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Mir gefiel Kolumbien. Außer in einigen immer noch von den Guerillas kontrollierten Gebieten an der Grenze zu Panama war es inzwischen ziemlich sicher, gar nicht zu vergleichen mit der Schießbude, die es zu Zeiten des Kartells gewesen war. Die Frauen waren von geradezu schmerzender Schönheit, aber was mir, glaube ich, am meisten zusagte, war der Kaffee. Kolumbianer trinken ihn dauernd. Selbst um Mitternacht, bei tropisch feuchter Hitze, lief einem auf einem fast menschenleeren Stadtplatz immer ein Bursche mit einer Thermoskanne über den Weg, der tinto anbot und auch Kunden fand. Ein Land nach meinem Geschmack.
Ich war vier Tage dort. Henry und ich waren Gäste von Rado Dragovi´c. Das war der serbische Platzhirsch, der die Verführung des Abgeordneten Eric Walker finanziert hatte. Er hatte an der Karibikküste von Kolumbien, in der Nähe des Tayrona-Nationalparks, ein nettes kleines, modernistisches Haus. Auf einer Seite lag das Meer mit seinen sanft dem Horizont entgegenrollenden blauen Wellen, auf der anderen Seite erhoben sich Berge bis zu einer Höhe von fünfeinhalbtausend Metern. Stellen Sie sich die Rockies am Pazifik vor, wie Big Sur, nur viermal größer, das kommt ungefähr hin.
Die Leute im Büro, Annie eingeschlossen, konnten nur schwer verbergen, wie neidisch sie waren, dass man mich auserwählt hatte, um mit Henry Davies für ein paar lauschige Tage ins Paradies zu jetten.
Ich nahm an, dass wir wegen der Feinarbeit dort waren, dass wir mit den Serben absprechen würden, wo sich die Schlupflöcher in dem anstehenden Außenhandelsgesetz befinden sollten. Walker erwies sich in dieser Beziehung als genau so entgegenkommend, wie Marcus vorausgesagt hatte. Bis jetzt war der Trip allerdings vor allem Spiel und Spaß gewesen. Wir wohnten in einem Gästehaus in einem alten Fischerhafen, den reiche ausgewanderte Europäer in eine Art Vergnügungsstadt verwandelt hatten.
Nach einem Jahr bei Davies mit neunzig Arbeitsstunden pro Woche kamen mir Erholung und Freizeit fast gespenstisch vor. Ich vermutete zweierlei: Erstens, Henry wollte mich friedlich stimmen wegen der Chaosnacht mit Walker (mich runterbringen, sozusagen), und zweitens, der Spaß würde nicht lange andauern.
Bis jetzt war das Schwierigste für mich gewesen, Rados Tochter Irin aus dem Weg zu gehen. Sie war mit vier ihrer glamourösen Freundinnen im Schlepptau einen Tag nach unserer Ankunft aufgekreuzt. Ich hatte sie schon einmal kurz gesehen, auf Chips Party, in jener verrückten Nacht mit Walker in der Methhöhle. Sie war das Mädchen gewesen, mit der er sich über Unis unterhalten hatte. Sie war zwanzig oder einundzwanzig. Anscheinend hatte sie zwei Jahre in Georgetown studiert und nahm sich gerade eine kleine Auszeit als Paris Hilton vom Balkan, bevor sie in Yale, Brown oder Stanford ihren Abschluss machte.
Klar, sie hatte was auf dem Kasten. Aber als Erstes fiel einem auf, dass sie und ihre Clique Partygirls waren – große Sonnenbrillen, Designerklamotten, die Zigarette zwischen spitzen Fingern, diese typische Ihr-könnt-mich-alle-mal-Attitüde von jungen Leuten. Irin war eindeutig die Anführerin der Truppe. Ich glaube, das Etikett »Luder« trifft’s ziemlich genau. Sie war der Typ mediterrane Verführerin, sehr sexy, kurvig, dunkle Augen. Sie war nicht die makelloseste Schönheit, die mir je untergekommen war, aber diese trashig-kaputte Mach-mich-fertig-Masche hatte sie perfekt drauf. Ihre wichtigste Waffe war ihr Gesicht, sehr attraktiv natürlich, volle Lippen und Mandelaugen, aber was noch wichtiger war – sie hatte diesen Blick. Stellen Sie sich den Blick einer Frau nach ein paar Gläsern Wein und einem netten Abendessen vor. Ein Schlafzimmerblick, der sagt: Hol mich hier raus und geh mit mir ins Bett. Diesen Blick hatte sie dauernd, immer und überall. Das war ihr alltäglicher Gesichtsausdruck. Sehr verwirrend.
