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Nachdem ich die Stimme auf der Audiodatei als die von Malcolm Haskins identifiziert hatte, begannen sich viele Rätsel der vergangenen Wochen aufzulösen. Zum Beispiel das der mündlichen Verhandlung, die ich zufällig im Radio gehört hatte.
Dabei ging es um einen Fall am Obersten Gerichtshof, der sich mit Auslieferung und dem Alien Tort Statute befasste. Das ist ein Gesetz, das bis in die Gründerzeit des Landes zurückreicht. Es besagt im Kern, dass man unter bestimmten Bedingungen für Kriegsverbrechen, die irgendwo in der Welt verübt wurden, vor ein amerikanisches Gericht gestellt werden kann.
Sollte Rado, wie Rivera angedeutet hatte, solche Verbrechen begangen haben, dann musste er ein großes Interesse am Ausgang dieses Falles haben. Vielleicht bearbeitete ich Walker, damit er Schlupflöcher in das Gesetz über auswärtige Beziehungen einbaute, die gar nicht so harmlos waren: Vielleicht sollten sie Rado vor einem Gerichtsverfahren in den USA bewahren.
Wenn meine Bosse entdeckt hatten, dass sie einen Richter am Obersten Gerichtshof einsacken konnten, dann brauchten sie den Gesetzgeber nicht mehr. Das würde erklären, warum sie mich von dem Fall abgezogen hatten. Dass ich in einem untergeordneten Fall übte, wie man mit harten Bandagen kämpft, war okay, aber wenn man das höchste Gericht des Landes korrumpieren wollte, da ließ man den Frischling besser zu Hause.
Ich konnte es immer noch nicht richtig glauben. Den Obersten Gerichtshof manipulieren zu wollen kam mir einfach verrückt vor – aber so war mir alles andere, was geschehen war, seit ich Henry kannte, auch vorgekommen. Warum also nicht?
Seit dem Abend, als ich fast meine Küche abgefackelt hatte, wusste ich zumindest, dass ich ein bisschen Zeit hatte, bevor irgendetwas zwischen Irin und Haskins passierte. Henry hatte gesagt, er würde erst mal abwarten, bevor er sich Subjekt 23 vornehmen wolle – was genau er damit meinte, wusste ich nicht –, würde aber sofort aktiv werden, wenn Irin sich auf eigene Faust an den Richter heranmachte.
Ich hatte einen Kumpel, der vor ein paar Jahren am Obersten Gerichtshof Referendar gewesen war. Danach hatte er bei einem großen Unternehmen angeheuert und das Antrittshonorar von einer halben Million Dollar eingestrichen, die Standardsumme für Absolventen eines Referendariats am Obersten Gerichtshof. Nach einem Jahr war er wieder ausgestiegen, lebte seitdem von seinem Bonus und reiste viel.
Man wusste nie genau, wo in der Welt er sich gerade aufhielt, aber per E-Mail war er immer zu erreichen. Ich fragte ihn, wo Haskins lebe und ob er sich gerade in der Stadt aufhalte. Zwei Minuten später hatte ich die Antwort: »Er ist hundert pro nicht in DC. Der Bursche ist ein kleiner Thoreau. Nächste Woche stehen keine mündlichen Verhandlungen oder Konferenzen an. Hat sich garantiert in sein Häuschen in Fauquier County verdrückt und spielt da übers Wochenende den Einsiedler.«
Noch am gleichen Abend ging ich die Schlagzeilen der vergangenen Wochen auf irgendwelche öffentlichen Auftritte von Haskins durch und verglich das Ergebnis mit dem Protokoll des GPS an Irins Wagen. Tatsächlich war sie bei mindestens zwei Veranstaltungen gewesen, auf denen auch Haskins gewesen war – einem Fundraiser und einem Vortrag an der American University. Sie musste herausgefunden haben, dass Haskins entscheidend für das Schicksal ihres Vaters war, und nahm ihn jetzt selbst unter die Lupe. Vielleicht ließ sie schon ihren Zauber auf ihn wirken.
Am nächsten Tag rief ich Haskins’ Büro an. Ich sagte, ich sei von der Studentenzeitung der Georgetown University und fragte, ob er vor seiner Rede auf dem Campus etwas Zeit für ein Gespräch erübrigen könne.
»Tja, mein Junge«, sagte der Pressesprecher. »Leider ist er bis nächsten Freitag in Urlaub. Außerdem sehe ich auf meinem Plan nichts von einem Vortragstermin.«
»Oh Gott«, sagte ich. »Ich hab den Kalender vom letzten Jahr erwischt. Entschuldigung, mein Fehler, schönen Tag noch.« Wahrscheinlich hatte ich ein bisschen übertrieben bei meinem Versuch, wie ein junger Student zu klingen, aber ich hatte erfahren, was ich wollte. Haskins war nicht in der Stadt, mein Kumpel hatte recht gehabt.
Wenn ich den Tracker an Irins Wagen im Auge behielt, wusste ich sicher, ob sie von Haskins wegblieb, und wenn ja, dass ich genug Zeit hatte, mir zu überlegen, was ich unternehmen sollte. Ich fühlte mich jetzt bedeutend besser, und als ich ihre Twitter-Nachrichten überprüfte (sie war wie Marcus’ Frau, ein Online-Oversharer der sich im Internet exzessiv entblößte), wusste ich, dass ich sogar noch mehr Zeit hatte. »Und viel Spaß in Paris ;-)«, twitterte einer ihrer Freunde. Sehr gut. Je weiter weg von Haskins, desto besser.
Ich konnte also mit Annie ins Inn nach Little Washington fahren, den Kopf durchlüften und mir meine nächsten Schritte überlegen. Nie hatte ich eine Pause nötiger gehabt als jetzt.
