2.10 Peripeteia
Mein Geist wollte mich hochreißen, doch der Körper war zu schwach, um zu folgen. Immerhin wurde ich wach. Ich spürte noch die warmen Tropfen des blutroten Regens auf meinem Gesicht. Doch es war nur Schweiß.
»Ich bin Dr. Bondy«, sagte der Arzt sanft. »Wie fühlen Sie sich?«
Ich schwieg und gab nur ein kurzes Krächzen von mir. Meine Augen wanderten durch den Raum. Wäre ich Set-Designer beim Film und müsste ein Krankenzimmer für Privatpatienten entwerfen, es würde genauso aussehen. Weiße Wände. Möbel aus hellem Buchenholz. Optimistische Blumen. Zeichnungen von Kindern an den Wänden. Ein Fernseher und sandfarbene Lamellenvorhänge vor dem Fenster. Nicht zu viel Chrom.
Ich lauschte dem meditativ gleichmäßigen Signalen des EKG und drehte meinen Kopf ein wenig, um festzustellen, dass ich umgeben bin von Geräten und Monitoren, umgeben von einer Menge elektronischer Aufmerksamkeit.
Mein Arzt war geübt im Überbringen schlechter Nachrichten. Er blickte mir direkt in die Augen und spielte weder den kalten Wissenschaftler, noch den zu empathischen, mitfühlenden Freund. Er hatte sich auf meine Fragen wohl gut vorbereitet und trug vorsorglich einen ganzen Stapel Befunde und Röntgenbilder bei sich. Erst jetzt bemerkte ich, dass ein weiterer unbekannter Mann im Zimmer war und schweigend in der Ecke des Raums saß.
»Sie sind im Krankenhaus, auf einer Intensivstation«, erklärte Dr. Bondy. »Sie hatten einen sehr schweren Unfall.«
Mein Mund war trocken und meine Zunge fühlte sich wie Leder an. Langsam wurde mir auch klar, dass hinter meiner Stirn rücksichtslose Kopfschmerzen hämmerten.
»Sie haben sich sehr ernsthaft an der Wirbelsäule verletzt«, fuhr der Arzt fort.
Ich wusste, was er mir sagen wollte.
Zaghaft bewegte ich die Arme — sie reagierten. Ich bewegte meine Beine — sie reagierten nicht. Ich wand meinen Kopf zum Fenster. Man konnte dort gerade noch die äußersten Äste eines Baums sehen. Sie schwangen leicht im Wind.
»...ich habe sie aber erst mal weggeschickt...«, hörte ich Dr. Bondy sagen.
»Was...?« Ich blickte ihn wieder an, da seine letzten Worte irgendwie keinen Sinn ergeben.
Der Arzt hielt inne und wiederholt geduldig.
»Die Polizei«, meinte er. »Sie wollen Ihnen Fragen stellen, bezüglich der Gasleitung und der... Der Explosion. Aber es ist natürlich in meiner Macht, sie daran eine Weile zu hindern. Ich habe sie aber erst mal weggeschickt. Vor Übermorgen kommt die Polizei nicht wieder. Ich möchte, dass Sie sich erst mal ausruhen...«
»Ist...« Ich schlucke schwer und sehe mich nach einem Glas Wasser um. Es steht in der Tat eines neben meinem Bett. Ich greife danach. Es fällt mir schwer, doch dann trinke ich einige Schlücke. Ich schaffe es gerade noch, das Glas zurückzustellen, denn mittlerweile füllen sich meine Augen mit Tränen. Der Arzt setzt schon an, mir zu helfen, lehnt sich dann aber wieder zurück.
»Ist es irgendwie... operierbar...?«
Er schüttelt den Kopf, ohne den Augenkontakt mit mir zu verlieren. »Sie haben ein spinales Trauma erlitten. Eine solche Fraktur der Wirbelsäule, verbunden mit der Beschädigung des Rückenmarks, ist leider nicht reparabel. Sie haben keine motorischen Funktionen unterhalb der Verletzung.« Er ließ mir einige Augenblicke Zeit, bevor er fortfuhr. »Das sind die Fakten. Wir werden mit Ihnen an verschiedenen Therapien arbeiten, um die eingeschränkte Gebrauchsmotorik Ihres linken Arms in Schwung zu bringen...« Er deutete auf den Gipsverband meines linken Arms und räusperte sich. »Und Ihnen in jeder Hinsicht weiterzuhelfen.«
Ich blickte an die Decke. Mein Gehirn suchte verzweifelt nach Gleichgewicht, doch die Gedanken überschlugen sich. Mit dem freien Handgelenk wischte ich mir die Tränen weg und biss mich auf die Unterlippe.
»Was ist hier los? Ich weiß nicht was passiert ist...« Meine Stimme zitterte.
Dr. Bondy nickte verständnisvoll. »Es gab eine Explosion in Ihrer Wohnung. Viel mehr weiß ich auch nicht. Sie waren gerade auf dem Weg hinaus, was Ihnen das Leben gerettet hat. Ein Trümmerteil aus Metall jedoch, traf sie in den Rücken und verletzte Ihre Wirbelsäule.«
Eine Explosion. Ich wusste nichts von einer Explosion. Was ist zuletzt geschehen? Evelyn...
»Evelyn...«
»Ist das Ihre Frau oder Freundin?«
Ich nickte. Ich schüttelte meinen Kopf. »War sie hier?«
»Es war keine Evelyn hier«, meinte Dr. Bondy. »Sie sind noch gar nicht so lange aus dem OP raus. Es musste sehr schnell gehen.«
Mein Blick blieb wieder an dem Unbekannten in der Ecke des Zimmers hängen. Vielleicht war er eine Halluzination. Nur ich sah ihn, der Arzt nicht.
