2.01 Aurea
Meine Nacht ist vorüber. Isis sei Dank. Nach einer Weile stehe ich auf und schiebe den Vorhang eine Handbreit beiseite. Draußen hatte es geregnet. Die Welt ist wieder genauso grau, wie ich sie zu sehen gewohnt bin. Doch in meinem Kopf lebt noch die Farbe des verkrusteten Blutes und der Geruch von Desinfektionsmittel. Die Bilder sind zerfallen, aber der sinnliche Eindruck bleibt. Mindestens einen Tag lang. Ich taumle in die Küche, um das Wasser für einen Kaffee aufzusetzen.
Es kommt mir vor, als hätte ich schon immer Albträume gehabt, doch ich weiß, dass das eine Selbstlüge ist, denn es gab keinen derartigen Albtraum in meinem Schlaf bevor ich als Kind den Tod in der Prager Kanalisation kennenlernte. Aber da andere Menschen auch schlecht träumen, dachte ich nie, dass das etwas Besonderes sei. Nur sehr langsam begann ich zu begreifen, dass dieser Grusel anders ist, als die Albträume der meisten Menschen, ja sogar anders, als meine eigenen restlichen Träume.
Natürlich habe ich auch gewöhnliche Träume. Manche sind gut, manche sind vermutlich Albträume — doch das nehme ich kaum wahr, denn sie muten an wie karibische Ferienhäuser, verglichen mit jenen speziellen Träumen, die mich ein oder zweimal im Monat aufsuchen.
Als ich einmal mit zwölf oder dreizehn Jahren aus diesen Träumen schreiend und schweißnass im Bett hochfuhr, versuchte mich meine Mutter zu beruhigen. Sie streichelte über mein kreidebleiches Gesicht und erzählte mir, dass es nur meine Einbildung sei und es nichts gebe, wovor ich Angst haben müsste. Ich glaubte ihr kein Wort. Doch ich fürchtete mich davor, mein Verhalten könnte mich sonderbar erscheinen lassen. Ich hatte eine seltsame, tiefe Angst vor Ärzten. So nickte ich nur, wischte mir die Tränen weg und tat so, als wäre ich von ihren Worten überzeugt. Ich fühlte mich in der Nähe meiner Eltern stets allein und hilflos. Ein seltsames Kind.
Mein Vater stand nur daneben und sah mit versteinerter Miene zu, wie ich aufstehen musste, damit meine Mutter das nasse Bettlaken wechseln konnte. So sahen meine feuchten Träume aus. Und mein Vater glaubte, dass das Leben ungerecht sei und deshalb erfuhr er die Ungerechtigkeit jeden Tag. Damals ahnte er noch nicht, was auf ihn durch meinen Bruder Roman zukam. Die Verschwörung der verweichlichten Söhne.
Raven von den Teen Titans und John Constantine aus Hellblazer waren bei diesen wiederkehrenden Traumkrisen viel wirksamere Helfer, aber am Ende war es die bedingungslose Zeit, die mich lehrte, mit mir und meinen Gedanken auszukommen. Jahre vergingen, Psychiater kamen und gingen, zuerst die sozialistischen und dann die kapitalistischen. Ich gewöhnte mich an die seltsamen Bilder in meinem Kopf. Da ich aber mit niemandem über sie sprach, hielt ich ihre Intensität und ihr Detailreichtum für normal. Ich nahm an, dass jeder Mensch plastische Träume voller Blut und Gewalt habe. Man redet nur nicht darüber. Und so wie ich mit fünf Jahren begriffen habe, dass es ein Tabu ist, in der Öffentlichkeit an meinen Genitalien herumzuspielen, begriff ich mit vierzehn, dass die Menschen nicht über ihre Albträume sprechen. Ich übersah vollkommen, dass diese Annahme, diese Überzeugung ein Produkt meiner Einbildung war. Ich glaubte an ein Tabu, wo kein wirkliches Tabu bestand. Aber auch wenn ich darüber gesprochen hätte — was hätte man mir anderes angeboten als noch mehr Psychotherapeuten und rezeptpflichtige Psychopharmaka?
Doch oft stellte ich mir die Frage, ob ich nicht wirklich einen Dachschaden hatte und auf die Hilfe von Fachleuten angewiesen war. Ich ahnte, dass viele seelische Erkrankungen nicht so einfach entdeckt werden können, da der betroffene Mensch dazu tendiert, sie nicht zu sehen und auf die bloße Idee, etwas sei mit ihm in Unordnung, mit Ablehnung und Gereiztheit reagiert. Kein Siebzehnjähriger möchte hören, dass er psychisch krank sei. Es fällt ihm leichter bei einer solchen Bemerkung eine Schlägerei anzuzetteln.