Schließlich war der Samstag da. Ein herrlicher Frühlingstag. Annie und ich verließen DC auf der I-66, und schon bald erhoben sich vor uns die sanften Hänge der Shenandoah-Berge.
Etwas war allerdings komisch. Weil ich nicht widerstehen konnte, warf ich ab und zu einen Blick auf Irins Tracker und bemerkte, dass sich ihr Wagen, obwohl sie angeblich in Paris war, ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte. Vielleicht hatte sich ein Freund ihren Wagen ausgeliehen.
Noch komischer war, dass das kleine Fadenkreuz von Irins Tracker mir und Annie auf unserem Weg aufs Land zu folgen schien. Ich machte mir keine allzu großen Sorgen. Viele Menschen zieht es an schönen Wochenenden ins Grüne.
Gar nicht komisch war allerdings etwas anderes. Wir hatten im Inn eingecheckt, Annie flippte beim Anblick des von mir aufs Zimmer bestellten Champagners schier aus, und ich hatte gerade den kaum für möglich gehaltenen Prunk in unserem Bad in Augenschein genommen, als mir auffiel, dass das Fadenkreuz von der I-66 nach rechts abbog und sich nun in nördlicher Richtung ins Fauquier County bewegte, wo Haskins sein Landhaus hatte.
Schlagartig verging mir die Lust auf Champagner und Sechs-Gänge-Menüs, die ihresgleichen suchten. Ich zoomte näher ran und sah, dass Irins Tracker sich einer kleinen Stadt näherte, die etwa eine Stunde von uns entfernt lag: Paris, Virginia. Ich hatte noch nie davon gehört, aber einer der vielen schwarz gewandeten Hoteldiener und Portiers, die an jeder Ecke darauf lauerten, unseren Launen zu Diensten zu sein, klärte mich auf. Paris, Virginia, lag in Fauquier County und war wie unser Städtchen ein Rückzugsort für die Mächtigen Washingtons. Klang ganz so, als wäre es ideal für einen bedeutenden Richter am Obersten Gerichtshof.
Henry und Marcus hatten gesagt, sie würden Irin im Auge behalten. Nach allem, was ich unter Henrys Terrasse mitbekommen hatte, war klar, wenn Irin an diesem Abend Haskins und den Beweismitteln zu nahe käme, dann wäre ihr Leben und vielleicht auch seins in Gefahr. Nach Tucks und Marcus’ Warnungen musste ich aufpassen, dass Henry nicht mich zum Sündenbock machte, wenn die ganze Sache schiefgehen oder jemand verletzt werden sollte.
Lass die Finger davon, dachte ich. Ich versuchte mir einzureden, dass schon nichts passieren würde. Ich durfte meine Karriere nicht riskieren. Und wenn ich es mit Annie wieder vermasselte, dann könnte ich alles verlieren, was ich mir mit ihr aufgebaut hatte, einem Mädchen, das einem nur einmal im Leben über den Weg läuft – und auch nur, wenn man Glück hat. Es war, als beobachtete ich mich in einem Traum, ich konnte es selbst kaum glauben, als es passierte: Ich sagte zu Annie, dass ich noch mal wegmüsse und dass ich alles versuchen würde, bis zum Essen zurück zu sein.
»Das ist ein Scherz, oder?«
»Ich wünschte, es wär so.«
Wir drehten uns zwanzig Minuten lang im Kreis. Ich konnte selbst nicht glauben, dass ich mich mit ihr herumstritt, weil alles, was sie sagte – nicht zu fahren, mir keinen Ärger aufzuhalsen – vollkommen richtig war. Wie konnte ich alles aufgeben? Wie konnte ich aufs Spiel setzen, was ich mir so hart erarbeitet hatte?
Ich spürte, dass sie wieder misstrauisch wurde, dass sie wieder an neulich Abend dachte, an die Lügen, an Irins Foto.
»Wenn ich nicht wüsste, dass du nicht dumm genug bist, um dich derart dämlich anzustellen, dann würde ich glauben, du betrügst mich«, sagte sie. »Das ist immerhin beruhigend. Also … erzähl mir einfach, was los ist.«
»Du darfst niemandem davon erzählen.«
»Versprochen.«
»Schwöre.«
»Ich schwöre.«
»Es geht um einen Fall, der außer Kontrolle geraten ist. Ich muss wo hinfahren, um etwas zu verhindern. Ungefähr eine Stunde von hier. Ich muss verhindern, dass jemand verletzt wird. Oder Schlimmeres. Ich lüge dich nicht an, aber ich kann dir nicht alles erzählen. Es ist zu gefährlich, ich könnte mir nie verzeihen, wenn ich dich da mit rein ziehen würde. Es tut mir leid.«
»Okay«, sagte sie. »Ich komme mit.«
»Tut mir leid, Annie, aber das geht nicht.«
»Dann ruf die Polizei.«
»Das werde ich. Wenn es brenzlig für mich wird, dann rufe ich die Polizei. Versprochen.«
»Also, dann fahr. Ist okay, fahr.«
Ich wusste, dass ich nicht die Polizei rufen konnte. Ich hatte schließlich schon selbst miterlebt, wie ein paar Streifenpolizisten nach Henrys und Marcus’ Pfeife getanzt hatten. Was könnte ich denen schon sagen, ohne mich zum Volltrottel zu machen?
Nein. Es ging ausschließlich um Schadensbegrenzung: Ich musste irgendwie zu verhindern versuchen, dass Irin an Haskins herankam, ohne dass ich meinen eigenen Kopf dafür hinhalten musste.
Ich konnte nur hoffen, dass mir das gelang, ohne die ganze Sache noch schlimmer zu machen. Alles Mögliche konnte schiefgehen. Meine Bosse konnten hineingezogen werden, die Presse, die Justiz. Das Ausmaß der Katastrophen konnte ich mir gar nicht vorstellen.
