7
Ein fast zehn Meter großer Clown ist etwas, woran man sich erinnert. Dieser stand an einem verrotteten Stück Highway in Virginia vor einem verrammelten Laden namens Circus Liquors und hatte ein durchgeknalltes Lächeln im Gesicht. Er jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken, und ich hatte das Gefühl, als hätte ich ihn schon mal gesehen. Wo genau, fiel mir aber nicht ein.
Dort sollte ich abbiegen, hatte mein Vater gesagt. Nach etwa einer Meile würde ich dann sein Haus sehen. Das Haus war eine Tankstelle: zwei Zapfsäulen, eine Werkstatt und ein winziger kastenförmiger Lebensmittelladen. Ich schaute in eine der Werkstattbuchten und sah ihn mit einer Schleifmaschine an dem Funken sprühenden Kotflügel eines 70er Cutlass arbeiten. Die Werkstatt war so vollgestopft, dass ich nicht in sein Blickfeld treten konnte. Ich ging ein paar Schritte hinein und hoffte, er würde mich auch so bemerken. Nichts. Schließlich wartete ich, bis er die Schleifmaschine vom Kotflügel nahm und klopfte ihm leicht auf die Schulter.
Er zuckte zusammen und drehte sich um, wobei er die Schleifmaschine so hoch hielt, als wollte er mir damit den Kopf absäbeln. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich entspannte.
»Mein Gott, Mike.« Er legte die Maschine auf den Boden und umarmte mich. »Bin immer noch ein bisschen schreckhaft.«
Merke: Schleiche dich niemals von hinten an jemanden heran, der sechzehn Jahre lang auf seinen Arsch aufpassen musste.
Es war März, neun Monate nach meinem Dienstantritt bei Davies, einen Monat vor der Katastrophenparty des Abgeordneten Walker, wo mich die Bullen einkassierten. Mein Vater war seit etwa sechs Wochen wieder aus dem Gefängnis. Wir hatten uns natürlich ein paarmal getroffen, aber das war bei Essen und Barbecues unter dem Motto »Willkommen zu Hause« gewesen, wo jeder sich von seiner besten Seite zeigte, zu viel trank und vor Versprechungen überquoll, dass man auf jeden Fall in Kontakt bleiben würde.
Das war das erste Mal, dass wir unter uns waren, nur er und ich, keine Feierlichkeiten, der normale Alltagstrott. Ich spürte, dass er versuchte, mich zurückzugewinnen, dass er unsere Vater-Sohn-Beziehung kitten wollte, so wie den Cutlass. Ich war dem bislang aus dem Weg gegangen.
Ich hatte das alles schon einmal durchgemacht, mit meinem Bruder. Ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Soweit ich wusste, lebte er in Florida. Er war zu keiner der Entlassungspartys für meinen Vater aufgetaucht. Obwohl Jack dafür verantwortlich gewesen war, dass ich als Neunzehnjähriger fast im Gefängnis gelandet wäre, hatte ich immer versucht, der Nette zu sein, der, der anrief, die Prügel einsteckte und die Familie zusammenhielt. Sogar als er die Schulden für die Behandlungskosten meiner Mutter auf mich abwälzte, schloss ich ihn nicht aus. Sosehr ich es auch wollte. Das war ein Fehler. Alle paar Jahre platzte er in mein Leben, ließ die guten alten Zeiten wieder aufleben und ließ mich erst wieder aus der Bar raus, wenn sie zumachte. Es war immer ein Spaß, am Anfang – wer macht nicht gern mit seinem älteren Bruder einen drauf? Bis ich schließlich begriff, dass der Gauner mir eine Schlinge um den Hals gelegt hatte und sie immer enger zuzog. Normalerweise zog er mir Geld aus der Tasche oder brauchte einen Unterschlupf für sich und irgendwelchen Abschaum, mit dem er sich gerade eingelassen hatte. Betrüger verlassen sich auf deinen Anstand, deine Freundlichkeit. Zuerst, um sich anzuwanzen, dann, um dich zu verletzen und auszunutzen. Nachdem mir das ein halbes Dutzend Mal passiert war, strich ich ihn aus meinem Leben und ignorierte seine Anrufe, die Appelle an die Familie und die Bitten um Hilfe, mit denen er sich immer wieder zurück in mein Leben drängte. Und als er schließlich begriff, dass nichts mehr aus mir herauszuholen war, habe ich nie wieder von ihm gehört.
