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Ein Mahagonispind ist kein Sarg, aber nach vier Stunden Gefangenschaft fühlte er sich allmählich eindeutig wie einer an. Trotzdem fand ich keine Ruhe. Das mag damit zu tun haben, dass die meisten Menschen in ähnlicher Situation auf dem Rücken liegen und tot sind. Irgendwann fand ich heraus, dass ich meinen Kopf nach hinten lehnen und in eine Ecke klemmen und so ein bisschen dösen konnte.
Die Geschichte, wie ich in der Kiste gelandet war, ist ein bisschen kompliziert. Die Kurzfassung ist, dass ich einem Mann namens Ray Gould nachstellte, weil ich verliebt war – im Besonderen in ein Mädchen namens Annie Clark, im Allgemeinen in meinen neuen Job.
Ich arbeitete seit knapp vier Monaten für die Davies Group. Die Firma war ein merkwürdiges, mit Absicht undurchsichtiges Gebilde. Wenn man nachfragte, erzählten sie einem etwas von Regierungsangelegenheiten und strategischer Beratung. Was gewöhnlich ein Euphemismus für Lobbyarbeit war.
Wenn man sich einen Lobbyisten vorstellt, sieht man wahrscheinlich den zu diesem Zweck eingekauften und bezahlten, Slipper mit Quaste tragenden Dreckskerl vor sich, der Bestechungsgelder von Firmen und Interessengruppen an Politiker weiterleitet, für sich selbst einen großzügigen Batzen abzweigt und so letztendlich dafür sorgt, dass der Welt Lungenkrebs und vergiftete Flüsse erhalten bleiben. Solche Figuren gibt es jede Menge. Das Powerplay der Sechziger und Siebziger, als Geld und Nutten in Blüte standen, war allerdings lange vorbei. Heute bringen Lobbyisten ihre Tage damit zu, sich durch Powerpoint-Präsentationen über obskure Strategien zu klicken, während der gelangweilte Mitarbeiternachwuchs der Kongressabgeordneten unter dem Tisch auf dem Blackberry surft.
Diese Typen sind der Pöbel. Sie mit den Leuten bei der Davies Group zu vergleichen hieße, Modeklunker mit Tiffany und Cartier zu vergleichen. Davies gehört zu einer Handvoll Unternehmen, die nur sehr wenig offizielle Lobbyarbeit machen. Sie werden von Schwergewichten aus Washington geleitet – ehemaligen Präsidenten des Repräsentantenhauses, ehemaligen Außenministern, ehemaligen Nationalen Sicherheitsberatern – und üben über DCs informelle Informationskanäle eine weitaus mächtigere und lukrativere Spielart von Einfluss aus. Sie sind nicht als Lobbyisten registriert. Sie setzen nicht auf Masse. Sie machen keine Werbung. Sie haben Beziehungen. Sie sind diskret. Und sie sind sehr, sehr teuer. Wenn man wirklich etwas erledigt haben will in Washington und das nötige Geld hat und die Leute kennt, die man kennen muss, um auch nur eine Empfehlung für eine dieser Topfirmen zu bekommen, dann wendet man sich an die.
Und die Davies Group bildet den Gipfel dieser intimen kleinen Welt. Versteckt zwischen Bäumen und alten europäischen Botschaften, residiert sie in einer Villa in Kalorama, weit entfernt von der K Street in der Innenstadt, wo die meisten Lobbyisten miteinander kabbeln.
Während meiner ersten Tage in DC begann ich zu begreifen, dass die Davies Group sich nicht so sehr als Unternehmen, sondern als Geheimgesellschaft oder Schattenregierung verstand. Leute, die ich früher auf der Titelseite der Washington Post oder sogar in Geschichtsbüchern gesehen hatte, schlenderten durch die Gänge oder fluchten über den Papierstau in einem Drucker.
Wie alle anderen Chefs tat Davies im Wesentlichen das, was er schon in seinen Regierungsfunktionen getan hatte. Er dirigierte das in Dekaden gereifte Expertenwissen der Bürokratie: Er wusste genau, an welcher Strippe er zu ziehen, welchen Funktionsträger er unter Druck zu setzen hatte. Wie er diesen trägen und plumpen, diesen allmächtigen und doch kaum funktionsfähigen Apparat – die Bundesregierung der Vereinigten Staaten – zum Leben erweckte und seine Marotten in Realitäten verwandelte, kam einem Wunder gleich.
Früher hatte er sich vor Wählern, Spendern und politischen Parteien rechtfertigen müssen. Heute rechtfertigte er sich nur vor sich selbst. Er erhielt mehr Anfragen, als er jemals annehmen konnte, und so leistete er sich den Luxus, nur die Klienten anzunehmen, deren Fälle mit seinen eigenen Interessen übereinstimmten.
Natürlich wurde nichts von alldem offen ausgesprochen. Man musste sich die täglichen Abläufe und die Rituale aneignen, indem man die Augen offen hielt und die richtigen Fragen stellte. Die Davies Group war alte Schule. Die meisten Firmen bewahren sich noch eine dünne Gentleman-Patina – die Anzüge, die Bibliothek, den gepflegten Parkettboden. Aber jede Noblesse ist von diesen Zahlenjongleuren schon längst ausgemerzt worden. Jeder bemisst sein Leben in den Zeilen und Spalten einer Tabellenkalkulation: in abgerechneten Stunden. Man muss seine Zahlen erreichen. Man steckt vom ersten Tag an im Hamsterrad. Bei Davies war das anders. Es gab keine Leitlinien, keine Quoten oder Vorgaben. Die Firma hatte in diesem Jahr nur etwa ein halbes Dutzend neuer Leute eingestellt. In manchen Jahren stellte sie gar keine ein.
Jeder von uns neu Aufgenommenen erhielt ein Büro, eine Sekretärin und alle zwei Wochen einen Lohnscheck über viertausendsechshundert Dollar. Alles andere war unsere Sache. Man musste die Arbeit finden. Die Chefs und Partner belegten den zweiten Stock, der mir vorkam wie ein Flügel in Versailles. Die Senior Associates saßen im ersten Stock. Wir waren die Junior Associates, die Frischlinge, die man zu der Verwaltung, der Personalabteilung und den Rechercheangestellten ins Erdgeschoss steckte. Als Junior Associate arbeitete man im Grunde auf Probe. Man hatte sechs Monate, vielleicht ein Jahr, um seinen Wert für die Firma unter Beweis zu stellen, oder man war wieder draußen. Niemand zeigte einem, wie man das anstellte. Man musste durch die Büros jedes einzelnen Senior Associate hecheln, um die Spielregeln zu lernen, durfte dabei aber nie aufdringlich wirken. Bei der Davies Group lauteten die Kardinaltugenden Takt und Diskretion.
Am Anfang bettelte man um jedes noch so kleine Projekt. Normalerweise bekam man dann den Auftrag, Nachforschungen über ein Objekt anzustellen – Entschuldigung, das ist Old-Mike-Jargon –, über einen »Entscheidungsträger«, den die Firma zu beeinflussen versuchte. Das bedeutete, alles irgend Mögliche, Öffentliches wie Privates, über das Objekt herauszufinden und die Ergebnisse ausschließlich auf das einzudampfen, was für den anhängigen Fall von Bedeutung war – und sonst nichts. Das fand Eingang in ein Memo, Maximum eine Seite. Das nannten sie »das Meer aufwühlen«. Aber was war von Bedeutung? Wir Junior Associates hatten keine Ahnung, aber wir waren verdammt gut beraten, es herauszufinden.
Das war das Schlimmste. Die Partner und Senior Associates wussten, dass wir nach einem wohlwollenden Tätscheln lechzten und nur noch härter arbeiten würden, wenn sie uns zappeln ließen. Also sagten sie uns nie genau, ob wir nun richtig- oder falschlagen. Sie berührten nur mit zusammengelegten Fingerspitzen ihre Lippen und sagten: »Wie wär’s, wenn Sie es noch mal versuchen würden?« Und dann schoben sie einem das Ergebnis endloser Nächte und Wochenenden im Büro über den Schreibtisch und verlangten nach mehr. Wenn man Glück hatte, erntete man die seltenste aller Belobigungen, ein »nicht übel« – bei der Davies Group das Äquivalent eines hechelnden Orgasmus. Und wenn man die falschen Salzkörner aus dem Meer schöpfte? Dann war man draußen. Schwimmen oder absaufen.
Ich würde schwimmen. In der Navy hatten sie mich anfangs ziemlich übel schikaniert, und wenn das das Schlimmste war, was sie hier für mich in petto hatten, nämlich vor einem Computer zu sitzen, dann würde ich es schaffen. Wenn ich wach war (was ich achtzehn, neunzehn Stunden am Tag war), dann arbeitete ich.
Das Geld reichte aus, um mir Harvard und Crenshaw vom Leib zu halten, und obwohl ich zwanzig Prozent sparte (ich war immer noch davon überzeugt, dass man mir den Teppich unter den Füßen jeden Augenblick wieder wegziehen würde), hatte ich mehr übrig, als ich ausgeben konnte. Ich musste mich erst daran gewöhnen, ohne Gutscheine zum Essen zu gehen und in einer anständigen Wohnung zu leben, in die ich Leute einladen konnte, ohne rot zu werden.
Geld war nicht der einzige Vorteil. In meiner kurzen Zeit bei Davies kam ich in den Genuss von Vergünstigungen, von deren Existenz ich vorher keine Ahnung gehabt hatte, Dinge, von denen ich nicht mal gewusst hätte, dass ich sie mir wünschen könnte. Sie schickten Möbelpacker nach Cambridge, um meine alte Wohnung aufzulösen. Junge Burschen, die so höflich waren, nicht über meine heruntergekommene Bude zu lachen. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie mich davon überzeugt hatten, dass sie auch ohne meine Hilfe zurechtkämen. Ich bräuchte nur eine Tasche für mich zu packen und meinen fünfzehn Jahre alten Jeep Cherokee runter nach DC zu fahren. Die Stoßdämpfer waren hinüber, sodass der Wagen jedes Mal, wenn ich schneller als neunzig fuhr, auf den Blattfedern hin und her schlingerte wie eine Schaukel. Davies hatte mich in eine Firmenwohnung an der Connecticut Avenue einquartiert: achtzig Quadratmeter, zwei Zimmer plus Arbeitszimmer und Balkon, mit Pförtner und Concierge.