Irins Wagen hatte auf halber Strecke zwischen Upperville und Paris angehalten. Das Fadenkreuz verharrte mitten auf der Straße. Als ich mich dem Punkt näherte, sah ich nichts: keine Autos, keine Häuser, nur Wald und ein Schlagloch, das fast so groß wie mein Jeep war. Vielleicht hatte es das GPS-Gerät von Irins Wagen gerissen. Oder ich fuhr wieder in einen Hinterhalt. Egal, ich raste weiter Richtung Paris.
Die Bezeichnung Stadt war etwas hoch gegriffen. Es handelte sich lediglich um ein gutes Dutzend Kolonialhäuser in einem flachen, auf die Blue Ridge Mountains zulaufenden Tal – was meine Chancen erhöhte, Irin und Haskins zu finden. Ich fuhr in der Stadt herum und suchte nach Irins Porsche. Ohne Erfolg. Nach einer halben Stunde hielt ich vor dem Red Barn Country Store. Ich war am Verhungern. Die Spezialität des Abends war eine Tasse bitterer Kaffee und ein Snickers. Nicht gerade das Inn. Ich wurde ein bisschen unleidlich, ärgerte mich über mich selbst und versuchte, meine Zweifel zu verscheuchen. Was zum Teufel wollte ich hier? Vielleicht war ich vor lauter Paranoia schon nicht mehr ganz richtig im Kopf.
Das Quietschen der langen Spiralfeder unterbrach meine Selbstvorwürfe, die Fliegengittertür schwang auf, fiel wieder zu, und Malcolm Haskins stand im Laden. Er trug eine bequeme Jeans und ein Sweatshirt mit der Aufschrift Yale Law. Ich beobachtete sein Spiegelbild in den Glastüren der Kühlschränke, während er seine Einkäufe erledigte: eine Schachtel Schrotpatronen, Müllsäcke und eine Klappsäge, die man zum Stutzen von Bäumen benutzte. Die Frühjahrsjagd auf Truthähne war eröffnet, möglich, dass er sich für ein traditionelles Wochenende auf dem Land eindeckte. Trotzdem wirkte seine Einkaufsliste alles andere als beruhigend auf mich.
Als er nach seiner Brieftasche griff, spannte sich an der Hüfte sein Sweatshirt. Im Hosenbund zeichneten sich die Umrisse eines Pistolenhalfters ab. Die Größe sah nach einer ziemlich schweren Waffe aus, Kaliber .40 vielleicht.
Schlechte Nachrichten.
Es war kein Problem, ihm zu folgen. Außerhalb des Ortes waren die Straßen schlecht beleuchtet und fast leer. Ich parkte gut hundert Meter von seinem Haus entfernt in einer Brandschneise, die von der Hauptstraße aus nicht zu sehen war. Keine Spur von Irin oder dem Porsche. Haskins’ Cottage lag auf einer Wiese am Fuß der Hügel.
Ich ging parallel zur Hauptstraße durch den lichten Wald hinter seinem Haus. Hin und wieder konnte ich hineinsehen und etwas von der Inneneinrichtung erkennen. Mich zwischen den Bäumen versteckt zu halten erschien mir die angemessene Vorgehensweise – bis ich einen weißen Porsche vor dem Haus vorfahren sah. Wenn ich auf der Straße gewesen wäre, hätte ich sie vielleicht irgendwie erschrecken oder – scheiß auf die Folgen – mich zu erkennen geben und sie warnen können.
Ich lief auf das Haus zu, aber es war schon zu spät. Irin öffnete die Haustür und war verschwunden.
Ins Haus zu stürmen und »Vorsicht, Falle« zu rufen erschien mir, nun ja, ein wenig unbesonnen. Ich könnte Haskins mit ruhiger Stimme erklären, dass ich ihn verfolgte, aber nur weil meine lieben Kollegen versuchten, ihn zu erpressen, das höchste Gericht Amerikas zu korrumpieren und ihn möglicherweise zu töten. Ich täte ihm also einen Gefallen, ehrlich. Das käme wahrscheinlich mächtig gut an. Und dann müsste ich nur noch mit den Konsequenzen des Verrats an meinen Bossen und damit fertigwerden, was sie sich alles für Haskins ausgedacht hatten. Leichte Übung.
Nein. Ich würde meinen Arsch nicht riskieren. Es musste einen anderen Weg geben. Wenn ich bloß die Party sprengen könnte, bevor meine Bosse herausfanden, was hier vor sich ging. Sie hatten Irin im Auge behalten wollen, aber ich konnte nirgendwo jemanden entdecken. Trotzdem hatte ich den Verdacht, dass Marcus in der Nähe war.
Wenn Irin ihre Verführungsnummer abzog, rechnete ich mir aus, dann müssten sie und Haskins ziemlich nervös und leicht zu erschrecken sein. Ich klaubte also eine Handvoll Kiesel vom Boden auf und warf einen auf das Haus. Er prallte von den Schindeln der zweistöckigen Blockhütte ab. Der nächste traf klirrend ein Fenster. Ich wartete auf eine Reaktion, aber es ging kein Licht im Erdgeschoss an, und von den Außenscheinwerfern leuchtete auch keiner auf.
Nun, ich hatte meine Schuldigkeit getan. Ich konnte mir sagen, dass ich es zumindest versucht hatte. Warum also mein Abendessen sausen lassen? Für das, was passieren konnte, war schließlich nicht ich verantwortlich. Was konnte ich noch tun? In die Hütte reinmarschieren und mich als kleines Rädchen in Henrys Verschwörung outen? Nein. Ich hatte nur noch eine Option: abhauen und den Dingen ihren Lauf lassen.
Wir machen alle Kompromisse, um ans Ziel unserer Wünsche zu kommen. Shenandoah-Kalbfleisch, beheizte Badezimmerfliesen, eine Freundin, die aussah, als hätte ich sie in einem edlen Modekatalog bestellt – wollte ich mir mein glückliches kleines Leben vermasseln, weil ich versuchte, das Richtige zu tun?