Mit meinem Vater war ich nicht so streng. Meiner Meinung nach hatte ich mich ihm gegenüber mehr als anständig verhalten, als ich ihm durch Henry Davies’ Beziehungen seine Bewährung verschafft hatte. Diese Beste-Kumpel-Tour ging mir schwer an die Nieren. Ich würde ihm nicht einfach so durchgehen lassen, was er der Familie angetan hatte, aber ich würde ihn auch nicht damit quälen. Stellen Sie sich irgendeine unangenehme Arbeit vor, die Sie immer schon erledigen wollten, aber sicher nie erledigen werden: den Keller ausmisten, einen randvollen Schrank ausräumen, alte Klamotten wegwerfen. So war das mit meinem Vater und mir. Im Grunde wollte ich der ganzen Geschichte einfach aus dem Weg gehen. Aber mein Vater rief immer wieder an: hartnäckig, aber nie aufdringlich. Er war wie ich: Willenskraft in rauen Mengen.
»Ich muss mich eben sauber machen«, sagte er. Wir verließen die Werkstatt. Im Wald hinter der Tankstelle stand ein dreißig Jahre alter Wohnwagen mit einem Campingtisch, ein paar Klappstühlen und einem Grill davor: sein Zuhause.
Der Besitzer der Tankstelle, ein alter Freund meines Vaters namens George Cartwright, ließ ihn dort wohnen und den Laden leiten. Da aber nur zwei oder drei Burschen da arbeiteten, hieß leiten in der Regel volltanken und Dellen ausbeulen.
Die Ordnung im Innern des Wohnwagens empfand ich ein bisschen befremdlich: Alles war in rechten Winkeln angeordnet, das Bettlaken war so fest gespannt wie eine Trommel. Der Schreibtisch war mit Rechnungsbüchern und Lehrbüchern über Buchhaltung bedeckt. Auf der Küchentheke lag ein Dutzend Packungen Ramen.
Er bemerkte meinen Blick. »Ich mache die Bücher für George«, sagte er. Er hatte im Gefängnis Buchhaltung gelernt und trotz aller Knüppel, die man ihm zwischen die Beine geworfen hatte, sogar den Abschluss gemacht. Bargeld, Bücher mit festem Einband und Internet sind für Gefangene verboten. Er schrieb weiß Gott wie viele Briefe, spürte einen pensionierten Professor für Finanzwesen auf, der an einem Quäker-College unterrichtet hatte, und kämpfte sich durch alle Prüfungen. Hörte sich ein bisschen wie meine eigene Geschichte an, nur hundertmal härter. Je klarer mir wurde, wie ähnlich wir uns waren, desto wütender wurde ich, dass er so ein Totalversager war. Und wohl auch auf mich selbst, dass ich zu nett zu ihm war, dass ich ihm ermöglicht hatte, nach allem, was passiert war, wieder ins Leben zurückzufinden.
Ich musterte ihn in dem grellen Neonlicht. Er trug sein Haar immer noch wie früher, nicht gerade ein Vokuhila-Schnitt, aber im Nacken etwas länger. Es war inzwischen grau geworden. Aber er sah gesund aus. Anscheinend hatte er sich während der Knastzeit in Form gehalten, er hatte immer noch die Sprinterfigur aus Highschoolzeiten. Von einem Mundwinkel verlief eine gezackte Narbe die Backe hinauf. Wenn man ihn danach fragte, sagte er immer, er hätte sich im Gefängnis beim Rasieren geschnitten, lachte nervös und wechselte dann das Thema. Der zottelige Magnum-Schnauzer, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnerte, hing immer noch über seine Oberlippe, und er trug immer noch knallbunte Bill-Cosby-Pullover mit Zickzackmuster – als wäre er per Zeitmaschine direkt aus dem Jahr 1994 eingetroffen. Was im Grunde ja auch stimmte.
