Nachwort — oder: der Cliffhanger


Nur wenige Etagen über den Räumen des Elysiums befand sich das Windows 25. Die atmosphärische, erwartungsgemäß geschmackvolle Lounge war zu bestimmten Uhrzeiten auf regulärer Basis von der Lux Aeterna gemietet und galt für die rund dreihundert Mitglieder als ein willkommener Freizeithafen.

Als ich dort zum ersten Mal saß, war es bereits in das warme, orange-rote Abendlicht getaucht. Die Gäste unterhielten sich mit gedämpften Stimmen, während Kellner gutgelaunt die Gerichte servierten. Die meisten Besucher zu dieser Stunde wohnten nur drei Etagen tiefer. Wenn man im Windows 25 zu Abend aß, war es gar nicht so unwahrscheinlich, dass die Person am Nebentisch eine kreisförmige Tätowierung auf der Schulter trug. Mit einer römischen Zahl darin. Natürlich versteckt unter einem modischen Jackett oder einem Rollkragenpullover.

Ich war bei den gestylten Untoten gestrandet.

Aramis sah man oft hier, meistens alleine an einem kleinen Tisch sitzend, mit einer Gabel etwas Leichtes zu sich nehmend und mit einem Buch in der freien Hand. Es mochte Poesie sein, ein Roman, aber auch ein Buch über Teilchenphysik, Astrologie, Psychotherapie, Waffenkunde, Stadtguerilla oder über den Farbwechsel bei Kraken. Es ergab auf eine seltsame Art Sinn, dass ausgerechnet er Manzios Körper betreten hatte.

Kirké und ich nahmen auf den Barhockern Platz, an einem schmalen hohen Tisch. Sie saß mit dem Rücken zu einem großen Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte. Hinter ihr wurde das Panorama von Frankfurt teilweise von der Fassade des Commerzbank Tower verdeckt. Es machte schwindlig, sie anzusehen.

Ich sah mich um und kam noch immer nicht aus dem Staunen heraus. Am anderen Ende des langen Raums entdeckte ich die vier Thailänderinnen, die mich damals so schlagartig verlassen hatten. Sie waren fünf Jahre gealtert und ihre Kleidung entsprach der von Geschäftsfrauen.

Kirké folgte meinem Blick und lächelte.

»Wir hatten sie aufgegriffen, als sie aus der Schutzwohnung wegliefen. Wir dachten, dass sie uns einiges über das Kerygma erzählen könnten. So strandeten sie hier, ähnlich wie du. Die Lux Aeterna war immer ein Hafen für all jene, die der Rest der Welt nicht anerkennt.«

Die Frauen saßen um einen Tisch und schlürften durch Strohhalme irgendwelche bunten Getränke. Natürlich konnten sie mich nicht erkennen, denn ich hatte nun einen anderen Körper.

»Hey, die schulden mir noch dreiundzwanzigtausend Mark.«

Kirké lächelte.

»Die aus unserer Kasse stammen, wenn ich mich recht erinnere.«

Sie war die perfekte Sprecherin dieser subversiven Meta-Sekte.

Der Kellner brachte uns die Getränke. Ein Glas Wein für Kirké und eine läppische Cola für mich. Es zuckte mich in den Fingern, einen Whiskey zu bestellen. Zur Feier des Tages. Um einfach ein wenig »runterzukommen«. Doch ich wusste, dass mein Körper weder Gründe zum Saufen brauchte, noch Lust auf einen Drink hatte. Er hatte Lust auf zehn Drinks. Ich hatte nicht vor, stockbesoffen durch die Korridore des 23. Stockwerks zu torkeln.

»Wie war eigentlich das Millennium-Fest?« fragte ich Kirké. »Ich habe es komplett im Jenseits verpasst.«

»Es war so menschlich«, sagte sie. »Es wurde im falschen Jahr gefeiert und weder die Apokalypse, noch das Y2K-Problem fand statt.«

Ich verstand die Ironie zwischen den Zeilen genau. Die Mitglieder der Lux Aeterna wurden zwar als Menschen geboren, doch sie nahmen sich so nicht mehr wahr. Sie waren etwas Anderes, etwas Neues. Homo transcendentalis.

»Was hast du jetzt vor?« fragte Kirké, und ich begriff, dass mir der Gedanke, eine Wahl zu haben, noch gar nicht in den Sinn gekommen war.

»Ich muss mir alles durch den Kopf gehen lassen«, antwortete ich zögerlich. Zwar hatte ich so etwas wie eine Agenda im Kopf, doch ich wusste, die Lux Aeterna verriet mir nicht alles, wonach ich fragte und schon gar nicht das, wonach ich nicht fragte. Ich beabsichtigte, es umgekehrt nicht anders zu machen.

»Adam Kadmon sagte einmal: ›Der Mensch, der seine Freiheit verdient, wird nie wieder müßig sein‹«, fuhr Kirké etwas lehrerhaft fort.

»Habt ihr denn keine Angst, dass ich alles herumerzähle?« fragte ich, statt zu antworten.

Kirké trank einen Schluck Wein und lächelte auf diese unnachahmliche Weise.