»Wer ist dieser Mann?«
Dr. Bondy sah gar nicht erst hin. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass Ihnen für den Augenblick das Gedächtnis einige Streiche spielt. Der Mann ist Ihr Onkel. Ihr Onkel Dieter.«
Ich hatte mal gelesen, dass Ärzte dem Prinzip folgen, bei der Überbringung schlechter Nachrichten die Anwesenheit mindestens eines Verwandten zu arrangieren. Ich würde gerne glauben, dass Dr. Bondy das bewusst beherzigte. Doch falls mein Gehirn nicht komplett aus Mus bestand, hieß mein einziger Onkel Ferdinand und er war seit Jahren tot. Er war betrunken auf den Zuggleisen in der Nähe von Brünn eingeschlafen und somit kaum von Dr. Bondy durchs Telefonbuch auffindbar. Der Mann musste also von alleine aufgetaucht sein und sich als mein Onkel ausgegeben haben.
Es gab in meinem Leben keine Erfahrung, die dieser hier ähnelte. Eine trockene, raue Empfindung von Sein und Nichtsein. Schmerzhaft. Wie das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ich weiß nicht, wie andere Menschen auf die Mitteilung reagieren, dass sie bis an ihr Lebensende nicht wieder gehen werden. Oder dass sie nur noch Monate zu leben haben. Mein »Krisenschock« war das ständige Gefühl, dass das Krankenzimmer schief steht und das Bett mit mir langsam wegrutscht. Jede einzelne Sekunde fühlte sich wie eine Falle an. Als ob ich im Begriff war, den restlichen Verstand, den ich noch besaß zu verlieren. Ich fühlte mich machtlos.
Ich fand Leute in Rollstühlen stets bewundernswert. Sie waren geschickt und irgendwie auch exzentrisch. Aber deswegen hat man noch lange keine Lust, es ihnen gleichzutun. Immer wenn ich an einem Menschen im Rollstuhl vorbeiging, dachte ich sofort an etwas positives, in einer instinktiven Angst, dass gerade jene Dinge im Leben eintreten könnten, mit denen man in Gedanken nicht ausgesöhnt ist. Esoterische Folklore. Egozentrische Scheiße. Ich hatte mich stets gefragt, ob schwangere Frauen das tun, wenn sie an einem behinderten Kind vorbeigehen und Autofahrer, wenn sie an einem brennenden Auto vorbeirasen. Wir Menschen sind verwickelt in heimliche Wünsche und daraus resultierende Schuldgefühle. Verzahnt in das beschleunigende Getriebe der Weltflucht, die Welt eilig im Vorbeigehen aufnehmend. Es gibt keine Zeit, um behinderte Kinder kennenzulernen und bei brennenden Autos anzuhalten. Wir sind nicht einmal mehr neugierig. Wir kreuzen einfach nur die Finger oder sprechen ein obszönes Gebet.
Doch nun stand die Zeit still.
Selbstmord? Ich hatte diesen Gedanken. Sofort und in der ersten Sekunde.
Aber dann stellte ich fest, dass an meinem Krankenbett, das sich in dem Augenblick eher wie ein Totenbett anfühlt, Onkel Dieter sitzt — ein Mann, den ich niemals zuvor gesehen hatte.
Eine lächerliche Situation. Ich begann mich an die Stunden und Minuten vor dem »Nichts« zu erinnern. Evelyn, die plötzlich Talitha wurde und von sich selbst in dritter Person sprach und Tina, die plötzlich Patrice hieß. Laura, mit kalten Katzenaugen wie Ozeane.
Die Antworten zeichneten sich klar ab. »Onkel Dieter« war hier, um mich zu erledigen, weil es in meiner Wohnung nicht geklappt hatte. Weil es der Katze zwar gelungen war, das halbe Haus in die Luft zu jagen, bei ihrem Primärziel hatte sie dennoch versagt.
Nun war es vielleicht an der Zeit, dem Arzt zu erklären, dass dieser unbekannte Mann eigentlich ein Killer war, der es auf mich abgesehen hatte. Dr. Bondy hätte vermutlich eine Art von Schockreaktion diagnostiziert und Onkel Dieter erst mal hinaus gebeten... Doch was dann? Ohne funktionierende Beine bestand keine Aussicht auf Flucht.
Ich spürte, dass ich irgendwie nicht wünschte, dass die »Guten« mich nun vor den »Bösen« retteten. Ständig werden wir in unserem Leben gerettet und geborgen — beschützt vor dem kalten Winter da draußen. Aber hier sollte es vorbei sein. Ich wollte nicht gerettet werden. Ich wollte, dass der Arzt ging. Ich wollte, dass der andere Mann es beendet. Noch einmal versuchte ich meine Beine zu bewegen und erfuhr dieses seltsam schmerzende Gefühl von Nichts.
»Ich wäre jetzt gerne mit meinem Onkel allein«, erklärte ich Dr. Bondy.
»Fühlen Sie sich fit für Besucher?« Er lächelte zufrieden, fast etwas erfreut darüber, dass ich offensichtlich nicht mehr die Schranke der Amnesie zwischen mich und meinen Verwandten stellte.
