1.02 Remota


Ich greife vor, wenn ich erwähne, dass eine wichtige Erkenntnis in meinem Leben darin bestand, den Zusammenhang zwischen mir und dem Untergrund zu begreifen. Wann immer ich unter die Erde trat, herabstieg aus der Geborgenheit der Eloi in die Welt der Morlocks, geschah ein Unglück. War nun ich die Ursache dieser Ereignisse, oder war ich auserwählt, nur dann herabzusteigen, wenn ein Unglück bereitstand?

Im Herbst 1998 — über fünfzehn Jahre nach meinem nächtlichen Ausflug in die Kanalisation von Prag — befand ich mich erneut in bedenklicher Nähe zu jener feuchten, modrigen Dunkelheit, an einem beschissenen Ort, an dem ich nichts verloren hatte. Warum bin ich nur so verführbar? Als Kind spielte ich gerne in allerlei Rohren und Kanälen und träumte von der Gefahr, aber nun? Irgendwann sollte es doch genug sein. Irgendwann muss man doch beginnen, sich wie ein Erwachsener zu benehmen!

Ein endloser Gang unter der Stadt, überall große kalte Pfützen, in denen sich das herabtropfende Wasser sammelte. Und... schon wieder ich! Dummkopf! Draußen war kalter Oktober und hier drin roch es wie immer nach feuchtem Zement. Ich gab mir kopfschüttelnd immer noch Mühe, meine 250-Mark-Salamander-Schuhe aus diesem Ärger raus zu halten und an den großen Pfützen wie ein Storch vorbeizugrätschen. Sinnlos...

Manzio hingegen betrieb die Sache mit dem ihm so eigenen Enthusiasmus. »Komm schon, stell dich nicht so an. Es sind nur noch paar Meter.« Etwas in der Art raunte er mir mit halbleiser, konspirativer Stimme ständig zu. Mir kam der Weg übertrieben lang vor. Ich bemerkte, dass es hier kleine schwarze Drehschalter fürs Licht gab, wie sie in Kellern unter Mietshäusern eben vorkommen. Weiß Gott, warum Manzio darauf bestand, dass wir sie nicht benutzten und stattdessen mit den Taschenlampen herumfuchtelten.

Ich leuchtete auf meine Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Mist. Was tat ich hier? Doch ich hatte keine treffende Ausrede. Noch vor wenigen Monaten hätte ich gejammert, dass ich am nächsten Tag früh aufstehen muss. Dass mein kalter Bürostuhl auf mich wartete, damit ich darauf optimistisch in die Welt lächeln konnte, während einige Investoren aus Nordrhein-Westfalen mit dem Geschäftsführer wie Thermalbadbesucher im Zeitlupentempo durch die Firma stolzieren und über Dinge sprechen, von denen ich nichts verstand. Von denen vielleicht niemand etwas verstand. Verfluchte Schwarzmagier in Anzügen. Satanisten...

Welche Ausrede habe ich nun?

Manzio riss mich aus den Gedanken.

»Schau mal, ist das nicht phantastisch?« flüsterte er mir zu. »Ist das nicht phantastisch?!«

Ich stellte mich neben ihn und blickte nach oben. Wir beobachteten die Welt. Ein kleines, schachtartiges Fenster zeigte nahe der Decke einen Ausblick hinaus aus diesen Katakomben. Das Glas war zerschlagen, nur wenige Scherben ragten noch aus dem Holzrahmen. Ein direkter, zu einem kleinen Quadrat eingeengter Blick in den Himmel — nicht größer als ein 14-Zoll-Monitor. Der Mond strahlte wie eine Offenbarung. Dunkle dramatische Wolken zerschellten an ihm, während draußen die letzten Regentropfen sanft an die Blätter der Gebüsche trommelten. Und in der Mitte der Erscheinung hing ein feuchtes, mit Wasserperlen geschmücktes Spinnennetz, in dessen Mitte eine große Kreuzspinne saß. Es war wie ein Bild aus einem Hergé-Comic. Es war erstaunlich.

»Es heißt, dass alle Dinge Zeichen sind«, sagte Manzio, ohne seine Augen von dem Fenster unter der Decke zu wenden. »Und dass alles, was uns begegnet, eine Entsprechung hat. Es soll uns helfen, zu verstehen, wohin uns das scheinbar nicht vorhersagbare Schicksal treibt. Aber wir können die Spuren im Sand der Welt nicht lesen.«

Manzio. Ja, Manzio. Er war mir stets einen Satz voraus. Immer wenn ich begann, den Banalitäten dieser Welt zu unterliegen, war er da und zerschmetterte die Pforten der Normalität. Das Schicksal stellte mir ständig Wächter zur Seite, die darauf achteten, dass ich kein Zombie mit Krawatte wurde.