Keine Chance. Ich war kein Held, ich wollte mich einfach um meinen eigenen Kram kümmern und …
Halt. Was machte ich jetzt? Ich kann mich nicht mal dran erinnern, eine Entscheidung getroffen zu haben. Im Gegenteil, ich glaubte, mich dagegen entschieden zu haben, das Haus zu betreten. Aber ich hatte mich bereits in Bewegung gesetzt. Im Geist schlug ich mir mit der Faust gegen die Stirn. Scheiße. Die Zweige schlugen mir gegen die Beine, als ich mich dem Haus näherte.
Offensichtlich war ich doch ein anständigerer Bursche, als ich dachte, und wollte wie der verdammte Sheriff in die Stadt einreiten, obwohl ich glaubte, meine Seele an Davies verpfändet zu haben. Wie auch immer, jedenfalls würden mich meine guten Absichten den Kopf kosten, und darüber war ich alles andere als glücklich.
Aber es war noch nicht alles verloren. Ich klopfte an die Hintertür, dreimal, dann wieder dreimal, diesmal lauter. Wir nannten das Klingelputzen als Kinder. Man klingelte und machte sich dann aus dem Staub.
Ich verließ schnell die Veranda. Keine Reaktion. Dann hörte ich über mir, wie Haskins Irin anschnauzte. Ich schaute nach oben. Haskins stand an einem Fenster im ersten Stock und schaute hinaus, konnte mich von da aber nicht sehen. Er hielt eine Schrotflinte in der Hand, er schien nervös zu sein. Irin befand sich in höchster Gefahr. Die schlimmsten Befürchtungen, die ich während Marcus’ und Henrys Unterhaltung gehabt hatte, bestätigten sich nun.
Ich hätte durch eins der Fenster an der Rückseite des Hauses ins Innere gelangen können. So verlockend das auch ist, das Problem für den Einbrecher sind die Scheiben. Während man sich durch die Öffnung quetscht, schlitzt man sich vor lauter Nervosität unweigerlich den Arm oder das Bein auf.
Hinter einem Stapel Feuerholz schaute der Griff einer Axt hervor. Damit müsste es gehen. Der leichteste Weg hinein ist nicht, die Tür einzuschlagen – das dauert mindestens fünf Minuten, wenn man nicht die passende Brechstange zur Hand hat. Man knackt das Schloss.
Ich versuchte, an nichts anderes zu denken als an die technischen Details für einen sauberen Einbruch, um zu verdrängen, wie hirnverbrannt meine Unternehmung eigentlich war, und daran, was auf meine unausweichliche Bloßstellung als Einbrecher folgen würde.
Ich klemmte die Schneide hinter das Gehäuse des Türschlosses, schlug zweimal mit dem Handballen darauf, dann saß sie fest. Ich umfasste den Griff mit beiden Händen, drehte einmal ruckartig, und der Zylinder segelte in den Matsch vor der Veranda. Dann brauchte ich nur noch hineinzugreifen und den Riegel zurückzuziehen.
Ich war schnell gewesen, vom ersten Handballenschlag bis zu meinem Eindringen vergingen etwa zehn Sekunden. Vielleicht konnte ich ihn überraschen, vielleicht konnte ich ihn noch zur Vernunft bringen. Pech gehabt. Seine Bockdoppelflinte war genau auf meinen Kopf gerichtet.
Irin saß auf der Couch und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Mit verheulten Augen blinzelte sie durch ihre Fingerspitzen. Haskins stand auf dem Holzboden, die Flinte weiterhin auf mich gerichtet, und machte den Eindruck, als wüsste er genau, was er tat.
Er hielt mir den Lauf unter das Kinn und tastete mich nach Waffen ab.
»Ich will Ihnen helfen«, sagte ich. »Tun Sie es nicht. Das ist ein abgekartetes Spiel, Irin hat nichts damit zu tun. Sie wissen alles. Sie kommen. Sie werden das gegen Sie verwenden.«
»Was wissen Sie schon?«
Er trat einen Schritt zurück. Die beiden Läufe behielten mich im Visier.
»Sie arbeitet nicht für Henry Davies. Sie ist nur ein dummes Mädchen, das seinem Vater helfen will. Wenn Sie ihr was antun, dann sind Sie geliefert. Sie spielen denen genau in die Hände. Wahrscheinlich sind sie schon auf dem Weg hierher. Tun Sie es nicht. Die werden Sie damit erpressen.«
»Wer sind Sie?«, fragte er. Ich sah, dass seine Knöchel weiß wurden, dass seine Hände den Kolben der Flinte fester umschlossen.
»Ich habe herausgefunden, was passiert ist, dass die versuchen, Sie in eine Falle zu locken. Ich will Ihnen helfen.«
»Arbeiten Sie für Davies?«
»Die haben mich nicht geschickt. Ich versuche nur zu verhindern, dass irgendwer verletzt wird.«
Ich versuchte einen Richter des Obersten Gerichtshofs mit meinem kindischen Geplapper dazu zu bringen, seine Beretta herunterzunehmen. Die ganze Situation war derart surreal, dass ich selbst nicht ganz glauben konnte, was sich hier gerade abspielte. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich vor Angst erstarrt.
»Das heißt also Ja«, sagte er. Dann fing er an, resigniert zu kichern und den Kopf zu schütteln. »Es ist zu spät«, sagte er. »Es bleibt keine Zeit mehr.«
Er setzte sich auf die Couch. Das Gewehr war immer noch auf mich gerichtet. Ich hatte das Gefühl, dass Haskins schon abgeschlossen hatte.
»Setzen Sie sich«, sagte er und deutete mit dem Gewehr auf einen Schaukelstuhl.