Sechzehn Jahre Knast sind eine lange Zeit, und das merkte man auch. Da waren die Ramen und die Schreckhaftigkeit. Er mochte nicht, dass man ihn anfasste. Vor Türen blieb er einen kurzen Augenblick stehen, so sehr hatte er sich daran gewöhnt, dass jemand anders die Tür für ihn öffnete. Dann lachte er über sich selbst. Als wir das erste Mal zusammen essen gingen – zu Wendy’s – war er vollkommen überwältigt von der Speisekarte, von den vielen Wahlmöglichkeiten. Sechzehn Jahre lang hatte man ihm genau vorgeschrieben, was er zu essen hatte, wann er zu schlafen, aufzustehen, zu gehen, zu scheißen und zu duschen hatte. Er hatte fast vergessen, wie man eine eigene Entscheidung trifft. Wenn jemand aus Seinfeld zitierte oder ihm sagte, er solle etwas googeln, oder es plötzlich in den Jackentaschen der Leute, die neben ihm standen, zu klingeln anfing, dann stand ihm der massive Kulturschock ins Gesicht geschrieben. Zumindest war er normalerweise selbst der Erste, der seine Witze darüber riss, und die Leute um ihn herum konnten sich wieder entspannen.
Er hatte gesagt, dass wir uns hier in der Gegend zum Essen treffen sollten, druckste aber herum, als ich ihn fragte, wo genau. Ich fuhr. Er hatte keinen Wagen, saß also praktisch in der Tankstelle fest. Allerdings hatte Cartwright ihm gesagt, dass er den Cutlass benutzen könne, wenn er ihn wieder zum Laufen bringe.
Er zeigte mir den Weg. Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde, und wahrscheinlich wusste ich schon, bevor ich es mir selbst eingestehen wollte, wohin wir fuhren. Er versuchte mich mit alten Geschichten über Mutter weichzukochen. Die Geschichten waren Klassiker, aber um mich in Stimmung zu bringen, waren sie das Unpassendste, was er sich hatte aussuchen können.
Schätze, ich hätte es ihm vorher sagen können, aber ich hatte nicht den Mumm. Vor einem Block mit roten Ziegelbauten in Old Town Fairfax hielt ich an.
Es war verschwunden. Sal’s war ein großartiger Italiener gewesen. Na ja, aber was wusste ich schon? Es konnte genauso gut grässlich gewesen sein. Schließlich war ich mit zehn das letzte Mal dort. Und das Essen war wirklich nicht das Wichtigste. Das Wichtigste war, dass wir immer zu Sal’s gingen, wenn die Familie genügend Geld hatte, um einen draufzumachen. Als mein Vater und meine Mutter anfingen, miteinander auszugehen, das war jetzt Jahrzehnte her, waren sie oft zu Sal’s gegangen. Später nahmen sie meinen Bruder und mich mit. Sie schwelgten dann in wehmütigen Erinnerungen an die Zeit, als sie noch ein junges Liebespaar gewesen waren, tanzten vor der Bar und brachten ihre beiden Jungs in Verlegenheit.
Jack und ich verputzten das Knoblauchbrot, während sie in ihrer eigenen Welt schwebten und lachten wie Teenager. Gelegentlich ließ sich meine Mutter in seinen Armen nach hinten fallen, oder sie machten die eine oder andere schnelle Drehung, aber meist hielten sie sich eng umschlungen, wobei der Kopf meiner Mutter auf der Schulter meines Vaters lag.
Das war unser Restaurant. Jedenfalls früher mal. Jetzt war es ein Hunde-Spa mit einem Starbucks daneben.
Mein Vater stieg aus und stand vor dem Gebäude, das früher das Restaurant gewesen war. Ich stand neben ihm auf dem Gehweg und glaubte, er würde jeden Augenblick zusammenklappen. Allein bei seinem Anblick fühlte ich mich, als steckte ein Golfball in meinem Hals. Wenn wir nicht bald von hier verschwinden, dachte ich, kommen mir auch noch die Tränen.
»Alles in Ordnung, Dad?«
Keine Antwort. Ich hatte das Bedürfnis, ihm den Arm um die Schulter legen, wollte aber nicht, dass er ausrastete, also wartete ich erst mal ab.
»Dad?«
»Alles bestens, Mike.«
»Los, steig ein, wir fahren woandershin. An der 29 kenne ich ein anständiges Steakhaus.«
»Nein«, sagte er. Sein Atem ging ruckartig und rasselte, als hätte ihm jemand einen Schlag auf die Lungen verpasst.
»Bitte, ich …«
»Das ist zu knapp, Mike. Ich muss um zehn wieder zu Hause sein.« Er seufzte und schüttelte den Kopf, dann lachte er leise.