Wir starrten eine ganze Weile auf das Fenster. Auf die Spinne, die sich die minutenlang keinen Augenblick regte. Draußen hob sich langsam der Wind. Wir konnten es an der leichten Bewegung des Netzes sehen. Ich begriff, wie nahe äußerste Hässlichkeit und äußerste Schönheit sich stehen. Wie sie sich gegenseitig aufheben. Und nur der Mensch muss sich entscheiden, ob er Ekel oder Entzückung verspürt. In einem solchen Augenblick ist mehr Wahrheit, als in den meisten Büchern. Außer der Mensch entscheidet sich nicht und ist nur Treibgut im Strom seiner Wahrnehmung. Und genau davon handelt unsere Geschichte. Von einer Welt, die sich verändert — unter der formgebenden Kraft der Entscheidungen, unter unseren neugierigen Blicken. Aber Sie fragen sich sicherlich, ob ich mir das schon damals gedacht habe. Nein, sicher nicht. Damals ahnte ich noch gar nichts. Nichts. Aber ich denke es nun, während ich mich daran erinnere. Eine sehr lebendige Erinnerung. Ein Augenblick, der noch nicht ganz Vergangenheit und noch immer ein wenig Gegenwart ist.

Die Spinne regte sich plötzlich. Nur eine kleine Bewegung der Beine entlang der silbernen, feuchten Fäden. Dann wieder der phantastische Nihilismus, hinter dem sich atemraubende Wachsamkeit verbirgt. Wir blickten uns an, als hätten wir gerade eine Sternschnuppe gesehen. Ich sah Manzio in dem kalten Mondlicht lächeln.

»Hör mal...« Ich räusperte mich und versuchte ein ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen. »Als ich ein Kind war, wollte ich immer in irgendwelche Höhlen und Katakomben klettern...«

Manzio zog die Augenbrauen hoch. »Und jetzt nicht mehr?«

Ich erinnerte mich plötzlich an damals. Wie viele Jahre hatte ich nicht mehr daran gedacht? Nur gelegentlich, wenn ich offene Löcher im Boden sah, Dampf der aus Kanaldeckeln aufstieg und eiserne Souterraintüren mit schweren Schlössern, wurde mir bewusst, dass es da etwas gab, das wie ein Schatten an meinen Fußknöcheln klebte. Dunkle Gänge und unterirdische Labyrinthe mied ich seitdem — ob bewusst oder unbewusst.

»Zeig mir, was du mir zeigen wolltest und dann hauen wir ab«, sagte ich plötzlich und steckte trotzig die freie Hand in die Tasche, während ich ihn mit meiner Lampe anleuchtete.

»Das Geheimnis liegt nicht weit entfernt. Du kannst es an der Spinne erkennen.«

Manzio war verführerisch, wie der Gott Pan. Ich wusste nie so richtig, was er meint. Aber auf eine pathologisch reizvolle, verdrehte Art ergab das, was er aussprach, stets einen Sinn.

»Spürst du nicht die Wärme hier in diesem Gang? Die Temperatur steigt, je weiter wir gehen. Es ist später Oktober. Es ist sehr kalt und du wirst kaum noch irgendwo eine Spinne im Gebüsch finden. Aber hier...« Er deutete auf das Fenster. »Der Heizraum ist ganz nahe. Hier steigt ständig Wärme auf, durch das kaputte Fenster. Die Kreuzspinne glaubt vermutlich, dass das der hässlichste August aller Zeiten ist. So fühlen sich Otto Normalverbraucher und Monika Mustermann auf dem Weg zu Arbeit.«

Er steckte sich eine Zigarette an. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe, die er sich währenddessen unter den Arm klemmte, tanzte chaotisch auf den grauen Betonwänden.

»Ab jetzt wird´s spannend«, brummte er und fischte nach etwas in seiner Tasche. Er zog einen Schlüssel hervor und ging zu der massiven Stahltür. Ich stellte mich hinter ihn. Ich spürte eine gewisse Wärme, wie eine künstliche Höhensonne, die sich gerade erst auflädt. Ich streckte meinen Arm aus und berührte die Tür. Sie war warm. Ich leuchtete auf die weißen Buchstaben: »Heizraum. Unbefugten Zutritt verboten.« Natürlich, was sonst? Warum wären wir sonst hier, wenn es nicht verboten wäre?