Ich setzte mich. Für jemanden, der so gut bewaffnet und wahrscheinlich paranoid war, machte er einen ziemlich gelassenen Eindruck.
»Wie heißen Sie?«
»Michael Ford.«
»Und Sie sind wirklich hier, weil Sie in letzter Minute eine Sauerei verhindern wollen?«
»Ja«, sagte ich. »Es ist noch nicht zu spät.«
Er lachte wieder. Es klang nicht verrückt. Es klang, als hätte man ihm gerade einen tollen Witz erzählt.
»Nun, Sir Galahad, das ist sehr nobel von Ihnen. Aber Sie haben sich gerade ohne jeden Grund kopfüber in eine äußerst prekäre Lage gestürzt. Ich glaube, diese Geschichte wird für keinen von uns ein gutes Ende nehmen.«
Vielleicht war er deshalb so gelassen, weil er schon beschlossen hatte, uns alle umzubringen.
»Tun Sie es nicht.«
»Tun Sie mir um Himmels willen einen Gefallen«, sagte er. »Lassen Sie diesen Spruch. Sie haben anscheinend wirklich keinen Schimmer, worum es hier geht, oder?«
Da war was dran.
»Wenn ich es ihm erzähle, glaubt er mir ohnehin nicht«, sagte er zu Irin. »Sagen Sie es ihm.«
»Sie brauchen ihn nicht aufzuhalten, Mike«, sagte sie, wobei ihr Blick auf den Boden gerichtet war. »Er wollte mir nichts antun.«
Ich schaute wieder zu Haskins.
»So etwas könnte ich nicht. Ich habe eine Tochter«, sagte er. »Was hat Davies Ihnen erzählt? Dass ich ein Psychopath bin, der mit allen Mitteln seine schmutzigen Geheimnisse wahren will? Dass ich das Mädchen umbringe, wenn sie mir zu nahe kommt? Unsinn.« Er schüttelte den Kopf. »Die wollen mich heute Abend ausschalten, richtig?«
»Die haben das Mädchen beschattet«, sagte ich. »Sie haben gesagt, wenn sie Ihnen oder den Beweismitteln zu nahe kommt, dann sind Sie fällig.«
»Dann gibt es keinen Zweifel mehr, dass sie hinter mir her sind. Es geht nicht um Material, das mich belastet – sondern Henry. Das wollen sie zurück. Und es ein für alle Mal verschwinden lassen. Ich habe dieses Material. Die wollen mich nicht erpressen. Sie haben es mit allerlei Verführungskünsten und mit jedem Druckmittel versucht und sind gescheitert. Sie werden mich töten. Das Mädchen weiß inzwischen auch zu viel, schätze, auch sie werden sie töten.«
»Und Sie werden ihr sicher nichts antun?«, fragte ich.
Haskins stöhnte genervt auf. »Wie ich schon gesagt habe, nein.«
»Dann haben Sie nur versucht, sich selbst zu schützen?«
»Ja.«
»Und ich habe nur versucht, das Richtige zu tun?«
»Kann sein, auf eine vollkommen fehlgeleitete Art. Wenn Sie wirklich in Davies’ Auftrag gekommen wären, dann würden Sie hier nicht unbewaffnet mit mir plaudern, dann wären Sie entsprechend ausgerüstet, um mich töten zu können.«
»Dann verstehe ich eins nicht. Warum hauen wir nicht einfach ab? Warum muss die Geschichte schlecht ausgehen?«
»Weil es zu spät ist«, sagte Haskins und schaute aus dem Fenster ins Zweilicht.
Er trat näher an mich heran und fragte mit leiser Stimme: »Wie lange kennen Sie Henry Davies schon?«
»Ein knappes Jahr«, sagte ich.
»Ich kenne ihn seit Jahrzehnten, seit dem College. Wir waren Zimmergenossen im ersten Studienjahr. Könnte mir vorstellen, Sie sind auch in den Genuss seines Vortrags darüber gekommen, dass jeder Mensch korrumpierbar ist.«
»Ja«, sagte ich. Ich hatte zwar die leicht abgewandelte Version gehört – wenn man die passenden Hebel findet, kann man jeden Menschen unter Kontrolle bringen –, aber inzwischen konnte ich mir nicht mehr vormachen, dass es einen Unterschied zwischen Kontrolle und Korruption gab.
»Er hat seine ganze Welt auf diesem Glaubenssatz aufgebaut«, sagte Haskins. »Geld gleich Macht. Das Tragische daran ist, dass er recht hat. Ich beobachte ihn seit Jahren. Langsam, aber sicher hat er sie alle einkassiert: Mitglieder des Senats wie des Repräsentantenhauses, sogar Präsidenten hatte er schon im Sack. Er ist eine Art Sammler. Einen nach dem anderen. Er hat bewiesen, dass er jede einflussreiche Person im Kapitol kaufen oder manipulieren kann. Er hatte sie fast alle.«
»Außer Sie, richtig? Sie hat er nie bekommen. Sie haben ihn Lügen gestraft.«
»Das spielt keine Rolle. Jeder Mensch hat seinen Preis. Jeder Mensch kann korrumpiert werden. Das sind die Regeln in Henry Davies’ Welt. Ein nicht korrumpierbarer Mensch existiert nicht. Und wenn einer auftaucht, tja, dann muss man ihn eben aus dem Spiel nehmen.«
Haskins stand auf und machte das Licht aus. Einen Augenblick war es stockdunkel, dann begann ich langsam die grauen Umrisse des Raums zu erkennen.
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.
Er nahm die Schrotflinte wieder in die Hand und schaute aus dem Fenster.