Ich nickte leicht. Augenblicke später war der Arzt aus dem Zimmer und ich mit dem unbekannten Mann allein. Mein ganzer Körper tat weh. Sogar jene Körperteile, die ich eigentlich nicht mehr spüren sollte, schmerzten irgendwie. Ich hatte einen Grad an Verwirrung und Verzweiflung erreicht, der nicht mehr steigerbar war. Die Lawine aus Fragezeichen, die vor einem Jahr begonnen hatte auf mich einzuschlagen, schien mich am Ende nun doch zu ersticken.
»Du willst mich töten, also mach schon.« Ich duzte ihn trotzig, obwohl er deutlich älter war.
Der Mann war hager und hatte nicht mehr viele Haare am Kopf. Die Sechzig war ihm näher als die Fünfzig. Er trug eine recht starke Brille, und sein grauer Trenchcoat war alt und abgetragen. Ich bemerkte, dass in seinen Augen ein gewisses Lächeln blitzte. Nicht sadistisch, sondern eher fasziniert. Als sähe er mich nicht zum ersten Mal. Als würde er nur mein Foto kennen und mich nun endlich in persona treffen. Er stand langsam und schweigend auf, schob seinen Stuhl ganz nah an mein Bett und setzte sich wieder.
»Wer bist du?« fragte mich der Mann. Eine derartige Frage war überraschend.
»Ich verstehe nicht...«
»Wie hast du, ein Kind, das ständig unbeholfen durch das eigene Schicksal taumelt und gegen Türbogen poltert, es geschafft, uns so nahe zu kommen?«
Ein sehr polemischer Killer, dachte ich und seufzte trotzig.
»Alles in den letzten Monaten war nur ein einziges Rätsel... Haben Sie Antworten? Echte Antworten? Wenn nicht, quatschen Sie mich nicht voll.« Ich hatte unbewusst begonnen ihn zu siezen, denn es war etwas in seiner Stimme, dass mich dazu zwang, ihm mit Respekt zu begegnen.
Der Mann lehnte sich zurück und streckte gemütlich seine Beine aus.
»Du hast an einem Spiel teilgenommen, das du nicht verstehst. Du solltest also nicht überrascht sein, wenn deine Figur nicht mehr auf dem Brett steht.«
Er begann in einer Inspektor-Colombo-Manier seine Taschen abzuklopfen und zu durchsuchen. Schließlich kramte er eine zerknüllte Zigarettenschachtel hervor.
»Magst du eine rauchen?« fragte er.
Der Mann hatte wohl komplett verpasst, dass man seit mindestens hundert Jahren nicht mehr in Krankenhäusern rauchte, dachte ich.
Etwas unbeholfen machte er die Schachtel auf und zündete sich tatsächlich eine Kippe an. Nach einem Zug begann er verzweifelt zu husten und drückte schließlich die Zigarette gegen den Metallrahmen meines Krankenbettes aus. Den langen Stummel warf er unter das Bett.
Ich erinnere mich, dass ich nur an eine Sache dachte: Um Gottes Willen, kann nicht mal der Typ, der mich umlegen soll, normal sein? Welcher Meuchelmörder erstickt fast an der eigenen Zigarette?
»Ich versuche mir wieder das Rauchen anzugewöhnen«, rechtfertigte er sich. »Manchmal ist es faszinierend, das Nikotin so zu spüren, wie es in den ersten Tagen und Wochen des Lasters war...« fuhr er fort. »Die Menschen... Sie genießen etwas für drei Wochen und die darauffolgenden dreißig Jahre betreiben sie es dann notorisch und ohne Vergnügen...«
Ich wollte ihm gerne irgendeine Unverschämtheit ins Gesicht schleudern. Oder ihn wenigstens zornig ansehen, während er seine Pistole mit einem Schalldämpfer an meine Stirn drückte. Denn ich fühlte mich verletzlich und unterlegen — auf dem Bett, mit leblosen Beinen.
»Wie auch immer. Ich war mal ein Kettenraucher und doch hat meine Lunge noch nie Rauch geschmeckt. Wie ist es möglich? Kannst du das Rätsel lösen?«
»Wer — sind — Sie?« zischte ich langsam.
»Ich würde mich lieber fragen, wieso du — ein Kerl gänzlich ohne eine Krankenversicherungskarte in der Brieftasche — ein Zimmer für dich alleine bekommst.« Er sah mich eine Weile an, als wollte er mir Zeit geben, die Antwort zu formulieren. »Der Sozialstaat ist zu einem derartigen Luxus nicht verpflichtet.«
»Klar. In einem Saal mit zehn anderen Patienten wäre es schwierig mich zu erledigen«, sprach ich lakonisch aus, was ich dachte.
»Hast du schon mal den Namen Oktagon gehört? Die Oktagon Stiftung? Nein?« Onkel Dieter warf einen Blick zur Glastür und vergewisserte sich, dass uns niemand belauschte. »Holophrenie? Wie steht es damit? Das Kerygma?«
Er ging nachdenklich im Zimmer auf und ab.
»Also gut. Du hast gefragt, wer ich bin. Mein Name ist Lichtmann. Paul Lichtmann. Von meinen Leuten werde ich aber Adam Kadmon genannt.« Er studierte meine Reaktion.
»Sie sind der Anführer der Lux Aeterna«, antwortete ich mühsam.
»Und weißt du, was die Lux Aeterna ist?«
Ich schüttelte unmerklich den Kopf.