»Zapfenstreich. Nicht zu glauben, was? Ist Teil meiner Bewährungsauflagen. Ich muss mich von meinem Telefon im Wohnwagen bei so einem Computer melden.«
»Du musst was essen, Dad.«
Er rieb sich ziemlich lange die Bartstoppeln.
»Ach was, scheiß drauf«, sagte er. »Wie wär’s mit Costco?«
Zwei Minuten später saßen wir an einem Metalltisch in einem riesigen, grell erleuchteten Großhandelsmarkt. Erst hatte ich geglaubt, mich verhört zu haben, als er sagte, dass er hier essen wolle, aber alles, was er wollte und wofür er Zeit hatte, waren ein paar italienische Bratwürstchen mit Paprika und Zwiebeln und eine Cola. Sie waren verdammt gut. Und es gab nur vier Gerichte auf der Karte, was es ihm wahrscheinlich etwas leichter machte.
Danach schlenderten wir noch durch die Gänge, und ich versuchte mir einen Reim darauf zu machen, was zum Henker mein alter Herr hier eigentlich wollte.
»Dieser Laden hier …«, sagte mein Vater. Das ehrfürchtige Lächeln in seinem Gesicht war das eines Menschen, der zum ersten Mal in seinem Leben den Grand Canyon sieht.
Allmählich begriff ich. Wenn man überhaupt einen bezahlten bekommt, fangen Gefängnisjobs bei zwölf Cents die Stunde an. Eine Tube Zahnpasta kostet im Gefängnisladen fünf Dollar, wofür er erst ein kleines Formular ausfüllen und dann eine Woche warten musste, bis es wieder zurückkam. Für ihn war Costco mit seinem grellen Licht, den kreischenden Kindern und den Einkaufswagen schiebenden Kamikaze-Hausfrauen der Himmel auf Erden.
Während wir die Truhen mit der Tiefkühlkost umrundeten, redeten wir ein bisschen. Er arbeitete daran, das Examen zum amtlich zugelassenen Buch- und Rechnungsprüfer ablegen zu können. In den Übungstests erzielte er durchgehend Spitzennoten, aber jeder wegen Betrugs Vorbestrafte ist von diesem Examen ausgeschlossen. Den »Rehabilitierungsnachweis« zu führen würde ihn Jahre kosten, und dennoch könnten sie ihn ablehnen. Aber das kümmerte ihn nicht. Er war felsenfest entschlossen, sich wieder nach oben zu boxen. Er hatte vorgehabt, in die Bücherei zu fahren, weil es dort die Telefonbücher gab, die er brauchte, um die Adressen der Prüfungsstellen in den verschiedenen Bundesstaaten ausfindig zu machen, damit er anfangen konnte, Briefe zu schreiben und Anrufe zu tätigen. Da er dadurch aber einen Arbeitstag verloren hätte, kam das nicht infrage. Sein Leben glich einem Haufen Mikadostäbchen, jeder Stab drückte einen anderen nach unten und wurde von einem anderen nach unten gedrückt, ein Chaos ohne Lösung.
»Die kannst du dir alle online besorgen, Dad.«
Er schaute mich misstrauisch an.
»Mit dem Computer?«
»Ja. Im Internet.«
»Und das Internet kann ich an den Computer anschließen?«
Ich verzog das Gesicht. »So ungefähr.« Es war, als redete ich mit einem Blinden über Farben. Aber ich glaube, dass ich ihm ein paar von den Grundlagen vermitteln konnte. Ich sagte, dass ich noch einen alten Laptop hätte, den könne er haben.
»Wenn wir schon mal da sind, gibt’s noch was, was du brauchen kannst?«, fragte ich. »Irgendwelche Vorräte? Außer Ramen?« Ich nahm an, dass das auch ein Grund war, warum wir hier waren. Aber ich sah sofort, dass meine Annahme, er brauche Almosen, seinen Stolz verletzte. Doch er schluckte es und schaute nur etwas traurig. »Nein«, sagte er. »Ich brauche nichts. Du hast schon mehr als genug für mich getan, Mike. Trotzdem, danke.«
Er schaute auf meine Uhr. »Wird Zeit, dass ich loskomme«, sagte er. »Schon fast Zapfenstreich.«
Als wir wieder in seinem Wohnwagen waren, gab er mir einen Umschlag. Darin befanden sich tausend Dollar – ein paar Zwanziger und Zehner, aber hauptsächlich speckige Fünfer und Einer.