Eines Tages am Strand nahm sie mich ins Visier. Sie hatte mich gefragt, was ich machte und was ich mit ihrem Vater zu tun hätte. »Arbeiten Sie direkt mit Henry Davies zusammen?«
Ich hatte den Eindruck, als wollte sie herausfinden, ob ich eine große Nummer war. Sie trug ein Bikinioberteil, abgeschnittene Jeans und saß sehr dicht neben mir. Gelegentlich beugte sie sich zur Seite, um eine Mücke zu verscheuchen, wobei ihre Brüste leicht meine Schulter berührten. Alles in allem eine sehr überzeugende Vorstellung. Das Mädchen war scharf, kein Zweifel, ihre Augen waren wie Laser, die mein Bewusstsein zersetzten. Aber durch meine Arbeit für die Davies Group wusste ich Bescheid über neugierige Frauen mit großen Titten, und so tat ich mein Bestes, um sie mir vom Leib zu halten. Mit Desinteresse war es allerdings nicht getan. Sie hatte das ganze Repertoire aus dem Film-noir-Führer für Flittchen drauf. Nach ein paar Minuten Geplänkel schaute sie mir in die Augen. »Haben Sie Angst vor bösen Mädchen?«
»Höllisch«, sagte ich und wandte mich wieder meiner Strandlektüre zu (Über die Beeinflussung von staatlichen Aufsichtsbehörden, rasend interessant). Sie stand auf, trat ein paar Schritte zurück, wobei sie mich immer noch mit diesem Schlafzimmerblick anschaute, drehte sich dann um und ging. Sicher würde sie das schattige Ende des Strandes aufmischen können.
Fast wäre es komisch gewesen, ja liebenswert, wie viel Spaß das Mädchen an ihrer neu entdeckten Macht hatte: dass man Sex selbst bei Männern mit eherner Selbstbeherrschung wie ein Stemmeisen einsetzen konnte. Außer dass sie nicht den Eindruck einer verspielten Lolita machte. Sie hatte das routinierte Selbstbewusstsein einer Kurtisane.
Aber wer bin ich eigentlich, dass ich das Maul aufreißen dürfte? Ich musste brav auf der Strandmauer sitzen bleiben, lesend einen auf nonchalant machen und darauf warten, dass mein verräterischer Ständer endlich jede Hoffnung fahren ließ.
Zwei von Rados Untergebenen hatte ich schon in DC kennengelernt – Miroslav und Aleksandar. Da die beiden dem durchschnittlichen, billigen Schlägertyp entsprachen, war ich angenehm überrascht, dass Rado Klasse hatte. Er trug immer elegante maßgeschneiderte Anzüge, schien trotz der tropischen Hitze nie auch nur einen Tropfen Schweiß zu vergießen und sagte mit einem leichten Akzent dauernd Sachen wie »Sie verzeihen, wenn ich …« oder »wie auch immer«, die nie deplatziert wirkten.
Sein Haus lag etwa eine halbe Meile oberhalb des Dorfes, wo Henry und ich logierten. Miroslav, Aleksandar, Rado, Henry und ich saßen im Garten des Hauses, tranken Prosecco und schauten in den Sonnenuntergang. Rado erklärte uns die verborgenen Eigenschaften einiger Gewürze, die er heute Abend bei der Zubereitung des Essens verwenden würde, wobei er sie leicht mit den Fingerspitzen berührte und ihr öliges Aroma erschnupperte.
Die Meeresbrise wehte durch das ganze Haus. Rado führte uns in die Küche und klärte uns darüber auf, dass das Entscheidende für ein perfektes Tatar die Frische der Zutaten sei: natürlich die Eier, aber vor allem das Fleisch.