Die Hyper-Albträume waren zugleich aber auch mein Pubertätsritual, meine Entnabelung von der Welt der Heuchler. Ich mochte es damals nicht so verstanden haben, doch es war dieser Grad an Andersartigkeit, der mich wahrnehmungsfähig und empfänglich für die Welt von Paul Lichtmann machte.
Die nächtlichen Erfahrungen verblassten, wie sonstige Träume und Albträume. Ich fand bald heraus, dass das Cannabis hierbei half. Je mehr ich kiffte, desto weniger konnte ich mich am nächsten Tag an die Albträume erinnern. Die Welt mag hier etwas von einer Einstiegsdroge plappern, doch ich erkenne etwas Heiliges, wenn ich es sehe.
Mit dieser Art von Bettnässen hörte ich mit fünfzehn Jahren auf. Es war höchste Zeit. Sicherlich fiel meinem Vater ein Stein vom Herzen. Doch er sprach dieses Thema niemals an. Nachdem diese äußerlichen, peinlichen Symptome meiner Hyper-Albträume nicht mehr auftraten, hielt jeder das Problem für erledigt.
Vor mich hinstarrend stand ich da — der Löffel steckte noch immer in der Kaffeedose. Menschen sehen wohl nie sehr intelligent aus, wenn sie inmitten ihrer Gedanken »einfrieren« und abwesend vor sich hinschauen. In den Tiefen der Vergangenheit, als der Mensch noch um das Feuer kämpfte, mochte dieser Augenblick der Versunkenheit tödlich gewesen sein und ein Ende in den Fängen eines Raubtiers bedeuten. Oder den tödlichen Schlag eines Steinzeitkollegen. Heute lässt man es bei der schroffen Stimme eines Vorgesetzten bewenden, der den Tagträumer von seiner Reise zu fernen Gestaden wachrüttelt. Oder...
Ein mehrfaches Fingerschnipsen vor meinem Gesicht holte mich zurück. Ich sah auf die Kaffeedose in meinen Händen. Ich blickte in Evelyns fragendes Gesicht und lächelte.
»Ich... Ich war in Gedanken.«
Evelyn ist eine tolle Frau. Statt mich zu einem Psychiater zu schleppen, drückt sie mir einen Block in die Hand und sagt: Schreib!
Sie wirkte frisch und vital, als wäre sie bereits seit Stunden wach. Das Vorrecht sportlicher Leute.
Das Wasser blubberte bereits vor sich hin, also nahm ich noch eine zweite Tasse aus dem Regal und beeilte mich damit, Kaffee und Zucker hineinzulöffeln.
Evelyn trug ihren apricotfarbenen Kimono. Sie hatte ihn nicht zugebunden und ich blickte auf die winzige rosarote Brustwarze, die sich unter der Falte des Kimonos rausschälte. Sie bemerkte meinen Blick und folgte ihm. Statt beschämt den Morgenmantel straffer zu ziehen, lächelte sie nur und zog ihn noch weiter auseinander. Sie hatte durchaus einen notorischen Hang zum Exhibitionismus. Eine Art Kontrastprogramm zu einer seltsamen Schüchternheit, die genauso ein Teil von ihr war. In ihr fand eine ewige Schlacht zwischen dem sanguinischen und dem melancholischen Temperament statt. Sie lehnte sich gegen die Küchenzeile und lächelte schelmisch. Ihre Brüste waren klein und hatten ein adoleszentes Flair. Ihre Scham war in der Form eines Kreuzes rasiert. Ihre Haarfarbe änderte sich ständig: von pechschwarz zu schwarzblau oder schwarzrot, dann wieder schneeweiß oder cremeblond. Ihr blasser, beinahe schneeweißer Körper war übersät mit Tätowierungen. Irische Bekenntnisse auf der Schulter. Seltsamer Flugkörper am Steißbein. Flammen des Fegefeuers die von ihren Fußknöcheln aufstiegen und bereits einen Großteil des Unterschenkels verzehrten.
»Hättest du es lieber, wenn ich große Brüste hätte?« fragte sie mit einem nymphomanisch anmutenden Gesichtsausdruck. »Große, wulstige Titten, in die man sein Gesicht eintauchen kann und deren Brustwarzenhöfe so groß sind, wie Bierdeckel?«
Ich nahm das heiße Wasser und goss es in die Tassen. Mein Mundwinkel zuckte. Sie mochte winzige Brüste haben, doch sie wusste am besten, wie man meine Albträume verscheucht und mich in kürzester Zeit auf andere Gedanken bringt. Meine Mutter konnte das auf jeden Fall nicht so gut.