»Ich mache es wieder gut«, sagte er. »Die Schulden für deine Mutter. Das mit den Crenshaw-Kredithaien, das habe ich verbockt. Das hätte nie passieren dürfen, dass das alles an dir hängen bleibt.«
»Behalte das Geld«, sagte ich und gab ihm den Umschlag zurück. Er nahm es nicht. »Ist schon alles bezahlt.«
»Was?«
»Die Schulden.«
»Für wie lange?«
»Für immer. Ist erledigt. Alles«, sagte ich.
»Und die Gebühren für die Uni? Um die solltest du dich als Erstes kümmern.«
»Alles bezahlt. Leg’s auf die hohe Kante, Dad.« Ich legte den Umschlag auf das abblätternde Furnier der Küchentheke.
Ich wollte das nicht, wollte nicht wütend werden, wollte mich nicht damit abgeben. Ich wollte die Vergangenheit einfach hinter mir lassen. Aber das Geld und wie er über die Krankheit von Mutter redete und glaubte, dass alles in Ordnung wäre, wenn er einfach das Geld zurückzahlte, das brachte mich auf die Palme.
Weil ich jedes Mal, wenn er von ihr sprach, an sie denken musste und versuchte, mir sie so vorzustellen, wie ich sie am meisten liebte: mit dem schlitzohrigen Gesicht, das sie immer aufgesetzt hatte, kurz bevor sie einen Witz machte. Dieses Bild versuchte ich krampfhaft in Erinnerung zu behalten, aber dann fielen ihre Wangen ein, und ihre Haut verlor die Farbe. Es lief immer darauf hinaus, dass ich an sie dachte, wie sie am Ende war. An das schaurige Rasseln in ihrer Brust, das wächserne Gesicht und das vom Morphium zerfressene Gehirn, dass sie mich mit dem Namen meines Vaters ansprach und manchmal fragte, wer ich sei und was zum Teufel ich in ihrem Zimmer verloren hätte.
Und unweigerlich fingen die üblichen Gedanken wieder an, meinen Verstand zu vergiften: Was wäre passiert, wenn ich Geld für ein wirklich gutes Krankenhaus hätte auftreiben können? Was wäre gewesen, wenn sie einen anständigen Mann und eine anständige Krankenversicherung gehabt hätte? Was wäre gewesen, wenn? Wäre sie noch da?
»Du kannst nicht wiedergutmachen, was damals passiert ist«, sagte ich.
»Alles ist abbezahlt?« Er war immer noch verwirrt. Dann stand er auf, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und versuchte besonders väterlich zu wirken, als ob er mich fragen wolle, ob ich auch Kondome benutzte.
»Pass auf, George Cartwright hat mir erzählt, dass du ihn neulich ausgefragt hast.«
Scheiße. Nicht auch noch das. Nicht jetzt. George war ein kleiner Experte in Sachen Einbruch und konnte einem jedes nur denkbare Werkzeug besorgen. Als ich auf der ersten von Vaters Schön-dass-du-wieder-draußen-bist-Partys war, fragte ich Cartwright, ob er wüsste, wie man das Sargent-and-Greenleaf-Vorhängeschloss knackt, mit dem Gould seinen Spind im Met Club sicherte. Einfach aus Neugier. Und offensichtlich dachte nun mein Vater, dass ich für meine Uni-Gebühren das Scheiß-Pentagon ausgeräumt hatte, und spielte den rechtschaffen Schockierten.
»Nichts ist umsonst, Mike. In was für einer Sache steckst du da drin?«
»In einem guten Job. Den ich habe, weil ich schlau bin und mir den Arsch aufgerissen habe. Willst du mir erzählen, ausgerechnet du, wie ich sauber bleibe?« Ich schaute mich im Wohnwagen um, als würde das meinen Standpunkt bekräftigen. »Unglaublich.«
»Ich meine ja nur, Mike. Mach bloß nicht für irgendwen den Inkassoburschen. Wenn du versuchst, in der obersten Liga zu spielen, kannst du leicht unter die Räder kommen. Man kann nur seinen eigenen Leuten vertrauen.«
»Dad, bitte.« Ich versuchte ruhig zu bleiben und auf meine Worte zu achten. Er lag ohnehein schon am Boden, es wäre ein Leichtes gewesen, ihm einen Tritt zu verpassen und ihm klarzumachen, wie erbärmlich er war. Die Wahrheit war grausam genug. »Erspar mir diese Affenscheiße von wegen Ganovenehre, okay? Weil du das Maul gehalten und deine Zeit abgesessen hast, hältst du dich jetzt für einen Gott weiß wie heldenhaften Outlaw. Das bist du nicht …«
»Mike, ich hatte keine Wahl …«
»Weil du nicht wusstest, Dad, wie das Spiel läuft. Du hättest reden können. Du hättest nicht für vierundzwanzig Jahre in den Knast wandern und uns im Stich lassen müssen. Wer weiß, vielleicht wäre Mom dann nicht …«
Ich verstummte. Aber es war schon zu spät.