Er zog seine Jacke aus (es war das erste Mal, dass ich ihn im Hemd sah), krempelte die Ärmel bis zum Ellbogen hoch und ließ sich von Miroslav eine Rinderhälfte aus dem Kühlraum im Keller bringen.
»Flor ist erst vor zwei Stunden getötet worden«, sagte Rado und tätschelte liebevoll das tote Fleisch. Mit einem langen Messer aus Damaszenerstahl löste er mit einem einzigen sauberen Schnitt ein Stück Filet von der Wirbelsäule und machte sich daran, Fett und Haut zu entfernen.
»Das Zerlegen erledige ich am liebsten selbst«, sagte er lächelnd.
Ich konnte es nicht erwarten, endlich zum Geschäft zu kommen. Ferien machten mich nervös. Ich habe gern etwas zu tun, und nachdem ich Rados Messerkünste gesehen hatte, war ich nicht mehr scharf darauf, in Irins Fadenkreuz zu geraten. Sie war in einem durchsichtigen Umhang die Treppe heruntergekommen, saß mir gegenüber am Tisch, kaute an einem Apfel und machte mir schöne Augen. Margret, Henrys Assistentin, war mittlerweile auch eingetroffen.
Aber Rado redete während des sechsgängigen Abendessens mehr oder weniger ohne Pause. So köstlich das Essen auch war, nachdem ich mehrere Abhandlungen über den wohlschmeckendsten gegrillten Singvogel des Mittelmeerraums (Sperling), den bissigsten von Emir Kusturicas frühen Filmen (Underground) und den besten Roggenwhisky für einen anständigen Sazerac (Pappy Van Winkle’s Family Reserve) über mich hatte ergehen lassen, konnte ich nicht mehr an mich halten. Um Walker festzunageln, hatte ich meinen Arsch riskiert, und ich wollte jetzt nur noch wissen, was Rado von uns wollte und wie viel er dafür zu zahlen bereit war.
»Wie können wir Ihnen nun in Washington behilflich sein, Mr. Dragovi´c?«, fragte ich. Die kleine Abendgesellschaft reagierte, als hätte ich gerade in die Bowle geschissen.
Henry rettete mich, indem er sofort das Thema wechselte. »Wer macht heutzutage den besten Wermut, was meinen Sie?«, fragte er Rado. Unser Gastgeber bedachte mich mit einem gönnerhaften Lächeln und erging sich über das neue Thema.
Scheißsüdeuropäer. Keine Geschäfte am Esstisch. Und so folgten auf vier Stunden Essen das Dessert und dann der Kaffee und dann die geistigen Getränke. Rado präsentierte eine Flasche, die ein Etikett mit asiatischen Schriftzeichen zierte, und fing an, die eklige schwarze Flüssigkeit auszuschenken. Ich könnte wirklich nicht sagen, dass das Zeug nach irgendetwas schmeckte, nur dass sich meine gesamte Mundhöhle schon nach dem winzigsten Schluck anfühlte, als hätte man mir eine doppelte Ladung Novocain verpasst. Mir wurde sofort übel.
Schließlich schlug Rado vor, dass sich die Männer mit ihren Drinks in die Bibliothek zurückziehen sollten. Ich atmete auf. Endlich Nägel mit Köpfen.
Als Rado nachschenkte, bildete ich mir ein, in der Flasche mit dem fernöstlichen Fusel irgendetwas schweben zu sehen.
Henry legte die Modalitäten der Vereinbarung dar. Er redete Klartext. Keine Anwälte. Keine Vorschüsse. Ein einfacher Deal per Handschlag. Wir kriegen zwanzig Millionen Dollar, du kriegst deine Klauseln. Offizielles amerikanisches Gesetz, abgesegnet von beiden Häusern, unterschrieben vom Präsidenten persönlich. Ein Zusatz zu einem umfassenderen Gesetz, aber Gesetz war Gesetz. Wenn die Davies Group nicht lieferte, würde Rado uns nichts schuldig bleiben.
Rado schien die Sache in die Länge ziehen zu wollen.
»Je mehr Gesetze, desto weniger Gerechtigkeit«, sagte er und nahm einen Schluck.
Meine Fresse … jetzt kam der auch noch mit Cicero-Zitaten. Dann konnte ich mich ja gleich häuslich einrichten.
