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Trotzdem steckte ich noch immer in der Klemme, schließlich hatte ich mich Annie noch nicht gestellt. Auf dem Rückweg aus Maryland ließ ich die Minutenanzeige der Uhr nicht aus den Augen, als wäre sie eine Bombe: Um 6 Uhr 30 würde Annies Wecker klingeln.
Wenn ich es rechtzeitig bis nach Hause schaffte, konnte ich mich noch schnell duschen und ins Bett schlüpfen, als wenn nichts gewesen wäre. Aber das wurde immer unwahrscheinlicher. Als Marcus und ich um sechs in DC auf die I-270 fuhren, herrschte schon dichter Berufsverkehr. Als ich dann vor dem Büro in Georgetown in meinen Wagen stieg, konnte ich nur noch beten, dass sie verschlafen hatte.
Um halb sieben war die Connecticut Avenue ein einziger Parkplatz. Um jetzt noch davonzukommen, müsste sie schon mindestens zweimal die Schlummertaste gedrückt haben und trotzdem noch sehr tief schlafen, damit ihr meine Abwesenheit nicht auffiel.
Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt den Kopf darüber zerbrach. Es war schon sieben, als ich zu Hause ankam. Alles war verloren. Annie war jetzt sicher schon auf dem Sprung.
Ich schaltete auf Schadensbegrenzung um, aber mein Hirn war zu matschig, um noch eine gute Ausrede zu produzieren. Ich würde sie nicht anlügen, aber auch nicht mit der ganzen Wahrheit herausrücken: Ich musste Walker bespaßen, Auftrag von oben, und der war eben die ganze Nacht um die Häuser gezogen. Ich würde gestehen und die verdiente Strafe absitzen. Ein paar Tage mit einer schmollenden Annie waren nichts, verglichen mit den Dellen, die mir die Nacht zugefügt hatte. Ich würde es überleben.
Nur dass Annie offensichtlich mein kleineres Problem war. Auf meiner Veranda, in meinem Schaukelstuhl, mit meiner Zeitung saß nämlich niemand anders als Sir Lawrence Clark.
Ich sagte Hallo.
Er sagte nichts, er lächelte nur. Er hatte einen guten Platz für die Kreuzigung ergattert.
»Mike?« Annies Stimme kam aus dem offenen Küchenfenster. Sie öffnete die Tür. »Wo warst du?«
»Arbeiten«, sagte ich. »Ich erzähle dir später alles.«
Hoffentlich bemerkte sie nicht, dass noch etwas von Natashas Glitzer-Make-up auf meiner Hose schimmerte.
»Gut.« Sie war angefressen, aber die Situation schien nicht hoffnungslos. »Mein Vater hat mich zum Frühstück eingeladen. Hast du noch Zeit?«
»Natürlich«, sagte ich, während ich immer noch versuchte, mir über die Lage klar zu werden. Ich wollte wenigstens dabei sein, um mich wehren zu können, falls Sir Larry etwas gegen mich im Schilde führen sollte. Annie ging zurück nach oben, um sich fertig anzuziehen.
Ihr Vater lächelte noch immer. Kein Zweifel, er amüsierte sich prächtig. Er musste ziemlich gut darüber im Bilde sein, was ich in der vergangenen Nacht gemacht hatte. Ich wusste, dass er mich bei erstbester Gelegenheit aufknüpfen würde. Sein Plan war anscheinend folgender: mich zu überführen, während ich mich heimlich ins Haus schlich, aber was dann? Wahrscheinlich mich zur Rede stellen und dann versuchen, meiner Beziehung zu Annie an Ort und Stelle den Todesstoß zu versetzen.
Ein ziemlich guter Plan, vielleicht schon Schachmatt. Jedenfalls hatte er sich für seinen Zug einen guten Zeitpunkt ausgesucht. Nach der Nacht, die ich hinter mir hatte, konnte ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Aber vollkommen unvorbereitet war ich auch nicht.
»Ich freue mich schon drauf«, sagte ich und lächelte dem alten Mann mitten ins Gesicht. Sein Grinsen erstarb. Schätze, in diesem Augenblick begriff er, dass er mich doch noch nicht so festgenagelt hatte, wie er glaubte.
»Was wollen Sie ihr erzählen?«, fragte ich.
»Nun ja, zuerst mal lasse ich Sie berichten, was Sie die ganze Nacht so getrieben haben.«
»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte ich und schaute zu den Wolken am Horizont, die im Morgengrauen noch orangefarben schimmerten.
»Oder«, sagte ich, »Sie erzählen ihr ein bisschen was über die Brände in Barnsbury.«
Clarks Kinnmuskeln verspannten sich. Er stand auf und schaute auf mich herunter.
»Was ist mit Barnsbury?«, fragte er. Verunsicherung und ein Hauch von Unterschichtenakzent schlichen sich in seine Worte. Ich fragte mich, ob Sir Larry mich deshalb von Anfang an verachtet hatte, weil er sich in mir wiedererkannte: einen Burschen, der sich seinen Weg ins ehrenwerte Leben erschlichen hatte. Barnsbury war ein Arbeiterviertel in Nordlondon, wo Sir Larry mit Immobiliengeschäften die Grundlage für sein späteres Vermögen geschaffen hatte. Damit würde ich ihn mir vom Hals halten. Ich hatte ihn in der Hand, und das war genau, was ich wollte. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher gewesen, ob ich ihn mit Barnsbury einschüchtern konnte, aber seine Reaktion zeigte mir, dass ich es konnte.
