1.01 Der Ausflug
Kanäle...
Schächte...
Gänge...
Bin ich ein Schatten, während das wahre Ich über mir spaziert und mir mit jedem Schritt die Fußknöchel zu zertrümmern versucht? Kanäle... Dort kenne ich keine Lügen. Nur den feuchten Geruch von Kalk und Zement: die Würze des Untergrunds. Dort sind die Gedärme der Hure aus Stahlbeton, die sich windet und wächst, während in ihren Adern Gift pulsiert — Blei und Stahl — tagaus, tagein. In ihren Arterien hasten, roten Blutkörperchen gleich, die Menschen. Auf der Jagd nach dem Unwiederbringlichen. Nach Träumen. Nach Sehnsüchten. Nach der verlorenen Zeit. Wir sind Erinnerungen.
Doch da unten, in den unbeachteten Gedärmen, wo alle Wege in den Anus der Großstadt führen, wird die Rastlosigkeit, die neurotische Hektik bedeutungslos.
Ich war nicht allein, als ich dort das erste Mal hinabstieg. Wir zogen mit gemeinsamen Kräften den Deckel beiseite, schalteten die — heimlich unseren Vätern entwendeten — Taschenlampen ein und sahen uns konspirativ um. Es war ein heißer Tag, inmitten des Sommers, inmitten der Schulferien. Die nördlichen Viertel von Prag — grauer Betondschungel, der nichts gemeinsam hatte mit den üblichen Wahrzeichen der goldenen Stadt — glühten und zitterten vor Hitze, die über den staubigen Asphaltstraßen ihre Bauchtänze aufführte. Die Menschen nahmen keinen Anteil am Tun der Kinder. Zu sehr waren sie mit ihrer eigenen fatalen Welt beschäftigt. Der Kanaldeckel befand sich am Rande einer Baustelle. Vaters Baustelle. Doch es war ein Sonntag. Und an einem Sonntag musste man hier nur Diebe fürchten, die kamen, um das liegengelassene Werkzeug zu stehlen.
Das Prag der Achtziger war nicht anders als das der Siebziger. Stillstand.
Was du nicht dem Staat stiehlst, stiehlst du deiner eigenen Familie, lautete ein modernes tschechisches Sprichwort. Der Staat war bereits zu syphilitisch, um dem etwas entgegenzuhalten. Es war nicht schwer, sich an einem Sonntag auf einer Baustelle herumzutreiben und dort Werkzeug oder Material zu stehlen. Bohrmaschinen und zusammengerollte Ballen mit Isolationsmaterial verschwanden auf diese Art genauso schnell wie Ziegelsteine und Säcke mit Zement. Das tat man im großen Stil. Und genauso unbeobachtet konnten wir hier einen Kanaldeckel öffnen und uns dabei vorstellen, in die Grabkammer eines ägyptischen Pharaos hinabzusteigen. Bevor uns die Welt der roten Blutkörperchen aufsaugt und uns trimmt auf Verpflichtung, Leistung, Bestimmung. Erwachsenes Benehmen. Bevor wir entsendet werden, um mit den anderen im Gift zu treiben, um in Kreisen und Bahnen unseren Sehnsüchten hinterher zu rasen.
Wir stiegen hinein, wie durch eine offene Wunde, denn so kam mir dieses Stück aufgerissene Erde vor, hinein in den dunklen Schacht, und kletterten eine in die Wand eingelassene Eisenleiter hinab. Unten angelangt standen wir in einem Tunnel. Er war niedrig und schmal — man konnte mit ausgebreiteten Armen links und rechts die Wände berühren. Verglichen mit der Sommerhitze über uns war die Luft hier kalt wie in einer Kirche. Es roch nach feuchtem Zement. Der Kanalabschnitt war neu und unberührt. Die Kegel der Taschenlampen reichten nicht weit genug, um eine Kurve oder ein Ende des engen Ganges zu beleuchten. In der Mitte verlief ein mit Glaswolle und Klebefolie umwickeltes Rohr, das einen großen Teil des Raumes einnahm. Ich fragte mich, was hier hindurchfloss. Nach Chlor riechendes Trinkwasser für all die Plattenbauten oder Fäkalien für die Moldau? Ich horchte an der mit silberner Folie um wickelten Röhre, konnte jedoch nichts hören. Wir gingen vorsichtig weiter und ich fühlte mich sehr wohl, als hätte ich schon immer darauf gewartet, hierherzukommen. Heute glaube ich mich zu erinnern, dass diese Expedition für mich einen geradezu erotischen Reiz besaß. Wenn Prag unsere Geburtsstadt war, bedeutete es, dass wir in den Schoß dieser Mutter hinabstiegen. Doch da war mehr. Etwas, das über das Freudsche Universum hinausging.