»Nicht mal eine Vermutung?«
»Eine Sekte, nehme ich an...«
»Und da beginnt das Problem. Warum jagt dich das Kerygma, wenn du so wenig weißt? Jeder der im Internet surft, könnte so viel rausbekommen. Und warum wollen sie dich unbedingt lebend haben?«
Irgendwo aus der Region jener Beine, die ich nicht mehr spürte, begann Zorn in mir aufzusteigen.
»Sie kommen hierher, um mir Fragen zu stellen? Sie wollen in diesem Scheißchaos, dass ich Ihnen Antworten gebe? Wer gibt mir Antworten?« fauchte ich ihn an und biss anschließend schmerzerfüllt die Zähne zusammen.
»Aufpassen mit dem Puls«, sagte Lichtmann versöhnlich, während zeitgleich sein Mobiltelefon klingelte. Er kramte wieder etwas zerstreut in seinen Taschen und zauberte schließlich aus dem Trenchcoat ein silbernes Handy hervor, dessen Antenne er langsam und etwas unbeholfen herauszog und das er sich dann ans Ohr hielt.
Er sagte ungefähr sechsmal »ja« und legte wieder auf.
»Neuer Stand der Dinge«, erklärte er mir. »Die Polizei hat in den Trümmern eine Menge Ungereimtheiten gefunden. Schusswaffen mit Schalldämpfern, leere Hülsen, Leichen mit seltsamen Wunden. Sie sind auf dem Weg hierher und offensichtlich haben sie auch ein paar Oktagon-Leute dabei. Kennst du das Oktagon?«
»Sie haben mich das schon gefragt«, röchelte ich.
»Das Oktagon denkt, du leidest an der Holophrenie. Deswegen wollen sie dich aus dem Verkehr ziehen. Behandeln. Doch warum will dich die Kerygma-Gruppe? Ganz sicher nicht wegen der Holophrenie.« Er lachte auf, als hätte er gerade einen Insiderwitz gemacht. Doch die Pointe entzog sich mir.
Er nickte schließlich nachdenklich und kramte wieder das Telefon hervor. Er drückte nur eine Taste und wartete.
»Kirké? Wie sieht es aus?« Er lief während des Telefonats auf und ab und sah manchmal zu mir herüber. »Ich verstehe. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ich mit ihm gehe.«
Am anderen Ende der Leitung gab es Proteste. Lichtmann hörte sich geduldig irgendwelche Einwände an.
»Ja, ich weiß genau, wie viel Zeit das kosten wird. Aber ich fürchte, wenn wir zulassen, dass die ihn umlegen oder verschwinden lassen, werden wir vielleicht nie erfahren, was hier los ist.«
Er klappte das Telefon wieder zu und sah mich mit erhobenen Augenbrauen an.
»Mann, Junge...« Er wirkte jovial. Wie ein Bussard, bevor er zuschlägt. »Es gibt Dinge, die brauchen Zeit. Die Sache, die ich Dir nun vorschlagen möchte, braucht beim ersten Mal mindestens drei Tage, im Notfall eine Stunde. So wie ich es sehe, haben wir kaum fünfundzwanzig Minuten.«
»Sie sind nicht hier, um mich umzulegen«, sagte ich.
»Ich war hier, um dir einige Fragen zu stellen«, erwiderte er. »Jetzt möchte ich dir eine Wahl geben.«
»Eine Wahl?«
»Wie wird es jetzt wohl weitergehen? Was sind deine Pläne?« Er warf dabei einen Blick auf meine reglosen Beine.
Es gab nichts, das ich darauf sagen konnte. Im Augenblick gab es für mich kein »weiter«. Es gab kein »morgen«, keine »Zukunft«, keine Pläne. Es gab nur das Gas in der Leuchtstoffröhre über mir. Alles fühlte sich künstlich an.
»Dein Arzt würde dich diese Dinge nie fragen, nicht einen Tag nach dem, was passiert ist. Aber Zeit ist in meinem Fall ein großer Luxus, und ich habe nicht genug davon, um auf deine seelische Genesung zu warten. Das ist mein Problem. Verstehst du was ich sage?«
Ich verstand es nicht.
»Es gibt ganz gute Rollstühle auf dem Markt. Und du wirst nach paar Monaten kräftige, drahtige Armmuskeln haben. Viele Galerien und Kinos in Hamburg sind rollstuhlgerecht. Das ist also nicht das Ende der Welt, obwohl es dir vielleicht jetzt so erscheinen mag.«
Angestrengt versuchte ich mich auf seine Worte zu konzentrieren. Ich öffnete und schloss die Augen, blickte ihn an...
»Aber da ist noch die Sache mit der Explosion. Bald wirst du zwischen dir und der Polizei mehr brauchen als Dr. Bondy.«
Ich blickte von ihm weg. Meine Augen füllten sich wieder mit Tränen.
»Jan-Marek... Denk nach. Was geschieht hier? Es ist wichtig, dass du wenigstens zum Teil selbst darauf kommst, denn das macht alles andere leichter. Wenn du keine Antworten weißt, stelle die richtigen Fragen.«
Ich wusste nicht, was er damit meinte. Ich sah ihn erneut an und versuchte zu verstehen. Sein Bild war verschwommen.
»Wer war die Frau in dem Keller? In München...« fragte ich mit brüchiger Stimme.
»Sie nennt sich Talitha. Der ursprüngliche Name spielt heute keine Rolle mehr. Sie geriet in die Hände unserer Gegner. Aramis hat sie zusammen mit dir gerettet. Und als gestern die Kerygma-Leute kamen, um dich zu entführen und deine Wohnung zu zerstören, war Talitha zur Stelle, um dich da raus zu holen. Ich schätze, ihr seid jetzt quitt.«
»Sie war nicht dort!« rief ich gereizt.