Er stand einfach mit geschlossenen Augen da und nickte, als wollte er sagen: »Ja, stimmt.« Ich wartete darauf, dass er ausrasten, zu schluchzen anfangen oder sich auf mich stürzen würde. Aber er stand einfach da, hatte die Augen fest geschlossen und atmete schnell und stoßartig.
»Vielleicht«, sagte er. Er rieb sich wieder das Kinn. »Ich habe getan, was ich konnte.« Ich glaubte, er würde anfangen zu weinen, aber er hielt die Tränen zurück.
»Ich weiß, dass ich nichts mehr ändern kann, aber lass mich bitte nicht fallen.«
Ich sagte nichts.
»Bitte, Mike.«
Ich atmete ein paarmal tief durch und riss mich zusammen.
»Ich muss jetzt los«, sagte ich.
Und das war’s. Ich ging.
Der wunde Punkt in der Beziehung zwischen meinem Vater und mir hatte mit dem Verbrechen zu tun, für das er ins Gefängnis wanderte, als ich ein Teenager war. Ein Einbruch. Nichts daran ergab irgendeinen Sinn.
Das meiste von der Geschichte erfuhr ich von Cartwright und einigen anderen Kumpels meines Vaters. Wenn man sie am späten Sonntagnachmittag in Ted’s Roadhouse erwischte, ihrer fensterlosen Stammkneipe, dann waren sie schon so abgefüllt, dass sie mir all die Geschichten erzählten, die mein Vater vor mir geheim hielt. Er war noch jung gewesen, als er angefangen hatte, krumme Dinger zu drehen. Seine Familie hatte seit Generationen eine Eisengießerei draußen bei Falls Church betrieben. Sie hatten die Treppen im Smithsonian Castle, die Lampen auf dem Gelände des Kapitols und angeblich ein paar von den Zwölf-Pfund-Kanonen für die Schlacht von Gettysburg hergestellt. Aber zu der Zeit, als mein Vater das Geschäft übernahm, ging es mit dem produzierenden Gewerbe in Amerika schon lange bergab. Er war in New Jersey aufgewachsen und kehrte nach Virginia zurück, als er mit Anfang zwanzig den Betrieb von seinem Onkel übernahm. Damals hatte die Hüttenindustrie schon harte Zeiten hinter sich und war auf ein Dasein als glorifizierte Maschinenwerkstatt reduziert. Mein Vater verstand nicht viel von Geschäften und suchte verzweifelt nach Aufträgen. Als ein Kerl namens Accurso ihn mit einem simplen Rechnungsschwindel hereinlegte, war Schluss. Ein hundert Jahre alter Betrieb war tot und mein Vater vom Pech verfolgt. Für seinen ersten Betrug machte sich mein Vater die Tricks zunutze, die ihn selbst zur Strecke gebracht hatten. Er spürte Accurso auf und nahm ihn mit einem getürkten Aktientausch bis aufs Hemd aus.
Soweit ich weiß, hatte mein Vater als Halbwüchsiger einige kleinere krumme Dinger gedreht, seine Karriere nahm aber erst Fahrt auf, als er sich auf Trickbetrügereien verlegte. Er war ein Naturtalent, also blieb er dabei und bemühte sich, keine kleinen Leute auszunehmen. Die Verklärung von Trickbetrügern ist immer verlockend, aber unterm Strich war er ein Krimineller, und was er tat, lief im Grunde darauf hinaus, das Vertrauen anderer Menschen zu missbrauchen. Dennoch konnte er nachts besser schlafen als die meisten seiner Berufskollegen.
