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Sie nehmen jeden bedeutenden Mann in Washington. Sie grenzen diese Gruppe ein auf die, die möglicherweise über Entscheidungsbefugnisse in Angelegenheiten internationaler Rechtsprechung verfügen, die eine Tochter im Internat haben und die Witwer sind. Es bleiben hundertsechzig Personen. Dann dehnen Sie diesen Personenkreis auf das ganze Land aus, und die Zahl steigt auf dreihundertachtundvierzig. Angenommen, Sie versuchen von jeder dieser Personen ein Tondokument aufzutreiben – einen Konferenzmitschnitt, ein Interview auf Youtube, egal – und veranschlagen dafür eine halbe Stunde, dann sind Sie zwei oder drei Wochen vollauf beschäftigt. Abgesehen davon, dass Sie von vierzig Prozent keine Aufnahme finden und diese Personen auf den Nicht-auszuschließen-Stapel packen und sich fragen, ob Subjekt 23 sich da drin versteckt, verplempern Sie Ihre Zeit damit, sich im Internet Clips von der letzten TED-Konferenz anzuhören. Normalerweise hätte ich so eine Aufgabe an einen Junior Associate delegiert, aber ich durfte unter keinen Umständen das Risiko eingehen, dass meine Bosse Wind davon bekamen. Eine Woche lang hatte ich nonstop nach Subjekt 23 gefahndet, jede Nacht, seit ich Davies und Marcus auf der Terrasse belauscht hatte.
Das alles zusätzlich zu meiner gewöhnlichen Arbeit war mörderisch. Allerdings hatte die Begegnung mit Rivera wieder meine Befürchtungen bezüglich Subjekt 23 entfacht. Ich musste etwas unternehmen, schreckte aber nach meiner Begegnung mit Marcus davor zurück, mich in neue Nacht-und-Nebel-Abenteuer zu stürzen.
Bis jetzt hatte ich so gut wie nichts in der Hand. Und ich hatte nicht mal damit anfangen können, ein bisschen in Radomirs Vergangenheit herumzuschnüffeln, um herauszufinden, ob an Riveras Geschichte über die Kriegsverbrechen etwas dran war.
Es war acht Uhr morgens an einem Donnerstag. Ich war normalerweise nicht der weinerliche Typ, aber es lag eine beschissene Woche hinter mir – mit beschissenen Frostbeulen und beschissenen Vorwürfen, an schweren Straftaten beteiligt gewesen zu sein. Obendrein hatte ich mir eine beschissene Erkältung eingefangen – wahrscheinlich weil mir der bakterienverseuchte Anacostia River die Nebenhöhlen durchgespült hatte. Ich saß am Küchentisch an meinem Laptop und ging die scheinbar nie kürzer werdende Kandidatenliste für meinen mysteriösen Mann durch.
Ich hatte die Schnauze voll. Ich brauchte eine Pause, und wenn auch nur, um mich eine Minute lang meines neuen Lebens zu erfreuen.
Annie stand vor dem offenen Kühlschrank. Sie trug Boxershorts und eins meiner Sweatshirts und inspizierte einige Take-away-Schachteln. Sie konnte sich offensichtlich nicht entscheiden. Dann drehte sie sich um und sah, dass ich sie anstarrte.
»Was?«, sagte sie, schüttelte ihre Locken und schaute mich mit ihren blauen Augen an.
»Du«, sagte ich.
»Was ist dein Problem, Michael Ford?«
»Nichts«, sagte ich. »Ich schaue dich nur gerne an.«
»Das ist süß.«
»Ach, scheiß drauf«, sagte ich und klappte den Laptop zu.
»Komm her.« Ich nahm sie in die Arme und tanzte mit ihr durch die Küche. Sie legte den Kopf an meine Schulter.
»Ich koche uns was, okay?«
»Was hast du vor?«, fragte sie.
»Nichts. Warum so misstrauisch? Du bist ein Glückstreffer. Du hast eine solche Behandlung eigentlich jeden Tag verdient. Also, ich koch uns was, ein paar Gläschen Wein, und dann gehen wir ins Gibson. Was immer du willst.«
Das Gibson war eine Bar in der U Street, zwanglos und stilvoll, im Retrostil der alten Flüsterkneipen. Normalerweise waren mir solche Läden zu manieriert, aber die Barkeeper behandelten ihre geistigen Getränke mit einer fast religiösen Hingabe. »Und danach tanzen?«
»Mal sehen.«
Sie lächelte und ging zur Treppe. »Ich mache mich gleich fertig, bevor du wieder zu dir kommst.«
Ich hatte noch zwei frische Rumpsteaks im Kühlschrank. Während Annie nach oben verschwand, erhitzte ich das Öl in der Pfanne und kümmerte mich um den Salat. Ich hörte, dass Annie das Radio im Schlafzimmer anstellte. Sie war ein Nachrichtenjunkie.
