2.08 Tunnelplay
Als das Telefon klingelte, hatte ich gerade meinen Hyper-Albtraum. Auf einem kleinen Friedhof schlug mich der Mann mit dem bordeauxroten Zylinder mit seinem Spazierstock ins Gesicht und ich stürzte rückwärts in eine breite Grube. Sie war voller Leichen, die mit einer Kalk dünnen Schicht aus Kalk überschüttet waren.
Mein Telefon klingelte fast nie. Außer Evelyn, hatte ich niemandem diese Nummer gegeben, und so erwartete ich genau sie. Mit Schweißperlen auf der Stirn hauchte ich in die Sprechmuschel.
Doch es war Robert.
»Wir haben uns auf der Party kennen gelernt«, eröffnete er mir, als hätte er die Hoffnung, ich würde mich nicht an ihn erinnern. »Ich weiß nicht, ob dir Evelyn erzählt hat, was mal zwischen uns vorgefallen ist. Es ist nur...« Seine Worte taumelten, meinen Gedanken nicht unähnlich.
»Hmmm«, murmelte ich trocken und rieb mir mein verschlafenes Gesicht, während ich überlegte, ob ich nur noch von lauter Irren umgeben war.
»Alles was ich will, ist einfach zu erklären, dass es mir leid tut und... Äh, zu erklären, wie es dazu überhaupt kommen konnte...«
Er klang wie ein Kind, dessen Eltern ihn zwischen die Schulterblätter schubsen und ihm von hinter die Entschuldigungsfloskeln vorsagen.
»Ok«, willigte ich wortkarg und hustete kurz. »Aber solltest du das nicht eher ihr sagen...?«
»Sie ist süchtig nach dem ultimativen Kick. Sie ist wie einer dieser Freaks, die mit Fallschirmen von Wolkenkratzern springen. Totaler Adrenalinjunkie. Wir hatten viele Abende darüber geredet, wie wir einen höheren Grad an Spontaneität erreichen könnten...« Es sprudelte aus ihm heraus, als ob er Evelyn bei einem Lehrer verpetzen wollte. Ich wusste, dass es für mich nichts auf der Welt gab, das dazu beitragen konnte, ihn zu mögen. »Sie war auf der Suche nach der heftigen Erfahrung. Es war meine Aufgabe mit neuen Szenarios zu kommen. Die Voraussetzung war, dass sie nicht wissen durfte, was sie erwartete. Wir wollten weg von den Rollenspielen, bei denen vorher ausgemacht wird, worum es gehen soll. Das ultimative Tunnelplay. Es tut mir leid, dass sie damals mein geheimes Szenario nicht so gut verdaut hat...«
Er schwieg eine Weile und ich lauschte dem chaotischen Rauschen in der Leitung.
»Ich will mich mit ihr versöhnen«, brabbelte er reumütig. »Sie sagte, wenn du dabei bist, trifft sie sich mit mir auch...«
Ich hatte es verstanden. Evelyn benutzte mich, um Robert ein wenig zu demütigen. Er sollte bei mir anrufen und um einen Termin betteln.
»Ich werde es mir überlegen«, erwiderte ich und legte auf. Arschloch.
Ich ließ Wasser in die Wanne einlaufen und trat lauschend an die Wand heran. Aus Tinas Wohnung drangen dumpfe Schläge gegen den Sandsack an mein Ohr. Stampfen. Kurze Schreie. Wenigstens eine, die hier bereit war.
Als ich eine halbe Stunde später das Wasser aus der Wanne ablaufen ließ, dachte ich daran, dass mir mein Leben genauso vorkam, wie die Flüssigkeit im Abfluss. Das Wasser in einer Badewanne spürt von der ersten Sekunde an, dass jemand den Stöpsel rausgezogen hat und dass es irgendwo am unteren Ende immer weniger wird. Es fühlt sich am Anfang nur nicht besonders schlimm an. Ich musste an eine Zeichnung von Zdenek Burian denken, in einem Buch über Dinosaurier, das ich als Kind gerne las. In den Siebzigern gab es noch die vorherrschende Meinung, dass die ganz großen Saurier einen so langsamen Metabolismus besaßen, dass ein Fleischfresser ihnen zehn Minuten lang heimlich den Schwanz abfressen konnte, bis sie überhaupt den ersten Schmerz spürten. Auf der stimmungsvollen Zeichnung konnte man einen Velociraptor sehen, der gemütlich den behäbigen Brachiosaurus von hinten auffraß, während der dicke Vegetarier mit dem Giraffenhals anteilnahmslos an den Blättern einer Zypresse zupfte. Wir gehen durchs Leben wie korpulente Dinosaurier und die Zeit ist der Fleischfresser in unserem Nacken. Das ist keine Neuigkeit. Dennoch hatte ich nie den Eindruck, dass unsere Erkenntnisfähigkeit daraus irgendeine Konsequenz zog.