Diesen Teil seines Lebens hielt er von mir fern. Allerdings konnte er gelegentlich – wenn er pleite war oder seinen Söhnen eine kleine Show bieten wollte – doch nicht widerstehen und führte uns mehr aus Spaß als aus irgendeinem anderen Grund einen netten kleinen Straßentrick vor.
Einer hieß das »Fiddle Game«, bei dem er mit uns in ein gutes Restaurant ging und den respektablen Geschäftsreisenden mimte. Als die Rechnung kam, sagte er, dass er seine Brieftasche vergessen habe, gab dem Objekt irgendetwas als Pfand und verließ das Lokal, um sein Geld zu holen. Das Pfand war üblicherweise eine Antiquität, von der er sich »unter keinen Umständen« trennen würde (in der klassischen Version eine Geige) und die ein Vermögen wert sei. Mein Vater verschwand, ein Lockvogel (ein Komplize, den damals, als ich dabei war, Cartwright spielte) betrat das Lokal, sah das antike Stück und wollte es dem Objekt für ein kleines Vermögen abkaufen. Dann kam mein Vater zurück, um die Rechnung zu bezahlen. Das Objekt bot nun meinem Vater die Hälfte eines kleinen Vermögens für die Antiquität.
Mein Vater spielte den Hin- und Hergerissenen und verkaufte schließlich nach langem Zögern. Dann machte er sich mit der Hälfte eines kleinen Vermögens davon und ließ das Objekt mit einem wertlosen Stück Müll zurück. Cartwright tauchte natürlich nie mehr auf, um dem Objekt das Stück für den besseren Preis abzukaufen. Wie jeder gute Trickbetrug beruhte auch dieser auf der Gier des Objekts und seiner Bereitschaft, jemand anders zu bescheißen. So hatte er übrigens auch Accurso erledigt, wie Cartwright mir Jahre später erzählte. Es handelte sich dabei um eine aufgeblasene Version des »Fiddle Games«, bei der er Unternehmensbewertungen verwendete (für Rechnungsbücher hatte er immer ein Händchen, was auch erklärt, warum er sich im Gefängnis mit Buchführung so leichttat).
Er saß zweimal im Gefängnis. Das erste Mal nur kurz, als ich fünf war, das zweite Mal bekam er vierundzwanzig Jahre, die begannen, als ich zwölf war. Beim ersten Mal hatten sie ihn wegen Bank- und Aktienbetrugs verurteilt. Er hatte sich zum zweiten Mal an Accursos Fersen geheftet, nachdem er herausgefunden hatte, dass dieser mit der gleichen Masche wie bei ihm wieder kleine Geschäftsleute ausnahm. Wenn man ein Objekt in eine Falle lockt, benutzt man normalerweise einen illegalen oder einen peinlichen Köder, einen »heißen« Fernseher oder eine volle Brieftasche mit einer Visitenkarte drin, sodass das Objekt, wenn es kalte Füße bekommt oder erkennt, dass es abgezockt wird, sich dreimal überlegt, ob es zur Polizei geht. Accurso war allerdings wegen der ersten Sache noch derart sauer auf meinen Vater, dass er, als er merkte, wer ihn da das zweite Mal aufs Kreuz legte, trotzdem die Polizei rief (was meiner Meinung nach von wenig Sportsgeist zeugt, zumindest hätte er versuchen können, den Spieß umzudrehen und meinen Vater seinerseits hereinzulegen). Da jeder von ihnen genug Dreck am Stecken hatte, kassierte die Polizei sie beide ein. Ich war damals noch so klein, dass ich mich kaum daran erinnere. Mein Vater bekam ein Jahr und war nach sechs Monaten wieder draußen, Accurso fuhr zwei Jahre ein.
Nachdem mein Vater die kurze Zeit abgesessen hatte, wurde er angeblich sauber. Die Truppe in Ted’s Roadhouse erinnerte sich voller Wehmut an seinen Rückzug, schließlich hatten sie einen ihrer Besten verloren. Er hatte dann verschiedene legale Jobs, das glaubte ich zumindest, in Maschinenwerkstätten oder was er sonst noch so kriegen konnte, und meine Mutter arbeitete als Sekretärin. Als ich etwa zwölf war, ging dann alles den Bach runter. Eines Abends sagte mein Vater, er ginge mit ein paar Freunden zu einem Minor-League-Baseballspiel der Prince William Cannons. Ich zog meinen Schlafanzug an, schaute mir Hör mal, wer da hämmert an und ging dann ins Bett, ein ganz normaler Donnerstagabend.
