19

Henry hatte angedeutet, dass er mich im Auge behalten würde. Doch irgendwelche Verfolger abzuschütteln, reale oder imaginäre, war noch das Einfachste an der Sache. Die Gegend um die 19th Street und die L Street NW gleicht einem dreidimensionalen Labyrinth aus gewöhnlichen Glasgebäuden, dunklen Seitengassen, Einbahnstraßen und Tiefgaragen, von denen jede vier Ausgänge hat. Ich verirrte mich fast.

Schwieriger war, ein funktionierendes öffentliches Telefon zu finden. Vor einem schäbigen griechischen Feinkostladen fand ich schließlich eins. Ich rief in der Zentrale der Metro Police an und ließ mich mit Detective Rivera verbinden, weil ich mich vergewissern wollte, ob er der war, für den er sich ausgegeben hatte.

Er war nicht an seinem Platz. Ich hinterließ eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. Ich sagte, dass ich an einem sicheren Ort mit ihm sprechen wolle, vorausgesetzt, er könne mir seine Identität und seine Vertrauenswürdigkeit beweisen. Ich nannte ihm eine Hotmail-Adresse und ein Passwort. Wenn ich eine Nachricht für ihn hätte, würde ich sie im Ordner Entwürfe hinterlegen, ohne sie abzuschicken, auf gleiche Weise könnte er mit mir Kontakt aufnehmen. Ich hatte in einem Artikel gelesen, dass Terroristen so miteinander kommunizierten. Ich dachte mir, wenn das bei den Taliban klappte, dann stünden die Chancen gut, dass ich so elektronischen Schnüffelattacken von Henry entgehen konnte.

Nach meinem Anruf bei Rivera war die schleichende Übelkeit der letzten Wochen, die Angst, die ihre Ursache allein in der gespannten Erwartung gehabt hatte, fast schlagartig verschwunden. So wahnwitzig der Plan auch sein mochte, jetzt, da ich gegen Henry Davies vorging, fühlte ich mich erleichtert, fast manisch.

Bis dahin hatte ich es kaum ertragen, wie sich die Lügen über den Mord in den Nachrichten ausbreiteten. Aber jetzt änderte sich alles. Mit wachsender Befriedigung beobachtete ich, wie sich Henrys kleine Geschichte – ein besessener Haskins hatte erst Irin und dann sich selbst umgebracht – auf den Titelseiten entfaltete.

Das FBI war eingeschaltet worden, um die Einzelheiten der Todesfälle in Fauquier County zu untersuchen. Angesichts der Akribie, mit der bei einem derartigen Ereignis zu Werke gegangen wurde, würde selbst Henry nicht mehr vertuschen können, dass es sich in beiden Fällen um Mord handelte. CNN zitierte Quellen, die vermuteten, dass es um mehr als erweiterten Selbstmord ging. Andere Gerüchte besagten, dass die Polizei nach einem Killer suchte, der noch frei herumlief.

Jede neue Meldung bestärkte mich in meiner Zuversicht. Ein Teil von Henrys Macht lag in seinem Ruf begründet, dass er allmächtig und allgegenwärtig sei, dass er jeden, egal, wie einflussreich, manipulieren und die Welt nach seinem Gusto gestalten konnte. Aber dieser Ruf fing an zu bröckeln. Marcus’ und Davies’ Geschichte entpuppte sich als ziemlich wirr. Ich konnte mich ein bisschen entspannen, weil ich sah, dass sogar ihre Macht Grenzen hatte. Sicher hatten sie ein paar Polizisten am Ort bestochen, aber das ganze FBI? Keine Chance. Meine Entscheidung war richtig gewesen.

Ich ging weiter meiner Arbeit bei Davies nach. Gegen Viertel vor acht am Abend desselben Tages saß ich noch in der juristischen Bibliothek im Erdgeschoss. In Zusammenhang mit dem Fall Rado Dragovi´c hatte ich mich in den Alien Tort Statute vergraben. Ich hörte Lärm aus der Lobby. Normalerweise war das Gebäude um diese Zeit fast leer.