Ich zog mir meinen warmen Bademantel an und machte mir einen Kaffee. Mit der dampfenden Tasse in der Hand setzte ich mich ans Fensterbrett. Die Luft war kühl und feucht. Sie kündigte Regen an.
»Wo seid ihr, ihr Mistkerle?« brummte ich und musterte die Straße. Ich wollte ein auffälliges Auto, eine Gruppe aus Leuten identifizieren, die meine Wohnung beobachteten. Einen einzelnen Mann im Trenchcoat, der eine Zigarette rauchte und sich lässig gegen eine Laterne lehnte. Doch da unten waren nur Leute, die emsig ihrer täglichen Beschäftigung nachgingen.
Nach einer Weile erkannte ich Evelyn. Sie überquerte die Kreuzung und kam auf mein Haus zu.
Sie trug an diesem Tag einen adretten, schwarzen Pyjama. Die Voilebluse war fernöstlich inspiriert und hatte einen hohen dunkelroten Stehkragen. Die schwarze Seidenhose war kurz geschnitten und endete oberhalb ihrer Knöchel auf. Die nackten Füße steckten in schwarzen Espadrilles. Sie wirkte wie eine Khmer Rouge auf dem Laufsteg. Evelyns Kleidung war stets eine Augenweide und ein Schlag auf die Nase in einem. Wie ausgefallen ihre modischen Ideen sein mochten, stets hatte man den Eindruck, sie passten perfekt zu ihrer Gestalt und ihrem Charakter und überhaupt nicht zu ihrer Umgebung oder gar zur Jahreszeit. Es mussten schon anderthalb Meter Schnee fallen, bis sie einen Minirock anzog.
Gähnend betrat ich den Flur und sah das Sofa. Ich hatte es in der Nacht tatsächlich geschafft, es durch den schmalen Durchgang aus dem Wohnzimmer vor die Eingangstür zu schieben.
Ich legte den Teller beiseite und schon das Sofa zumindest einen Meter zurück, damit sich die Tür öffnen ließ. Dann wartete ich, bis sie klingelte.
»Etwas kalt für solche Schuhe«, begrüßte ich sie.
»Besser als mit einem Draht ins Auge«, erwiderte Evelyn.
Sie kletterte über das Sofa, um ins Wohnzimmer zu kommen, während ich faul den Umweg über die Küche nahm.
»Muss ich das verstehen?« rief sie mir zu.
»Nicht wirklich«, brummte ich.
Als ich im Wohnzimmer ankam, stand Evelyn schon vor dem CD-Player und kramte aus meinem Stapel, der eigentlich ihr Stapel war, eine CD hervor. Nur Sekunden später wurde die Wohnung von Beats und Dezibel von The Prodigy erschüttert.
Ich ließ den Bademantel fallen, stieg taumelnd in meine Jeans und zog mir ein T-Shirt über, auf dem Miki Nakatani verträumt zur Seite blickte.
Dann machte ich mir die Lautstärke zunutze und stemmte diskret vor mich ächzend das Sofa ins Wohnzimmer zurück.
Anschließend ließ ich mich darauf fallen, wischte mir den Schweiß aus der Stirn und beobachtete Evelyn.
Verdammt, dachte ich. Heute ist der Tag, an dem ich abhauen muss. Wie sage ich es ihr nur?
Sie drehte sich paar Mal um ihre Achse und sprang in die Luft, während sie dabei wie eine Ballerina ihre Füße kreuzte. Als sich unsere Blicke kreuzten, lächelte sie mich an.
Nachdem sie die Hälfte ihres Programms absolviert hatte, merkte ich, dass das klangfremde Schellen im Raum nicht zu den Sounds von The Prodigy gehörte, sondern die Türklingel war.