»Lassen Sie sich bei der Wohnungssuche so viel Zeit, wie Sie wollen«, sagte Davies am ersten Tag. »Wir können den Kontakt zu einem Immoblienmakler herstellen, aber wenn Sie sich lieber auf Ihre Arbeit konzentrieren wollen, als Häuser zu besichtigen, so soll uns das recht sein.«
Selbst wenn ich nicht versucht hätte zu sparen, es gab gar nichts, was ich mir hätte kaufen können. Die Firma hatte einen Fahrzeugpool, und an den meisten Tagen ließen wir uns Frühstück, Lunch und Abendessen ins Büro bringen.
In der ersten Woche lernte ich meine Sekretärin Christina kennen, eine zierliche Ungarin. Sie war so winzig, akkurat und effizient, dass ich nur mäßig überrascht gewesen wäre, wenn sie sich als Roboter entpuppt hätte. Ständig ertappte sie mich: zum Beispiel wenn ich sie fragte, wo die Poststelle ist oder eine chemische Reinigung. Sie streckte dann nur die Hand aus und schaute mich etwas pikiert an, weil ich überhaupt versucht hatte, irgendetwas von diesen Dingen selbst zu tun, und übernahm dann alles, was ich erledigt haben wollte.
»Tut mir leid, Mr. Ford, aber ich muss darauf bestehen. Das hat nichts mit Luxus zu tun. Davies möchte nur sicherstellen, dass Sie Ihre Arbeit tun und Ihr Geld wert sind.«
Das machte es etwas einfacher. Die fünfzig ärgerlichen Dinge, die bei einem Umzug anfielen, das Schlangestehen bei der Zulassungsstelle oder das Warten auf die Techniker vom Kabelfernsehen, es geschah einfach. Und es blieb so, all die kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens existierten nicht mehr. Da begann ich zu begreifen. Ich hatte immer Geld zum Überleben gebraucht, für das Nötigste, das Monat für Monat bezahlt werden musste. Ich hörte eigentlich nie auf, darüber nachzudenken, was sie eigentlich bewirkten, diese zahllosen Vergünstigungen, die die Menschen mit dem Wort »angenehm« umschreiben.
Ich fühlte mich ein bisschen unwohl dabei, ich hatte sogar das Gefühl, sie würden mich verweichlichen. Ich sah mich gern als einen hungrigen, ehrgeizigen Menschen. Und wenn man jeden Tag zwölf Gesprächsprotokolle und vierzehnhundert Seiten Akten durchackern muss, pro Woche zwei alles entscheidende Berichte abzuliefern hat und jeden Augenblick einer der Partner auf eine »kleine Kontrollvisite« hereinschneien kann, die deine letzte sein konnte, dann hat man nicht wirklich Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob man verweichlicht. Man begreift, dass Christina recht hat: Mit Phat Thai, das man sich in den Konferenzraum liefern lässt, und einer Luxuslimousine, die einen nach Hause chauffiert, zahlt Davies einen niedrigen Preis dafür, dass seine Angestellten immer auf Trab sind und er für siebzig Stunden die Woche zwei- bis dreihundert Dollar pro Stunde für sie in Rechnung stellen kann.
Ich brauchte das Geld und mochte die Vergünstigungen, aber beides war nicht der Grund, warum ich mich jeden Morgen um Viertel vor sechs aus dem Bett quälte. Es waren die glänzenden Schuhe und frischen Hemden. Es war das Abhaken von acht Aufgaben noch vor neun Uhr. Es war das Klackern meiner Johnson-&-Murphy-Schuhe, das von den eichenvertäfelten Wänden widerhallte, wenn ich über den Marmorboden des Foyers der Davies Group ging. Es war der Anblick von klugen Männern, die wichtige Arbeit leisteten, der Anblick von Henry Davies und einem ehemaligen CIA-Direktor, die im Innenhof lachten wie alte Zimmergenossen, es war die Erkenntnis, dass ich, wenn ich mir weiter den Arsch aufriss, vielleicht eines Tages einer von ihnen sein könnte. Es war das Gleiche, das mich angetrieben hatte, seit mir ein Richter die Wahl gelassen hatte: das Bedürfnis etwas zu finden, was größer war als ich, etwas, von dem ich ein Teil sein konnte, eine Arbeit, in der ich mich verlieren konnte, irgendetwas, was den Kriminellen in meinem Blut auf Abstand hielt.
Ich würde alles tun, um es bei Davies zu schaffen und nicht wieder aus der ehrbaren Welt herauszufallen. Und das war der Grund, warum ich in dem verschlossenen Mahagonispind gelandet war.
Diese ersten Monate kamen mir vor, als durchliefe ich das Aufnahmeritual einer Studentenverbindung. Niemand verlor ein Wort darüber, worin es bestand, aber man war sich bewusst, dass jeder deiner Schritte genauestens beobachtet wurde. Gelegentlich verschwand jemand, und es beschlich einen das Gefühl, als sei am Abend zuvor in einem exklusiven Raum der Davies Group insgeheim abgestimmt und ein schwarzes Häkchen hinter dem Namen des Untauglichen gemacht worden.
Zumindest war das Dauerthema unter den Junior Associates. Ich hielt das für ein bisschen übertrieben. Allerdings war ich davon überzeugt, dass der erste richtige Auftrag darüber entschied, ob man blieb oder flog. Wenn man im Geschäft »Regierungsangelegenheiten« aus einem Politiker oder Beamten herauskitzeln will, was der Klient verlangt, kommt irgendwann der Augenblick, der »das Angebot« genannt wird. Der Fall mag noch so kompliziert sein, letztlich läuft es auf die eine Frage hinaus: Liefert er, was du von ihm willst? Ja oder nein.
Das tatsächliche Angebot macht ein Partner. Er ist das illustre Gesicht der Firma. Die eigentliche Arbeit jedoch erledigt ausschließlich der Associate. Wenn du deinen ersten Fall übertragen bekommst, gehört er ganz allein dir. Wenn das Objekt Ja sagt, bist du der Champ. Lautet die Antwort Nein, bist du draußen.
Meinen ersten Fall erhielt ich von William Marcus. Sein Büro befand sich im zweiten Stock neben dem von Davies. Das war der Vorstandsflur. Die eine Seite nahm ein eichengetäfelter Sitzungssaal ein. Auf der anderen Seite befanden sich sechs oder sieben Suiten, von denen jede so groß wie meine Wohnung war. Von ihren Hochsitzen in den Hügeln von Kalorama aus konnten sie alle auf DC hinunterschauen. Wenn ich durch diesen Korridor ging, stellten sich mir die Haare auf. Ich schaltete in Exerziermodus, Augen geradeaus, Körper in Habachtstellung und in Dreiviertelmeterschritten im Gleichschritt, marsch.
Die Männer in diesem Flur hatten buchstäblich die Geschicke der freien Welt bestimmt, und sie machten oder zerstörten täglich und ohne eine Sekunde darüber nachzudenken die Karrieren von Dutzenden Strebern wie mir. Die meisten Chefs der Firma hatten Lebensläufe, so lang wie mein Arm, und genau dafür wurden sie von ihren Klienten bezahlt. Marcus’ Background war allerdings ein Geheimnis. Soweit ich wusste, war ich der einzige Junior Associate, den er im Auge behielt. Das war entweder sehr gut oder sehr schlecht, und angesichts der Nachwuchskaliber, gegen die ich mich durchsetzen musste, tippte ich auf Letzteres.
Marcus war Ende vierzig, vielleicht etwas älter. Schwer zu sagen. Für mich sah er aus wie ein Triathlet oder, wegen seines Körperbaus, wie einer von Bürohengsten, die vier Abende pro Woche in der Boxhalle den Sandsack bearbeiten. Er hatte rotbraunes, kurz geschorenes Haar, ein kräftiges Kinn und eingefallene Backen. Er schien immer guter Laune zu sein, was den Einschüchterungsfaktor etwas abmilderte, allerdings nur so lange, bis man in seinem Büro allein vor ihm stand. Dann verschwanden das Lächeln und die umgängliche Art.
Er setzte mich auf mein erstes Angebot an. Ein riesiger multinationaler Konzern aus Deutschland hatte für sich ein Steuer- und Zollschlupfloch organisiert, das er dazu nutzte, amerikanische Unternehmen mit Dumpingpreisen zu unterbieten und vom Markt zu drängen. Wahrscheinlich ist es schlauer, den Namen des Konzerns nicht zu nennen, ich halte mich also an die Bezeichnung, unter der er im Büro lief: der Kaiser. Es handelte sich um einen der üblicherweise komplizierten internationalen Steuerfälle, der aber im Kern auf Folgendes hinauslief: Ausländische Firmen, die Dienstleistungen an Amerikaner verkaufen, zahlen deutlich weniger Steuern und Zoll als Firmen, die tatsächlich Waren in die USA liefern. Der Kaiser behauptete, dass er nur den Kontakt zwischen den amerikanischen Kunden und den ausländischen Verkäufern und Produzenten herstelle, also eine Dienstleistung anbiete und deshalb auch nur die geringere Steuer zu zahlen habe. Wir sind nur der Zwischenhändler, argumentierte der Kaiser, und zu keinem Zeitpunkt Eigentümer der Waren. Wenn man sich allerdings die Lieferkette anschaute, wurde deutlich, dass er genau wie jeder andere Waren verkaufte und einfach die höheren Steuern umging.