Wir sprachen wenig — der Älteste von uns war höchstens dreizehn, doch niemand schien Angst oder Sorge zu haben. Wir strahlten alle eine verantwortungsbewusste Umsicht und Gefasstheit aus, die ich später, bei Erwachsenen, kaum zu sehen bekam. Und wir hatten schließlich einen Hund dabei, der einem der Jungs gehörte und neugierig, fröhlich und ausgelassen vorauslief und ab und zu frenetisch bellte. Alle Schritte geschahen mit Bedacht, ständig achtete jeder auf den Freund vor ihm, unentwegt wurden einige Taschenlampen auch nach hinten gerichtet, um zu überprüfen, ob alle noch vollzählig waren, dass keiner zurückblieb. Wir nahmen unser kleines Abenteuer sehr ernst. Zumindest ich tat es. Als hätte ich eine unterschwellige Ehrfurcht vor Katakomben und Schächten. Denn wenn ich mich recht erinnere, kicherten einige der anderen unentwegt und zogen sich mit Faxen und kleinen Streichen auf.
Endlich erreichten die wild an den Wänden entlang huschenden Lichtkegel eine Biegung. Der Gang schien sich nach links zu wenden.
Wir blieben stehen, um uns kurz zu beraten.
»Hinter der Kurve ist keine Luft«, meinte Jirka.
Auch ich hatte diese Geschichte gehört. Am Ende langer Gänge reicht die Luft zum Atmen nicht mehr aus.
»Unsinn«, erwiderte Standa.
»Aber wenn doch...«
»Die Luft wird nicht gleich weg sein«, äußerte sich Milan, der letztes Weihnachten einen Chemiekasten bekommen hatte. »Sie wird erst langsam immer weniger.«
»Ich glaube, dein Hund frisst hier gerade eine tote Ratte«, meinte Emil, den wir wegen seiner großen, lupenartigen Brille Brejlarito nannten. Jirka herrschte sogleich den vierbeinigen Gourmet an und suchte ihn dabei hektisch mit seiner Taschenlampe zwischen den Füßen der Jungs.
»Nero! Lass das! Igitt! Nero!«
»Mein Vater spaziert hier ständig. Von fehlender Luft hat er noch nie erzählt«, konstatierte ich selbstbewusst und machte mich auf, weiterzugehen.
Die anderen zögerten und schienen vor der dunklen Biegung Respekt zu haben. Während ich mich entfernte, verfolgte die Gruppe jeden meiner Schritte mit einem Geflecht aus Lichtkegeln. Bald war ich um die Ecke verschwunden und meldete alle paar Sekunden meinen Zustand. Aus der Ferne hörte ich Neros Bellen. Ich fühlte mich großartig. Ich fühlte mich wie einer meiner Helden, über die ich in Abenteuerbüchern las. Biggles und Bertie. Ginger und Algy. Professor Lidenbrock und sein Neffe Axel. Es war der Rausch des Neulands. Es waren die letzten Tage der Unschuld im Leben eines Zehnjährigen.
»Komm zurück, Jarek!« riefen mir alle zu.
Ich hieß natürlich nicht Jarek, sondern Jan-Marek, doch die Tschechen neigen dazu alles nur Erdenkliche abzukürzen und zu verballhornen. So nannte mich in der Schule jeder Jarek. Sogar die Lehrer ließen sich davon anstecken. Als unsere Familie dann in den Westen floh, war es damit vorbei. Es kam mir vor, als wäre Jarek in Prag geblieben, während Jan-Marek nach Deutschland ging.
In der Dunkelheit des Tunnels begriff ich, dass meine Freunde Angst um mich hatten und gab nach. Ich verzog genervt meine Mundwinkel, verdrehte die Augen und kehrte zu ihnen zurück.
Wir traten den Rückmarsch an und stiegen einige Minuten später zurück in die gleißende Welt des Sommers. Während wir oben lachend und tollend über unsere Erlebnisse sprachen, stellte ich eine leise Stimme in mir fest. Die Stimme der Unzufriedenheit.