Manzio zog den Schlüssel wieder heraus und hielt ihn kurz vor meinem Gesicht.

»Frag lieber nicht, Digger«, flüsterte er mit einem verwegenen Blick.

Die Tür war erstaunlich gut geölt. Sie ging geräuschlos auf und wir traten ein.

Massive Wandschränke aus Metall erwarteten uns im Heizraum, mit grünen und weißen Lämpchen darauf. Nicht unbedingt psychedelisch, aber doch bei völliger Dunkelheit irgendwie spacig. Die Wärme hier fühlte sich gut an. Manzio raschelte mit den Schlüsseln und öffnete eine weitere Tür.

Es war eine Art Stauraum für Reinigungsmaterial und allerlei Zeug, das meine eigene Wohnzelle nie zu sehen bekam. Nachdem Manzio die Tür hinter sich verschlossen hatte, knipste er den Lichtschalter an der Wand an. Hässliches kaltes Licht überflutete uns. Wir waren umgeben von Chemikalien in Kartons, von Putzlappen, Besen und von einem Staubsauger.

»Fiese Sache hier, du wirst sehen...« Er zog eine leicht zerknüllte Tüte mit irgendwelchen Keksen und eine kleine, klischeehafte Flasche mit Weinbrand aus der Tasche. Diesen kleinen Flachmann, den Obdachlose mit Vorliebe an Tankstellen kauften.

»Hier endet die Zivilisation. Dieser Raum ist der letzte Vorposten. Dahinter ist der Orkus«, erklärte Manzio.

›Sehr theatralisch‹, dachte ich nur, sagte aber nichts.

Ich kaute eine Weile an dem Keks und blickte dann hoch zu ihm.

»Was ist das? Ist nicht gerade ein Verkaufsschlager, oder?«

»Das sind Hostien«, meinte Manzio ausdruckslos. »Mein Dad liefert die an einige Kirchen.«

Ich verzog mein Gesicht.

»Ist das häretisch oder so was?«

Manzio zuckte mit den Achseln.

»Ist doch nur Mehl, Wasser und Maizena. Ich würde sagen, solange das nicht ein Priester an sich nimmt, ist es erst mal nur eine Oblate in einer Plastiktüte.«

Er sah noch immer den Zweifel in meinem Blick.

»Mann, ist ja nicht so, dass ich die aus dem Tabernakel geklaut habe. Wir haben ungefähr zehn Kartons davon im Lager. Außerdem, wann warst du jemals in einer Kirche?«

Ich nahm noch einen Keks. Ich meine, eine Hostie... Ich meine, eine Oblate...

»Irgendwie süß«, stellte ich fest. »Ist das nicht... wohllebig, da Zucker reinzutun?«

»Wohllebig?« Manzio blickte mich kurz entgeistert an. »Was soll das denn sein?«

»Ich meine«, überlegte ich verkrampft, in der Hoffnung, dass bald die richtige Synapse zündete und mir den passenden Begriff aushändigte. »Ich meine... Na einfach nicht... äh, frugal genug...«

»Frugal?« Manzio machte nur eine abwehrende Handbewegung, während er einige der Kartons auf ihre Stabilität prüfte. »Du bist total dummgekifft. Abgefuckter Junkie.«

Ich kaute an der trockenen Oblate und spülte sie dann mit einem Schluck Weinbrand runter.

»Glaubst die Oblaten der Protestanten sind weniger süß?« murmelte ich mit einem verklebten Gaumen.

»Ganz bestimmt«, erklärte Manzio lakonisch, während er die Produktbeschreibung auf der Rückseite einer Flasche mit Reinigungsmittel studierte.

Wir tranken. Schwiegen.

Wie bin ich nur an Manzio geraten? Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir zwei Schattengewächse uns erkannten und verbanden. Wenn ich abends, auf dem Weg zu meiner Wohnzelle an seiner Tür vorbeiging, roch ich nicht selten den markanten Duft von verbranntem Hanf. Es war nur eine Frage der Zeit.