»Mein Fehler war, dass ich ihn mit dem Gesetz stoppen wollte«, sagte er. »Mit der Institution, der ich mein Leben gewidmet habe. Auf die rechtschaffene Art. Es hat nicht gereicht, und jetzt ist es zu spät. Er verliert nie. Hat er Ihnen das auch erzählt?«
»Ja. Aber heute Abend hat er verloren. Es ist doch alles okay, hauen wir einfach ab.«
»Nein. Sie hatten gehofft, dass ich sie zu den Beweisen führe. Ich weiß jetzt zu viel. Sie haben nur noch eine Option. Sie konnten mich nicht kaufen, also bringen sie mich um. Davies’ Gesetz.«
»Das ist verrückt«, sagte ich. Aber inzwischen waren die Geräusche nicht mehr zu überhören: Eine oder mehrere Personen näherten sich dem Haus.
»Ich hab auch mal gedacht, dass ich mich einfach aus dem Staub machen könnte. Aber die Geschichte geht über das in Washington übliche knallharte Geben und Nehmen hinaus, Michael. Es geht nicht mehr nur um Verführung und Erpressung. Es geht um Mord. Und das nicht zum ersten Mal.«
»Henry hat schon früher Menschen umgebracht?«
»Ja. Und er hat Morde in Auftrag gegeben. Er bevorzugt die Methode, die aussieht wie der stille Abgang eines überforderten Angestellten. Schlaganfall, Herzinfarkt, nichts Verdächtiges.«
Haskins ging zum Fenster und lugte nach draußen. Dann zog er einen Revolver aus dem Gürtel und überprüfte das Magazin. »Ich trete nicht still und heimlich ab. Ich werde es ihm so schwer wie möglich machen, die ganze Geschichte zu vertuschen.«
Ich schaltete mein Handy ein, bekam aber kein Netz. »Können wir die Polizei verständigen?«
»Die Leitung ist tot. Wahrscheinlich gekappt. Ich hab’s Ihnen gesagt, es ist zu spät. Meine Zeit ist abgelaufen.«
»Zu spät wofür? Wovon reden Sie?«
»Henry ist nicht nur hinter mir her, weil ich Richter am Obersten Gerichtshof bin. Ich kenne ihn seit Jahren, ich habe ihm immer misstraut. Ich habe nach und nach herausgefunden, wie sein Imperium aufgebaut ist, wie er die Fünfhundert anzapft. Ich hatte geglaubt, ihn mit dem Gesetz festnageln zu können. Aber wie Sie wahrscheinlich wissen, gehört ihm das Gesetz. Es wäre besser gewesen, ich hätte meine Beweise weitergegeben.«
Er beugte sich wieder vor und schaute aus dem Fenster. »Ich hatte geglaubt, dass ich mehr Zeit hätte. Aber jetzt wissen wir alle zu viel. Das ist ein gottverdammtes Chaos. Und Henry hasst Chaos.«
Knarzende Bohlen. Jemand ging über die Vorderveranda. Haskins führte uns zur Hintertür.
»Welche Beweise?«, fragte ich.
»Niemand lernt sein Geschäft, ohne Fehler zu machen. Soweit ich weiß, hat Henry nur einen einzigen gemacht, vor sehr langer Zeit. Angefangen hat er als Wahlkampfhelfer, in den Sechzigern. Schmutzige Tricks, Rufmordkampagnen, so was. Watergate war dagegen ein Pfadfinderstreich. Ein investigativer Journalist, Hal Pearson, hat ihm ein bisschen auf die Finger gehauen. Henry hat ihn getötet. Ich weiß, dass die Beweise dafür noch existieren. Ich hätte jemanden einweihen sollen, wo man die Beweise finden kann. Als Rückversicherung. Aber jetzt ist es zu spät.«
»Warum erzählen Sie es jetzt mir?«
»Die wissen nur, dass Irin und ich im Haus sind. Nicht, dass Sie hier sind«, sagte er, nahm ein Notizbuch von einem Couchtisch, schrieb etwas auf, riss die Seite heraus und gab sie mir. »Da finden Sie die Beweise.«
Einige Sekunden lang waren die einzigen Geräusche unser schneller gehender Atem und das Knarzen auf der Veranda. Ich sah eine Gestalt durch den Garten huschen. Henrys Leute. Gott sei Dank stand mein Jeep in der Brandschneise.
Haskins musterte mich. »Denken Sie über einen Deal nach?«, sagte er.
Der Gedanke war mir schon durch den Kopf gegangen. Wenn das alles stimmte, was Haskins erzählte, dann hatte ich mit dem Stück Papier ein sehr wirkungsvolles Druckmittel in der Hand. Wenn Henrys Leute mich schnappten und tatsächlich darauf aus waren, mich zu töten, konnte ich mit dem Schlüssel für die Beweise, den Haskins mir gerade ausgehändigt hatte, meinen eigenen Arsch retten.
»Nein«, sagte ich. »Aber warum vertrauen Sie gerade mir diese Information an?«
»Denken Sie drüber nach«, sagte Haskins und ging dann auf die Treppe zu. »Das ist das Einzige auf der Welt, wovor Henry Davies Angst hat. Der Beweis für seinen einzigen Fehler. Er wird vor nichts zurückschrecken, um ihn in die Finger zu bekommen. Er ist sehr wertvoll, und ob. Aber glauben Sie wirklich, er lässt den, der darüber Bescheid weiß, einfach so laufen, damit er sich eines langen und glücklichen Lebens erfreut?« Haskins lachte.
Ich hatte keine Ahnung. Das war alles zu viel für mich.
