Die Nacht der Wiedergeburt
Aus Jan Kámens Tagebuch
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Wo soll man anfangen zu beschreiben, wo soll man beginnen zu erzählen? Wie soll man einer Wahrheit gerecht werden, die aus so tiefem Schmerz geboren wurde?
Ich lebe nun unter Menschen, die sich nicht der Vernunft verschrieben haben. Vieles in ihrem Leben ist durchdrungen von irrationalen Momenten, die voller Fragen sind, doch niemand macht Anstalten, sie zu beantworten. Hier scheint niemand nach der Weltformel zu suchen, obwohl hier der Gral näher wäre, als in jedem Forschungszentrum der Welt. Und so ist auch niemand beunruhigt durch die geradezu mythisch anmutenden Anfänge der Lux Aeterna: der Geschichte von Adam Kadmons Geburt und Kindheit.
Kein berühmter Barde oder großer Dichter ist nun zur Stelle, um dieses moderne Illias zu besingen und so muss meine unbeholfene Schreibe hier dienen und das festhalten, was bereits im Brodem vergangener Geschichtsglättung vergessen und im Smog der modernen Ignoranz verdrängt wurde.
Diese geheimnisvollste aller Geschichten begann im Jahr 1429, als Jean-Paul Laurentius in Sant Nazer geboren wurde, das heute Saint-Nazaire heißt. Er war eines von acht oder neun Kindern. Sein Vater war Guiseppe Laurentius, ein einfacher Mann italienischer Abstammung, der ein Fischerboot besaß, mit dem er - so wie bereits Jean-Pauls Großvater - des Nachts auf die See hinausfuhr. Jean-Pauls Mutter war eine Bretonin und bereits ihre Schwester war in die Familie Laurentius eingeheiratet.
Zu lange liegen diese Ereignisse zurück und nur wenig mehr, als das hier genannte, ist bekannt. Ob Jean-Pauls Verschwinden in einer kalten Oktobernacht in 1437 besonderes Aufsehen erregte, darf bezweifelt werden. Das Leben galt damals als das vergänglichste Gut auf Erden. Nur die Seele konnte die Unsterblichkeit beanspruchen. Und in jenen Jahren waren verschwundene Kinder keine Seltenheit im Süden der Bretagne.
Jean-Paul Laurentius erwachte in einem Kerker und es war ihm bestimmt, dort nicht länger als drei Tage zu verweilen, denn das war die längste Zeit, die ein Knabe in diesen Verließen überlebte. Denn der Herr des Hauses, über den später Dichter und Forscher wuchtige Bände verfassten, fasziniert von dem Versuch, eine Bestie solchen Ausmaßes zu verstehen, liebte das Fleisch der Knaben. Er liebte ihr Blut. Er war besessen von jenem Augenblick, in dem der Hauch des Lebens dem geschundenen Körper entweicht. Wie gebannt studierte er oft die offenen, verkrusteten Lippen der dahinscheidenden Kinder. Er stierte gebannt, beinahe mitleidvoll in ihre aufgerissenen Augen. Stets in der Hoffnung etwas von dem zu erblicken, für das er keine Worte fand. Jean-Paul blieb länger als drei Tage in den Kerkern von Marschall Gilles de Rais. Es wurden über hundertundfünfzig.
Es heißt, Roger de Briqueville, der Cousin des Marschalls, der nur des Goldes wegen an den Exzessen teilnahm, hätte während einer der zahlreichen Blutzeremonien erwähnt, von dem Blick dieses Knaben mit den großen braunen Augen fasziniert zu sein. An jenem Abend gab es noch einen anderen Jungen im Kerker. So wurde Jean-Pauls Leben verschont und er selbst zu einem starrenden Maskottchen jener Gräueltaten stilisiert, die in diesen Jahren auf den Burgen Tiffauges, Machécoul, La Suze sur Sarthe und Saint Étienne de Malemort hinter verschlossenen Türen ereigneten.
Gilles de Rais fand es geradezu religiös bewegend, das Gemüt eines kleinen Jungen mit Bildern zu überhäufen, die nicht einmal das Auge der blutrünstigsten Ritter im Hundertjährigen Krieg trafen. Er wollte ein solches Kind erst nach einigen Monaten töten, es auf den selben rauen Tisch legen, auf dem bereits so viele andere Kinder verwelkten und die Blutströme zu beobachten, die sich im Rhythmus des noch pulsierenden Herzens aus dem aufgeschnittenen Rachen vergossen. Und dann in genau jenem Augenblick, in dem das geheimnisvolle Pneuma die blassen Lippen des Knaben verlässt, den eigenen Körper von Wallungen der Lust durchschütteln lassen.