Eines Tages klingelte es und er stand an meiner Tür. Er fragte mich, ob ich denn Papers hätte, was mich im Nachhinein verwunderte, da er in seiner Wohnung fast nur Bong rauchte. Ich vermute, er roch auch unentwegt das brennende Cannabis durch meine Tür und suchte nur nach einem Anlass, damit wir uns endlich kennenlernten, wofür ich ihm dankbar war. Von da an besuchten wir uns regelmäßig und sprachen über Gott und die Welt. Er besaß unzählige Bücher und es fiel nicht schwer, sich in seiner Nähe eine deutliche Spur dümmer zu fühlen. Doch um so erstaunter war ich, als er auf die Superhero-Comic-Sammlungen in meiner Wohnung weder mit Kopfschütteln noch mit einem gönnerhaften Lächeln reagierte, sondern sich auf die Regale stürzte und mit weitgeöffneten Augen die Hefte herauszog und ihre bunten Hüllen studierte.

»Das will ich verstehen«, murmelte er. Ich war zwar nicht sicher, ob er damit mein pathologisches Befinden als Comic-Narr meinte oder die Inhalte der DC-Comics, doch nur Tage später kam er zurück, brachte geliehene Hefte wieder und plauderte über deren Inhalt.

»Es geht um das, was zwischen den Bildern passiert«, meinte er, während wir einen Joint rauchten. »Zuerst denkt man, es handelt nur davon, durch die Gegend zu fliegen und mit den Bösen zu kämpfen. Aber der Reiz besteht darin, dass diese Leute ein Privatleben haben. Dass sie Probleme haben.« Er schwieg einige Augenblicke und sammelte seine Gedanken. »So wie Katana, in deren Schwert die Seele ihres ermordeten Ehemanns lebt.«

Manzio konnte jedes Gespräch in die Twilight Zone verwandeln.

»Oder Victor Stone, der...« Er gestikulierte mit dem Finger in der Luft, auf der Suche nach der verlorenen Synapse.

»...der Cyborg«, ergänzte ich mit erstickter Stimme, da ich gerade Rauch in meiner Lunge hatte.

»Ja, Victor Stone, der Cyborg. Ein zorniger, junger Mann, der vom eigenen Vater bei einem wissenschaftlichen Experiment am ganzen Körper verstümmelt und dann von ihm zu einer halben Maschine umgebaut wird. Mann, Väter haben so was drauf...«

Wir nickten, versunken in unsere eigene Vergangenheit und fühlten uns wie Vic Stone, der Cyborg. Wie Unfälle unserer Väter.

Einmal erzählte ich Manzio, dass ich gerne schrieb. Bereits als Schüler hatte ich mir bei langweiligen Fächern die Zeit verkürzt, indem ich auf meine Löschblätter kurze Geschichten schrieb, über den Weltraum oder über ferne exotische Orte. Da ich jedoch nie viele Bücher las und mit Comics aufwuchs, fehlte meinen Texten stets die nötige Reife und Reflexion. Erst als ich begonnen hatte zu kiffen, gesellten sich verstörende und befreiende Elemente hinzu, die das Geschriebene in einem kunstvolleren Licht erscheinen ließen. Ich schrieb nicht oft und nicht viel. Es waren nur Fetzen und Fragmente. Selten mehr als drei Seiten. Mal ging es um meine Kindheit und meinen Bruder Roman, mal darüber, wie ich den letzten Job verloren hatte. Ich las Manzio einige dieser Fragmente vor, mit brüchiger, ungeübter Stimme, während er geduldig zuhörte und zwischendrin mit seiner Bong blubberte.

»Bildung ist nicht alles«, philosophierte Manzio. »Wenn es so wäre, müssten die besten Bücher stets von Literaturprofessoren oder Buchkritikern stammen. Doch das ist nur äußerst selten. Es geht schließlich darum, was du siehst, wenn du durch die Straßen gehst. Die kleinen Details. Und ob du es durch deinen Verstand so filtern kannst, dass es in geschriebener Form für mindestens eine andere Person Sinn macht. Nicht das, was du in anderen Büchern gelesen hast. Sehr belesene Autoren wenden eine Menge Energie auf, um all das Gelesene auch wieder auszublenden.«

Manzio hatte einige Semester Kunstgeschichte studiert. Dann folgte ein Semester Literaturwissenschaften. Er wollte auch Philosophie nachlegen, kam aber nicht durch die Aufnahmeprüfungen. Sein Vater besaß einen italienischen Feinkostladen namens »Luigi´s Delikatessen«, und Manzio versuchte ihm seit einigen Jahren zu erklären, dass der Apostroph vollkommen fehl am Platz war. Das führte zumeist zu einem Streit zwischen Vater und Sohn. Ein Streit, dessen eigentlicher Inhalt stets Manzio selbst war. Der Sohn und sein Desinteresse, etwas Vernünftiges zu studieren, damit er nicht wie sein Vater, täglich um fünf Uhr aufstehen musste. Der Sohn und sein Desinteresse, wenigstens in Vaters Laden zu arbeiten, um eines Tages die Geschäfte zu übernehmen. Bis zum Horizont nur Klischees.