»Dieser Soju kommt aus Nordkorea«, sagte er. »Sehr selten. Sieben Jahre alt. Ausschließlich für die Parteielite.«
Er schenkte uns wieder nach, und tatsächlich, kein Zweifel: Da schwebte eine tote schwarze Schlange in der Flasche.
Er bemerkte meinen Blick. »Eine Kreuzotter«, sagte er. »Das Gift verleiht ihm eine gewisse Süße.«
Prost.
»Zwanzig Millionen US-Dollar«, sagte er, stand auf und ging hin und her. Er schaute hinaus aufs karibische Meer, wo ein paar Lichter auf den Wellen hüpften.
Weiter kam er nicht. Ich nehme an, das gehörte zu seiner Verhandlungstaktik, die allerdings an diesem Tag nicht aufging. Jemand klopfte an die Tür.
Ein Diener trat ein. Er hatte eine Nachricht für Henry. Er las sie und beriet sich kurz mit Rado, der sagte: »Okay, schick ihn rein.«
Drei Minuten später stand vollkommen derangiert Marcus in der Tür und entschuldigte sich wortreich. Er hielt einen Digitalrekorder in der Hand. Er hätte eigentlich mit uns fliegen sollen, hatte aber in letzter Minute wegen irgendeiner Sache noch in DC blieben müssen. Er flüsterte Henry etwas zu, dann entschuldigten sich beide.
Marcus hatte die Angewohnheit, Musik aufzulegen, wenn er irgendetwas Wichtiges oder Vertrauliches zu besprechen hatte. Und prompt ertönte wenig später aus dem kleinen Nebenraum, in den er und Henry sich zurückgezogen hatten, eine Arie.
Etwa zehn Minuten später kehrten sie mit todernsten Gesichtern zurück. Henry bat Rado um eine Minute unter vier Augen. Ich wusste nicht, was da lief, aber eins wusste ich ziemlich sicher: Rado hätte bei den zwanzig Millionen sofort zuschlagen sollen, weil der Preis anscheinend gerade eben in die Höhe geschossen war.
Wir warteten weitere fünfundzwanzig Minuten draußen, während Henry und Rado sich in der Bibliothek beratschlagten. Trotz des hochtourigen Soju war ich durch Marcus’ Überaschungsbesuch schlagartig nüchtern geworden. Ich fragte mich, ob sie mit ein paar schockierenden Neuigkeiten den Preis hochtreiben und Rado über den Tisch ziehen wollten.
Wenn ja, dann wusste ich jedenfalls nichts davon. Als Henry und Rado aus der Bibliothek kamen, gingen sie in eine Ecke und tuschelten weiter miteinander. Marcus gab den Rekorder Henrys Sekretärin, wahrscheinlich zur Abschrift.
Ich wartete so geduldig und so lange ich konnte, schließlich ging ich zu Henry und Marcus. »Was ist passiert?«, fragte ich.
»Tut mir leid, aber wir müssen die Angelegenheit abschotten«, sagte Marcus. Mit anderen Worten: Verpiss dich.
Kein Problem, ich musste nicht alles wissen. Nur dass ich das letzte Mal, als ich unvollständig informiert in etwas hineingerutscht war, fast von einem Hundertvierzig-Kilo-Monster namens Squeak umgenietet worden wäre und im Knast gelandet war. Zumindest musste ich wissen, wo die neue Entwicklung meine Seite des Rado-Walker-Deals tangierte.
»Okay«, sagte ich. »Sagen Sie mir nur, wie die nächste Runde mit Walker aussehen soll.«
Marcus und Henry tauschten einen nur sekundenlangen Schlechte-Nachrichten-Blick. Henry biss in den sauren Apfel. Er legte eine Hand auf meine Schulter und sagte: »Wir müssen Sie von diesem Fall abziehen, Mike.«
Ich war fassungslos. Ich blinzelte die beiden an wie ein Idiot. »Was? Ich verstoße ein einziges Mal gegen die Tischsitten, und das war’s dann, ich bin draußen?«
»Das hat damit absolut nichts zu tun«, sagte Marcus. »Sie haben keinen Fehler gemacht.«
»Es geht inzwischen nicht mehr nur um einen Gesetzeszusatz«, sagte Henry. »Die Lage hat sich geändert. Wir haben es jetzt mit einer vollkommen anderen Größenordnung zu tun. Das wäre für Sie zu viel und zu früh, Mike.«
Ich hätte ein Klagelied darüber anstimmen können, dass man mich nach Südamerika geschleift hatte, während sich zu Hause in DC die Arbeit auf meinem Schreibtisch stapelte, darüber, dass ich eine Woche vergeudet hatte, dass ich die Schnauze voll hatte von ihrem Versteckspiel, aber das hätte nicht das Geringste genutzt.