»Nein. Ich mag deine Brüste, so wie sie sind. Sie geben mir das Gefühl, ein Päderast zu sein, und dir geben sie den Touch eines japanischen Bondage-Stars.«
»Schwein«, antwortete sie und beugte sich zum Kühlschrank, um die Milch heraus zu holen. »Man sollte dich kastrieren.«
Wir nahmen unsere Tassen mit ins Wohnzimmer. Dort saßen wir auf dem Sofa und schlürften den Milchkaffee. Ich verschlafen, sie munter.
»Es ist stets so nahe...«, sagte ich plötzlich. »Alles ist zum Greifen nahe. Es ergibt alles einen Sinn. Als wäre ich jemand anders. Und dann, wenn die Bilder unerträglich werden, zerfällt es zu einer absurden Phantasie. Als ob mein Unterbewusstsein sich im letzten Augenblick einmischen würde, um zu verhindern, dass ich wahnsinnig werde.«
»Also ist es bis zu dem Augenblick, an dem alles surreal wird und du erwachst, irgendwie kein richtiger Traum?«
»So fühlt es sich an«, entgegnete ich, obwohl ich nicht glaubte, dass sie sich wirklich vorstellen konnte, was ich meinte. »Als würde man aus einer Doku plötzlich in einen Horrorfilm wechseln, ohne den Übergang zu merken.«
»Ich sehe schon«, meinte Evelyn. »Wir anderen langweilen uns richtig, wenn wir schlafen.«
Meine kleine Isis stand auf und verschwand im Schlafzimmer. Sie war nur Augenblicke später zurück. Diesmal ohne Kimono, doch in ihren seidenen Jacques-Britt-Boxershorts, einem gelben Unterhemd und schwarzen Tanzschuhen.
Sie legte eine selbstgebrannte CD in meine Bang & Olufsen und schob den Sessel beiseite. Es gab zwei Leidenschaften in Evelyns Welt: Tanz und Sadomasochismus. Doch davon zu sprechen, dass Evelyn diese Leidenschaften besaß, wäre kaum zutreffend gewesen, denn ich gewann zunehmend den Eindruck, dass es umgekehrt war. Diese Leidenschaften besaßen Evelyn. Sie war ihnen ausgeliefert und von ihnen genauso abhängig wie von Wasser und Luft.
Der sanften, doch graduierenden Grooves begannen durch die Wohnung zu pulsieren wie Ozeanwellen. Die Beats brandeten auf meinem Brustkorb und glitten zurück, um dem nächsten Pulsschlag Platz zu machen. Ich kannte Evelyns Musik inzwischen ganz gut. Das hier war Wamdue Project. Deep House. Mit einem Schuss Down Tempo. In Evelyns Nähe blieb man immer hip. Sie war eine DJane, eine Performance-Künstlerin und Tänzerin. Ich hatte in München gedacht, ich würde mich ein wenig auskennen. Doch Evelyn, die jeden Plattenladen-Besitzer in der Stadt beim Vornamen nannte, setzte für mich neue Maßstäbe.
Sie begann zu tanzen in dieser typischen Mischung aus Hip Hop, Disco und Modern Dance — ich war völlig außerstande, die Stile richtig zuzuordnen. Ihre Art zu tanzen war durchaus erotisch, aber es war kein Gogo-Dance und eignete sich schon gar nicht für die verchromte Stange einer Hurenbar. Das hier war die androgyne Groove-Zone an der Schwelle des Millenniums. Sie war keine Sklavin von Stilettoabsätzen, die sie zwangen ihre Hüften nach vorn zu drücken und ihre Bewegungen einzugrenzen, damit nur jene Drehungen und Gesten erlaubt waren, die dem trivialen Blick des Mannes genügten. Sie trug beim Tanz nie Absätze, schon eher mal schwere Stiefel mit glänzenden Metallkappen und dicken Sohlen. Ihr Tanzen war nicht »fuck me«, es war eindeutig »fuck you«.
Sie trainierte jeden Tag. Inzwischen kam sie vor der dritten Musiknummer gar nicht erst ins Schwitzen. Sie wollte eines Tages davon leben. Und das war eine mutige Idee.
