18
Nimm das Geld und halt den Mund. Wenn ich das getan hätte, wäre alles viel einfacher gewesen. Aber wider besseres Wissen war ich noch nicht so weit, meine Seele an Henry zu verkaufen. Ich war noch nicht sein skrupelloser Handlanger, auch wenn es noch schlimmer kommen sollte und man mich schon bald als Doppelmörder suchen würde. Zu allem Ja zu sagen war die einzige Möglichkeit gewesen, das Gespräch mit Davies und Marcus unbeschadet zu überstehen. Wenn ich mich an Rivera oder das FBI wenden oder – in einem Anfall von selbstmörderischer Wut – versuchen wollte, Haskins’ Beweise zu finden und Henry selbst zur Strecke zu bringen, dann musste ich Zeit gewinnen und so tun, als spielte ich das Spiel meiner Bosse mit. Was hatte ich sonst für Möglichkeiten? Davies und Marcus mit einer herzerweichenden, flammenden Rede im James-Stewart-Stil bekehren, um ihnen dann das Händchen zu halten, wenn sie der Polizei alles gestanden? Keine Chance. Ich konnte nur so tun, als spielte ich mit. Das wusste ich, und ich war mir ziemlich sicher, dass auch Davies und Marcus es wussten und jede meiner Bewegungen genau beobachteten.
Auf meiner Mailbox war ein Anruf meiner Cousine Doreen eingegangen. Sie lud mich für den kommenden Sonntag zur Erstkommunion ihres Sohnes ein. Da ich fünf oder sechs Jahre nichts mehr von ihr gehört hatte, wollte ich die Nachricht schon löschen, als sie erwähnte, dass sie Mutters Rindfleischeintopf machen würde. Damit hatte sie mich.
Wie gesagt, für einen erfolgreichen Trickbetrüger ist die Gier des Objekts der entscheidende Hebel: Und mir fehlte dieser Eintopf. Die Einladung roch nach einer abgekarteten Sache.
Ich wusste, dass sie kurz vorher noch einmal anrufen würde, um mir mitzuteilen, dass mein Vater vielleicht auch kommen würde und ob das ein Problem für mich wäre. Wenn ich dann nicht als der Böse dastehen wollte, konnte ich kaum absagen. Wahrscheinlich hatte mein Vater das eingefädelt. Na ja, wenigstens wusste ich jetzt, dass mein Vater immer noch ein Händchen dafür hatte, andere Leute aufs Kreuz zu legen.
Also gut, sollte er seinen Spaß haben. Ich musste sowieso mit dem alten Gauner sprechen. Im Augenblick hatte ich nur die unerquickliche Wahl, mich auf Henrys Spiel einzulassen, um mein Traumleben zu behalten, oder bei der Polizei auszupacken und es mit William Ich-kenne-neun-Arten-wie-man-einen-Mann-mit-einem-Briefkuvert-umbringt Marcus aufzunehmen. Entweder machte ich einen auf Ganovenehre, oder ich erzählte alles – worum meine Mutter damals meinen Vater angefleht hatte. Jetzt, da mein Arsch auf dem Spiel stand, erschien mir die Entscheidung alles andere als eindeutig.
Also übersprang ich Doreen, rief meinen Vater selbst an und bat ihn um ein Treffen.
»Klasse«, sagte er. »Ich komme gleich rüber.« Ich hatte geglaubt, ich würde ihm einen Gefallen tun, aber er machte nicht den Eindruck, als sei er auf Mitgefühl angewiesen.
Als er mich abholte, sah ich, dass er den Cutlass nicht nur zum Laufen gebracht hatte. Wenn er bei Grün losfuhr, hatte ich das Gefühl, wir heben ab.
»Die Zylinder mussten geschliffen werden«, sagte er.
»Und ein bisschen mehr Hubraum holst du wohl auch noch raus, oder?«
»Möglich«, sagte er mit schuldbewusstem Lächeln.
Ich schaute ihn an.
»Dachte mir, wenn ich schon dabei bin. Ich konnte noch ein Tuning-Kit abstauben, damit lässt sich noch ein bisschen mehr rauskitzeln.«
Und ab ging die Post. Er hatte Ordnung in Cartwrights Bücher und Bankkredite gebracht und der Tankstelle sechstausend Dollar pro Monat gespart. Seine Schreckhaftigkeit war genauso verschwunden wie der Blick des in die Enge getriebenen Hundes, den er noch unmittelbar nach seiner Entlassung gehabt hatte.
Wir fuhren zu dem Steakhouse, von dem ich ihm bei unserem ersten Treffen erzählt hatte. Er sagte, er habe sich mit einem Burschen vom Amt für Wirtschaftsprüfer in Virginia angefreundet.
»Hab ihn gegoogelt«, sagte mein Vater.
