Archiv der Lux Aeterna
VERZEICHNIS ATHOS
INTERVIEW 1979 - 3/5
Historisches Dokument Nr. 4217.463
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Björn Randow: Sie näherten sich als jenem Ort, auf den das Gerät hinwies?
Athos: Heute weiß ich, daß es geographisch nur eine geringe Annäherung war. Der Ort befand sich südlich von Berlin, wir marschierten nach Südosten. Am Ende war ich zu weit östlich.
Björn Randow: Was geschah dann...?
Athos: Ich möchte es abkürzen, da allein die Schilderung der Ereignisse, die sich während meiner Flucht ereigneten, wie auch meine dramatische Überquerung der Grenze nach Böhmen, sehr viel Zeit beanspruchen würden - doch mit unserer Geschichte nichts zu tun haben. Immerhin war ich in Böhmen nicht mehr der Gefahr ausgesetzt von der preußischen Armee als Deserteur erwischt zu werden. Stattdessen bestand eine - nicht zu geringe - Wahrscheinlichkeit, von der Königlich-Kaiserlichen Armee Österreichs als Spion aufgegriffen zu werden, was zum selben Resultat geführt hätte. Es war meinem gewissen Talent für Sprachen und Verstellung zu verdanken, daß ich einigen brenzligen Situationen entkam. Ich eignete mir sehr schnell die Kunstgriffe des Grafen Saint-Germain an und gab mich für einen italienischen Lebemann und Künstler aus. In Böhmen gab es kaum jemanden, der das angezweifelt hätte, da es seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten alle möglichen abgebrannten Denker, Dichter und Libertins anzog... Warum starren Sie mich so seltsam an?
Björn Randow: Es... Es tut mir leid, aber ich habe das Gefühl Baron Münchhausen zuzuhören.
Athos: Vielleicht liegt das an meiner Diktion. Deswegen versuche ich diesen ganzen Mantel-und-Degen-Teil der Geschichte knapp zu halten. Fassen wir uns also kurz... Es gehörte nicht viel dazu, herauszufinden, daß sich das Ziel in Prag befand.
Björn Randow: Prag...
Athos: Ja, sage ich doch. Prag... Ich quartierte mich dort unter einem falschen Namen ein und war zwischenzeitlich sogar im Besitz eines Geleitbriefs, den man in Böhmen germanisiert als einen „Glejt“ bezeichnete. Nach Saint-Germains Berechnung hatte ich noch mindestens zwei Monate Zeit, den genauen Ort herauszufinden. Da ich jedoch wußte, daß die Berechnungen nicht auf den Tag präzise waren, konnte ich es auch nicht riskieren, zu spät zu kommen, sondern mußte Tage, wenn nicht Wochen früher vor Ort sein, falls die Berechnung des Grafen sehr ungenau war. Was mich vor das Problem stellte, mich um Vorräte oder Nahrungsmittel zu kümmern. Ich nutzte die Zeit, um erst mal den rätselhaften Ort zu finden, auf den sich der Signalgeber bezog. Sie werden sich kaum vorstellen können, wie mein Herz schlug, als ich das Gerät einschaltete und es laut war als nie zuvor. Und es spielte keine Rolle, in welche Richtung ich mich begab, es wurde nicht mehr lauter, nur leiser. Ich war dort.
Björn Randow: Was war es denn?
Athos: Der geheimnisvolle Ort sah nicht sehr geheimnisvoll aus. Es war ein Haus in der Brückenstraße 45 auf der Kleinen Seite, also auf der Westseite der Moldau. Über dem Eingang war in die Fassade ein schönes Hauszeichen gehauen. Drei miteinander verbundene Ringe. Sie können es dort heute noch sehen. In Prag hat fast jedes alte Haus ein eigenes Zeichen. Dann gab es aber noch einen kleinen Glücksfall für mich. Der Hauswirt hatte dort ein Zimmer zu vermieten! Im 18. Jahrhundert war es nicht ungewöhnlich, auf der kleinen Seite zu wohnen. Das war nicht so wie heute. Heute haben sich dort überall Consulting Agenturen einquartiert und der Quadratmeterpreis ist astronomisch... Ich zog ein und unternahm nachts meine ersten Erkundungen. Leider hatte ich auch ein Problem, das bis heute vielen bekannt ist: ich hatte kein Geld mehr. Aber so gar nichts. [lacht] Ich begriff, dass ich mir einen Partner oder einen Förderer suchen musste, wenn ich rechtzeitig am Ziel sein wollte...