Ich kratzte mich im Schritt und sah ihr, an meiner Kaffeetasse nippend, zu. Evelyn war keine Schönheit, wenn man abgehetzte Mähren wie Heidi und Claudia als Maßstab nimmt. Sie war gerade mal hundertsechsundfünfzig Zentimeter hoch und jeder einzelne Zentimeter unterstrich ihre knabenhafte Gestalt. Ihre Beine und Arme waren drahtig und kräftig. Ungeeignet für das zierliche Schuhwerk und die Reizwäsche von Sexobjekten. Evelyne hatte das Zeug zur Ikone. Wie Cosey Fanni Tutti, Anne Clark oder Nico. Für manche war Evelyn in der Tat bereits eine Legende. Wenn sie beim Tanzen die Augen schloss, tat ich es auch, denn nur dann konnte ich ihr folgen. Wir alle verdienten es im Grunde zu sterben, denn wir betrogen unsere Umwelt und logen unsere Freunde an. Wir heuchelten uns durchs Leben, fraßen Fleisch, trieben Sex mit unseren Handys und vergeudeten alle unsere Gaben, die uns irrtümlicherweise geschenkt worden waren. Doch Evelyn atmete die Zeit ein, als wäre die bloße Existenz eine Liebeserklärung. Sie brach Tabus. Sie war ein kleines und schüchternes Mädchen, das vergessen hatte, lügen zu lernen, und das sich stets aus dem Staub machte, wenn auf einer Party die Menschen mit ihr reden wollten. In den finstersten Subkulturen der Stadt wirkte sie hilfsbedürftig, und doch gab es niemanden, der ihr helfen konnte, denn sie war uns stets einen Schritt voraus.
Während sie tanzte, kam ich mir vor wie ein wuchtiges Konsummonster im fettigen Unterhemd, das den ganzen Tag vor dem Fernseher Tüten mit Kartoffelchips aufreißt. Aber das musste ich sein. Das war meine Rolle. Nur so konnte sich mir ein Wesen, das mir so sehr überlegen war, unterwerfen. Ich konnte sie niemals beherrschen, dafür war sie zu unbeugsam. Ich konnte sie nur quälen. Willkommen in unserer kleinen Beziehung.
Aber auch wenn wir es gewollt hätten: Wir hätten es ohnehin nicht geschafft, alltäglich zu sein.
Und dennoch... Alltäglich...
Ich erstarrte ein wenig. Evelyns tanzende Gestalt verschwamm vor meinen Augen. Alltäglich... Ein seltsames Gefühl.
Vorbei an der donnernden Musik hörte ich das kurze, metallische Geräusch der Postklappe. Ich blickte zur Wohnungstür und sah einen Brief und einige Werbeblätter durch den Schlitz auftauchen und zu Boden fallen. Ich stand auf und hob das Kuvert auf. Es war lediglich eine Mitteilung der Stadtwerke, dass in einigen Tagen jemand vorbeikäme, um die Zähler auf den Heizungen und an den Wasserhähnen abzulesen.
Das war es, das sich so anders anfühlt. Das meinte ich mit Alltag. Die Morgenküsse meiner Konkubine. Der Milchkaffee. Ich hatte seit einigen Tagen immer wieder vergessen, dass ich umhüllt von Geheimnissen lebte. Doch die Rätsel zu ignorieren war absurd. Das hier war noch immer die Wohnung von Dr. Mårtensson und ich hatte keine Ahnung, wer Dr. Mårtensson war. Ob er existierte.
Wer hier eigentlich die Miete bezahlte oder die Stromrechnungen oder das Telefon. Ich bekam hier niemals Post von irgendeinem Amt oder Vermieter. Nur zweimal im Jahr kam jemand von den Stadtwerken vorbei, um die Zähler an den Heizungen abzulesen und mich einen Wisch unterschreiben zu lassen. Dass ich nicht Mårtensson war, interessierte niemanden.
Evelyn hatte ich erzählt, ich sei bei dem alten Mann in Untermiete, während dieser wieder in Schweden war und sich dort in einer Spezialklinik in Göteborg behandeln ließ. Es sei aber unwahrscheinlich, dass der alte Professor noch eine weitere Überfahrt zurück nach Hamburg erleben werde. Tolle Geschichte. Wie dramatisch und wie menschlich zugleich. Nur ein Drecksack wie ich erzählt der einzigen Person, auf die er gegenwärtig zählen kann, derartige Lügenmärchen.
Tracks folgten auf Tracks und ich nahm kaum wahr, wie die Zeit verging. Der Alltag war für Augenblicke vergessen und ich rätselte wieder einmal über die Wahrheit hinter den Vorhängen, die mich umgaben. Manzio — Paul Lichtmann — Hausmeister Mahr — Talitha Kumi — der silberhaarige Erzbischof Gruber — Paul Lichtmann — Manzio — Talitha — Hausmeister Mahr — Paul Lichtmann... Paul Lichtmann. Alles schien sich um ihn zu drehen. Diesen Eindruck hinterließ auf jeden Fall die Unterhaltung zwischen dem Erzbischof und Mahr.