»Ich habe mir das verdient«, sagte ich. »Ich habe Risiken auf mich genommen. Ich habe Walker gekapert. Ich bin bereit, die Verantwortung zu übernehmen. Nehmen Sie mich an Bord. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«
»Wir tun das zu Ihrem Schutz. Sie sind auf bestem Weg, ein wertvoller Akteur für uns zu werden. Aber lassen Sie diesen Fall sausen, es ist zu Ihrem Besten. Hier geht es um eine Geschichte, bei der Sie sich mit einem einzigen Fehler in die Scheiße reiten können – und nie wieder rauskommen.«
Ich dachte eine Minute darüber nach und gab dann klein bei. »Okay, ich habe verstanden«, sagte ich. »Danke, dass Sie ehrlich zu mir waren.«
Ich ließ sie allein und machte einen Spaziergang. Ich fragte mich, ob sie mir meinen soldatischen Gehorsam abgekauft hatten. Wenn sie nämlich glaubten, dass ich die Sache einfach sausen ließe – ein ganzes Leben als Gauner einfach so ausknipsen wie eine Deckenlampe – und mir gefallen lassen würde, dass sie mich ein zweites Mal im Dunkeln stehen ließen, dann wussten sie viel weniger über menschliches Verhalten, als sie vorgaben.
Ich musste herausfinden, worum es bei Rados Fall ging und was auf dem Rekorder war. Simple Neugier spielte eine Rolle und natürlich Ego: Ich hatte harte Arbeit investiert und mir eine Rolle verdient in dem Plan, den sie ausarbeiteten. Allerdings war mir etwas anderes noch wichtiger. Seit sie mich blind in die Walker-Razzia hatten rauschen lassen, misstraute ich Davies und Marcus. Ich war bis jetzt die Speerspitze im Walker-Rado-Fall gewesen, und ich musste sicherstellen, dass ich nicht als Einziger mit heruntergelassenen Hosen dastand, wenn der neue Plan schiefging. Wenn ich zufälligerweise ein bisschen im Dreck wühlen und ein kleines Druckmittel finden würde, das sich gegen meine Bosse einsetzen ließe, eine Versicherung, die ich für den Notfall in der Hinterhand hätte, dann würde das auch nicht schaden. Ich wusste, dass Henry mich auch deshalb angeheuert hatte, weil ich ein gerissener Bastard bin, und ich wollte ihn keinesfalls enttäuschen.
Henry und Marcus würden noch eine Zeit lang im Haus bleiben, um eine Antwort auf die Neuigkeiten auszuarbeiten, die den Schlachtplan im Fall Rado verändert hatten. Henrys Sekretärin wurde mit Marcus’ Digitalrekorder in unser Gästehaus in der Stadt geschickt, vermutlich um sich an die Abschrift der Aufnahme zu machen.
Natürlich bot ich ihr meine Begleitung an. Man konnte nie wissen, was für unappetitliche Gestalten sich in einer Stadt wie dieser herumdrückten.
Ich schlug mit ihr einen kleinen Umweg ein, einen oder zwei Blocks in Richtung Werften und Autowerkstätten, was bedeutete, dass wir auch ein paar Minuten am Strand entlanggehen mussten, um zu unserem Hotel zu kommen.
Henrys Sekretärin hatte den Rekorder in der Hand. Sie stand seit Jahrzehnten in Henrys Diensten, schon seit der Zeit, als er noch für die Regierung gearbeitet hatte. Sie war Mitte fünfzig, trug immer einen Haarknoten und makellos gebügelte Kleidung. Sie war das menschliche Äquivalent zu einem Panzerschrank. Der Rekorder war der Schlüssel zu den Neuigkeiten, die Henry und Marcus erhalten hatten, aber sie würde mir sicher nicht erlauben, auch nur eine Sekunde lang zu hören, was darauf gespeichert war. Wenn der Rekorder wieder in Washington war, da war ich mir sicher, wanderte er direkt in Henrys Tresorraum, und der war ein Muster exquisiter Handwerkskunst.