»Was willst du denn erzählen?«

»Nichts«, sagte ich leise. »Es gibt nichts zu erzählen, das irgendwer glauben würde.«

»Ich bin nun seit fünfzig Jahren auf dem Pfad der Schatten. Noch nie wollte jemand, der nicht vorher die Aschewerdung erfuhr, die Wahrheit darüber hören oder glauben. Absolute Unglaubwürdigkeit ist die beste Tarnung.«

»Es gibt Dinge, die muss ich erfahren«, erklärte ich zögerlich. »Über mich.«

»Viel Glück dabei«, entgegnete sie und stand auf. »Ich lasse dich jetzt allein. Ich will noch nach Celeste sehen. Es geht ihr schon viel besser.«

Ich wollte Kirké bitten, sie von mir zu grüßen, doch es erschien mir im selben Augenblick absurd.

So blickte ich lieber hinaus, auf Frankfurt im Abendlicht und dachte über vieles nach. Das Orange und das Rot wichen den sentimentalen elektrischen Laternen entlang der Straßen, und die Schatten der Hochhäuser verschlangen langsam die gesamte Stadt.

Willkommen am Ende.

Willkommen am Anfang...

Wir wissen niemals, wohin unsere Schritte uns führen und was der nächste Tag bringt. Doch wir wissen, dass die Welt nicht auf uns wartet, während wir uns in dunklen Wohnungen verstecken. Nur Zeit verstreicht, in einer Leere, die wir zugelassen haben.

Und so müssen wir hinaus, um die Dinge zu sehen, die uns umgeben. Denn wir sind, was wir sehen.

Wir müssen hinaus, um Erinnerungen anzuhäufen, denn wir sind, woran wir uns erinnern.

Doch vor allem müssen wir hinaus, um herauszufinden, was wir nicht versäumen dürfen.

Nicht der Tod ist schrecklich, sondern das gelebte Versäumnis.

Es gab noch so viele Fragen und so viele Rätsel in meinem Leben. Ich wurde noch immer von düsteren Albträumen verfolgt, und meine Ankunft an diesem Ort war begleitet von ungewöhnlichen Zeichen. Ich hatte zwar meinen Platz auf dem Spielbrett eingenommen, doch die Partie war kaum eröffnet.

Ich blickte hoch, noch völlig in meinen Gedanken. Einer der Kellner stand neben mir und lächelte mich ungeduldig an.

»W-was ist?« fragte ich und bemerkte das tragbare Telefon in seiner Hand.

»Ein Anruf für Sie, Herr Kámen.«

Ich räusperte mich und nahm den Hörer. Es musste jemand aus dem Elysium auf der 23. Etage sein.

»Ja?« sagte ich zaghaft.

»Jan-Marek Kámen?« erklang es am anderen Ende.

»Ja...«

»Gott sei Dank. Ich habe es auf gut Glück versucht.«

Die Stimme klang hektisch und rastlos, wie jemand, der aus einer Telefonzelle anruft.

»Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Fremont. Etienne Fremont. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.«

»Weshalb brauche ich Hilfe?«

»Weil Sie aus dieser ganzen Angelegenheit aufwachen müssen. Sie sehen die Welt durch einen Schleier. Aber nichts davon ist wirklich.«

Wieder einer, der versucht mir einzureden, ich sei wahnsinnig, dachte ich nur. Ich war bereit, den Ball in seine Hälfte zu spielen.

»Ach ja. Was ist dann mit diesem Telefon?«

»Das Telefon ist echt und Sie in der Leitung zu haben, war ein Glücksfall. Ich kann es Ihnen erklären. Sie müssen sich mit mir treffen.«

»Wie alt bin ich?«

»Sie sind 27 Jahre alt.«

»Finden Sie es nicht seltsam, dass meine Stimme kratzig ist und eindeutig nicht einem jungen Typ in seinen Zwanzigern gehört?«

»Sie hören, was Sie hören wollen. Da kann Ihre Stimme auch nach Marlon Brando klingen.«

»Warum sollte ich Ihnen vertrauen?«

»Weil Sie bisher alle Versuche, Ihnen zu helfen ausgeschlagen haben und Ihr Zustand sich dadurch deutlich verschlechtert hat. Sie sind vollkommen außer Kontrolle. Ich bin Ihre letzte Chance, Jan-Marek.«

Ich schwieg und blickte mir gerunzelter Stirn auf die Tischplatte vor mich hin.

»Treffen Sie mich. Ich werde allein sein. Wir müssen reden. Gehen Sie ans Fenster und blicken Sie zum Main. Sie werden dort rechts den Holbeinsteg sehen. Wir treffen uns in der Mitte der Brücke. In einer Stunde.«

Ich hielt noch einige Augenblicke den Hörer am Ohr, obwohl die Person am anderen Ende längst aufgelegt hatte.

Ich musste nicht zum Fenster gehen, denn ich saß bereits an der richtigen Stelle. So rutschte ich nur gedankenverloren von meinem Hocker und trat dicht an die große Glasscheibe. Die schmale Fußgängerbrücke sah wie eine gebogene Nadel aus, von einer Riesenhand über den Fluss gelegt. Geblendet von der trägen Abendsonne, kniff ich die Augen zusammen.

Ich stand da, mindestens zwanzig Minuten und überlegte, ob dies ein Termin war, den ich wahrnehmen sollte.

Auf den dunklen Nordfassaden der Mietshäuser leuchteten immer mehr Fenster auf, eines nach dem anderen. Hinter jedem Fenster ein Leben, manchmal mehr. Schicksale, Rätsel und Mysterien. Schmerzen, Gewalt und Hass. Hingabe, Leidenschaft und Liebe.

Die Nacht hatte begonnen.


In den Spiegeln
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