Ich folgte den Geräuschen und ging die Treppe hinauf. Als ich die Tür zum zweiten Stock aufmachte, sah ich ein paar Detectives, die sich von mir entfernten und durch den Flur auf die Vorstandssuiten von Marcus und Davies zugingen.

Ich unterdrückte ein Lächeln. So viel zum Thema Allmacht. War die Polizei Henrys Rolle bei den Morden so schnell auf die Spur gekommen? Fast war ich enttäuscht. Ein bisschen mehr sportlichen Wettkampf hatte ich schon erwartet.

Kurz darauf kam Henry Davies aus seinem Büro und stolzierte mit den Detectives im Schlepptau in meine Richtung. Ich zog mich wieder ins Treppenhaus zurück. Henry machte nicht im Mindesten den Eindruck eines Mannes, der jeden Augenblick ins Blitzlichtgewitter der Pressemeute tritt.

Als ich im ersten Stock, wo sich mein Büro befand, durch die Treppenhaustür in den Flur lugte, begann ich langsam zu begreifen. Durch die Fenster sah ich eine Streifenwagenarmada in blau-rot blinkender Festbeleuchtung. Als ich in einen Seitengang schlüpfte, sah ich, dass Henry die Detectives zu meinem Büro führte. Kurz danach bezog ein Beamter Stellung am Eingang zum Haupttreppenhaus. Weitere Beamte drängelten sich vor meinem Büro.

Ich schaltete mein Blackberry ein und schaute nach, ob es Neuigkeiten gab. Ich brauchte nicht lange zu suchen. Auf allen Websites prangten Balkenüberschriften. Ich hatte gerade die Manege betreten.

Die Zeitungen nannten zwar nicht meinen Namen, aber laut verschiedener offizieller Quellen aus dem Umfeld der Ermittlungen hatte die Polizei in den Mordfällen von Richter Malcolm Haskins und Irin Dragovi´c eine »verdächtige Person« ins Visier genommen. Henry hatte gesagt, dass er noch vor mir selbst über meinen nächsten Schritt informiert sein würde. Er musste irgendwie erfahren haben, dass ich gegen ihn vorging. Hatte er mir eine Falle gestellt, um mich als den Killer zu präsentieren?

Mich still und heimlich vor den Bullen zu verdrücken war zufällig eine meiner Spezialitäten, auch wenn ich schon ein bisschen eingerostet war. Einer meiner früheren Einbrecherkumpel, ein Bursche, den jeder nur Smiles nannte, hatte seine Einbrecherkarriere an den Nagel gehängt, auf »Office Creeper« umgesattelt und damit sein Einkommen verdreifacht. Sie würden staunen, mit welchem Tunnelblick die Leute an ihren Schreibtischen sitzen. Smiles suchte sich ein Bürogebäude aus und marschierte in einigermaßen anständigen Klamotten völlig unbehelligt hinein. Er klemmte sich ein paar Laptops, trank vielleicht in der Kantine noch einen Kaffee, winkte dem Sicherheitsmann zum Abschied freundlich zu und marschierte wieder raus.

Die Polizei hatte das Gebäude der Davies Group noch nicht ganz umstellt. Auf die Erfahrungen meines »Office-Creeper«-Kumpels bauend, hoffte ich, dass niemand den gut gekleideten, jungen Mordverdächtigen bemerken würde, der zwischen den nur zum Teil besetzten Büronischen auf seinen Ellbogen über den Teppichboden robbte.