Er beugte sich noch weiter vor.
»Du weißt genau, was passiert ist. Du versuchst nur verzweifelt die Schranken aufrechtzuhalten und die Wirklichkeit auszusperren.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen...«
»Du hast nie wirklich die Frage an dich herangelassen, was mit deinem Freund in München passiert ist, nicht wahr? Das Wunder, dessen Zeuge du warst. Der Fingerzeig Gottes inmitten einer Landschaft aus Lügen. Nur für dich sichtbar. Eine Veränderung in seinem Benehmen, von einer Sekunde auf die andere wurde er Aramis. Und wie war es mit Evelyn? Fand bei ihr nicht auch so ein Moment der Verwandlung statt?«
Er hatte natürlich Recht. Und ich hatte keine Erklärung dafür.
»Wo ist sie?« fragte ich statt dessen.
»Manzio und Evelyn sind beide tot. Zumindest im herkömmlichen Sinne. Sie waren beide zur falschen Zeit, am falschen Ort. Oder es ist einfach nur gefährlich, mit dir befreundet zu sein. Daran schon mal gedacht?«
»Aber ich sah sie weggehen. Über das Dach«, sagte ich halblaut. »Was haben Sie mit ihnen gemacht?«
»Du verstehst es noch nicht«, erwiderte Lichtmann. »Aber tief in deinem Inneren formt sich die Wahrheit.«
Ich versuchte mich mit den Ellbogen aufzustützen, doch ich war zu schwach dafür. Für einen Augenblick vergaß ich sogar meine Beine. Ich sah ihn an und formte den Gedanken zum ersten Mal zu einem Satz.
»Sie verschwanden als sie sich verwandelten... Vermutlich sind sie tot.«
Lichtmann nickte undeutlich und legte seine Hand auf meine.
»Sie standen beide nur einen Schritt vom Tod entfernt. Am falschen Ort — zur falschen Zeit. Sie gaben den Körper frei für Menschen, die darin geübt sind, beiseite zu treten und die Gefahr vorüberzulassen. Um dann in dem geretteten Leib weiter zu handeln.«
Ich wusste, für alle Absurditäten der letzten Monate war diese allerabsurdeste Idee der einzige Schlüssel, der passte. Manzios Blick war noch frisch in meiner Erinnerung, als wären die Ereignisse unter dem Haus der Kraniche erst gestern passiert. Diese veränderte Art zu sprechen, zu schauen, sich zu bewegen. Seine plötzliche Absicht, jemanden da unten zu retten, von dessen Existenz er eigentlich nichts wissen konnte. Und Evelyn... Als sie sich auf dem Sofa verbog und nach Luft schnappte, hatte sie einen anderen Blick. Unmittelbar danach lag in ihren Augen eine neue Entschlossenheit.
Und ich begriff, dass Menschen, die zu so etwas fähig waren, in allen Städten und an allen Straßenecken Todfeinde haben würden. Denn sie waren etwas, das niemals sein durfte.
»Kann ich sie trotzdem sprechen?«
»Das könnte man einrichten«, erwiderte Lichtmann. »Aber der Weg ist lang und es gibt keine Rückfahrkarte. Wenn du mitkommst, wird alles, das war, keine Bedeutung mehr haben. Doch es gibt auch einen Gewinn bei dieser Sache: Da wo wir hingehen, wirst du keine Beine brauchen.«
Ich schaute zum Fenster und sah die Spitze des Baums in der traurigen Dunkelheit des Abends verschwinden. Trotzig wischte ich mir die Tränen weg und blicke ihn an.
»Sie scheinen eine klare Agenda zu haben.«
Lichtmann stand auf, ging zur Glastür und beobachtete das Treiben auf dem Krankenhausgang.
»Ich mache das nur, weil in zwanzig Minuten ein paar Kerle vom Oktagon vor der Tür stehen werden und ich dann nie erfahren werde, was es mit dir auf sich hat. Kumpels sind wir deswegen nicht. Ich an deiner Stelle würde mir aufs Äußerste misstrauen.« Er sah mich kurz an, als wollte er es einmal klargestellt haben. Sein Blick entspannte sich sofort und er wirkte wieder so unbeschwert, wie es ihm eigen war. »Unter normalen Umständen würde ich dich erst mal in Sicherheit bringen. Aber diese Zeit haben wir nicht. Jetzt, da die Ermittler wissen, dass nicht registrierte Schusswaffen und tödliche Schwertwunden im Spiel waren, werden sie sich nicht mehr von einem Arzt aussperren lassen. Wir müssen es also hier tun.«
»Was tun?«
Er setzte sich an den Bettrand. In seinen Augen entflammte Eifer.
»Die letzten sechs Monate haben dir mehr Verrücktheiten und seltsame Begebenheiten geboten, als es einem anderen Menschen in einem ganzen Leben gegeben wäre. Stimmst du mir zu?«
In diesem Punkt waren wir uns definitiv einig.
»Du musst ein Teil des Wunders werden, Jan-Marek. Lasse dich darauf ein.«
Aus meinem Gesichtsausdruck konnte er ablesen, dass ich ihm nicht sehr gut folgen konnte.
»Glaubst du, dass Menschen eine Seele haben?«
Mit gehobenen Augenbrauen nickte ich leicht. Ich hatte mich nie für einen Atheisten gehalten und noch weniger für einen reinen Materialisten. Aber...