So evoziere man Dunkle Engel, so erwecke man Dämonen der Hölle, die zum Reichtum verhelfen konnten. So zumindest verstanden es seine beiden Cousins Roger de Briqueville und Gilles de Sille, zwei abgebrannte Adelige, die nicht selten selbst dem Monster die Opfer zuführten. Aber Gilles de Rais musste nicht erst herausfinden, dass sich hinter dem alchemistischen und schwarzmagischen Deckmantelchen genau das verbarg, was er schon immer tun wollte. Das hatte er als Jüngling schon gefühlt und als Ritter gewusst. Es war tausendmal reizvoller, als Bankette mit blassen Adelsfrauen, die sich Jungfrauen nannten und davon genauso entfernt waren, wie er selbst von der Frömmigkeit. Es war triumphaler, als der Einmarsch in Orléans, an der Seite von Jeanne d’Arc, die auf einem geschenkten Pferd und in geliehener Rüstung durch Frankreich ritt. Er fand schließlich selbst, dass ihre, wie auch seine Verdienste hierbei stark übertrieben wurden.
Er verstand nichts von Dunklen Engeln, Dämonen und dem Teufel. Nicht wirklich. Er war ein Diener Christi, wie jeder Edelmann es sein sollte. Und vor Orléans stand er einem Engel näher, als er jemals einem Dämon nahe stehen sollte.
Sein Feldzug an der Seite der Johanna von Orléans fand im Geburtsjahr von Jean-Paul Laurentius statt. Doch das wusste Gilles de Rais nicht und es spielte auch sonst keine Rolle. Das Leben ist voller seltsamer Parallelen und Koinzidenzen. Es ist nicht das Problem, dem Appetit zu folgen, in diesen Mustern und Zufällen einen Sinn zu erkennen. Das Problem besteht darin, dass um sie zu betrachten, wir sie isolieren und aus dem komplexen Netzwerk unzähliger Ereignisse herausreißen müssen. Doch dadurch sind sie ihrer ursprünglichen Authentizität beraubt und wir nicht mehr im Besitz aller Fakten.
Der Junge stand von nun an in zerrissener Kleidung und mit zerzausten Haaren an einer vergitterten Tür, das Gesicht zwischen die Hände gedrückt, die jeweils einen Eisenstab umklammerten. Er stand dort und sah zu, denn wenn er sich weigerte, ketteten die Schläger des Marschalls einfach nur seinen Kopf an das Gitter und prügelten auf ihn ein. So sah er freiwillig zu und wartete, bis der Tag kam, an dem Gilles de Rais die Lust an diesem Spiel verlor und auch ihn aus dem Käfig holte, um ihm Bauch und Rachen aufzuschneiden und das Gesicht des Kindes mit seinem Samen zu besudeln.
Jean-Paul sah zu. Er sah allen Schrecken, den der Mensch befähigt ist zu erschaffen. Er sah alles entsetzliche, das auf Erden entfacht werden kann. Und jeglicher Horror, der ihm jemals noch hätte begegnen können, würde sich nur als ein unmotivierter Remix, als ein verwässerter Abklatsch dieser Augenblicke anfühlen. Seine Augen waren dunkel unterlaufen und der Schmutz in seinem Gesicht verschmiert durch Tränen. Es heißt Jean-Pauls Tränen hätten ausgereicht, um einen Bottich damit zu füllen, in dem ein erwachsener Mensch baden konnte. Er hatte so viele Tränen geweint, dass es keine Tränen mehr auf diese Welt zu weinen gab. Zumindest nicht für ihn. Und so vergoss er danach nie wieder eine. Sechs Jahrhunderte lang und darüber hinaus.
Und so wie Gilles de Rais niemals ein Erweckungserlebnis gebraucht hat, um die Wahrheit über seine Neigungen zu erfahren, sondern einfach nur eines Tages begonnen hat, diesen Neigungen zu folgen, so brauchte auch Jean-Paul Laurentius kein Erweckungserlebnis, das ihm vermittelte, dass edle Ritter, verklärt in heldenhaften Epen und Liedern der Ehre und Minne, in Wirklichkeit nur versoffene Psychopathen waren, die das Land plünderten und die Menschen ausbeuteten. Tief im Inneren wusste er es stets, denn zu oft hatte er Geschichten der Erwachsenen über Brandschatzungen und Vergewaltigungen gehört, die sich in Dörfern entlang der Küste abspielten, um noch an Artus und Lanzelot zu glauben. Und dennoch - als wäre eine Ahnung nicht genug und bedürfte einer wirklichen Erfahrung - bestrafte Gott diesen Knaben, der sich der Träumerei enthielt und weigerte an das Gute und Edle im Manne zu glauben, mit der Wahrheit.