Nach fünfzehn Metern hatte ich einen leicht auf seinem Bürostuhl wippenden Burschen mit Kopfhörer und einen der Schreibtische für die Vorstandssekretärinnen hinter mir gelassen. Dann kroch ich auf Augenhöhe an einer Sammlung High Heels vorbei, die die Senior Associate Jen immer unter ihrem Schreibtisch aufbewahrte. In der U-Bahn trug sie Sneaker, im Büro schlüpfte sie dann in ihre Büroschuhe.

Jede Sekunde strömten mehr Polizisten ins Gebäude. Einige bezogen vor der Herrentoilette, andere am Haupttreppenhaus Position. Ich war mir jetzt ziemlich sicher, dass alle Ausgänge bewacht waren. Dann kam mir ein Gedanke. Ihn als Plan zu bezeichnen wäre wahrscheinlich etwas übertrieben, aber da mir nichts Besseres einfiel, setzte ich ihn in die Tat um.

Ich kroch durch einen nur selten benutzten Konferenzraum, kam so an den beiden davor postierten Polizisten vorbei und schaffte es bis in die Damentoilette. Da die Davies Group eine Art Herrenclub war und nur drei weibliche Senior Associates hatte, die anscheinend alle außer Haus waren, standen meine Chancen gut, dass ich dort ein Örtchen ganz für mich hatte. Die Polizisten waren, soweit ich das mitbekommen hatte, alle Männer. Mit dem hübschen Paar Jimmy-Choo-Slingback-Pumps, das ich aus Jens Bestand hatte mitgehen lassen, müsste es möglich sein, die Razzia auf der Damentoilette auszusitzen.

Der Plan entsprach natürlich nicht ganz der reinen Macholehre, die blaue Uniformphalanx einfach boxend und um mich tretend zu durchbrechen, aber eins war sicher, diese Damentoilette war eine Schau. Blumengebinde, Ruhecouch, Zeitschriften. Ich fühlte mich eindeutig diskriminiert, als ich mir die neueste Ausgabe von Martha Stewart Living schnappte und mich in der letzten Kabine niederließ.

Es schien zu klappen. Eine Stunde lang durchsuchten die Bullen das Haus, ohne mich zu behelligen. Dann hatte offenbar einer der Beamten den Mut aufgebracht, auch die Damentoilette zu kontrollieren. Ich hatte gehofft, das würde mir erspart bleiben, aber ich quetschte meine Füße in die High Heels, was nicht ohne quietschendes Leder und ein paar aufgeplatzte Nähte abging.

Als ich hörte, wie der Polizist nacheinander die Kabinentüren aufstieß, war ich froh, dass ich die Schuhe mitgenommen hatte. Wenn ich mich einfach auf die Schüssel gehockt und er an der verschlossenen Tür gerüttelt hätte, wäre ich geliefert gewesen.

Als er zu meiner Tür kam, ließ ich mein anmutigstes Räuspern hören.

»Tschuldigung, Ma’am«, sagte er. Ich hörte, dass er näher an die Kabine herantrat, dann ein leises Stöhnen, wahrscheinlich, als er sich bückte, um unter der Tür durchzuschauen. Ich zog die Beine meiner Anzughose etwas nach unten, um so viel wie möglich von meinen Füßen zu bedecken. Schätze, ich bot knöchelabwärts ein ganz passables Bild vom schöneren Geschlecht.

Seine Schritte wurden wieder leiser, dann ging die Tür auf, und ich stieß leise den Atem aus. Nicht gerade Die Flucht von Alcatraz, aber es hatte funktioniert.

Dann hörte ich im Gang Stimmen. Die Tür öffnete sich wieder, und ich hörte Schritte auf den Fliesen. Nicht gut.