»In einer Welt, in der uns jeder zu erklären versucht, es gäbe keine Geheimnisse, segle ich täglich auf einem ganzen Ozean aus Geheimnissen«, sagte Lichtmann. »Und alles, was du tun musst, ist... mit mir zu sterben.«
Wir starrten uns in die Augen. Sekunden vergingen.
»Also sind Sie doch hier, um mich zu erledigen?« Er hatte mich kurz in seinem Bann, doch nun begann mein Herz wieder panisch zu klopfen. Lichtmann blickte hoch zu den Anzeigetafeln und Bildschirmen der Apparate, die an mir angeschlossen waren. Er schien etwas von diesen Dingen zu verstehen.
»Nein. Ich bin nicht hier, um dich zu erledigen«, entgegnete er, ohne mich anzusehen, während er die Anzeigen des EKGs studierte und einige Schalter betätigte. »So war es schon immer. Es ist die Wahrheit hinter allem. Der wahre Erlöser kann dir nur den Tod vermitteln — alles andere sind Lügen. Ich bin hier, um die Mauer zwischen dir und der Wahrheit niederzureißen. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.« Er lachte auf, unterbrach dann sein Tun und sah mich kurz mit gehobenen Augenbrauen an. »Die Polizei ist unterwegs. Noch bewegen wir die Figuren auf dem Schachbrett. Aber in fünfzehn Minuten übernehmen die anderen die Regie. Dann läuft dein Leben wieder auf Autopilot.«
Er griff in die Innentasche seines Trenchcoats und holte eine Zeitschrift heraus. Er warf sie zu mir aufs Bett und stellte sich wachend in die Nähe der Glastür. Ich war nicht in der Verfassung, mich auf den Inhalt zu konzentrieren, doch es schien sich um ein medizinisches oder psychiatrisches Journal zu handeln. Ich konnte nur die Überschrift aufnehmen: ›PSYCHOTISCHE NETZWERKE — DIE NEMESIS VON MORGEN.‹
»Ich verstehe nicht«, flüsterte ich erschöpft und wünschte mir, ich hätte für diesen Satz einfach einen Schalter unter dem Daumen, den ich nur leicht antippen müsste.
»WIR sind die psychotischen Netzwerke«, rief Lichtmann aus. »Die einen haben es in hundert Jahren nicht geschafft, uns zu eliminieren, also erklären uns die anderen vorsorglich für halluzinierende Geisteskranke. Holophrene Psychoten.«
Ich kann nicht sagen, dass die Dinge, die Lichtmann sagte, für mich einen konkreten Sinn ergaben. Ich kann nicht sagen, dass es ihm gelang, mich mit irgendetwas zu überzeugen. Aber ich hatte einen starken Todeswunsch. Ich wollte das alles abstreifen. Es sollte vorbei sein. Das hier war keine Querschnittslähmung in Folge eines Skiunfalls, wo Zufall oder sogar »Pech« zwar keinen Trost, doch zumindest eine universelle Erklärung boten. Das hier war das letzte Glied einer Verkettung von Ereignissen, die allesamt sinnlos erschienen. Und jeder und alles trug nur dazu bei, dass die Rätsel zunahmen und die Antworten ausblieben. Aber da war Lichtmann. Er gab die ersten Antworten. Und die Dinge, die mir so unklar waren, begannen gewisse Ränder und Formen zu erhalten. Die Frage war lediglich, ob ich bereit war, diesem seltsamen Menschen zu vertrauen. Aber war das in meiner Situation nicht gleichgültig?
Ich hatte keine Antworten für die Polizei. Wenn ich der Polizei das erzählte, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte, würden sie mich in einen Rollstuhl setzen, mir Handschellen anlegen und den Polizeipsychologen bestellen, der das stärkste Beruhigungsmittel im Koffer hatte. Ich besaß keine Alternativen außer Lichtmann.
»Woher weiß ich, dass das alles nicht irgendein komplizierter Trick ist, um mich in eine Falle zu locken? All diese ominösen Anrufe auf Ihrem Handy, der Zeitdruck, das Schielen nach dem Arzt...«
Lichtmann blieb stehen und blickte mich lange an.
»Du weißt es nicht. Doch warum sollte ich dich in eine Falle locken? Sieh dich an. Du bist schon tief im Spinnennetz eingewickelt, ausgesaugt zu werden. Und wenn das alles hier nur Theater sein sollte — sag mir aus welchem Motiv...«
Es fiel mir kein Motiv ein. Schließlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Lichtmann war hier, um mir noch mehr zu schaden — und das konnte nur den Tod bedeuten. Oder er war hier, um mir in irgendeiner Weise zu helfen. Was auch immer, es mochte besser sein als das hier. Ich wollte nicht das Leben leben, das für mich in diesem Augenblick, an dieser Kreuzung, vorgesehen war.
Ich sah ihn entschlossen an.
»Dann tun Sie, was Sie für richtig halten.«
Er nickte stumm. »Wir haben zu viel Zeit verloren. Das ganze Verfahren braucht mindestens vierzig Minuten. Wir haben nur noch zehn. Ich muss also irgendwie dreißig Minuten gewinnen.«
»Was kann ich tun?«
Er begann wieder in seinen Taschen zu kramen und holte eine flache Metallschachtel hervor. Er öffnete sie. Sie enthielt einige Injektionsspritzen, kleine Plastikschächtelchen mit Tabletten, Ampullen und durchsichtige Tütchen. Ich bemerkte, dass einer der kleinen Glasbehälter mit einer blauen Flüssigkeit gefüllt war, ähnlich, wie in dem ausgeschnittenen Buch, das ich in München aus dem Schließfach geholt hatte.«
»Das Thanatol«, flüsterte ich.