Es war 1438, angeblich die Nacht des ersten Frühlingstags des März, als höhere Mächte eingriffen und dem kleinen Jungen Helfer auf das Spielbrett schickten. Nachts bedeckte er sich zum Schlaf mit faulem Stroh und zwängte sich hustend in die Ecke der Zelle, um im Schatten, möglichst fern der Gitter, zu sein. Vor der Zellentür befanden sich oft schnarchende Häscher, die dort betrunken umgefallen waren und den Weg zu den eigenen Kammern nicht mehr fanden.
Vielleicht nur eine Stunde oder zwei, bevor die Sonne aufging, füllte sich Jean-Pauls Zelle mit bläulichem Licht, das wie eine Säule kalt inmitten all der Finsternis schimmerte. Der Junge starrte das seltsame Licht vorbei an den Strohhalmen vor seinem Gesicht an. Es dauerte nicht lange und inmitten der blassen, zittrigen Lichtsäule formte sich eine Gestalt. Es war die Gestalt einer Frau.
Für Jean-Paul bestand kein Zweifel daran, wer das war. Sie war nun seit sieben Jahren tot und sieben Jahre waren ausreichend für eine Legende. Er hatte seine Mutter Maria oft sagen hören, wie groß die Ungerechtigkeit war, die der Jungfrau von Orléans widerfahren ist. Und nun stand sie vor ihm und reichte ihm die Hand. Jean-Paul stand auf und sah in das undeutliche, schimmernde Gesicht. Er hatte keine Furcht. Denn seine Furcht starb in diesen Kerkern. Kein Schrecken mochte ihn noch aufwühlen.
Doch er irrte sich, denn nicht ein Engel stand vor ihm, sondern ein Dämon.
„Es ist Zeit“, sprach der Dämon und nahm seine Hand.
Zusammen mit ihr ging er auf die vergitterte Tür zu, hielt sich jedoch vorsichtig einen halben Schritt zurück. Doch das Lichtwesen machte keinen Halt vor dem Gitter und trat durch die eisernen Stäbe, als wären sie aus Mondlicht geformt. Jean-Paul folgte ihr. Er umklammerte ihre kühle Hand und stieg ebenfalls durch das Gitter hindurch.
„Nun musst du hinausgehen, in die Freiheit.“
„Ich... Ich habe Angst“, flüsterte der Junge.
„Folge den Schatten.“
„Werde...“ Der Junge mit den großen Augen sammelte die Worte. Er hatte so lange nicht gesprochen. „Werde ich Euch wiedersehen?“
Das Lichtwesen schien zu lächeln. Während im Raum die verkaterten Schläger des Marschalls langsam zu sich kamen, trat die unwirkliche Frau im Licht einen Schritt zurück. Ihre Gestalt begann zu verblassen und löste sich einen Augenblick später auf. Nur die bläuliche Lichtsäule blieb noch etwas länger im Raum. Der Junge streckte die Hand nach dem Licht, doch es war bereits weg. Sie hatte ihn allein gelassen, inmitten der Folterkammer, umgeben von Tieren, nur einen Schritt entfernt von jenem massiven Tisch, auf dessen grober Holzplatte seit Jahren das Blut vertrocknete.
Nun hörte er raues Husten und verärgertes Brummen. Die Schergen des Marschalls erwachten.
Doch er war nicht allein. Hinter jener Stelle, an der er noch Momente zuvor das Wesen, das er in seiner kindlichen Unschuld für die Jungfrau von Orléans hielt, in einer Lichtsäule verschwinden sah, standen nun fünf dunkle Gestalten, deren Gesichter er nicht erkennen konnte. Er wusste nicht, wie sie hereingekommen waren - vielleicht durch die vergitterte Tür hinter ihnen, oder durch einen Zauber der Engels.
Als sie sich lautlos in Bewegung setzten und ihn passierten, sah er, dass es Männer und Frauen waren, doch keine Ritter, wie er sie kannte, sondern Krieger aus Märchen und Erzählungen über längst vergangene Zeiten. Im Gehen zogen sie ihre Schwerter und begannen auf die verwunderten Schläger, die sich ihnen mit Waffen oder Knüppeln in der Hand in den Weg stellten, einzuschlagen.