Nicht schlecht. Heraus kam, dass er möglicherweise die Prüfung machen konnte, wenn er zwei Jahre nach Ablauf seiner Bewährung immer noch eine reine Weste hatte. Seinen letzten Übungstest hatte er mit Bestnote bestanden.
Ich ging ihm nicht mit dem üblichen Scheiß auf die Nerven. Wer war ich, dass ich mir ein Urteil erlauben konnte? Verglichen mit dem Schlamassel, in dem ich selbst steckte, waren seine Brüche nicht schlimmer als ein paar Strafzettel für Falschparken. Mir graute so vor der Entscheidung, die ich zu treffen hatte, dass ich die Fragen, die ich ihm stellen wollte, immer weiter hinauszögerte. Als nach dem Essen der Kaffee kam, fragte er schließlich selbst.
»Also, Mike, was treibt dich um?«
»Merkt man das?«
Er nickte. »Du kaust an den Nägeln. Das hast du schon als Kind gemacht, wenn dich irgendwas gedrückt hat. Ich will dich nicht … also, ich meine, wir können über alles reden. Tut mir leid, ich bin ein bisschen eingerostet, aber Allentown ist nicht gerade der Ort, wo man offene Gespräche führt.«
»Ich hab keinen Safe geknackt oder so, aber du hattest recht damit, dass nichts umsonst ist. Ich stecke in der Klemme.«
In seiner Jackentasche klingelte es.
»Scheiße, entschuldige«, sagte er, griff in die Tasche und schaltete es ab. »Mein Weckruf. Ich muss zurück, Zeit für meinen Anruf im Bewährungsbüro.«
Mein Vater hatte sich schnell an die neuen Zeiten gewöhnt.
Auf dem Rückweg kamen wir an dem Schnapsladen mit dem großen Clown vorbei. Wir gingen in seinen Wohnwagen hinter der Tankstelle, wo er sofort im Bewährungsbüro anrief. Als er sich wieder umdrehte, stand ich vor ein paar Bauplänen, die er an die Wand geheftet hatte. Alte, zerknitterte Bogen, die ein Vierzimmerhaus im Craftsman-Stil zeigten und mir verdammt bekannt vorkamen.
Er schaute mich an, während langsam die Erinnerung zurückkehrte. Ich wusste jetzt, wo ich die Pläne schon mal gesehen hatte und warum mir der Clown unheimlich war. Als Kind hatte mich mein Vater zu der Stelle in den Wäldern mitgenommen, wo jetzt sein Wohnwagen stand. Damals hatte es die Tankstelle noch nicht gegeben. Er hatte die Pläne dabeigehabt und mir das Stück Land gezeigt, wo er für mich und Mutter ein Haus bauen wollte. Das war kurz bevor sie ihm die vierundzwanzig Jahre aufgebrummt hatten.
»Du hast das Grundstück an Cartwright verkauft, oder?«
»Ja«, sagte er. »Wir brauchten das Geld.«
»Hat er dich beschissen?«
»Etwa sechzig Prozent vom eigentlichen Wert hab ich bekommen. Ich hatte keine Wahl. Ich musste die Sache regeln, bevor ich in den Knast gewandert bin.«
Der Bursche verkaufte Benzin, wo er sein Traumschlösschen hatte bauen wollen.
»Tut mir leid.«
»Hat keinen Sinn, jetzt noch darüber zu jammern.«
»Ich hab Scheiße gebaut, Dad.«
Er lehnte sich neben mich an die Küchentheke.
»Das ist mein Spezialgebiet«, sagte er.
Mir fiel ein, was Haskins über Henry Davies gesagt hatte: wie gefährlich es sei, etwas über die Leichen in seinem Keller zu wissen. Dass der Richter sich hatte umbringen lassen, bestätigte das nur. Ich wollte niemanden mehr als nötig in diese Geschichte mit hineinziehen, vor allem keinen Mann, der auf Bewährung draußen war und sein Leben in den Griff bekommen wollte. Also erzählte ich meinem Vater eine frisierte Kurzfassung dessen, was passiert war.
»Meine Bosse wollen, dass ich über ein paar Sachen, die sie am Laufen haben, den Mund halte.«
»Üble Sachen?«
Ich nickte.
»Wie übel?«
Ich schaute zu der Zeitung, die auf dem Küchentisch lag. Die Geschichte über den vermissten Richter am Obersten Gerichtshof hatte es inzwischen auf die Titelseite geschafft. Die Zeitungsleute lagen allerdings noch weit zurück. Die Blogger waren schon einen Schritt weiter und ergingen sich in wollüstigen Spekulationen, wussten aber auch noch nichts über die schmutzige Wahrheit.