Evelyn schaltete die Musik ab. Ihr Körper war mit Schweiß bedeckt, als wäre sie einem Swimmingpool entstiegen.
»Ich lebe«, sagte sie und sah mich lachend, befriedigt an.
»Wie gut für mich, dass ich dafür nicht sorgen musste«, erwiderte ich ironisch. »Ich würde jetzt eine Ambulanz brauchen.«
Sie lachte und fuhr mit den Händen durch ihr Haar, das zu jeder Tages- oder Nachtzeit in alle Richtungen stand, außer sie band es zu einem Bündel zusammen.
»Deine Stereoanlage ist irgendwie kaputt«, rief mir Evelyn aus dem Badezimmer zu, während sie unter die Dusche stieg. »Wenn man auf Pause oder auf Stopp drückt, aber die CD drin lässt, schaltet sie sich nach paar Minuten wieder ein.«
»Ist vermutlich nur irgendeine Einstellung«, entgegnete ich und blätterte in einer Zeitschrift.
Ich lauschte dem Wasser der Dusche, während es gegen die Plastikplane und die Emaillewanne trommelte. Ich hörte, wie es in einer gänzlich anderen Tonlage gegen Evelyns nackten Körper prasselte.
Den Gedanken daran, das Geheimnis auf eigene Faust zu lüften, vertrieb ich schnell. Ich führte hier ein sehr bequemes Leben. Und ich hatte vom ersten Tag an die Sorge, dass diese Konstruktion in sich zusammenfällt, wenn ich anfange, darin herumzustochern.
Der Game Boy ließ mich seit meiner Ankunft in Hamburg ebenfalls im Stich. Das Gerät schwieg und verwandelte sich in ein dickköpfiges, stummes Stück Plastik.
Ich vermutete inzwischen, dass das Rätsel sich niemals auflösen sollte, da die betreffenden Schlüsselfiguren Paul Lichtmann, Manzio und die unbekannte Frau, die ich zuletzt im Rückspiegel des Kleinbusses sah, während ich wegfuhr, tot waren. Darum ist niemand hierhergekommen, um mir zu erklären, wer die thailändischen Mädchen waren, wer Manzio wirklich war, was vor sich ging. Gerade was Manzio betraf, war ich über diesen Gedanken manchmal sehr betrübt.
Es ist seltsam, mit einem Rätsel zu leben. Man kann es nicht lösen, aber auch nicht ignorieren. Man kann es niemanden erklären, denn es ergibt keinen Sinn. Außer in dem einen Moment des Zweifels auf dem Münchner Hauptbahnhof, hatte ich niemals wieder daran gedacht, zur Polizei zu gehen. Es gibt Angelegenheiten, mit denen geht man zur Polizei. Aber damit? Es tat nicht einmal weh.
Ich hatte früher in einer sterilen Stadt gelebt, in einem seltsamen Haus auf vierundzwanzig Quadratmetern vegetiert, mit Kartons, die sich bis zur Decke stapelten — ich war allein und ständig stoned. Tagsüber saß ich als Buchhalter in einer der belanglosesten Firmen des Universums. Und nun plötzlich bewohnte ich dieses Riesenappartement in St. Pauli, das jemand für mich bezahlte. Ich hatte eine Geliebte, die aus einem William-Gibson-Roman stammen konnte. Ich ging jeden Abend zu Vernissagen und trieb mich in Nachtclubs herum. Wer würde da zur Polizei gehen? Damit diese mir dann helfen könnte, mein altes Leben wiederzubekommen? Danke, danke, aber Elvis hat das Gebäude verlassen.
Ich wählte das Leben mit dem Geheimnis und begann nach Monaten anzunehmen, dass es nie gelüftet werden würde. Dass es einen komplexen Plan gab, der mich zwar damals einbezog, aber irgendein Glied in der Kette gebrochen war und ich deshalb isoliert auf diesem gemütlichen Warteposten hing.
Wer bezahlte aber den Strom und das Telefon?
Es mochte Konten geben. Von diesen Konten wurden womöglich jeden Monat automatisch Überweisungen und Lastschriften transferiert, ungeachtet dessen, dass die Besitzer der Konten verschwunden oder tot waren.
Ich konnte die wenigen Fakten, die mir zur Verfügung standen wieder und immer wieder wie Kaffee durch die Mühle meiner Überlegungen mahlen, die Wahrheit blieb im Schatten. Meine Gedanken schwirrten wie Glühwürmchen um ein dunkles unbeschreibliches Nichts.