Sogar in meinem eigenen Kühlschrank fand ich nie etwas. Schätze, das sind die männlichen Gene. Ich lief die Treppe hoch, um Annie zu fragen, wo sich der Senf versteckt haben könnte.
Vor der Schlafzimmertür blieb ich wie angewurzelt stehen.
Kein Zweifel, das war die Stimme von Subjekt 23, die da aus dem Zimmer kam.
Ich stieß die Tür ganz auf.
Das war seine Stimme im Radio. Auf der Audiodatei war sie immer mit Gewalt befrachtet – der Angst, dass Henry dem Mann was antun könnte, und den Drohungen, dass er zurückschlagen würde. Jetzt klang seine Stimme vertrauenswürdig – ruhig, technisch, nüchtern.
»Bevor wir zur Frage der Auslieferung kommen«, sagte die blecherne Stimme im Lautsprecher, »sollten wir nicht zunächst die Zuständigkeit des Gerichts klären, ob nämlich die unterstellten Verbrechen das Völkerrecht verletzen?«
»Was ist das?«, fragte ich Annie.
»Was?«
»Na, das im Radio?«
»Keine Ahnung. Die Nachrichten.« Sie wandte sich am Frisiertisch um. »Irgendein Fall am Obersten Gerichtshof.«
Der Reporter sprach weiter: »Das war Richter Malcolm Haskins aus der mündlichen Verhandlung von letzter Woche zu einem Fall, der große Auswirkungen auf die internationalen Menschenrechtsgesetze haben könnte. Und jetzt nach Seattle, wo …«
Ich lief nach unten, klappte meinen Laptop auf und hörte mir jede greifbare Tonaufnahme von Richter Malcolm Haskins an. Jeder in Washington wusste, wer Haskins war. Aber nur wenige, wenn überhaupt, kannten ihn. Er hatte was von einem Einsiedler und hielt sich von den üblichen Partys und Galas fern. In der ganzen Zeit, in der ich jetzt plappernd durch die Partyszene von DC scharwenzelte, hatte ich ihn nur ein einziges Mal gesehen, auf der Party bei Chip. Und dann fiel es mir wieder ein: Dort war auch Irin gewesen.
Genau genommen verfügte er am Obersten Gerichtshof als beigeordneter Richter über weit mehr Macht als der vorsitzende Richter. Er gehörte zu den Moderaten, hatte also oft die entscheidende fünfte Stimme. In gewisser Weise gab es niemanden im Kapitol, der einflussreicher war: Er hatte seinen Arbeitsplatz auf Lebenszeit, er brauchte kein Geld für seine Wiederwahl aufzutreiben, er brauchte keine Deals abzuschließen, seine Entscheidungen konnten nicht aufgehoben werden.
Ich wusste, dass sein Name auf meiner Liste stand.
Ich fand ein paar Schnipsel von mündlichen Verhandlungen aus dem Vorjahr und hörte mir seine Stimme genau an. Dann spielte ich das Band mit dem abgehörten Gespräch von Subjekt 23 ab, das ich meinen Bossen in Kolumbien gestohlen hatte:
»… Ich wünschte, das wäre alles nur Paranoia. Ist es aber nicht. Der Mann, der die Information hat … ich glaube, ich habe ihn gefunden. Ich muss vor denen an ihn ran. Die würden alles tun, um das Beweismaterial in die Finger zu bekommen. Wenn die es zuerst kriegen, dann bin ich erledigt, sicher, da bin ich mir ganz sicher.«
Ich sprang zwischen den beiden Stimmen hin und her. Die eine gehörte einer Säule des Staates, die andere einem in die Enge getriebenen Mann, der gefährlich war und Angst hatte. Ich versuchte ruhig zu bleiben, nicht überzureagieren. Die Stimmen gehörten zu ein und demselben Mann: Malcolm Haskins.
»Mike!«, hörte ich Annie schreien. »Der Herd.«
Ein Fettbrand schoss etwa einen Meter in die Höhe. Schätze, ich hätte das Gas abdrehen sollen, bevor ich mich an den Laptop setzte. Ich stand auf, nahm den Deckel von einem Suppentopf und deckte die Pfanne zu. Die Flammen züngelten noch kurz an den Seiten heraus, dann erloschen sie.
Fast hätte ich mich, das Haus und das Mädchen meiner Träume abgefackelt. Aber die Rußflecken und der an der Decke entlangwabernde Qualm waren jetzt die geringsten meiner Probleme.