»Sie werden sehen. Ich tue Ihnen keinen Gefallen, Michael. Was ich Ihnen gerade erzählt habe, bedeutet für jeden, der davon weiß, das Todesurteil. Es ist das einzige Druckmittel, das es gegen Henry Davies gibt. Und Henry wird nicht zulassen, dass ihn jemand in der Hand hat. Er wird niemanden, der davon weiß, mit dem Leben davonkommen lassen. Deshalb habe ich es für mich behalten. Ob Sie mir glauben oder nicht, es spielt keine Rolle. Das werden Sie noch früh genug erfahren.«
»Also, was soll ich es jetzt tun?«
»Untertauchen. Überleben. Wenn Sie lebend hier rauskommen, haben Sie nur eine Wahl: Besorgen Sie sich die Beweise und machen Sie Henry Davies fertig. Wenn er nämlich herausfindet, dass Sie sie haben – und bei Gott, irgendwie findet er alles heraus –, dann ist die Sache einfach. Entweder müssen Sie oder er dran glauben.«
Er trug etwas dick auf mit diesem Herr-der-Ringe-Scheiß, aber angesichts der schwarzen Schatten, die ums Haus herumschlichen, konnte ich keine großen Debatten mit ihm führen.
Er sagte Irin und mir, dass wir uns verstecken sollten. Ich weigerte mich. Wenn sie tatsächlich ins Haus eindrangen, dann wollte ich ihm helfen.
»Kommt nicht infrage«, sagte er. »Sie wissen nicht, dass Sie hier sind. Das ist unsere einzige Chance. Sie müssen sich versteckt halten und dann verschwinden. Los, nach oben, oder ich erschieße Sie selbst.«
Er schob Irin, die unter Schock zu stehen schien, in ein Zimmer im ersten Stock. Bevor er die Tür schloss, schaute sie sich um.
»Ich habe Angst, Mike«, sagte sie.
»Es wird alles gut. Keinen Muckser, okay?«
Haskins ging wieder nach unten. Ich suchte nach einer Möglichkeit, wie ich aus dem ersten Stock fliehen könnte. Ich versuchte ein paarmal, aus einem Fenster zu schauen, aber immer wieder strich aus dem Garten ein weißer Lichtstrahl über die Scheibe. Ich saß in der Falle. Wahrscheinlich sicherten sie die Rückseite, um von vorn ins Haus einzudringen. Saubere Arbeit.
Was passierte dann? Scheiße, wenn ich das wüsste. Während sie das Haus umzingelten, tat ich das, was mir der Bursche mit der Flinte gesagt hatte (was immer ein guter Rat ist) und zog den Kopf ein. Ich saß im Schlafzimmer im ersten Stock, schwitzte mir den Arsch ab und dachte darüber nach, wie ich da wieder herauskäme. Ich hörte, wie sich jemand weit weniger sanft an der Vordertür zu schaffen machte als ich vorhin an der Hintertür. Dann hörte ich, wie jemand Befehle brüllte. Ich war mir nicht sicher, aber das hörte sich verdammt nach Marcus an. Dann dröhnte der Schuss einer Schrotflinte durchs Haus, dann hörte ich Schreie.
Jemand tobte sich da unten aus. Kurz herrschte Stille, und was ich dann hörte, ließ mich erstarren: zwei laute Schüsse, von einer Handfeuerwaffe oder einem Gewehr, kurz hintereinander, dann ein dritter Schuss. Standardausbildung beim Militär: Körper, Körper, dann Kopf. Das eindeutige Merkmal eines guten Scharfschützen, der einen Feind liquidiert.
Ich hörte Schritte auf der Treppe, dann das Quietschen einer sich öffnenden Tür am Ende des Gangs. Das alte, knarrende Haus konnte kein Geheimnis für sich behalten. Sie suchten nach weiteren Personen. Ich versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, konnte meinen Kopf aber gerade noch rechtzeitig zurückziehen, bevor der tastende Lichtstrahl wieder über die Scheibe glitt.
Ich konnte es kaum ertragen, untätig dazusitzen, aber wenn sie bis jetzt noch nicht wussten, dass ich im Haus war, standen die Chancen nicht schlecht, dass ich unentdeckt davonkam.
Die Schritte kamen näher. Ich hörte, wie die nächste Tür geöffnet wurde. Ich musste mich zwingen, mich nicht vom Fleck zu rühren.
Irin schaffte das offenbar nicht. Ich hörte, wie jemand loslief, hörte Gepolter. Wahrscheinlich war Irin ausgerastet und versuchte zu fliehen.
Dann hörte ich wieder Schüsse: einen, zwei … drei.
Im schwachen Schein meines Handy-Displays untersuchte ich den geräumigen Wandschrank des Zimmers. Wenn ich schon exekutiert werden sollte, dann nicht zwischen alten Fotoalben und Mottenkugeln kauernd. Diese Option kam nicht infrage. An der Decke entdeckte ich die Umrisse eines kleinen Quadrats, den Zugang zum Dachboden, gerade groß genug, um mich mit den Schultern hindurchzwängen zu können. Vielleicht schaffte ich es bis aufs Dach und konnte so den Aufpassern hinter dem Haus entkommen.
Ich zog die Schranktür zu, hievte mich aufs oberste Regalbrett und zwängte mich durch die Luke. Die Dachkammer hatte keinen Boden, sie bestand nur aus Gerüstbalken und rosa Glaswolle auf den Rigipsplatten, die die Decken der Räume darunter bildeten. Die Balken ächzten bei jeder meiner Bewegungen.
Ich setzte die quadratische Holzplatte wieder in die Deckenluke des Wandschranks. Auf den Balken und der Glaswolle lagen einige dicke Bretter, auf denen man sich unter dem Dach bewegen konnte. Ich klemmte ein Brett zwischen die Platte auf der Luke und einen Dachbalken, eine behelfsmäßige Version des Panzerriegels, den jeder Dieb fürchtet: Das ist eine an der Innenseite der Tür im Boden verankerte Metallstange. Dadurch wird ein Eindringen fast unmöglich. Wenn Einbrecher die verräterischen Bolzen in der Mitte einer Eisentür sehen, ziehen sie gleich wieder ab.