Nach fast einem Jahr bei Davies war es mir zur zweiten Natur geworden, Druckmittel auszugraben. Clark war ein interessanter Fall, weil er auf den ersten Blick eine makellos weiße Weste hatte. Ich hatte Henrys Rat beherzigt: wenn man die richtigen Hebel findet, kriegt man jeden. Ich hatte in alten englischen Gerichtsakten gestöbert und war schließlich auf ein paar Prozesse gestoßen, die in Zusammenhang mit seinen frühesten Bauträgergeschäften in Nordlondon standen. Sie waren alle außergerichtlich beigelegt worden, ich hatte also nichts Schriftliches. Ich rief ein paar Anwälte der Gegenseite an. Die Mandanten waren gekauft worden, aber was die Anwälte erzählten, reichte mir. Larrys erste Geschäfte waren in Rauch gehüllt: drei äußerst willkommene Brände schafften ihm die Mieter in einer Zeit vom Hals, als Barnsbury sich gerade von einem Arbeiterbezirk in einen luxuriös gentrifizierten Außenposten der Londoner Elite verwandelte. Larry hatte den Wert seiner Kapitalanlage verfünffacht und den Grundstock für die Milliarden gelegt, mit denen er schließlich seinen Hedgefonds gründete.
Wie die meisten Menschen betrachtete wahrscheinlich auch Larry einen vertuschten Fehltritt – keine belastenden Unterlagen, nur die Erinnerungen einiger in die Jahre gekommener Anwälte – als etwas, was nie passiert war. Umso besser. Das bisschen Ausgrabungsarbeit machte mir nichts aus, und dass Larry sich fälschlicherweise in Sicherheit wähnte, verlieh meinen Funden nur noch mehr Schlagkraft.
»Lassen wir doch den Quatsch, Mr. Clark«, sagte ich.
»Was wissen Sie schon?«
»Mehr als genug.«
»Wollen Sie Geld? Geht’s darum? Sind Sie deshalb hinter meiner Tochter her? Um über sie an mich ranzukommen?«
Seine hitzige Reaktion zeigte mir nur, dass ich einen Nerv getroffen hatte. Aber, und das kann Ihnen jeder Betrüger bestätigen, ein angeschlagenes Objekt kann ganz schön gefährlich werden. Es wird alles tun, um sich zu rächen. Ich musste ihn also wieder runterbringen. Das ist eine Übung, mit der sich sowohl mein Vater als auch Marcus sehr gut auskannten.
»Nein«, sagte ich. »Ich erwähne das nur, um Sie wissen zu lassen, dass ich mich um Sie kümmere, dass ich auf Ihrer Seite stehe und dass ich nur die besten Absichten in Bezug auf Ihre Familie hege.«
Ich wusste, dass Larry in den New Yorker Finanzkreisen äußerst gute Verbindungen hatte, aber auch, dass er seit seinem Umzug nach DC viel zu sehr mit den Fuchsjagden auf seinem Anwesen beschäftigt war, um wirklich einflussreiche politische Beziehungen zu pflegen. Was hieß: Er war schwach, nicht gut informiert und vielleicht reif für einen Bluff.
»Wenn ich über Barnsbury Bescheid weiß, dann können Sie darauf wetten, dass andere es auch tun. Ich erwähne das nur, weil ich Ihnen sagen möchte, dass ich meine Augen offen halten und dafür sorgen werde, dass Ihnen niemand am Zeug flickt – weder die Börsenaufsicht noch der Finanzausschuss des Repräsentantenhauses. Banker sind im Augenblick nicht gerade besonders beliebt. Das ist eine gut gemeinte Warnung, ein Friedensangebot.«
Das war ein klassischer Zug à la Davies: Erpressung im Gewand der Protektion.
»Und was wollen Sie als Gegenleistung? Meine Tochter?«
»Ich will gar nichts von Ihnen. Ich will nur die faire Chance, mich Annie würdig zu erweisen.«
Annie öffnete die Haustür.
»Können wir?«, fragte sie.
»Klar«, sagte ich.
Der Zorn in Larrys Gesicht war Vorsicht gewichen. »Sie müssen nicht, Mike«, sagte er. »Wenn Sie ins Büro müssen, dann können wir das auch ein andermal nachholen.«
»Ach was, kein Problem«, sagte ich.
Ich sah, dass Clarks Gehirn fieberhaft arbeitete. Wenigstens dachte er ernsthaft darüber nach, was ich ihm gesagt hatte. Ich hatte es geschafft, ihn von meinem Fall abzulenken, ohne ihn so zu reizen, dass er vor nichts zurückschrecken würde, um mich fertigzumachen. Ein Sieg. So müde ich auch war, um nichts in der Welt hätte ich darauf verzichten wollen, mich jetzt mit Sir Larry auf ein überteuertes Omelett an einen Tisch zu setzen – natürlich weil er zahlte, aber noch mehr, weil ich sehen wollte wie der hochmütige alte Sack sich wand.
Nach der ganzen Scheiße, die mir meine Bosse letzte Nacht eingebrockt hatten, hatten mich die letzten Minuten doch daran erinnert, dass die Arbeit für die Davies Group ein paar fabelhafte Vorteile hatte – zum Beispiel, dass man noch vor dem Frühstück einen Milliardär um den Finger wickeln konnte.