»Du musst erst mal das hier nehmen.«
Er hielt mir seinen Zeigefinger unter die Nase. Ich erkannte eine winzige, kaum sichtbare Pille. Ich sah sie nicht zum ersten Mal.
»Ich kenne das. Ist das...?«
»LSD«, war seine lapidare Antwort.
Na klar. Natürlich. Wenn schon Wahnsinn, dann richtig. Wieso habe ich das nicht erraten?
»Ich soll einen roten Mikro einwerfen und mich dann umbringen lassen?«
»Im Grunde... ja. Ich würde dir normalerweise einen intravenösen Cocktail aus Thanatol und LSD verpassen. Aber ich brauche Zeit, um dich reisebereit zu machen.«
Ahnungslos darüber, wovon er eigentlich sprach, wollte ich ihm diesen kleinen chemischen Krümel von der Fingerspitze nehmen, doch meine gesunde Hand zitterte wie bei einem Parkinson-Tremor. Er schob seinen Zeigefinger vor meinen Mund und ich leckte den Trip von seiner Fingerkuppe.
Was für ein lächerlicher Augenblick.
»Toll. Dann bin ich bald auf Acid und was dann?«
Lichtmann stand auf und ging zum Schrank. Er öffnete ihn. Ich konnte sehen, dass er leer war. Nur ein zusammengeklappter Rollstuhl stand dort. Er zog ihn auseinander und fuhr damit neben mein Bett.
»Wenn der Trip anfängt, wirst du lieber bei mir sein, als auf die Polizei zu treffen, glaube es mir«, sagte er prophetisch und schmunzelte dabei.
Er zog meine Decke weg und begann die Nadeln und Sensoren von meinen Armen und meinem Oberkörper zu entfernen. Auf der Anzeige eines der Geräte begannen hysterisch die Buchstaben ASY aufzuleuchten.
Anschließend griff er zwischen meine Oberschenkel und entfernte mit verdächtig gekonnten Griffen das Fowley-Katheter. Zumindest in diesem einen Augenblick war ich froh, keinen Unterleib zu spüren.
»Wann hast du das letzte Mal einen Trip genommen?«
»Ist paar Jahre her«, antwortete ich lethargisch.
Langsam dämmerte mir, dass die seltsame Flucht, die in München begann, hier in die nächste Phase trat. Das Krankenhaus war keine Sackgasse mehr. Denn nun war Lichtmann da, und er konnte eine Rochade auf dem Spielbrett führen. Doch der Preis war hoch: mein Verstand. Alles erschien hundertmal verrückter und wahnsinniger, als alle Erklärungen, die ich in den letzten Monaten durchgespielt hatte. Und nun sollte die nächste Station der Tod sein. Meiner Lunge, meinen Lippen, entglitt ein tiefer Seufzer. Meine Hände zitterten noch immer wie die Rührstäbe eines Mixers. Das Schäumen in meinen Ohren war wieder da, stärker als zuvor. Ich war erledigt. Beinahe bewusstlos. Beinahe tot. Am Rande des Wahnsinns. Echte Partykanone.
Lichtmann hielt inne und packte meine Hände.
»Ich weiß«, sagte er. »Ich weiß.«
Ich sah ihn an und fühlte, wie mein Blut zu kochen begann. Ich würde in einer dreiviertel Stunde tot sein. Gut gemacht! Mein Geist zuckte wie ein verzweifeltes Tier, das zur Schlachtbank geführt wird.
Es war nicht richtig. Es war nicht normal. Ich hatte keine Beweise für das, was er sagte. Ich hatte keine Sicherheit, keine Garantie.
Lichtmanns Stimme wurde leise und warm. »Ich könnte ganze Stunden und Tage mit Vorträgen darüber füllen, was dich erwartet. Aber weder haben wir die Zeit, noch würde es dir auf deiner Reise etwas nützen. Denn wir betreten die Welt des Unaussprechbaren. Wenn du erst einmal gesehen hast... Wenn du weißt, dann muss ich dich nicht mehr überzeugen. Und dieses Gefühl, das dich nun beherrscht, diese schwarze Ohnmacht, die dich umklammert und würgt...« Er legte seine Hand auf meine Schulter. »...sie wird nie wieder zurückkommen.«
Ich blickte nur apathisch vor mich hin und ließ mich auf den Rollstuhl zerren. Dann stachen brutale Schmerzen durch meinen Oberkörper.
»Halt durch«, ächzte der alte Mann. Er platzierte mich in den Rollstuhl. Dann stellte er sich vor mich hin und trocknete seine Stirn mit einem Taschentuch.
»Der Rücken muss noch höllisch wehtun. Du bist gestern erst operiert worden«, brummte er. »Aber ich kann dir kein weiteres Morphium geben. Es würde die Prozedur stören. Du bist ohnehin genug mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt. Das LSD wird die Wirkung ein wenig umkehren. Denn du musst um jeden Preis wach bleiben. Sonst verliere ich dich.«
Die Abwesenheit der Infusion machte mir zu schaffen. Am Rande der Ohnmacht nahm ich meine Umgebung kaum wahr. Wir glitten durch Krankenhausgänge, vorbei an Patienten, Krankenschwestern, Besuchern und Türen. Wie war er nur an Dr. Bondy vorbeigekommen? Dann waren wir in einem großen Schrank und ich fühlte, wie wir stiegen. Oder sanken wir?
