Tür. Nach ein paar ausgelassenen Unartigkeiten schliefen wir eng umschlungen ein und wachten auch genauso wieder auf.

Natürlich will ich mich nicht beklagen, trotzdem war die Situation eindeutig peinlich, als wir bei Morgengrauen unsere verschlafenen Augen öffneten und in der Tür Sir Lawrence mit einem Dobermann und einer zweiten bösartig aussehenden Bestie stand.

»Ich wollte euch nur Bescheid sagen, dass das Frühstück fertig ist«, sagte er.

»Danke, Daddy«, sagte Annie. Sie setzte sich auf, zog dabei die Bettdecke mit nach oben und entblößte ziemlich viel von meinen nackten Beinen. Unsere Pyjamas lagen in einem Haufen auf dem Boden.

Annie schien sich der spannungsgeladenen Situation gar nicht bewusst zu sein. »Ist Sundance schon aufgezäumt?« (Ich verstand, dass das irgendetwas mit einem Pferd zu tun hatte.)

»Ja«, erwiderte er, ohne auch nur eine Sekunde davon abzulassen, mit seinen Augen Löcher in mich hineinzubohren.

Wir hatten einen geschäftigen Nachmittag auf dem Anwesen (beim Tontaubenschießen war ich top, beim Reiten fiel ich vom Pferd, sagen wir also unentschieden). Kurz bevor wir wieder nach DC fuhren – Annie war ins Haus zurückgelaufen, um sich noch von dem Hausmädchen zu verabschieden –, waren Sir Lawrence und ich für ein paar Augenblicke allein.

Er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte – wohl für den Fall, dass ich zu dämlich sei, um zu begreifen, was er mir das ganze Wochenende über klarzumachen versucht hatte: »Keine Ahnung, was Sie für ein Spiel spielen, aber ich glaube nicht, dass Sie gut für Annie sind. Allerdings … im Augenblick scheint sie ja ihren Spaß mit Ihnen zu haben. Also …« Er verzog das Gesicht, als würde er etwas äußerst Unappetitliches herunterschlucken.

»Wenn Sie ihr wehtun«, fuhr er fort, »wenn Ihnen auch nur der kleinste Fehler unterläuft, dann werde ich Sie finden und ans Kreuz nageln.«

»Wir können!«, schrie Annie. Sir Larrys Tonfall änderte sich in der Sekunde, als sie auf der Treppe erschien.

»Na, wie hört sich das an?«, fragte er mich und setzte für Annie ein vergnügtes Gesicht auf.

»Na ja, ein bisschen brutal vielleicht, aber ich hab’s kapiert.«

Während mein treuer Jeep die endlose Auffahrt hinunterrollte, schaute Annie mich an und fragte: »Worüber habt ihr gerade gesprochen?«

Auf dem Rasen sah ich einen der Köter, der auf seinem Bauch lag und zufrieden am Kopf einer Vogelscheuche kaute.

»Über die Jagd.«

»Ah, schön«, sagte sie und legte mir beruhigend die Hand auf den Oberschenkel. »Manchmal treibt er’s mit seiner Fürsorge ein bisschen weit, aber ich glaube, dass er langsam anfängt, dich zu mögen.«