Björn Randow: Wie geht man so etwas an? Sie waren ein Fremder in der Stadt...
Athos: Um auch dieses mühsame Detail abzukürzen, sei nur soviel gesagt, daß ich meine Geschichte etwas abwandelte und das Ganze als eine Schatzsuche ausgab. Obwohl es in Wirklichkeit keinen Anlaß gab, hierbei auf Gold und Diamanten zu hoffen. Immerhin erfuhr ich bald, daß sich zu dieser Zeit ein Gelehrter in der Stadt befand, der sich auf übersinnliche Phänomene spezialisierte und der recht betucht wirkte. Ich brauchte im Grunde nur jemanden, der mich die nächsten Monate über dem Wasser hielt. Es ging hier um keine Expedition nach Westafrika oder so etwas. Dr. Stagnatti, wie der reisende Arzt hieß, ließ sich in der Tat ködern. Schließlich hatte er wenig zu verlieren und konnte sich die Sache mal anschauen. Verstehen Sie mich nicht falsch - es war nicht so, daß ich von einem tiefen Vertrauen in Dr. Damian Stagnatti erfüllt war. In diesen Tagen gab es nur zwei Arten von Leuten, die von Stadt zu Stadt zogen und dabei Perücken trugen: Musiker und Hochstapler. Zu der Zunft Mozarts und Haydns gehörte dieser Mann auf jeden Fall nicht. Er hielt Vorträge über Alchemie, hatte selbst einige dekadente Gönner, die sich eines Tages von ihm ein gewißes Vermögen versprachen. Er war jemand, der wußte, daß die Stadt ihm nach einem oder zwei Jahren zu eng wurde. Ich mußte ihn mit etwas greifbarem ködern. Doch die magische Schachtel verfehlte ihre Wirkung nicht. Ich verheimlichte dem Lebemann natürlich Informationen über das sich verkürzende Wesen der Signale. Ich machte ihn mit der Lautstärke des Signals bekannt und erklärte ihm, den Zielort gefunden zu haben. Er mietete sich anschließend im selben Haus ein, obwohl er tagsüber nie dort war, denn sein eigentliches Apartment war wesentlich luxuriöser. Doch abends kam er mit einem Diener vorbei und brachte auch das nötige Werkzeug mit, das ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht leisten konnten. Wie so oft bei diesen Dingen, ging es tief unter die Erde. Die Geheimnisse der Hausnummer 45 befanden sich aber nicht einfach im Keller, sondern viele, viele Meter tiefer. Ich hatte unter dem Keller eine weitere Etage entdeckt, die wohl noch aus dem Mittelalter stammte. Da unten war es recht gefährlich. Viel Staub und alte Holzbalken, die aussahen, als würden sie jeden Augenblick einbrechen. Für Archäologen des 20. Jahrhunderts wäre es dort sicher sehr erbaulich gewesen, doch ich kümmerte mich um diese Dinge nicht. Wir fanden dann nach einigen Tagen den Schacht. Wir mußten ja anfangs sehr langsam und vorsichtig vorgehen, da wir nicht die Aufmerksamkeit der anderen Mieter oder des Concierge wecken wollten. Doch als wir den Schacht fanden, war klar, daß es mit dem Buddeln vorbei war...
Björn Randow: Weshalb?
Athos: Schon die Luke wirkte anders. Ich meine, sie war... Heute würde man wohl sagen: anachronistisch. Die Luke war verschlossen. Sie besaß zwar auf der Oberseite zwei bequeme Griffe, doch so sehr wir daran zerren mochte, es tat sich nichts. Als wir dann erschöpft daneben saßen und Stagnattis Diener Sylvio uns Getränke reichte, schaltete ich wieder das Gerät ein. Ich wollte nur sehen, ob das Geräusch noch lauter geworden ist. Was in der Tat der Fall war. Doch es geschah noch mehr...
[überlegt eine Weile]
Als ob es durch das Signal der kleinen Schachtel geweckt worden wäre, begann auf der Oberfläche der Luke ebenfalls ein kleines Fensterchen zu leuchten. Wir hörten ein leises Zirpen und dann, dumpf und metallisch, schien sich etwas im Inneren der massiven Luke zu lösen. Wir zögerten nicht und griffen erneut nach den beiden Griffen. Diesmal öffnete sich die Luke leicht und geräuschlos.