Noch wach? Bravo. Die Jungs, die aus dem Markt gedrängt wurden, hatten sich an die Davies Group gewandt. Sie wollten, dass wir das Schlupfloch schlossen und wieder für Chancengleichheit mit dem Kaiser sorgten. Das bedeutete, wir mussten in den Eingeweiden Washingtons einen Beamten dazu bringen, ein Stückchen Papier zu unterzeichnen, das feststellte, dass der Kaiser Waren verkaufte und keine Dienstleistungen.
Ein einziges kleines Wort. Und dafür bekam die Davies Group mindestens fünfzehn Millionen Dollar, was – so die Gerüchteküche der Junior Associates – das Minimum war, um die Aufmerksamkeit der Firma zu erregen.
Marcus legte mir den Fall dar, mit ein paar zusätzlichen, aber nicht allzu vielen Details: mein erstes Angebot. Er sagte mir nicht einmal, was ich ihm dafür liefern sollte – das »Produkt«, wie das im Büro genannt wurde. Jetzt stand offiziell mein Arsch auf dem Spiel, und ich hatte null Anhaltspunkt, was ich überhaupt tat.
Andererseits segelte ich schon seit zehn Jahren auf Blindkurs. Was überraschend gut geklappt hatte, sodass ich mir dachte, mach einfach das, was du immer gemacht hast: Gas geben. Hundertfünfzig Stunden Arbeit und zehn Tage später, nachdem ich mit jedem Experten gesprochen hatte, der willens gewesen war, meinen Hilferuf zu erhören, nachdem ich jede Rechtsverordnung und jeden Fachartikel gelesen hatte, die das Thema auch nur entfernt streiften, goss ich den Fall gegen den Kaiser in zehn Seiten, dann fünf, dann eine. Ich wühlte das Meer auf. Acht Stichpunkte. Jeder für sich durchschlagend und ausreichend, um den Kaiser zu erledigen. Ein Memo wie unverschnittenes Heroin. Ich war so stolz und litt so unter Schlafmangel, dass ich es Marcus in dem Glauben übergab, es würde ihn umhauen.
Er überflog es dreißig Sekunden, grummelte ein bisschen und sagte: »Was soll der Scheiß? Wenn Sie das Warum nicht kennen, kommen Sie nie auf das Wer. Solche Sachen laufen immer auf einen einzigen Mann hinaus. Verschwenden Sie nicht meine Zeit, bevor Sie den nicht gefunden haben.«
Ich wollte einen Marschbefehl. Und ich bekam Konfuzius. Also hängte ich mich wieder rein. Unter den Junior Associates, die um einen Job in der Davies Group kämpften, waren der Sohn des Verteidigungsministers, ein Bursche, der mit dreißig schon stellvertretender Leiter eines Wahlkampfs gewesen war, und zwei Rhodes-Stipendiaten, von denen einer der Enkel eines ehemaligen CIA-Direktors war. Letztlich lief der Job darauf hinaus, dass man sich in Washington auskannte, und natürlich, dass man wusste, was in der Stadt vorging. Aber noch wichtiger war, die Anthropologie der Stadt zu kennen, die Persönlichkeiten, ihre Vorlieben und Abneigungen, die verborgenen Knotenpunkte, wo die Macht zusammenlief, wer Einfluss auf wen hatte, wer wem was schuldete, wer wo eine Rechnung offen hatte. Um sich damit auszukennen, ist ein ganzes Leben mit Verbindungen nötig, muss man in DCs Elite verwurzelt sein. Die anderen waren das. Ich nicht. Aber davon würde ich mich nicht aufhalten lassen. Weil ich inzwischen auch ein paar Sachen wusste. Das, was ich hatte, war Willenskraft, in rauen Mengen.
Also habe ich mich von LexisNexis und Google verabschiedet und bin raus aus dem Büro, um von Angesicht zu Angesicht mit einigen menschlichen Wesen zu sprechen (eine Kunst, die für viele meiner jüngeren Kollegen so rätselhaft war wie Levitation oder Schlangenbeschwörung). Ich machte mich in der Annahme an die Arbeit, dass das offizielle Washington, so eigentümlich es auch war, letztlich begriffen werden konnte wie jede andere Gemeinde.
Etwa sechs verschiedene Regierungsstellen hatten bei der Entscheidung ein Wort mitzusprechen, ob der Kaiser sein Schlupfloch behalten würde. Meine letzte Anlaufstelle entpuppte sich als ein typisches Beispiel für die Bürokratie Washingtons. Es handelte sich um eine Unterorganisation der sogenannten Interim Interagency Working Group on Manufacturing im Handelsministerium.
Es dauerte etwa eine Woche, bis ich den Arbeitskreis geknackt hatte. Es gestaltete sich deshalb etwas schwieriger, weil Marcus mich angewiesen hatte, vorerst nichts darüber verlauten zu lassen, dass wir an dem Fall arbeiteten. Ich musste mit vier oder fünf untergeordneten Angestellten reden, bevor ich an einen Dampfplauderer mit mächtigem Ego geriet, der aber nichts wusste, was für mich von Interesse war. Allerdings machte er mich mit einer Anwaltsgehilfin bekannt, die sich als Barkeeperin schwarz etwas dazuverdiente – im Stetson’s, einer Bar in der U Street, die zu Zeiten der Clinton-Regierung Anlaufpunkt für Mitarbeiter des Weißen Hauses gewesen, inzwischen aber ziemlich heruntergekommen war. Sie war ein Rotschopf und ließ es gerade ziemlich krachen. Sie war so nett und zuvorkommend, wie man sich nur wünschen konnte, obwohl sie schnarchte wie eine Kettensäge und die Angewohnheit hatte, in meiner Wohnung Sachen zu »vergessen«.
Sie breitete alles vor mir aus. Es gab zwei Frühstücksdirektoren, die das Papier abzeichneten, aber letztlich lag die Entscheidung bei drei Leuten aus dem Arbeitskreis. Zwei waren typische Behördenangestellte, menschliche Briefbeschwerer, uninteressant. Der Dritte – ein Mann namens Ray Gould – war der eigentliche Entscheidungsträger, der dafür sorgte, dass des Kaisers Schlupfloch offen blieb. Gould war Deputy Assistant Secretary (das heißt, er war dem Assistant Secretary und der dem Undersecretary unterstellt, der wiederum dem Stellvertreter des Ministers und der dem eigentlichen Handelsminister unterstellt war. Und, Sie unterhalten sich gut?) Ich ertappte mich dabei, wie ich mir diesen Organigrammzungenbrecher allen Ernstes vorsagte. Wenn ich mich davon ablenken wollte, diese ganze Geschichte als lächerliches Politrätsel abzutun, brauchte ich mich nur daran zu erinnern, dass seine Lösung für meinen Boss fünfzehn Millionen Dollar bedeuteten und – noch wichtiger – mir ersparen würde, für den Rest meines Lebens einen Tresen abwischen und vor Crenshaw davonlaufen zu müssen.
Außerdem begann mir gerade aufzufallen, dass ich mich köstlich amüsierte. Die Charaktere waren nicht so interessant und die Bezahlung war besser, aber ansonsten unterschied sich das alles nicht sonderlich von den Gaunereien meiner Jugend. Das elektrisierte mich ebenso sehr, wie es mir Sorgen bereitete.
Ich hatte meinen Mann. Als ich ihm Goulds Namen präsentierte, machte Marcus nicht gerade einen zufriedenen Eindruck, aber wenigstens schien er einen Hauch weniger sauer auf mich zu sein. Er sagte, ich solle jetzt von Grund auf alle Argumente ausarbeiten, wie das Zollschlupfloch zu schließen sei. Ich solle alles auf ein einziges Ziel maßschneidern: die Änderung von Goulds Meinung. Ich las die Abschlussarbeiten, mit denen er seinen Bachelor und Master gemacht hatte. Ich fand heraus, welche Zeitungen und Zeitschriften er abonniert hatte und für welche wohltätigen Zwecke er spendete. Ich grub jede seiner Entscheidungen aus, die schriftlich oder in jemandes Erinnerung greifbar war. Ich zog den Kreis immer enger, trimmte jedes Argument gegen Kaisers Schlupfloch so, dass es Goulds persönlichen Gewohnheiten und Meinungen entgegenkam. Ich dampfte die Argumente wieder und wieder ein, bis sie auf eine einzige Seite zusammengeschrumpft waren. Das letzte Memo war unverschnittenes Heroin gewesen. Das hier war eine Designerdroge. Gould musste in unserem Sinne entscheiden.
»Das hoffe ich für Sie«, sagte Marcus.
Trotz all der Lektüre und Gesprächsprotokolle bekam ich erst ein Gespür für den Mann und dafür, wie er tickte, als ich ihn persönlich kennenlernte. Bei meinem Profil war ich vielleicht etwas zu weit gegangen. Ich wusste, wo seine Kinder zur Schule gingen, welchen Wagen er fuhr, wo er seinen Hochzeitstag feierte, wohin er gewöhnlich zum Lunch ging. Dabei handelte es sich meist um sehr teure Restaurants: Michel Richard Central, Prime Rib, The Palm. Aber jeden zweiten Donnerstag ging er ins Five Guys, einen Hamburgerladen.
In der Woche, nachdem ich Marcus meinen neuen Bericht geliefert hatte, rief er mich nach oben und führte mich dann in Davies’ Suite. Davies bedeutete Marcus mit einer Handbewegung, draußen zu warten. So sah das Herrscher-über-die-Welten-Büro aus, das ich mir schon in Harvard vorgestellt hatte, außer dass Davies natürlich einen besseren Geschmack hatte als ich in meiner Fantasie. Drei Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Büchern bedeckt. Und sie waren auch gelesen worden und nicht nur in Leder gebundene Staffage. Der gesamte Raum war in Mahagoni gehalten. Und eine solche Ego-Wand – Shake-Hands-Schnappschüsse mit jeder einflussreichen Persönlichkeit, der man jemals begegnet war, Pflicht für Washington – hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Die Fotos von ihm und den Lenkern der Welt reichten Jahrzehnte zurück, und das waren nicht die üblichen Zwei-Anzugtypen-bei-einer-Benefizveranstaltung-Fotos. Auf einem spielte er – jünger als ich – eine Runde Bowling mit Nixon, auf einem anderen saß er mit Jimmy Carter in einem kleinen Ruderboot beim Angeln, auf dem nächsten …
»Ist das der Papst?«, platzte es aus mir heraus.