»Die übelsten. Mehr kann ich dir nicht sagen.«
Er verzog das Gesicht und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
»Rede«, sagte er nach einer Minute. »Spuck’s aus. Alles, hörst du. Das ist die einzige Möglichkeit.«
Wie die meisten Menschen neige ich dazu, mir nur da Rat zu holen, wo ich zu hören bekomme, was ich hören will. Schätze, dass ich deshalb so scharf drauf war, mit meinem Vater zu sprechen, dem Paradebeispiel für jemanden, der das Maul hält. Und dann geht er her und bestärkt mich in meiner lästigen Tu-immer-das-Richtige-Marotte, die ich eigentlich hatte unterdrücken wollen. Meine Ehrlichkeit kam meiner scheinbar ehrbaren Karriere bei Davies allmählich ernsthaft ins Gehege.
Und jetzt das. Wozu ist schlechter Einfluss gut, wenn man schließlich doch den Rat bekommt, das Richtige zu tun?
»Du hast nie geredet«, sagte ich.
»Nein.«
Ich stöhnte genervt.
»Was glaubst du, warum ich die ganzen Jahre meinen Mund gehalten habe?«, fragte er.
»Das weißt du doch selbst«, sagte ich. »Nicht umfallen, seine Freunde schützen. Eine Art Kodex. Ganovenehre.«
»Gott, Mike«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Dafür hätte ich die Trennung von euch Kindern und deiner Mutter nie in Kauf genommen. Genau das wollte ich dir erklären, als wir uns neulich unterhalten haben. Mein größter Fehler war nicht, dass ich ein paar Gaunern aus unserem Viertel vertraut habe, sondern dass ich ehrbaren Männern vertraut habe.«
»Was ist passiert?«
»Das spielt keine Rolle. Es ging letztlich nicht darum, zu reden oder nicht zu reden. Es ging darum, vernünftig zu handeln. Ich bin nicht in den Knast gegangen, um meine Komplizen zu schützen. Ich wollte meine Familie schützen. Ich hatte keine andere Wahl. Vertrau mir. Diese Sachen gehen nie gut aus. Rede. Steig aus, solange du noch kannst.«
Die Haskins-Story war am frühen Morgen bekannt geworden. Ein Dutzend Fernsehreporter hatte sich auf Podesten gegenüber vom Obersten Gerichtshof postiert, sodass sie für ihre Bilder das Gebäude im Hintergrund hatten. Aufgereiht unter ihren Scheinwerfern, sahen sie aus wie Jahrmarktschreier. Die Fernsehteams und ihre Übertragungswagen hatten die fünf Blocks rund ums Kapitol praktisch abgeriegelt und für das perfekte Ambiente gesorgt.
Es war ein Zirkus, der nur in Washington möglich war: eine dünne Fassade aus öffentlicher Bedeutung, die die pure Geschmacklosigkeit übertünchte und es selbst den respektabelsten Medien ermöglichte, sich an dieser Peepshow aufzugeilen. Die Presse hatte sich nahe dem Tatort in Paris einen provisorischen Außenposten eingerichtet. Die großen Networks füllten die Stunden vor dem Programm zur Hauptsendezeit mit den letzten Neuigkeiten, die vier größten Sender übertrugen alle die Stellungnahme des Präsidenten zum Tod von Haskins.
Am nächsten Tag war die Neuigkeit schon zur Standarderöffnung jeder Unterhaltung selbst unter Fremden geworden. Überall auf der Straße wurde darüber gesprochen: Ich hab gehört, er hat sie umgebracht, während sie … Ich hab gehört, danach. Auf Drudge hab ich gelesen, dass man sie erstickt hat. Nein, erschossen.
Während der ganzen Woche hätte man meinen können, es gebe nichts anderes auf der Welt als diese beiden Toten. Ich verfolgte, wie sich Davies’ Vertuschungsgeschichte in den Köpfen von Millionen Menschen als Realität festsetzte und selbst vom Präsidenten verkündet wurde. Die ersten Indizien deuteten alle auf einen erweiterten Selbstmord hin. Henry musste sich um jedes einzelne Beweisstück, das seiner Fiktion widersprach, gekümmert und irgendwie Kontakt zu der Person aufgenommen haben, mit der der Richter bei seinem abgehörten Telefonat gesprochen hatte. Ich konnte mir nicht mal ansatzweise die Art von Einfluss, das Ausmaß an Hinterzimmerkungeleien und unterschwelligen Drohungen vorstellen, die ein derartiges Unternehmen erforderte.
Und ich wollte den Mann, der das alles organisiert hatte, zur Strecke bringen? Unmöglich.