Nachdem ihr Werk hier unten getan war, machten sich die Gestalten auf, die Treppe hochzusteigen. Jean-Paul erinnerte sich an die Worte der Lichtfee und beeilte sich, ihnen zu folgen. Das Gefecht in der Kammer hatte andere Häscher geweckt und so stellten sich den Fünf weitere Gegner in den Weg. Doch nichts schien sie aufzuhalten. Sie fochten wie auf dem Schlachtfeld. Sie fochten, wie man es Saladin nachsagte. Die verkaterten Schlächtergehilfen hatten dem nichts entgegenzuhalten.
Der kleine Junge schritt bedächtig hinter ihnen, setzte einen nackten Fuß vor den anderen auf die kalte Steintreppe, trat vorsichtig vorbei an den Leichen toter Diener, Wächter und Schergen. Alle ihre Gesichter waren ihm bekannt. Er kannte all ihre Namen. Er hatte sie gesehen, während er nachts am Gitter stehen musste.
Draußen auf dem Hof umringten die Fünf Jean-Paul wie die Spitzen eines Pentagramms. In dieser fünfeckigen Formation bewegten sie sich zielsicher zum Tor. Bevor diese seltsame Prozession es erreichte, gab es keine Gegner mehr zu besiegen. Nur der Marschall oder seine Cousins haben sich nicht blicken lassen, um hier ihr Blut zu vergießen.
Im Wald flüsterte der kühle Wind in den Baumspitzen und frühe Vögel riefen sich gegenseitig ihre heiteren Botschaften zu. Der Frühling hatte sich schon seit Wochen angekündigt und nun brach er unaufhaltsam aus dem kühlen Boden hervor. Während Jean-Paul erschöpft und ausgehungert über den Moos stapfte und sich taumelnd an den Ästen von Sträuchern und Gebüschen hielt, geleiteten ihn die fünf Gestalten schweigend durch die Dunkelheit. Am Rande einer Lichtung blieben sie stehen. Der Junge rutschte langsam ins Gras und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Aus der Ferne hörte man das Geschrei. Es kam von der Burg. Jean-Paul atmete schwer und sah die fünf dunklen Wesen, hinter deren Silhouetten die Sterne verblassten und der Himmel sich langsam von der Morgenröte tränken ließ. Die mittlere Gestalt senkte sich zu ihm. Er konnte das Gesicht des Unbekannten kaum sehen, doch er hörte die sanfte Stimme, die so gar nicht zu diesem bedrohlichen Geist zu passen schien.
Ein anderer Dämon senkte sich ebenfalls zu ihm. Er sah aus, wie eine Frau. Sie hielt ihm einen flachen Kelch unter das Kinn, in dem sich eine pechschwarze Flüssigkeit wälzte.
Das Kind trank und lehnte sich erschöpft zurück und hustete leise vor sich hin.
„Es ist vorbei. Schließe deine Augen“, sagte der erste Dämon.
Und als diese einfachen Worte ausgesprochen waren, richtete sich die dunkle Gestalt auf und die fünf Kriegerinnen und Krieger verschwanden im Dickicht des Walds.
Der Junge atmete zunehmend ruhiger. Die Müdigkeit überkam ihn, der Kühle und der Feuchtigkeit zum Trotz. Er schloss die Augen und schlief ein. Er sah nicht mehr zu.
Dort am Rande einer Wiese verstarb Jean-Paul Laurentius, ausgehungert und krank. Erschöpft und zerschunden. Es heißt, er wäre in Wirklichkeit in seiner kleinen Zelle gestorben, unter einer Schicht aus nassem, fauligen Stroh und die Lichtfee und die fünf Krieger seien nur ein Märchen, das man sich in der Bretagne erzählt, da die Menschen es nicht fassen können, dass das Böse so lange und so oft ungestraft davonkommt.
Doch dort wo die Märchen aufhören, beginnt unsere Geschichte erst. Wir durchschreiten die Nacht und erzeugen neue Mythen und neue Märchen. Wir entfachen Leuchtfeuer für all die Suchenden, die mehr wissen wollen.
Hier, nicht weit von der Atlantischen Küste entfernt, in der schrecklichsten Finsternis, im tiefsten vorstellbaren Horror, wurde ein Licht entfacht, das woanders gar nicht hätte entstehen können. Das ist die nackte Wahrheit über Licht und Finsternis. Wir sehnen uns nach dem hellsten Glanz, doch dafür das tiefste Dunkel in Kauf zu nehmen, behagt uns nicht.
Hier begann die Aschewerdung. Eine Kunst, die dem Menschen ermöglichte, bei dem Spiel der Götter mitzumischen. Luzifers regelwidriges Geschenk.
Und natürlich ist diese Weisheit nicht auf meinem Mist gewachsen. Der kleine Jean-Paul hat sie mir erzählt. Lange Zeit später. Verpackt in diesen Schafspelz aus dem Märchenstoff.