Davies stand hinter seinem Schreibtisch. Er sah nicht glücklich aus. »Gould hat sich nicht bewegt«, sagte er.
Sie hatten mein Memo, die speziell auf Gould zugeschnittenen Argumente, an den gegen den Kaiser kämpfenden Branchenverband weitergegeben, und der hatte den Fall Goulds Arbeitskreis vorgetragen. Davies hatte Kontakte ins Handelsministerium, die ihm signalisieren würden, wenn Goulds Meinung sich änderte. Er hatte keinen Millimeter nachgegeben.
»Ich finde noch mehr raus«, sagte ich.
Er hob das Memo hoch, das ich zusammengestellt hatte. »Das ist perfekt«, sagte er, dann ließ er mich eine Minute lang hängen. Sein Tonfall klang nicht nach Lob.
»Ich habe unten schon hundertzwanzig Leute, die mir Perfektes liefern. Ich brauche nicht noch einen. Wissen Sie, was dieser Vertrag wert ist?«
»Nein.«
»Wir haben Vereinbarungen mit jedem betroffenen Industrie- und Branchenverband getroffen. Siebenundvierzig Millionen.«
Ich spürte, wie ich weiß wurde. Er musterte mich einige Sekunden lang.
»Wir rechnen hier nicht nach Stunden ab, Mike. Wenn wir gewinnen, kriegen wir siebenundvierzig. Wenn wir verlieren, kriegen wir nichts. Aber wir verlieren nicht.«
Er trat einen Schritt auf mich zu und schaute mich eindringlich an. »Ich bin ein Risiko mit Ihnen eingegangen, Mike. Ich habe Sie aus Gründen eingestellt, aus denen die anderen Sie nicht einstellen würden, weil Sie nämlich kein gewöhnlicher Kandidat sind. Möglich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Beweisen Sie mir, dass dem nicht so ist. Zeigen Sie mir, dass Sie mir etwas liefern können, was die anderen nicht liefern können. Liefern Sie mir etwas, was besser ist als perfekt. Überraschen Sie mich.«
Es ist leichter, nichts zu haben, als etwas geschenkt zu bekommen und es dann zu verlieren. In jeder Minute bei der Davies Group dachte ich an all das Geld und all die Privilegien wie an einen Fehler, der bald korrigiert werden würde. Ich wagte nicht zu denken, dass es wirklich mir gehören könnte, ich wagte nicht zu denken, dass es mein Leben sein könnte. Aber schließlich findet man etwas, was man wirklich will. Was man braucht. Und dann bist du geliefert. Dann kannst du dieses Leben nicht mehr loslassen.
Was ich wollte, war nichts Ausgefallenes. Für mich kam der Augenblick im August jenes ersten Jahres bei Davies, drei Monate nach meinem Umzug nach Washington. Ich schlenderte durch Mount Pleasant, das etwa zehn Minuten zu Fuß vom Büro entfernt liegt. Das Viertel hat eine Hauptstraße mit einer achtzig Jahre alten Bäckerei und einen Baumarkt, den es dort schon seit Jahrzehnten gibt. Hier, wo sich die ersten Italiener und Griechen, dann die ersten Latinos in DC niedergelassen hatten, kam man sich vor wie in einem kleinen Dorf. Die kleineren Straßen abseits der Hauptstraße mit ihren Geschäften lagen im Grünen. Ich fühlte mich wie in der Vorstadt. Die Häuser waren klein. Ich sah eins, das zu vermieten war. Drei Zimmer, Veranda, hinter dem Haus ein Garten, von dem man einen Blick auf die Wälder des Rock Creek Park hatte, einen Landstreifen mit Bächen und Bäumen, der DC in nordsüdlicher Richtung in zwei Hälften teilte. Als ich eines Abends an dem Haus vorbeiging, sah ich eine ganze Rotwildfamilie, die einfach dastand und gelassen und ohne Angst zu mir herüberschaute.
Das war’s. Seit ich zwölf war, hatte ich keinen Garten mehr gehabt. Mein Vater brachte regelmäßig Geld nach Hause – woher, das wusste ich damals nicht. Aufgewachsen war ich in einer Wohnanlage in Arlington, die so ähnlich wie ein Motel aussah und in der es in meiner Erinnerung immer nach Kochgas roch. Wir waren schließlich nach Manassas gezogen, in ein kleines Ranchhaus. Ich weiß, das hört sich ein bisschen kitschig an, aber ich erinnere mich, dass wir da eine Schaukel aus rostigen Aluminiumrohren hatten, an denen man sich sofort die Hand aufschürfte, wenn man sie an der falschen Stelle anfasste. Wir haben da nicht lange gewohnt, aber ich erinnere mich an Sommerabende, an denen meine Eltern mit ein paar Freunden um ein Lagerfeuer herumsaßen, lachten und Bier tranken. Ich saß die ganze Zeit auf der Schaukel und stampfte mit meinen kurzen Beinen auf den Boden auf wie eine Lokomotive, schwang so weit nach oben, dass ich die Querstange erreichte und über die Bäume schauen konnte. Die Kette wurde schlaff und ich fühlte mich schwerelos und ich war mir sicher, dass ich einfach würde abheben und in die Nacht fliegen können.
Dann buchteten sie meinen Vater ein, wegen Einbruchs, und wir landeten wieder da, wo wir hingehörten: in dem gasverstunkenen Motel.
Wenn ich bei Davies Schluss machte, so gegen zehn oder elf Uhr abends, manchmal sogar noch später, spazierte ich durch dieses Viertel und fantasierte mich in diesen Garten, stellte mir ein kleines Feuer vor, ein paar Gartenstühle, ein nettes Mädchen. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich noch mal von vorn anfangen, als könnte ich alles wiedergutmachen.
Der Gedanke, dass ich das alles verlieren könnte, entfachte ein Feuer unter meinem Hintern. Nach meinem Gespräch mit Davies dauerte es eine Woche, bevor ich wieder zu Marcus ging. Ich legte ihm zwei weitere Ordner vor. Einer enthielt das Profil von Goulds Mentor im Innenministerium, wo er die neun Jahre vor seinem Wechsel ins Handelsministerium gearbeitet hatte. Im zweiten ging es um Goulds Trauzeugen, einen Zimmerkollegen während des Jurastudiums, der sich als Anwalt niedergelassen hatte. Er war immer noch Goulds erste Adresse, wenn er Rat suchte. Etwa alle zwei Wochen gingen sie zusammen zum Essen, er war einer der wenigen sozialen Kontakte, die Gould pflegte.
»Und?«, sagte Marcus.
»Die beiden sind geeignetere …« Ich konnte mir gerade noch das Wort Objekte verkneifen. »… Zielpersonen. Wenn man ihre Entscheidungen unter die Lupe nimmt, kann man sehen, dass sie unseren Argumenten wahrscheinlich verständnisvoller gegenüberstehen. Ich habe die Argumente gegen das Schlupfloch so zugeschnitten, dass sie beide ansprechen. Der Erste hat schon eine Verbindung zur Davies Group. Wenn wir Gould nicht beeinflussen können, dann die Leute in seinem Umfeld. Wenn wir deren Meinungen ändern können, können wir die von Gould ändern, ohne dass er überhaupt merkt, dass das unsere Worte sind, die ihm da eingeflüstert werden.«
Marcus schwieg. Ich wusste, was jetzt kommen würde. Ich hatte ihm mehr über Gould geliefert, als er haben wollte. Ich hatte alles getan, außer das Haus des armen Schweins auszuspionieren, und das hatte ich mir für morgen Nacht vorgenommen. Marcus veränderte seine Sitzposition. Ich duckte mich innerlich und wartete auf den Anschiss.
Stattdessen lächelte Marcus. »Wer hat Ihnen das beigebracht?«
Das hatte ich von Cartwright gelernt, einem alten Freund meines Vaters. Der hatte in seiner Jugend mit einer ähnlichen Strategie einsamen Erbinnen, die auf die vierzig zugingen, ihre Ersparnisse abgeknöpft.
»Bin ich einfach so draufgekommen«, sagte ich.
»Das ist eine Variante einer Technik, die wir ›Grasspitzen streicheln‹ nennen«, sagte Marcus. »Man bearbeitet langsam, sehr dezent jeden, der dem Entscheidungsträger nahesteht – seine Frau, seinen wichtigsten Spendeneintreiber, sogar seine erwachsenen Kinder – bis er seine Meinung ändert.«
»Grasspitzen streicheln?«
»Darunter fällt alles, wodurch wir den Anschein erwecken, dass wir eine breite, tiefgreifende Unterstützung haben – die Graswurzeln. Aber diese Unterstützung ist natürlich vorgetäuscht. Warum Zeit verschwenden mit den Graswurzeln, wenn die für die Entscheidung zuständige Person nur die Spitzen sehen kann?«
»Soll ich jetzt die nächsten Schritte einleiten? Die konkrete Beeinflussung der Leute in Goulds Umgebung?«
»Nein«, sagte Marcus. »Darauf setze ich ein paar andere Leute an.«
Etwas an seinem Tonfall gefiel mir nicht.
»Die Zeit wird knapp, stimmt’s?«, sagte ich.
Marcus schwieg. Er war kein Mann vieler Worte und dachte immer erst genau nach, bevor er etwas sagte. Ich spürte, dass er mich nicht verarschen wollte. Vielleicht aus Respekt.