Es gab niemals ein Treffen zwischen uns, bei dem nicht exzessiv geraucht wurde. Es hätte seltsam gewirkt. Wir drehten einen Dübel nach dem anderen. Ich meistens nur pro forma, da seine viel schöner, viel phallischer, viel präziser aussahen. Dabei plauderten wir über alles, was uns in den Sinn kam. Manzio nannte es die Rhizomatischen Sitzungen, was immer das hieß.

Durch Manzio erfuhr ich, was Giftschrankliteratur ist. Denn das wiederum war »sein Ding«: das Studieren von politisch unkorrekten Büchern und befremdlichen Werken, die aus dem Zusammenhang ihrer Entstehungszeit gerissen höchst subversiv wirken konnten. Einige davon waren allerdings in jeglichem Zusammenhang unverdaulich.

Auf seine Art war auch Manzio ein Sammler. Das Thema war ihm gleichgültig. »Hauptsach´ krass«, meinte er immer und grinste dabei unschuldig.

So zeigte er mir einen zerfledderten Südostasien-Reiseführer aus dem Jahr 1978, der sich an die damals aufkommenden Rucksacktraveller richtete. In den Empfehlungen wurde in dem Abschnitt »Nachtleben in Bangkok« von preiswerten Massagesalons und den billigsten Bordellen geschwärmt. Heute würde ein seriöser Verlag vermutlich einen Strafbefehl für dieses Kapitel bekommen. Das Buch vom ES von Georg Groddeck, das angeblich einen hymnischen Abgesang auf weibliche Vergewaltigungsphantasien darstellte, und die Sexuelle Revolution von Wilhelm Reich. Notre-dame-des-Fleurs von Jean Genet und The Book of Lies von Aleister Crowley gehörten genauso zu seiner Sammlung, wie Feldzug gegen den Gral von Otto Rahn, Vier philosophische Monographien von Mao Tsetung, die Goebbels-Tagebücher oder Kassetten mit den Liedern der Manson Family.

Und natürlich lernte ich durch ihn auch das Herzstück der politischen Unkorrektheit kennen: das Buch Geschlecht und Charakter von Otto Weininger, dem Bruce Lee der Giftschrankliteratur.

Alle diese neuen Namen und Begriffe nahm ich fasziniert auf, ohne wirklich eines der Bücher lesen zu wollen. Es schien mir, dass es manchmal interessanter ist, über Bücher zu hören, als sie selbst zu lesen. Vermutlich hätte ich aber früher oder später begonnen, in einigen davon zu schmökern, doch dazu sollte es nicht kommen. Unser gemeinsames Schicksal führte uns in den Untergrund, an einen Ort, an dem nur die Gegenwart herrschte und verstaubte Bücher keine Rolle spielten.

Ich trank wieder einen Schluck Weinbrand. Es war bereits kurz vor eins. Ich saß mit einem verrückten Intellektuellen in einer engen Besenkammer, aß Hostien, trank Schnaps und wartete auf etwas.

»Was ist passiert?«

Ich blickte hoch, denn ich verstand Manzios Frage nicht.

»Damals. Als du noch gerne in Katakomben geklettert bist.«

Plötzlich wurde mir bewusst, wie verschlossen und heimlichtuerisch ich war. Ich hatte gelernt, meine Albträume zu verschweigen, und nie jemandem von der düsteren Begebenheit in der Kanalisation erzählt. Mein Leben war ein seltsamer Widerspruch. Ich war ein Nihilist, ein Faulpelz, stets verkrochen in seinem Loch. Doch obwohl ich mich seit frühester Kindheit so gewissenhaft von den Abläufen der Welt fernhielt, mich zuerst in meinem Kinderzimmer und später in verschiedenen winzigen Wohnungen in München verkroch, ereigneten sich in meinem Leben die seltsamsten Dinge. Als wollte ein zorniger Geist demonstrieren, dass es mir nicht bestimmt ist, die ruhige Kugel zu schieben und andere dafür bezahlen zu lassen.

In den Spiegeln
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