Eine Stunde in einer Toilette eingesperrt zu sein ist eine lange Zeit, in der ich zwei Dinge lernte. Erstens, dank Martha, dass ich etwas gegen das Chaos in meinen Schubladen unternehmen musste, und zweitens, was wichtiger war, dass es auch etwas Gutes hatte, von Henry Davies zwei Morde angehängt zu bekommen. Sicher, in Virginia, wo ich vor Gericht kommen würde, gab es immer noch die Todesstrafe, und die wurde auch immer noch verhängt. Aber ich versuchte mich an die Devise zu halten, dass das Glas immer halb voll ist, und Tatsache war nun mal, dass ich jetzt wirklich nichts mehr zu verlieren hatte. In guter Business-Diktion: Die Marginalkosten für weitere Verbrechen lagen bei null. Ich konnte auf den Putz hauen und jede kriminelle Fantasie ausleben, die ich in den letzten zehn Jahren krampfhaft unterdrückt hatte, und das würde meine Situation auch nicht weiter verschlimmern, weil nämlich Marcus und Davies mich im Visier hatten und ich also ohnehin geliefert war.

Als der Polizist nun das zweite Mal vor meiner Kabinentür stand, beschleunigte sich mein Puls um ein paar Schläge: auch vor Angst, klar, aber hauptsächlich, weil ich mich befreit fühlte. Kein Verstecken und Warten mehr. Als er seinen Kopf unter der Tür durchsteckte, sah ich genau jenen Bullen vor mir, der mir vor langer Zeit Handschellen angelegt und mich auf den Rücksitz des Streifenwagens gestoßen, dabei meine Teenagernase gegen den Türrahmen geknallt und die Aktion kichernd mit »Hoppla« kommentiert hatte. Ich sah jenes Stück Scheiße mit Plattschädel vor mir, das eines Morgens, als ich zwölf war, bei uns vor der Tür gestanden und mir für immer meinen Vater weggenommen hatte. Ich sah den fetten Gefängniswärter vor mir, der meine vom Krebs ausgemergelte Mutter im Besucherraum in Allentown angeschnauzt hatte, als sie die Hand nach meinem Vater ausstreckte: »Kein Körperkontakt!«

Der Bulle schaute unter der Tür zu mir hoch, lächelte und sagte: »Hübsche Pumps, Arschloch.«

Ich trat ihm gegen die Schläfe, bevor er seine Waffe aus dem Halfter ziehen konnte. Sein Kopf knallte auf die Marmorfliesen, dann sackte sein Körper zusammen wie eine Wolldecke. Der Groll eines ganzen Lebens entlud sich. Vielleicht war ich aber auch nur etwas empfindlich wegen meiner Schuhe.

Ich fesselte ihn mit seinen Handschellen an eine Stange der Kabinenwand und schaute in den Gang. Glücklicherweise war der bewusstlose Bulle derjenige, der die Tür zum hinteren Treppenhaus bewacht hatte. Unbehelligt rannte ich die Treppe hinunter in die Tiefgarage.

Die Überprüfung der Damentoilette war wahrscheinlich ein allerletzter Versuch gewesen. Vor dem Haupteingang standen zwar noch ein paar Streifenwagen, und ein paar vereinzelte Polizisten schirmten immer noch das Gebäude ab, aber es waren bei Weitem nicht mehr so viele wie am Anfang.

Wahrscheinlich fiel einigen von ihnen auf, dass der Pick-up der Putzkolonne das Grundstück verließ. Aber keiner bemerkte, dass am ersten Stoppschild ein Schatten von der Ladefläche sprang und sich Richtung Rock Creek Park aus dem Staub machte. Das war ich.

Ich war zwar entkommen, aber jetzt würde jeder Polizist in Washington DC nach mir suchen.

Glücklicherweise mäanderten Ausläufer des Rock Creek Parks durch den ganzen Nordwesten Washingtons und waren mit Parks verbunden, die an Georgetown und die umliegenden Viertel grenzten.

Ich war oft in dem Park gejoggt und kannte mich gut aus. Er war doppelt so groß wie der Central Park, viel dichter bewaldet und voller versteckter Obdachlosenlager und weiß der Himmel, was sonst noch. Wenn man Chandra Levys Leiche dort ein Jahr lang nicht hatte finden können, dann würde man mich auch nicht finden können. Ich war sicher, dass sie inzwischen in meinem Haus gewesen waren, aber vielleicht noch nicht in Annies Wohnung.