Ich konnte hören, dass die Männer jetzt in dem Zimmer waren, aus dem ich gerade geflüchtet war. Sie riefen den Aufpassern im Garten etwas zu. Sie mussten gewusst haben, dass ich im Haus war. Ich suchte nach einem Fluchtweg: irgendeiner Öffnung im Dach, durch die ich ins Freie gelangen konnte. Ich sah nichts, was einen größeren Durchmesser gehabt hätte als ein Rohr. Verdammt, es war heiß hier oben.
Eine Faust hämmerte gegen die Deckenluke. Ich trat auf einem der Balken vorsichtig ein paar Schritte zurück. Das Balancieren auf Dachbalken hatte ich auf die harte Tour gelernt. In einer von Murphys Gesetz geprägten Nacht waren Luis und ich in ein Haus in Falls Church eingebrochen. Wir waren bis unters Dach vorgedrungen, wo Luis neben einen Balken trat. Sein linkes Bein schoss durch die Glaswolle, mit dem rechten blieb er an dem Dachbalken hängen und riss sich ein Band in der Leiste.
Unter meinen Füßen spannte sich der Balken, zerrte an seinen Nägeln und gab ein nicht zu überhörendes Knarzen von sich. Fast gleichzeitig zerrissen zwei Schüsse die Luft, und zwei schmale Lichtstrahlen bohrten sich etwa zwei Meter neben mir durch die Decke. Der aufwirbelnde Staub ließ die Strahlen wie zwei massive Stäbe aussehen.
Die Männer schlugen jetzt von unten gegen die Platte in der Luke. Ich hörte, wie das Holz splitterte und allmählich nachgab. Ich bewegte mich weiter weg.
Zwei weitere Schüsse, und zwei weitere Lichtstrahlen bohrten sich durch die Decke. Jetzt schon näher. Jedes Mal, wenn ich mich bewegte, konnten sie meinen Standort besser einschätzen. Ich wartete jede Sekunde darauf, dass die Holzplatte endgültig nachgab. Dann fiel das Brett, mit dem ich sie gesichert hatte, durch das Loch nach unten. Mein Plan war, wenn man das überhaupt so nennen konnte, so lange wie möglich zu warten und so viele Verfolger wie möglich in die Dachkammer klettern zu lassen, bevor ich meinen nächsten Zug tat.
Der Erste steckte seine Hände durch die Öffnung.
Ich wartete.
Als der Kopf auftauchte, folgte ich dem Beispiel meines alten Komplizen Luis und sprang von dem Balken in Richtung der Vorderseite des Hauses, wo sich der über beide Stockwerke erstreckende Eingangsbreich befand, und betete, dass ich nur auf Glaswolle und Rigips treffen würde.
Ich erinnere mich an das schwerelose Gefühl im Magen, als ich fiel. Alles ging glatt, bis sich mein Kinn an dem Rigips oder irgendwelchen Drähten verfing und ich eine Rückwärtsdrehung machte. Trotzdem hatte ich noch genügend Schwung nach vorn, prallte mit der Hüfte über der Eingangstür gegen die Wand und krachte dann seitlich, mit der Schulter und dem Kopf, auf den massiven Holzfußboden.
Mit brummendem Schädel stand ich auf, machte einen torkelnden Schritt vorwärts und streckte mich. Falls im Erdgeschoss noch jemand am Leben war, so sah ich ihn jedenfalls nicht. Irin lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf der Treppe. Sie hatte Einschusslöcher im Oberkörper und in einer Augenhöhle. Haskins lag mit Schusswunden in Brust und Stirn auf dem Wohnzimmerboden. Einen toten Menschen hatte ich bislang nur im Bestattungsinstitut gesehen, sauber hergerichtet, mit auf der Brust gefalteten Händen. Ich konnte von Glück sagen, dass ich von meinem Sturz noch benommen war. Wahrscheinlich erschien mir die Szene deshalb so unwirklich, so gestellt, wie in der Geisterbahn.
Die Killer kamen wieder die Treppe herunter. Ich stürzte aus dem Haus, riss auf der Veranda das Sternenbanner von der Stange und klemmte Sie unter den Türgriff. Das verschaffte mir etwas Luft. Draußen war niemand. Waren wahrscheinlich alle im Haus. Ich rannte los. Erst jetzt, nach etwa zwanzig Metern, schien der Schock langsam nachzulassen. Und erst jetzt merkte ich, dass ich hinkte und mein Hosenbein aufgerissen war. Ein etwa ein Zentimeter breiter Splitter einer weißen Holzleiste war tief in meinen Oberschenkel eingedrungen.
Selbst wenn die Fahnenstange eine Zeit lang hielt und mir einen Vorsprung verschaffte: Mit dieser Verletzung würden sie mich schnappen, bevor ich den Wagen erreichte. Am Straßenrand vor dem Haus stand eine einzelne Laterne, etwa zehn Meter in entgegengesetzter Richtung von der Stelle, wo mein Wagen parkte. Ich rannte zu der Laterne, riss das Loch in meiner Hose weiter auf und bog ganz vorsichtig den Holzsplitter zur Seite. Ich hielt die Hand unter die Wunde und ließ so viel Blut hineinlaufen, bis ich mir sicher war, dass Marcus das unmöglich übersehen konnte. Ich verspritzte das schimmernde Blut auf dem Boden und lief dann in der entgegengesetzten Richtung zu meinem Jeep.
Mit ausgeschalteten Scheinwerfern durch die Brandschneise zu holpern war zweifellos eine interessante Erfahrung, aber sie brachte mich zurück auf die Nebenstraße, die von Paris wegführte. Die kleine Notambulanz in Front Royal kümmerte sich mit acht Stichen um mein verletztes Bein, und statt Shenandoah-Kalb gab es ein Hähnchen-Sandwich auf dem Subway-Parkplatz. Dann faltete ich die gelbe Seite aus Haskins’ Notizbuch auseinander: mein Todesurteil und meine einzige Hoffnung.