»Ja.«
In der nächsten Woche wurde einer der Rhodes-Stipendiaten aussortiert. Er war ein ganz netter Kerl. Er hatte die blonden, nach hinten geföhnten Haare und den Anspruchsgestus des reinrassigen Absolventen einer Eliteuni. Jemand versicherte mir glaubhaft, dass er nicht mal eine Jeans im Schrank hätte. Jedes Privileg war ihm einfach so zugefallen. Das hätte ich ihm wahrscheinlich übelnehmen können, aber er nahm sich selbst nicht allzu ernst, und ich konnte nicht anders, als ihn zu mögen.
Er war ein Ehrgeizling wie ich, der Erste aus unserer Gruppe, der ein Angebot hatte machen dürfen. Der »Entscheidungsträger« blieb bei seiner Meinung. Und das war’s dann. Rhodes versuchte den Rauswurf herunterzuspielen und behauptete, es zöge ihn zu saftigeren Wiesen, aber als er sich von uns verabschiedete, brach seine Stimme. Sie hörte sich an, als hätte er geweint. Es war nur schwer zu ertragen. Wahrscheinlich hatte der Junge noch nie eine Niederlage einstecken müssen. Er hatte getan, was er konnte. Der Fall war einfach nicht nach Wunsch gelaufen.
Ich hatte nie ganz glauben können, dass diese Multi-Millionen-Dollar-Verträge wirklich von einer Bande aus Junior-Associates-Trotteln durchgezogen wurden, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Aber allem Anschein nach war es tatsächlich so. Schätze, man könnte sagen, dass das nicht gerade fair ist. Vielleicht setzen sie einen ja auf einen aussichtslosen Fall an. Man kann nur sein Bestes geben, danach hat man sowieso nichts mehr damit zu tun. Ich kann mich nur schwer über Ungerechtigkeiten aufregen. So ist das Leben, zumindest habe ich es nie anders kennengelernt. Man kann die Hände in die Luft werfen und darüber jammern, aber meine Devise war immer: gewinnen, egal, was es kostet. Ich war lange Zeit auf dem letzten Tropfen Sprit unterwegs gewesen, hatte irgendeinen abstrakten Traum vom guten Leben geträumt. Jetzt war ich nah dran. Ich konnte ihn schmecken und riechen. Je realer er wurde, desto unerträglicher wurde mir der Gedanke, dass man ihn mir wegnehmen könnte.
Typisches Beispiel: Annie Clark, Senior Associate bei der Davies Group. Mir war es immer leichtgefallen, mit Frauen zu reden, ich hatte mir nie groß Gedanken darüber gemacht. Aber bei dieser besonderen Frau kam mir meine Eins-führt-zum-andern-Leichtigkeit abhanden. Seit dem Augenblick, als ich sie zum ersten Mal im ersten Stock sah, verstopfte mir jeder nur denkbare romantische Blödsinn das Gehirn.
Wenn wir uns unterhielten – und wir arbeiteten ziemlich oft zusammen –, ertappte ich mich immer bei dem Gedanken, dass sie alles verkörperte, was mich je an einer Frau angezogen hatte – schwarze Locken, unschuldiges Gesicht, listige blaue Augen – plus ein paar Sachen, von denen ich gar nicht gewusst hatte, dass ich nach ihnen suchte. Wenn ich sie den ganzen Tag dabei beobachtete, wie sie in Sitzungen die blasierten Jungs in die Tasche steckte und Anrufe in drei oder vier verschiedenen Sprachen entgegennahm, hatte ich abends, wenn wir gemeinsam das Gebäude verließen, nichts anderes im Sinn, als sie mit all dem zu überfallen, was mir durch den Kopf ging: dass sie es sei, was ich gesucht hätte, dass sie das Leben verkörpere, das ich immer gewollt, aber nie gehabt hätte. Es war verrückt.
Ich begann mich zu fragen, ob sie vielleicht zu perfekt sei, zu überheblich und verwöhnt und unerreichbar. Als wir im Büro zum ersten Mal die Nacht durcharbeiteten – sie und ich und zwei weitere Junior Associates –, gab sie den Ton an. Wir saßen am Konferenztisch, und sie war gerade dabei, uns in eine weitere Feinheit des Beeinflussungsspiels einzuweihen, als sie in Gedanken versunken ihren Bürostuhl vom Tisch wegstieß.
Der Stuhl kippte langsam und unaufhaltsam nach hinten, sie verschwand hinter der Tischkante und fiel rückwärts auf den Teppichboden. Ich rechnete mit einem Aufschrei oder dass sie sich zornig wieder aufrappelte. Stattdessen hörte ich sie zum ersten Mal lachen. Und während sie da auf dem Boden lag und ich sie lachen hörte – ein offenes, ungezwungenes Lachen, das sich um nichts und niemanden scherte –, war meine bescheuerte Annahme, dass ich sowieso nie bei ihr landen konnte, augenblicklich weggewischt. Immer wenn ich sie lachen hörte, wusste ich, dass sie eine Frau war, die für Falschheiten keine Zeit hatte, die das Leben nahm, wie es kam, und einen mordsmäßigen Spaß daran hatte.
Dieses Lachen führte mich in riskante Gefilde. Wenn ich ihr über den Weg lief, wollte ich das Memo, an dem ich seit einem Monat unablässig arbeitete, aus dem Fenster werfen, auf die Knie fallen und sie bitten, mit mir durchzubrennen und den Rest des Lebens mit mir zu verbringen.
Wahrscheinlich wäre das eine bessere Vorgehensweise gewesen als das, was schließlich passierte. Ich saß nach einer Sitzung im Pausenraum und versuchte mit dem verbliebenen Rhodes-Stipendiaten über meine Annie-Clark-Strategie zu reden, ohne mich wie einer liebesblöder Schwachkopf anzuhören – was größtenteils misslang. Unglücklicherweise stand nur zwei Meter entfernt Annie Clark selbst unbemerkt hinter einer Säule, als der Rhodes-Stipendiat, ein Bursche namens Tuck, mit dem ich mich angefreundet hatte, mir seinen nicht unklugen Rat bezüglich Liebesdingen im Büro mitteilte:
»Don’t shit where you eat.«
»Reizend«, sagte Annie, als sie hinter der Säule hervorkam, hob ihre Flasche und zeigte auf den Wasserspender. »Darf ich?«
Bezüglich Annie Clark hatte ich mir also erst mal den Arsch verbrannt. Aber wie ich schon sagte: Willenskraft in rauen Mengen. Ich brauchte nur einen Lauf. Und wenn ich sie mir vorstellte, wie sie an einem milden Juliabend neben mir im Garten des Hauses in Mount Pleasant saß, war ich fest entschlossen, an diesem ehrbaren Leben festzuhalten, und wenn es mich meinen letzten Atemzug kostete. Ich würde Gould festnageln.
Das nächste Mal traf ich Marcus in der Cafeteria. Er nippte an einem Kaffee und las. Nach ein paar einleitenden Floskeln kam ich gleich auf den Punkt.
»Wann findet das Angebot statt?«
»Hat jemand aus dem Nähkästchen geplaudert?«, fragte er zurück. Wie man die Tortur überlebte, die das erste Jahr bei Davies mit sich brachte, galt allgemein als Black Box. Wer nachfragte, was sich in ihrem Innern befand, musste schon ein bisschen dreist sein. Aber ich glaube, allen Partnern war klar, dass die Junior Associates sich schon das eine oder andere über ihr Schicksal zusammengereimt hatten.
»In drei Tagen«, sagte er. »Davies stattet Gould einen Besuch ab. Wir haben seine Vertrauten behutsam bearbeitet.«
»Und wenn es schiefgeht? Wenn er seine Meinung nicht ändert?«
»Sie haben getan, was Sie konnten, Mike. Ich hoffe um Ihretwillen, dass er Ja sagt.«
Ich beließ es dabei. Ich konnte es in Marcus’ Gesicht lesen. Geschäft ist Geschäft.
Ich hatte nicht vor herumzusitzen, Däumchen zu drehen und zu hoffen, dass es schon klappen würde. Henry hatte mich angeheuert, weil er glaubte, ich wüsste ein bisschen was darüber, wie die Menschen tickten. Er hatte gesagt, dass jeder Mensch seinen Preis hat, einen Hebel, mit dem man ihm seinen Willen aufzwingen konnte. Ich hatte drei Tage, um den von Gould zu finden.
Ich vergaß erst mal die Politik und die strategischen Recherchen, die Berichte des Handelsministeriums und den ganzen Washington-Scheiß, den ich für unverzichtbar gehalten hatte, um den Job zu erledigen. Stattdessen dachte ich einfach über den plumpen Bürokraten Gould nach, der draußen in Bethesda lebte, über seine Wünsche, seine Ängste.
Während ich ihn in den vergangenen Wochen beobachtet hatte, waren mir ein paar Sachen aufgefallen, bescheuerter Kleinkram, den ich nicht für wichtig genug gehalten hatte, um ihn den Bossen mitzuteilen, weil ich mir selbst nicht hundertprozentig sicher war, was er bedeutete. Goulds Haus war für Bethesda bescheiden, und er fuhr einen fünf Jahre alten Saab 9-5. Aber der Bursche war ein Modefetischist – zwei- oder dreimal die Woche kaufte er sich neue Klamotten bei J. Press, Brooks Brothers oder Thomas Pink. Er kleidete sich wie ein Edelganove aus einem Billy-Wilder-Film: jede Menge Tweed und hüpfende Wale auf Hosenträgern, dazu Fliegen in Kontrastfarben. Außerdem war er ein Feinschmeckerchen und postete in einem Online-Forum namens Don Rockwell unter dem Namen LafiteForAKing – meistens zerriss er sich das Maul über unbotmäßige Kellner. jede Woche ließ er sicher ein paar Hundert Dollar nur beim Lunch: Er hatte seinen Tisch im Central und bevorzugte den Hummer-Burger.