Ich hatte Henry einmal aus dem Tresorraum herauskommen sehen. Er versteckte sich hinter der Holzvertäfelung seines Büros. Dass ich überhaupt von seiner Existenz wusste, könnte man schon als Sicherheitspanne bezeichnen. Zu wissen, wo er sich befand, spielte allerdings keine große Rolle, denn er war ein weiteres Ungetüm aus der Schmiede von Sargent & Greenleaf. Um ihn zu knacken, durfte ein Fachmann zwanzig Stunden lang nicht gestört werden. Wenn ich also wissen wollte, was auf dem Rekorder war, musste ich es in Kolumbien herausfinden.
Ich plapperte ununterbrochen auf sie ein, was zur Folge hatte, dass wir schon bald Gesellschaft bekamen. Margaret schaute sich um, dann noch einmal. Ihr Körper verspannte sich, sie beschleunigte ihren Schritt und ging mit starrem Blick weiter. »Jemand verfolgt uns«, sagte sie.
»Okay«, sagte ich. »Bleiben Sie ganz ruhig.« Ich schaute mich um. Ein großer drahtiger Schwarzer, etwa Mitte vierzig, folgte uns. Er hatte ungekämmte Haare und einen Bart mit grauen Strähnen.
Der Mond verschwand hinter einem Palmenhain.
»Ich kann ihn nicht genau erkennen«, sagte ich. »Haben Sie vorhin im Mondlicht gesehen, welche Farbe seine Klamotten hatten? Blau und schwarz, oder?«
Margaret dachte kurz nach. »Ja. Was hat das zu bedeuten?«
»Vielleicht die Farben einer Gang«, sagte ich und runzelte die Stirn. »Wird schon nichts passieren, wenn wir ihm nicht gerade irgendwas Wertvolles unter die Nase halten.«
Sie öffnete ihre Hand und zeigte mir den Digitalrekorder, der silbern glänzte und sicher seine dreihundertfünfzig Dollar wert war. Sie trug ein Kleid ohne Taschen, ihre Handtasche hatte sie im Gästehaus gelassen. »Können Sie das einstecken?«, fragte sie.
»Ich habe einen Geldgürtel«, sagte ich. Sie gab mir den Rekorder. Als der Typ zu uns aufschließen wollte, gingen wir schneller. Etwa fünfzig Meter vor dem Hotel fing unser neuer Freund an, etwas vor sich hin zu nuscheln. Die letzten Meter bis zum Eingang des Gästehauses rannte Margaret fast.
Mission erfolgreich. Und jetzt abseilen.
»Gott sei Dank«, sagte ich und zeigte um die Hausecke. »Ich glaube, da kommen ein paar Soldaten.« Die kolumbianische Armee patroullierte überall an der Küste. Wenn man das erste Mal in Kolumbien ist, kann der Anblick von Sechzehnjährigen mit Granatwerfern und entsicherten Galil-Sturmgewehren schon etwas beunruhigen. Aber man kapiert schnell, dass sie nur den Yankees die Kidnapper vom Leibe halten sollen und hin und wieder den Einheimischen etwas Geld abknöpften.
»Ich sag ihnen Bescheid, dass sie die Augen offen halten sollen«, sagte ich. »Gehen Sie schon mal nach oben.«
»Sind Sie sicher?«, sagte sie.
»Klar, da passiert schon nichts.« Immer der Märtyrer, unser alter Mike.
Sie ging ins Haus.
Um die Ecke waren keine Soldaten. Der Bursche in Blau und Schwarz war etwa fünf Meter entfernt. Er ging langsam auf mich zu und flüsterte: »Ganja, Koks, Ganja, Koks.«
»Nein danke, Ramón«, sagte ich. Für seine unwissentliche Hilfe gab ich ihm drei Dollar in Pesos und ging dann ums Haus zur Hintertreppe des Gästehauses.