Ich schlängelte mich die Wege entlang, die zum Naval Observatory führten, und lief dann über die Wisconsin Avenue in den Glover Archbold Park. Jeder raschelnde Zweig oder aufgescheuchte Waschbär ließ mich zusammenfahren. In der Dunkelheit war mein Geist mit archaischen Urängsten beschäftigt, was mich von den realen Gefahren ablenkte, die in der Stadt auf mich lauerten.

Ich drehte eine Runde in Annies Viertel und hielt Ausschau nach Anzeichen, ob ihre Wohnung überwacht wurde, konnte aber keine entdecken. Die Wohnung lag im ersten Stock eines umgebauten Reihenhauses. Da ich nicht das Risiko eingehen wollte, vor dem Haus gesehen zu werden, schlich ich mich hinters Haus, kletterte an den Pfosten des Holzbalkons hoch und hievte mich über das Geländer.

Sie saß auf der Couch. Sie trug ein zu großes Sweatshirt und eine Flanellpyjamahose, trank Tee und las. Ich hätte sie stundenlang anschauen können.

Ich wollte sie nicht erschrecken, also klopfte ich leise mit dem Fingerknöchel ans Fenster.

Sie fuhr nicht zusammen, sondern legte ruhig das Buch auf die Armlehne, ging in die Küche und kam mit dem 35-Zentimeter-Wüsthof-Kochmesser zurück, das ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie hielt es wie einen Hammer und trat von der Seite an die Balkontür.

Mann, wie ich das Mädchen liebte.

»Mike?«, sagte sie.

»Ja.«

Sie zog die Tür auf. »Mein Gott, um ein Haar hätte ich dich aufgeschlitzt.«

»Passender Tag dafür.«

Sie legte das Messer auf den Tisch, zog mich ins Wohnzimmer und umarmte mich.

»Was zum Teufel ist los?«, fragte sie. »Hast du die Nachrichten gesehen? Reden die über dich? Haben die dich in Verdacht?«

Im Fernseher lief CNN. Die schmackhaften Nachrichtenhäppchen über die Landhausmorde waren noch pikanter geworden. Jetzt berichteten sie, dass der Grund für die Morde eine Dreiecksbeziehung gewesen sei. Der Killer war angeblich Irins eifersüchtiger Stalker, ein Doppelmörder auf der Flucht. Ich wunderte mich, dass noch kein Bild von mir über alle Kanäle flimmerte.

»Glaub kein Wort von dem Zeug«, sagte ich.

»Bist du okay?«

»Ja.«

»Was ist passiert?«

»Ich hab dir doch erzählt, dass ich versuchen würde, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Dass es um Haskins ging. Tja, hinter den Morden steckt Davies. Ich wusste das und wollte die Polizei benachrichtigen. Davies hat mich gewarnt. Ich sollte mich auf sein Spiel einlassen, ich hätte keine Ahnung, was es mich kosten würde, wenn ich es nicht tue. Genau das hat er gemeint. Er hat mich hingehängt. Alles, was die da im Fernsehen bringen, ist eine Lüge. Hinter alldem steckt er.«

»Aber wie konnte er das alles inszenieren? Da stecken so viele Leute mit drin.«

»Das ist seine Stadt, Annie. Bestechung, Erpressung: Er hat sich in DC einen wichtigen Kopf nach dem anderen gefügig gemacht. Und Haskins war eine große Nummer im Olymp des Landes, dem Obersten Gerichtshof.«

Was ich da sagte, hörte sich sogar in meinen eigenen Ohren wie das durchgeknallte Geschwätz eines Verschwörungstheoretikers an. Sie trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme.