Aber dann geht unser Gourmand pünktlich jeden zweiten Donnerstag ins Five Guys, einen herrlich fetttriefenden Hamburger-Schuppen. Die Fast-Food-Kette hatte ihren ersten Laden in DC aufgemacht und sich dann über die gesamte Ostküste ausgebreitet. Er bestellte immer einen kleinen Cheeseburger – nur eine Hackfleischscheibe – und verließ den Laden dann mit einem Doggybag. Ich bin der letzte Mensch auf Erden, der jemandem seine gelegentliche Cholesterinbombe missgönnen würde. Aber irgendetwas stimmte nicht. Der Restebeutel deutete auf eine übermenschliche Selbstdisziplin hin, über die Gould nicht verfügte, das wusste ich. Und es passte nicht dazu, dass er für Essen und Kleidung so viel Geld ausgab. Also war ich misstrauisch. Aber in erster Linie war ich verzweifelt, vielleicht jagte ich nur Gespenstern nach. Ich versuchte eben alles, um meinen Hals zu retten.
Inzwischen hatte ich nur noch einen Tag bis zu Davies’ Treffen mit Gould, bis zum Angebot. Ich konnte nichts anderes tun, als Gould auf den Fersen zu bleiben und auf einen Glückstreffer in letzter Sekunde zu hoffen. Ich passte ihn ab, als er sein Büro verließ, um ins Five Guys zu gehen. Exakt im Zeitplan. Was mir dann auffiel, schreibe ich mal meinen unheimlich columbomäßigen Ermittlerfähigkeiten zu: Sein Gang kam mir irgendwie nervös vor, er schaute die ganze Zeit auf den Tisch, die Schachtel mit den Resten seines Burgers war zum ersten Mal nicht fast transparent von Fettflecken. Vielleicht war es einfach Verzweiflung und Glück. Vielleicht wurde mir aber auch nur der Druck des ehrbaren Lebens zu viel. Vielleicht dachte ich: scheiß drauf, mach jetzt einfach was echt Bescheuertes, dann schnappen sie dich und Schluss. Was es auch war, jedenfalls musste ich herausfinden, was sich in der braunen Tüte befand.
Er ging vom Lunch direkt in seinen Club – den Metropolitan Club, ein wuchtiger Ziegelsteinbau, einen Block vom Weißen Haus entfernt. Er war während des Bürgerkriegs gegründet worden, und bis auf wenige Ausnahmen war jeder Präsident seit Lincoln Mitglied gewesen. Er bildete das gesellschaftliche Zentrum der Finanzministerium-Pentagon-Big Business-Szene.
Die liberaleren Künstlertypen – Journalisten, Akademiker, Schriftsteller – versammelten sich eher im Cosmos Club in Dupont Circle. Die Mitgliedschaft im Met war ein untrügliches Kennzeichen dafür, dass man jemand war. Da ich ein niemand war, musste ich improvisieren.
Gould marschierte schnurstracks hinein, ging am Empfang vorbei und bog nach links in Richtung eines der Clubzimmer ab. Ich versuchte ihm zu folgen. Vier Stewards, untersetzte Südasiaten, standen in Habachtstellung neben dem Empfang. Sie hielten mich auf wie eine Ziegelmauer. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, dass ich perfekt ins Ambiente passte. Meine Sekretärin hatte mir in meiner zweiten Woche bei Davies einen italienischen Schneider ins Büro bestellt. Ich sollte es nicht persönlich nehmen, aber ich benötigte ein paar anständige Anzüge. Ich hatte noch nie einen leibhaftigen italienischen Schneider gesehen (ich dachte, die waren in den Siebzigern alle von koreanischen Trockenreinigungen verdrängt worden). Aber da war er und maß meinen Hintern aus. Bei der letzten Anprobe sagte er tatsächlich »eine serre schönne Anzug«. Ich war also für den Met Club passend ausstaffiert. Das verschaffte mir eine halbe Sekunde, um mit den Gurkhas zu improvisieren.
Ich warf einen diskreten Blick auf die Ehrentafeln und Fotos, die an der Wand neben dem Empfangstisch hingen, und suchte nach einem angemessenen Titanen aus Industrie oder Regierung. Breckinridge Cassidy erschien mir alt genug (auf der Tafel stand »1931 –«). Die Chancen standen gut, dass er nicht anwesend war. Ich hoffte nur, dass er überhaupt noch anwesend war. Vielleicht hatte der Club einfach noch nicht die Zeit gefunden, das Datum seines Ablebens zu vermerken.
Ich schaute auf meine Uhr und tat mein Bestes, wie jemand zu wirken, der hier zu Hause war.
»Breckinridge Cassidy«, sagte ich. »Ist er schon da?«
»Admiral Cassidy ist noch nicht eingetroffen, Sir.«
»Sehr schön. Wir sind auf einen Schluck verabredet. Ich warte dann in der Bibliothek.«
Ich marschierte rein … und nichts passierte: kein Klammergriff, kein Zupacken an Kragen und Hosenbund. Ich war drin.
Glücklicherweise lebte Cassidy. Unglücklicherweise war er ein verdammter Admiral, und es hatte den Anschein, als ob er tatsächlich jede Sekunde aufkreuzen konnte. Ich suchte mir einen Platz im Clubraum. Mir fiel auf, dass einer der Stewards regelmäßig, einmal in der Minute oder so, zu mir herüberschaute. Der Club verfügte über einen offenen Lichthof mit einer herrlichen Flügeltreppe. Jedes Detail – die Flachreliefs an den Wänden, die über zehn Meter hohen Säulen, die dezenten Diener neben jeder Tür – machte eines vollkommen klar: Hier war die Macht zu Hause.
Ich glaubte, auf einem der Zwischengeschosse Gould gesehen zu haben. Als ich wieder zum Empfang schaute, zeigte einer der Stewards in meine Richtung und unterhielt sich mit dem höchst irritierten und respekteinflößenden Admiral Cassidy.
Zeit zu gehen.
Im ersten Stock entdeckte ich Goulds Hinterkopf, hängte mich an ihn dran und folgte ihm über mehrere Treppen nach unten. Wegen des schwachen Chlorgeruchs und des Geräuschs quietschender Turnschuhe auf Holz wusste ich, dass wir uns irgendeiner Art von Fitnessraum näherten. Dann sah ich das Schild. Squash, was sonst? Der offizielle Zeitvertreib von Washingtons Schwergewichten. Ich betrat nach ihm den Umkleideraum.
Man kann sich nicht lange in voller Montur zwischen ein paar halb nackten Weltenlenkern herumdrücken, ohne dass schon bald die ersten Augenbrauen gelupft werden. Also zog ich mich auch aus, schnappte mir ein Handtuch und fand in der Sauna ein nettes Plätzchen zwischen dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs und einem Typen, den ich nicht kannte, der sich aber später als der Finanzvorstand von Exxon Mobil und sehr gesprächig entpuppte.
Da ich Gould durch die Saunafenster nicht sehen konnte, verließ ich die Sauna wieder und ging zurück in die Umkleide. Die Schränke waren in Mahagoni gehalten, die Namen ihrer Besitzer standen auf kleinen Messingschildern. Ray Goulds Spind befand sich genau gegenüber dem von Henry Davies. Ein Vorhängeschloss in einem Club wie dem Met kam mir ein bisschen albern vor – klauten sich die Burschen hier gegenseitig ihre Rolex und Cartiers? Wie auch immer, an Goulds Tür hing ein Vorhängeschloss von Sargent & Greenleaf. Das ist die Hardware, mit der sie im Pentagon ihre Geheimnisse wegschließen. Offenbar musste Gould seine nicht aufgegessenen Pommes Frites sicherstellen.
Man merkt nie, wann man die Grenze überschreitet. Hatte ich das getan, als ich Gould folgte? Als ich die Stewards anlog? Als ich mich im hintersten Eck des Umkleideraums in einen der Gästespinde quetschte? Oder als ich stundenlang darin ausharrte, bis ich das Räuspern des letzten Gastes hörte, durch die schmalen Luftschlitze das Verlöschen des Lichts sah und dann das von den gefliesten Wänden widerhallende Geräusch hörte, als die Tür zufiel und abgeschlossen wurde?
Wann es auch war, ich wusste jetzt, dass ich die Grenze schon längst überschritten hatte. Und hier ging es nicht um einen harmlosen Jungenstreich. Ich stellte mir vor, dass die Trilaterale-Kommission-Typen, die hier ein und aus gingen, meinen Hausfriedensbruch nicht freundlich aufnehmen würden. Als ich im Büro vom Barley den Safe öffnete, hatte ich aus irgendeinem Grund instinktiv das Bedürfnis verspürt, mich zu verpissen, um nicht vom Pfad der Tugend abzukommen. Das spürte ich jetzt nicht. Irgendwie fühlte ich mich beschützt durch Henrys Ehrbarkeit, glaubte die zweifelhaften Methoden durch meine legitimen Ziele gedeckt. Ich hatte mich in diesen Club eingeschlichen, aber wenn ich meine Karten richtig ausspielte, dann könnte sich der Hausfriedensbruch als echte Eintrittskarte in diese Welt erweisen.
Aber vielleicht hatte ich es auch nur geschafft, mir irgendwas einzureden, schließlich saß ich in einem Mahagonispind fest und hatte fünf oder sechs Stunden Zeit zum Nachdenken gehabt.
Um 23 Uhr 30 glaubte ich, den Spind gefahrlos verlassen zu können. Das Sargent & Greenleaf zu knacken war aussichtslos, nicht ohne Flüssigstickstoff. Da ich im Keller eingesperrt war, hatte ich reichlich Zeit, über andere Strategien nachzudenken. Goulds Spind teilte die Rückwand mit einem anderen Spind, der leer war. Der Bauherr hatte mehr Wert auf Lack und Lamellen gelegt als auf Sicherheit. Es ging ganz einfach darum, sechsunddreißig Holzschrauben herauszudrehen, was leichter gesagt als getan ist, wenn sich nach ausgiebiger Suche herausstellt, dass die Arbeit mit der Spitze eines Schlüssels erledigt werden muss.