Ich war nicht gerade stolz darauf, Margaret zu hintergehen. Wenn man bedenkt, dass es sonst Monate brauchte, um das Vertrauen eines anderen Menschen zu gewinnen, lief die Sache fast zu glatt. Aber ich musste wissen, was auf dem Rekorder war. Man muss sein Objekt kennen, und ich wusste, dass Margaret Henrys Anordnungen mehr oder weniger bis in den Tod befolgen würde. Ihre Aufgabe an diesem Abend war einfach: Pass auf den Rekorder auf. Das machte es für mich schwieriger. Ich musste eine Gefahr von außen schaffen, etwas, was furchteinflößender war als ich, sodass sie das Band nur schützen konnte, indem sie es der kleineren Bedrohung übergab: dem wohlgesinnten Mike.
Ramón war ein Einheimischer, der immer in einem abgerissenen blau-schwarzen Fußballtrikot am Strand herumlungerte. Die Gang-Farben hatte ich erfunden, um Margaret in die Irre zu führen, tatsächlich waren es die Farben des Boyacá Chicó Fútbol Clubs. Nachmittags verkaufte Ramón gefälschte kubanische Zigarren. Nach Sonnenuntergang verkaufte er Drogen und versuchte die weiblichen Rucksacktouristen anzubaggern. Wenn man ihn spät genug erwischte – so um zwei Uhr nachts war Ramón normalerweise schon völlig verwirrt von seinen eigenen Drogen –, dann erzählte er einem von seinen hungernden Kindern und bettelte einen gnadenlos an. Er sah furchterregend aus, war aber harmlos. Perfekt für meine Absichten. Ich hatte den Weg am Strand entlang genommen, um Ramón über den Weg zu laufen, der dann Margaret ja auch so viel Angst eingejagt hatte, dass sie mir den Rekorder gab.
Die Speicherkarte des Rekorders war beschriftet: »Subjekt 23: Festnetz.« Nach dreißig Sekunden hatte ich den Inhalt auf meinen Laptop gezogen, dann ging ich zu Margarets Zimmer. »Hier, schon vergessen?«, sagte ich und gab ihr den Rekorder samt Speicherkarte zurück.
»Danke, Mike«, sagte sie. »Sie können sich nicht vorstellen, welchen Ärger ich kriege, wenn ich das Ding verliere.«
Als ich keine Geräusche mehr aus den anderen Zimmern hörte, stöpselte ich die Kopfhörer in meinen Laptop und hörte mir die Aufnahme an.
»Ich bin ganz nah dran, ich kriege die Information, die ich brauche«, sagte eine Stimme. »Hoffentlich bleibt mir noch genug Zeit.«
Der Sprecher war männlich, wahrscheinlich mittleren Alters, im Augenblick beunruhigt, aber ansonsten selbstbewusst, eloquent, an öffentliche Rede gewöhnt.
»Genug Zeit?«, fragte der zweite Sprecher.
»Kann sein, dass die ahnen, wonach ich suche. Wie viel, kann ich nicht sagen. Ich glaube, die beobachten mich. Wer weiß, wozu die imstande sind? Andere, die so nah dran waren an der Wahrheit, sind einfach verschwunden.«
Der zweite Sprecher seufzte. »Wer sind die?«
»Sie sind der Einzige, dem ich traue, aber alles kann ich Ihnen nicht sagen. Sind schon zu viele üble Sachen passiert. Wenn ich Ihnen mehr sage, dann sind Sie genauso gefährdet. Ich kann Ihnen das nicht aufhalsen.«
»Wissen Sie eigentlich, wie bescheuert Sie sich anhören?«
»Ich weiß, ich weiß. Ich wünschte, das wäre alles nur Paranoia. Ist es aber nicht. Der Mann, der die Information hat … ich glaube, ich habe ihn gefunden. Ich muss vor denen an ihn ran. Die würden alles tun, um das Beweismaterial in die Finger zu bekommen. Wenn die es zuerst kriegen, dann bin ich erledigt, sicher, da bin ich mir ganz sicher.«
»Sie müssen Ihren Sicherheitsleuten Bescheid sagen. Sie könnten getötet werden …«
»Kein Wort, verstehen Sie? Sie haben keine Ahnung, was da auf dem Spiel steht.«
Der zweite Sprecher zögerte und sagte schließlich: »Okay.«
Der erste Sprecher holte tief Luft. »Wenn sie mich finden … ich bin bereit.«
Ich war so gefesselt von dem, was ich da hörte, dass mir das Klopfen an der Tür erst gar nicht auffiel. Dann klopfte es wieder, laut, dreimal, dann Marcus’ Stimme: »Sind Sie da, Mike?«
Hastig stopfte ich den Laptop und die Kopfhörer in ein Regal und öffnete die Tür. »Na, wie läuft’s?«, sagte ich. Ein schwacher Versuch, cool zu wirken.