Ich erinnere mich, dass ich aufwachte, weil ich die aufgeregte Stimme meiner Mutter hörte. Es war nach Mitternacht. Ich ging nach unten und sah sie mit dem Telefonhörer in der Hand zusammengesunken an der Wand lehnen. Sie kaute an ihren Fingernägeln und weinte stumm.
Die Polizei hatte meinen Vater geschnappt, als er in ein Haus in den Palisades eingebrochen war, einer wohlhabenden Wohngegend am Potomac zwischen DC und Bethesda.
Ich hatte mir nie einen Reim auf jene Nacht machen können. Das Haus, in dem sie meinen Vater erwischten, war leer. Es handelte sich um ein Anlageobjekt eines Mannes aus DC, der über gute Beziehungen verfügte. Es gab nichts zu stehlen in dem Haus. Mein Vater hatte nie zuvor einen Einbruch begangen. Er mochte die Präzision, die Herausforderung und das Risiko von ausgeklügelten Trickbetrügereien, die Ehrbarkeit eines Robin Hood, Leute auszunehmen, die es verdienten. Einbruchdiebstahl – Fenster einschlagen und die elektronischen Geräte klauen – war die Nummer, die später meine bescheuerten Freunde und ich abzogen. Ein Profi wie mein Vater wäre nicht einmal auf die Idee gekommen.
Keiner wusste, warum er das gemacht hatte. Und er hielt den Mund. Kein einziges Wort in all den Jahren. Ich habe immer vermutet, dass irgendwer ihn dazu angestiftet hatte. So eine Sache passte einfach nicht zu ihm. Aber er weigerte sich, mit dem Staatsanwalt zusammenzuarbeiten, er saß bei jedem Verhör einfach da und starrte ihn schweigend an. Er vertraute niemandem, der ein öffentliches Amt innehatte, niemandem, der einem Politiker auch nur ähnelte. Er hielt das ganze Justizsystem für eine Art Trickbetrug, in dem er das Objekt war. Ich konnte ihn verstehen. Die Regierung hatte sein Familienunternehmen mit Steuern drangsaliert, und als die Gießerei pleite ging, stürzten sich »ehrbare« Geschäftsleute auf das Unternehmen wie die Geier auf einen Kadaver. Oder es lag daran, dass er sich lange Jahre als anständige, aufrechte Stütze der Gesellschaft ausgegeben hatte, aber immer wusste, dass er eben doch ein Hochstapler war. Vielleicht witterte er Betrug hinter allem, was sich den Anschein von Ehrbarkeit gab.
Nachdem er sich jeder Art von Deal verweigert und ich all die Jahre immer wieder darüber nachgedacht hatte, war ich zu dem Schluss gekommen, dass er einfach ein kleiner engstirniger Vorstadtgauner war. Er begriff nicht, dass er sich selbst helfen konnte, wenn er den Strafverfolgungsbehörden half, das Geben und Nehmen in der Politik, genau dasselbe, was wir bei der Davies Group auch machten. Nein. Für ihn war es einfach. Nie reden. Schütze deine Leute. Sitze deine Zeit ab. Dieser Kodex – die Ganovenehre – riss unsere Familie auseinander. Ich konnte ihm nie verzeihen, dass er diesen Kodex uns vorgezogen hatte, dass er meine Mutter, meinen Bruder und mich im Stich gelassen hatte.
Mein halbes Leben habe ich versucht, eine Antwort auf die eine Frage zu finden: Warum in ein leeres Haus einbrechen? Während der Zeit des Prozesses habe ich ihn und meine Mutter belauscht, die Kämpfe und die Tränen jenseits der dünnen Wand zwischen ihrem Schlafzimmer und unserem Zimmer, wo unter mir im Stockbett mein Bruder lag und schlief. Ich erinnere mich daran, wie sie ihn eines Nachts anflehte: »Sag ihnen einfach, was passiert ist. Sag ihnen alles.«
Ich glaubte, aus seinen Fehlern gelernt zu haben. Wie man nach den Regeln spielte, wie man sich mit den Mächtigen arrangierte. Und das hatte ich ihm ja verdammt noch mal auch bewiesen. Zumindest glaubte ich das. Bis mich mein neuer Job in Handschellen und Begleitung einer Handvoll Nutten und Methsüchtiger ins Montgomery County Jail brachte.