Fünf Stunden. Meine Fingerspitzen rot und geschwollen. Mit den Nerven am Ende, wenn ich das alte Gebäude knarzen hörte oder einen Lichtstreifen unter der Tür des Umkleideraums sah. Ich wusste, dass diese alten Weltenlenkerknacker Frühaufsteher waren. Bei Davies schlugen sie immer Frühstück um sechs vor (wisst schon, Jungs, nach dem Squash). Als draußen vor den Kellerfenstern das graue Blau die Dämmerung ankündigte, fing ich an zu schwitzen. Und als Klappern und Scheppern den Dienstantritt der Stewards ankündigte, beschleunigte sich meine Herzschlagfrequenz auf die eines Kolibris. Um die Nagelhaut meiner Finger staute sich das Blut von der Fummelei. Ich konnte schon Stimmen von oben hören, als ich die letzte Schraube herausriss und die Rückwand herunterklappte.
In Goulds Spind befanden sich ein Suspensorium und eine alte Squashtasche. In der Tasche befanden sich zwölf braune Tüten. Insgesamt hundertzwanzigtausend Dollar in ordentlichen Bündeln. Kein Wunder, dass ich ihn nicht hatte umstimmen können.
Kehre niemals an den Ort des Verbrechens zurück. Ein guter Rat. Unglücklicherweise hatte ich, nachdem ich mich aus dem Met Club hatte verdrücken können und an meinem Arbeitsplatz aufgetaucht war, keine Wahl.
Ich fragte Marcus, wo das Gould-Davies-Treffen stattfinde.
»Im Metropolitan Club«, sagte er. Mir wurde übel.
»Zum Lunch?«
»Frühstück«, sagte er und warf einen Blick auf das Telefondisplay auf seinem Schreibtisch. »Ungefähr jetzt, würde ich sagen.«
Nach meiner langen Einbruchsnacht roch ich immer noch streng nach Angstschweiß, als ich unter den Augen des Secret Service die 17th Street und dann die H Street NW hinaufschlenderte. Von den Dächern der Hochhäuser rund ums Weiße Haus verfolgten Überwachungskameras meinen Weg. Ich sah den Polizeibeamten, der an der Rückseite des Metropolitan Clubs den Fensterriegel untersuchte, den ich bei meiner Flucht zwei Stunden zuvor aufgebrochen hatte. In der Lobby traf ich auf ein halbes Dutzend Polizisten und natürlich den Steward von gestern Abend.
Er bedachte mich mit einem nicht gerade freundlichen Blick. Ich sagte ihm, dass ich mit Henry Davies verabredet sei, und setzte mich in die Bibliothek. Ohne mich aus den Augen zu lassen, ging er gleich zu den Polizisten. Von meinem Platz aus konnte ich in den Speisesaal sehen, der die Größe eines Footballfeldes hatte. Es dauerte also etwas, bis ich Davies entdeckte, der gegenüber von Gould an einem Tisch saß und sich gerade Marmelade auf ein Croissant löffelte.
Was konnte ich tun? Mitten in den Saal hineinmarschieren, Gould öffentlich der Annahme von Schmiergeldern bezichtigen und dann den versammelten Würdenträgern, Davies und mehreren stiernackigen Vertretern der Metro Police höflich erläutern, dass ich zufällig auf meine Beweismittel gestoßen war, als ich den Burschen verfolgt hatte, und in diese heiligen Hallen ein- und wieder ausgebrochen war? Am meisten Sorgen machte ich mir wegen Davies. Er hatte mir Ehrbarkeit angeboten, und ich vergalt es ihm mit Verbrechen. Wieder ein Hochstapler. Es lag mir im Blut. Jeder meiner Vorstöße, ein ehrliches Leben zu führen, war ein desaströser, umgehend korrigierter Irrtum gewesen.
Ich versuchte Davies’ und Goulds Gespräch anhand ihrer Gesten zu folgen. Es ging von höflichem Geplauder zu Substanziellem über, als Davies sich ein klein wenig über den Tisch nach vorn beugte. Ich wartete auf das Angebot. Das Ja oder Nein, das mein Schicksal entscheiden würde. Ich sah, dass Davies sich noch etwas weiter vorbeugte und dann wieder zurücklehnte. Dann nichts mehr. Gould machte ein ernstes Gesicht. Keiner sagte etwas. War’s das?
Ich beobachtete so gebannt den Tisch, dass mir erst gar nicht auffiel, dass zwei der Polizisten mich anschauten. Als ich den Blick wieder abwandte, sah ich, dass Gould gequält dreinschaute und die Hände hob. Das war eindeutig. Er sagte Nein. Damit war einfach so mein ehrbares Leben dahin.
Was zum Teufel hatte ich noch zu verlieren?
Drei Polizisten waren jetzt in eine intensive Diskussion vertieft, während sie mich nicht aus den Augen ließen. Ich zog mein Handy aus der Tasche und rief den Metropolitan Club an. Einen Augenblick später klingelte das Telefon am Empfang. Ich stellte mich als Assistent von Goulds Chef vor und sagte, ich hätte einen dringenden Anruf für Gould. Dann sah ich, wie der Steward über den karierten Fliesenboden ging und Davies’ und Goulds Gespräch unterbrach.
Während Gould nach draußen ging, ging ich schnell hinein. Einer der Polizisten setzte sich in Bewegung und blieb zwischen mir und dem Ausgang stehen. Als ich an den Tisch trat, schien Davies sich seltsamerweise nicht sonderlich zu wundern, mich hier zu sehen.
Ich beugte mich vor und flüsterte: »Gould wird geschmiert.« Dann zeigte ich ihm ein Foto, das ich mit dem Handy gemacht hatte: Die Geldbündel in der Tasche. Davies stellte keine Fragen. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert.
»Gehen Sie«, flüsterte er. Das übernahm ein Polizist. Er packte meinen Arm mit einem sehr überzeugenden Widerstand-zwecklos-Griff und führte mich zurück in die Bibliothek, wo der andere Polizist und der Steward auf mich warteten.
»Waren Sie gestern hier im Club, Junge?«, fragte mich ein Detective in Zivil, der offenbar die Operation leitete.
»Ja.«
»Dann bleiben Sie doch noch einen Augenblick bei uns.«
Die Polizisten ließen sich die Nummer von Admiral Cassidy geben. Draußen fuhren weitere Streifenwagen mit Blaulicht vor. Zwei Beamten rahmten mich ein. Ich war geliefert. Mein Hirn spulte blitzschnell vor, durch jede einzelne Station – die Handschellen, der Streifenwagen, die Zelle mit der Kloschüssel und den durchgeknalltesten Pennern von ganz DC, die Verhöre, der beschissene Kaffee, der nutzlose Pflichtverteidiger, die Anklageverlesung und der Richter, der auf mich herabschaute wie der vor zehn Jahren. Nur dass er mir diesmal keine zweite Chance geben würde. Sie würden mich schließlich als das erkennen, was ich war: ein mieser Gauner in einem Anzug, den ich nicht bezahlt hatte. Ich konnte nicht mal an der Bullenwand aus blauen Kunstfaseruniformen vorbeischauen, um herauszufinden, was zwischen Davies und Gould ablief.
»Kann ich Ihnen behilflich sein, meine Herren?« Das war Davies, der hinter mir stand. Der Steward erstarrte unter seinem Blick. Die Polizisten wichen ein paar Zentimeter zurück.
»Kennen Sie den Mann?«, fragte einer.
»Natürlich«, sagte Davies. »Er ist Associate in meiner Firma. Einer meiner Besten.«
»Ist er ein Bekannter von Admiral Cassidy?«
»Ich hatte die beiden gestern bei einem Drink miteinander bekannt machen wollen, aber ich bin im Büro aufgehalten worden. Ich hatte vor, diesen Herrn als neues Clubmitglied vorzuschlagen. Darf ich vorstellen, Anup, Michael Ford.«
»Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte der Steward. Ich sah, dass es hinter seinem routinierten Lächeln brodelte.
»Ganz meinerseits«, sagte ich.
»Nun, worum geht’s hier?«, fragte Davies.
»Nur ein Missverständnis, Sir«, sagte der Steward.
»Würden Sie uns dann bitte entschuldigen?«
»Natürlich«, sagte der Detective.
Davies’ Auftreten war zuvorkommend, aber er kontrollierte eindeutig das Geschehen. Schließlich konnte ich doch noch einen Blick in den Speisesaal werfen. Gould saß wieder am Tisch. Er schaute in seine Kaffeetasse, als könnte er darin die Zukunft lesen. Er sah aus, als hätte ihm jemand einen unerwarteten Tiefschlag verpasst.
»Sie verschwinden jetzt besser«, flüsterte Davies mir zu. Er schaute mich mit einem sphinxartigen Blick an, aus dem ich nicht schlau wurde. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob meine Spindknacker-Nummer den Fall gerettet oder meine Karriere ruiniert hatte. Vielleicht hatte er die Polizei nur deshalb abgewimmelt, damit er mich höchstpersönlich bestrafen konnte. Kurz bevor ich ging, sagte er: »Um drei in meinem Büro.«
Seine Suite lag am Ende des scheinbar endlosen Vorstandsflurs. Ich weiß, ich dramatisiere ein bisschen, aber ich wurde das Bild nicht los, das ich in einem Dutzend Filme gesehen hatte: der letzte Gang durch den Todestrakt. Er ließ mich in einem schmalen Durchgang vor seinem Büro bis zwanzig nach drei warten. Ich war seit etwa vierunddreißig Stunden auf den Beinen, die Müdigkeit lastete auf meinem Körper wie der Bleischurz beim Zahnarzt. Schließlich sah ich Davies den Flur heraufkommen. Er ging direkt in sein Büro und bedeutete mir mit dem Zeigefimger, ihm zu folgen. Als er neben seinem Schreibtisch stehen blieb, blieb ich auch stehen.