»Ich wollte mich nur noch mal vergewissern, ob Sie damit einverstanden sind, was wir eben in Radomirs Haus besprochen haben?«
»Ja, kein Problem.« Ich spürte den Pulsschlag in meinem Hals. Ich hoffte, er würde nicht bemerken, wie aufgeregt ich war.
»Wenn Sie Ihre Trümpfe zum richtigen Zeitpunkt ausspielen, werden Sie eines Tages Partner, mit großem Büro im zweiten Stock, gleich neben meinem und Henrys. Aber bei diesem Fall gibt es zu viele Unwägbarkeiten. Nichts für einen, der gerade erst anfängt. Einfach zu gefährlich.«
»Ich hab’s kapiert. Liegt in meinem eigenen Interesse.«
»Gut.« Er ließ den Blick durch mein Zimmer schweifen und sah den Laptop und die Kopfhörer. Der Mann hatte Augen wie ein Habicht. »Was hören sie gerade?«
»Das neue Johnny-Cash-Album« sagte ich.
»Ich dachte, der wär tot.«
»Ja, aber die kommen jedes Jahr wieder mit ein paar alten Aufnahmen raus.«
»Wie bei Tupac, oder?«, sagte er.
»Ja«, sagte ich. Marcus war sonst nicht der Small-Talk-Typ. Es war unerträglich, wie er so dastand und mich musterte. Ich wusste nicht, ob er etwas Bestimmtes von mir wollte oder ob es nur seine übliche krankhafte Schnüfflernatur war, die jede Kleinigkeit sezierte und die Unterhaltung in die Länge zog, um vielleicht irgendetwas aus mir herauszukitzeln.
»Okay«, sagte er schließlich. »Wir haben umdisponiert. Wir fliegen morgen zurück nach DC. Der Wagen steht um zehn vor der Tür. Seien Sie pünktlich.«
»Klar.«
Er ging. Ich schloss die Tür, schob den Riegel vor und ließ mich wie ein Sandsack aufs Bett fallen.
Als ich mich wieder beruhigt hatte, hörte ich mir die Aufnahme ein zweites und ein drittes Mal an. Jedes Mal tauchten neue Fragen auf. Subjekt 23, wer war das? Gingen Henry und Marcus wirklich so weit, sein Telefon anzuzapfen? Natürlich. Das Ergebnis hatte ich mir ja gerade angehört.
Was war das für Beweismaterial, das er glaubte schon bald in die Finger zu bekommen? Das Geheimnis, das so gefährlich war, dass man dafür töten würde? Es musste mit Rados Fall zu tun haben und damit, dass man mich davon abgezogen hatte, weil er ihrer Meinung nach zu gefährlich für einen Anfänger war.
Während ich über all das nachdachte, fragte ich mich, ob Subjekt 23 sich einfach nur Sorgen machte, dass einige seiner Fehltritte aufflogen, es also nur ein weiteres von Davies’ Erpressungsopfern war. Oder war sein Leben tatsächlich in Gefahr? War es nur paranoid? Gewalttätig? Verrückt genug, jeden zu attackieren, der die Informationen haben wollte, über die es verfügte?
Das ging über das übliche Spiel mit harten Bandagen hinaus. Ich musste herausfinden, wer dieser Mann war, was er wusste und was meine Bosse mit ihm vorhatten. Zum Teil trieb mich mein professioneller Stolz: Das war mein Fall, und ich hatte mir meinen Anteil daran auf die harte Tour verdient. Aber es spielte auch etwas Grundsätzlicheres eine Rolle. Schmutzige Tricks waren eine Sache, aber ich wollte kein Blut an den Händen haben.