Die große Frage schlug mir überall entgegen, ich konnte ihr nicht entgehen, der Druck lastete so stark auf mir wie der des Ozeans auf einem Tiefseetaucher: Wer hatte Malcolm Haskins und Irin Dragovi´c getötet? Eine Zeit lang konnte ich noch so tun, als würde ich ganz normal meiner Arbeit nachgehen, bis ich schließlich nur noch mit einem selbst gemalten Schild vor dem Weißen Haus stehen und die Wahrheit so lange wie durchgedreht herausschreien wollte, bis die Polizei mich wegzerrte.
Annie spürte, dass etwas nicht stimmte. Am Abend, nachdem ich mit meinem Vater gesprochen hatte, lockte sie mich zu einem Spaziergang außer Haus, damit ich mich nicht hinter meinen tausend vorgeschobenen Ausreden – Arbeit, E-Mails, Telefonate – verstecken konnte, um nicht darüber reden zu müssen, was mich umtrieb. Wir gingen durch Adams Morgan und machten einen Riesenbogen um Kalorama und den Firmensitz der Davies Group.
Auf der Duke Ellington Bridge, einer Kalksteinbrücke über den Rock Creek Park, blieben wir stehen.
»Was ist am Samstag wirklich passiert, Mike?«
Wahrscheinlich hatte mein geisterhafter Blick nach den Morden sie davon abgehalten, mich mit Fragen zu löchern. Aber ich hatte gewusst, dass sich das ändern würde.
»Es ist jemand getötet worden«, sagte ich. »Ich wollte es verhindern, aber ich konnte nicht.«
Sie schaute hinauf zu den Wolken, die an einem sichelförmigen Mond vorüberzogen.
»Haskins.«
Ich sagte nichts.
»Du bist nicht allein, Mike. Sag mir, wie ich dir helfen kann.«
»Ich will nur, dass du in meiner Nähe bist, das ist alles.«
Ich lauschte dem Wasser, das unter uns über die Flusssteine plätscherte, und umklammerte das Geländer. Annie ließ mich nicht aus den Augen.
»Da ist was furchtbar schiefgelaufen. Zum Teil wegen mir. Aber ich bringe das wieder in Ordnung. Ich bringe die Wahrheit ans Licht. Auch wenn das heißt, dass ich mich gegen Henry Davies wenden muss.«
Sie stand jetzt dicht neben mir und rubbelte mir den Rücken.
»Ich muss dich noch was fragen«, sagte ich. »Hört sich vielleicht dumm an die Frage, aber ich hab keine Ahnung, wie das alles ausgeht. Ich hab … ich hab Angst. Möglich, dass ich mir mit Davies alles versaue, und das würde alles in Gefahr bringen: den Job, das Haus, vielleicht auch das mit uns beiden. Du stehst doch immer noch zu mir, oder? Ich meine, wenn es mich auf die Fresse haut und ich wieder mit nichts dastehe?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mich wütend an. Ich hatte sie nicht vor die Wahl stellen wollen zwischen mir und Davies, weil ich mir nicht sicher war, ob ich sie gewinnen würde. Möglich, dass sie nur deshalb an mir interessiert war, weil ich der Aufsteiger bei Davies war. Soweit ich wusste, hatte Davies unsere Beziehung eingefädelt – die nebeneinanderliegenden Büros, die Einteilung für dieselben Fälle. Sie arbeitete oft mit Davies zusammen, unter vier Augen, in seinem Büro. War der Gedanke so abwegig, dass er seine Vertraute in meiner Nähe platzierte, damit er mich besser unter Kontrolle hatte? Vielleicht. Aber angesichts von Davies’ Einfluss nicht völlig. Nein. Ich verscheuchte den Gedanken. Der Druck und die Angst gingen mir an die Nieren. »Entschuldige«, sagte ich. »Vergiss die Frage.«
»Das ist eine alberne Frage, Mike. Du weißt, dass ich zu dir stehe.«
Sie nahm mich in die Arme.
Die Frage war nicht deshalb dumm gewesen, weil die Wahrheit so naheliegend war, sondern weil ihre Antwort mir rein gar nichts sagte. Die Antwort war nicht stichhaltiger als meine, als Marcus und Davies mich gefragt hatten, ob ich bei der Vertuschung ihrer Geschichte mitspielen würde. Ihre Antwort konnte gar nicht anders lauten, egal, ob sie nun zu mir halten wollte oder nicht.
Ob wahr oder nicht, es war mir egal. Es fühlte sich einfach gut an, als sie es sagte.
Ich würde zur Polizei gehen, aber nicht weil ich das für den richtigen Schritt hielt. Tatsächlich war ich mir ziemlich sicher, dass mir das noch sehr viele Schmerzen bereiten würde. Ich war im Besitz von gefährlichen Informationen. Und vor Henry hatte kein Geheimnis lange Bestand. Aber eher ging ich auf ihn los, bevor ich darauf wartete, dass er sich auf mich stürzte.