Er fixierte mich einen Augenblick lang mit seinem undurchdringlichen Blick, zog dann etwas aus seiner Jackentasche und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Es war eine Holzschraube, und sie kam mir verdammt bekannt vor. Ich hatte gerade so viele wieder in die Löcher gedreht, dass die Rückwand des Spinds hielt, auf die restlichen Löcher hatte ich einfach die Holzkappen gesteckt. Eine Schraube hatte ich wohl liegen lassen.
»In letzter Zeit mal Squash gespielt, Ford?«
Solange ich nicht wusste, worauf er hinauswollte, hielt ich den Mund. Davies drehte die Schraube langsam zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her und warf sie dann in die Luft. Ich fing sie einen Viertelmeter vor meiner Brust auf.
»Gould hat Ja gesagt.«
»Und was ist mit der Polizei?«
Davies machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und machen Sie sich keine Sorgen wegen des Admirals. Der ist schon ein bisschen weich in der Birne, grüßt schon sein eigenes Spiegelbild.«
»Ich möchte mich entschuldigen für …«
»Schon vergessen. Ihre Methoden waren vielleicht ein bisschen rustikaler als die, die ich gewählt hätte, aber entscheidend ist, dass er Ja gesagt hat. Fünfundachtzig Millionen Dollar.«
»Fünfundachtzig?«
Er nickte. »Ich habe diese Woche noch ein paar Parteien mit ins Boot geholt.«
»Und was passiert mit Gould? Hängen Sie ihn beim Inspector General im Handelsministerium hin? Oder bei der Polizei?«
Davies schüttelte den Kopf. »Neunundneunzig Prozent dieser Fälle werden sowieso unter den Tisch gekehrt. Wäre was anderes, wenn noch ein paar andere ihre Finger mit drin hätten. Aber so traurig es ist: Hundertzwanzig Riesen Schmiergeld sind in dieser Stadt Peanuts. Trotzdem bin ich froh, dass Sie sie ausgegraben haben.«
»Wie haben Sie ihn umgedreht? Haben Sie gedroht, ihn zu outen? Ich meine, haben Sie ihn …« Ich suchte nach einem freundlichen Wort dafür.
»Erpresst?«, sagte Davies.
»Nein, Sir, ich wollte nicht andeuten, dass …«
»Sie haben meine Gefühle nicht verletzt«, sagte Davies und lachte leise. »Für einen Teil der Arbeit, die wir hier leisten, ist das Wort Erpressung ein klein wenig zu grob. Allerdings wäre es ein erfrischend direktes Synonym. Stellen Sie sich das vor. Sie zeigen einem Typen ein Foto von ihm, ein Motel, sein nackter Arsch, eine Nutte, und sagen, Reform der Wahlkampffinanzierung oder Ende der Vorstellung.«
Davies dachte kurz darüber nach. »Zugegeben, das hat einen gewissen schnörkellosen Reiz. Trotzdem, nein. Gould ist ein schlauer Bursche. Da braucht man nur zu sagen, man hätte gehört, dass er sich vielleicht etwas übernommen habe, dass man ihm möglicherweise dabei behilflich sein könne, etwaige Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Normalerweise braucht man noch nicht mal so weit zu gehen. Und plötzlich sperrt er die Ohren auf, ist die Liebenswürdigkeit selbst. Menschen kommen nicht zu Einfluss, wenn sie schwer von Begriff sind, zumindest nicht, wenn es um ihr Eigeninteresse geht.«
»Das ist eine Win-win-Situation«, fuhr Davies fort. »Normalerweise zieht der Kerl sofort die Reißleine, egal, was er gerade am Laufen hat. Und zwar schneller und zuverlässiger, als das irgendeine Ethikkommission hinkriegen könnte. Und währenddessen fördern wir die Politik, an die wir glauben. Wir holen das Beste aus seinem schlechten Benehmen heraus.«
Ich stand am Fenster und betrachtete die kleine Holzschraube zwischen meinen immer noch wunden Fingerspitzen.
»Sie mussten ziemlich überstürzt mit harten Bandagen kämpfen. Darüber steht nie was in den Zeitungen. Aber so läuft das Spiel. Und ich glaube, Sie sind der Richtige dafür.«
Ich fühlte mich unwohl. Vielleicht lag es an diesem merkwürdigen Widerwillen: Wenn man etwas so lange so unbedingt haben will, dann hat man Angst, es anzunehmen, wenn man es endlich bekommt. Oder ich wollte die Dinge auch einfach nur schwarz oder weiß. Ich wollte das anständige Leben ohne einen Schatten Grau. Und jetzt hatte ich herausgefunden, dass das, was ich angestrebt hatte, mit dem verstrickt war, vor dem ich davonlief.
»Es gibt da noch etwas, was Sie wissen sollten, Sir. Ich spiele mit offenen Karten. Es geht um die Scherereien …«
»Alles, was ich über Sie wissen muss, Mike, weiß ich. Ich habe Sie eingestellt, nun ja, nicht wegen dieser Scherereien, aber wegen des Nutzens, den Sie daraus ziehen können.«
Er streckte die Hand aus. »Sind Sie noch an Bord?«
Im Fenster hinter ihm konnte ich die Skyline der Hauptstadt sehen. Alle Königreiche und allen Ruhm der Welt.
»Ja, Sir«, sagte ich. Wir gaben uns die Hand.
»Gut«, sagte er. »Und ab jetzt Henry. So, wie Sie dauernd Sir sagen, komme ich mir vor wie ein gottverdammter Kasernenhofausbilder. Und sagen Sie dem Makler, dass Sie das Haus am Inglewood Terrace nehmen.«
Das Haus in Mount Pleasant. »Vielleicht warte ich noch etwas, lege erst mal ein bisschen Geld zurück und suche mir etwas, was weniger Miete kostet.«
»Miete?«, sagte Davies. »Ach was. Wenn es Ihnen gefällt, kaufen Sie es. Sie müssen eins begreifen, Mike. Über Geld brauchen Sie sich nie mehr Sorgen zu machen.«
»Nun ja, ich habe da noch ein paar Schulden, Darlehen für die Unigebühren. Das ist jetzt vielleicht nicht die …«
Er schob eine Mappe über den Schreibtisch. »Der Zivilprozess gegen Crenshaw Collection Services ist startklar. Mittwoch wird Strafanzeige gestellt. Wir reißen denen die Eingeweide raus.«
Noch bevor ich merkte, wie mir geschah, führte er mich zu einer Flügeltür.
»Marcus ist ab jetzt Ihr Mentor, aber ich dachte mir, ich mache Sie auch gleich mit dem Rest der Gang bekannt.«
Er öffnete die Tür zu einem Konferenzraum, der die Räumlichkeiten des Met Clubs alt aussehen ließ. Die Bosse warteten auf mich – eine Galerie der Gewichtigsten unter den Schwergewichten.
»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen Michael Ford vorstellen zu dürfen, unseren neuesten Senior Associate.«
Sie klatschten, dann wurde ich unter Händeschütteln und Schulterklopfen durchgereicht. Ich hatte vier Monate bei Davies hinter mir – von Mai bis August. Jemand sagte mir später, dass in der Geschichte der Davies Group noch nie jemand nach so kurzer Zeit befördert worden sei.
Davies hob die Hand, und die Anwesenden verstummten. »Also dann, Abmarsch«, sagte er in seinem Halbflüstern. »Wir sehen uns in einer halben Stunde in der Brasserie Beck. Wir haben das Hinterzimmer.«
Während sie aus dem Konferenzraum schlenderten, bedachten mich die Bosse noch einmal mit ihren Glückwünschen. Davies führte mich hinunter in den ersten Stock zu einem herrlichen Büro, das so anheimelnd wie ein Bibliotheksraum in Oxford war.
»Sie können dann am Montag hochziehen.«
Er bemerkte meinen Blick, als ich den Abstand zwischen meiner und Annie Clarks Bürotür abschätzte – keine fünfzehn Meter. Er bedachte mich mit dem Anflug eines Lächelns, sagte aber kein Wort. Der Bursche wusste wirklich, wo er ansetzen musste.
»Was wollen Sie, Mike? Los, raus damit.«
Mir fiel nichts ein. Ich hatte alles, was ich hatte erreichen wollen. Ein anständiges Leben, einen guten Job, Respekt. Mehr noch, etwas, was ich nie für möglich gehalten hatte. Den Kitzel, den ich bei der Jagd auf Gould gespürt hatte und der mir seit Jahren abgegangen war, seit ich mit meinen Gaunereien aufgehört hatte. Womit Davies gut leben konnte – er hatte meine ehrbare Arbeit und meine nicht so ehrbaren Gewohnheiten, die ich nie abschütteln konnte. Ich konnte der Mann sein, der ich sein wollte, und brauchte meine Herkunft nicht zu verleugnen.
»Ich bin zufrieden, Sir. Ehrlich. Das ist sowieso schon zu viel.«
»Irgendwas, egal.« Er ließ nicht locker. Ich erkannte, dass er es ernst meinte, dass er keine Motivationsübung mit mir veranstaltete. Ich schwieg eine Minute, dann wagte ich es, ihn beim Wort zu nehmen.
»Ich weiß nicht, ob das die richtige …« Ich brach ab. Wahrscheinlich glaubte er, ich würde über eine machbare Bitte nachdenken: einen Mercedes SLK 230 oder ein Extrabad im Büro. Aber das Einzige, worüber ich nachdachte, war heikler. Weil ich es lange Zeit verdrängt hatte und weil, um die harte Wahrheit auszusprechen, ein Teil von mir es auch gar nicht wollte.
»Mein Vater«, sagte ich. »Er …« Ich brach wieder ab.
»Ich weiß Bescheid über Ihren Vater.«
»Er hat bald eine Anhörung vor dem Bewährungsausschuss. Er hat jetzt sechzehn Jahre abgesessen und noch acht vor sich. Können Sie da was machen?«
»Ich werde alles versuchen, Mike. Alles.«