»Die haben was von irgendeinem Vorfall bei Davies gesagt, im Büro. Dass man einen Polizeibeamten angegriffen hat.«

»Ich musste da raus, Annie. Die Bullen hat Henry auch im Sack, ich hab’s selbst erlebt.«

Ich spürte, dass sie mir nicht glaubte. Was hätte ich geglaubt, wenn sie mir so einen Irrsinn um die Ohren gehauen hätte, wenn sie auf Bullenköpfen herumgetrampelt wäre? Jetzt war ich wieder der Sohn eines Gauners, für den das alles eine Nummer zu groß war, der kleine Trickbetrüger, der langsam sein wahres Gesicht zeigte, weil er zu lange mitgespielt hatte und zu gierig geworden war.

»Wenn du wegläufst, machst du es doch nur noch schlimmer, Mike. Was sollen die Leute denn glauben?«

»Ich kann mich nicht stellen, Annie. Henry kriegt jeden.«

Im Fenster zur Straße leuchteten Scheinwerfer auf. Ich ging nach vorn und schaute nach draußen. Es war Marcus’ Mercedes. Er und Davies stiegen aus.

Henry kommt an jeden ran. Ich drehte mich um und schaute Annie an.

»Hast du ihnen gesagt, worüber wir gestern Abend gesprochen haben, dass ich versuchen würde, sie aufzuhalten?«

»Nein, Mike!« Sie trat zurück und schaute mich mit aufgerissenen Augen an. Sie hatte Angst.

Die Romanze mit Annie war so einfach gewesen. Ich erkannte jetzt, dass Henry seine Hand im Spiel gehabt hatte: Er hatte mir im ersten Stock das Büro in ihrer Nähe gegeben, er hatte mir auf der Weihnachtsparty der Firma von ihr vorgeschwärmt. Weiß der Himmel, was er – mit ihrem Wissen oder ohne – sonst noch für Tricks angewandt hatte, um uns zusammenzubringen.

Er musste einige Zeit daran gearbeitet haben, mir die Morde anzuhängen. Wahrscheinlich schon lange vor meinem Anruf heute Morgen bei Rivera. Ich hatte Annie am Abend zuvor erzählt, dass ich reden würde. Niemand wusste so viel wie sie: dass ich mich an die Behörden wenden wollte, dass ich die Wahrheit über Haskins’ Tod kannte. Sie musste es Henry und Marcus erzählt haben. War unsere ganze Beziehung ein abgekartetes Spiel? Annie nur ein weiterer Honigtopf? Alles von Anfang an eingefädelt, damit Henry mich ausspionieren konnte, damit er mich immer an der Leine hatte? Hatte er das gemeint, als er gesagt hatte, er wüsste noch vor mir, wenn ich reden würde?

Die ganze Woche hatte ich mich im Griff gehabt, aber ich spürte, dass ich allmählich die Kontrolle über mich verlor. Wie in dem Augenblick, als ich dem Bullen in der Damentoilette gegen den Kopf getreten hatte, spürte ich jetzt den gleichen Sog, den gleichen Nervenkitzel, ohne an die Konsequenzen zu denken.

Annie ahnte, was in mir vorging. Sie warf einen Blick auf das Messer. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich sie verloren hatte – egal, ob sie Henry etwas erzählt hatte oder nicht, egal, ob unsere Beziehung ein Schwindel gewesen war oder nicht.

»Hör auf wegzulaufen, Mike«, sagte sie.

Henry und Marcus standen jetzt vor der Haustür.

»Ich bin unschuldig. Das ist die Wahrheit.«

»Dann stelle dich.«

»Nein. Die Wahrheit spielt gerade keine Rolle.«

Ich öffnete die Balkontür und sprang über das Geländer. Als ich auf dem weichen Frühlingsgras landete, platzten ein paar Nähte der Wunde an meinem Oberschenkel. Ich richtete mich auf und lief zurück in die Dunkelheit des Parks.