Das Leben... Vielleicht wirklich nur eine biomechanische Angelegenheit mit einigen Software-Finessen, wie dem Überlebenstrieb. Dann stirbt das Tier und alles ist vorüber. Es gibt nichts mehr, worüber wir sprechen sollten. Und wäre ich ein Mensch, der befähigt ist, der Welt große Dinge über das Universum, die Galaxien und über die Rätsel aus den Tiefen des Alls zu erzählen, würde es keine Rolle spielen, ob ich in einem Rollstuhl stecke oder nicht. Aber in diesem einen Augenblick, tendiere ich nicht dazu, meine Bedeutung auf dieser Welt zu überschätzen. Und es ist kein Psychotherapeut zur Stelle, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Um mir zu erklären, wie wichtig und wertvoll mein Leben ist. Es ist kein Priester da, um mir klarzumachen, wie groß die aufgeladene Schuld ist, falls ich mich nun, an dieser Stelle, gegen mein Leben vergehe. Es gibt diesen verrückten Penner in einem schmutzigen Trenchcoat, der mich gerade entführt. Und es gibt den Trip.
Die Stadt ist schön. Die Lichter ziehen mich an. Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin, aber ich bin wohl aus einer kurzen Bewusstlosigkeit erwacht. Die Lichter verbinden sich zu Mustern. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ganze Kaleidoskope vor meinen Augen. Muster, Muster und noch mehr Muster. Ich öffne die Augen wieder und bewege meinen Kopf. Die Lichter der Stadt bewegen sich entgegen der Kopfdrehung und hinterlassen dabei Streifen, als wären sie einzelne kleine Kometen.
Plötzlich taucht ein Gesicht vor mir auf. Es ist dunkel und teuflisch. Es verdeckt die Lichter.
Ich höre ihn etwas sagen. Aber ich kann nichts verstehen. Jemand benetzt meine Lippen. Ich trinke mehr und versuche mich auf die Worte zu konzentrieren.
»Wir sind auf dem Dach des Krankenhauses. Du hast es bald geschafft.«
Er greift in mein Gesicht und zieht meine Augenlider auseinander.
»Die Pupillen eines Jaguars. Das LSD wirkt. Hab vergessen dir zu sagen, dass die Dosis ungefähr fünffach ist«, höre ich ihn am Ende eines Tunnels sichtlich erfreut rufen. »Aber high zu sein ist nur ein Teil der Arbeit.«
Ich lalle etwas. Nichts ergibt mehr Sinn. Nur wenn ich die Lichter ansehe, ahne ich die wärmende Gewissheit eines Zusammenhangs.
»Gibt es keinen anderen Weg, Paul Lichtmann?!« jammere ich und fühle mich plötzlich wie ein kleines Kind. »Müssen wir denn sterben?«
»Es gibt keinen anderen Weg«, erwidert Lichtmann und sieht mir in die Augen. »Du schenkst mir deine Angst und ich schenke dir die Ewigkeit. So wird es laufen, in Ordnung?«
Lichtmann kniet neben mir und hält meine Hände in den seinen. Es ist seltsam. Durch die Droge sieht er anders aus. Jeder sieht durch LSD anders aus, doch er ist noch andersartiger als andersartig. Er wirkt wie ein riesiger Salamander in einem Trenchcoat.
»Konzentriere dich!« ruft plötzlich der Riesenlurch. Seine Zunge schnalzt und peitscht vor meinen Gesicht. »Niemand hat gesagt: was nun geschieht, besäße keine Logik. Bist du bei mir, Jan-Marek? Bist du bei mir?«
»Niemand nennt mich Jan-Marek«, antworte ich aufgedreht. »Marek reicht vollkommen.«
»Weißt du woher der Name kommt?«
Ich schüttle den Kopf und meine Finger krallen sich in die Armstützen des Rollstuhls.
»Johannes Markus war der volle Name des Evangelisten Markus«, erklärt Lichtmann, als ob es in dieser Situation jemanden interessierte. »Er war der erste Bischof von Alexandria. Du solltest wissen, dass das Christentum eigentlich von den Dämonen erfunden wurde. Sie hatten mehrere Anläufe genommen, es zu etablieren. Der Mithras-Kult war wohl der erfolgreichste Versuchslauf. Doch die Engel hatten alles sabotiert und ihren eigenen Heiland aufgestellt. Sie kopierten, was an den dämonischen Versuchen funktionierte und ließen raus, was ein Problem war...«
»Ist ja sehr spannend«, rufe ich in den Wind, der in meinen Ohren ständig seine Tonlage von tiefbrummend zu hochpfeifend verändert, und versuche die Halos zu überwinden. Natürlich vergeblich. Fünffache Dosis. Ich könnte jetzt ein Kilo Hasch kiffen und würde vermutlich nichts merken.
»Bleib bei mir!« Der Salamander schüttelt mich. »Denk nach! Wollte ich dich töten, bräuchte ich dich nur hier über den Abgrund des Daches zu stoßen. Bist du bei mir, Jan-Marek? Bist du bei mir?«
»Ja«, röchle ich trotzig.
»Falls ich nur dein Mörder bin, gibt es nicht den geringsten Anlass für diese ganze Show, die ich hier aufführe. Dass ich dennoch zuerst dein Vertrauen brauche, bevor ich dich töte, kann logischerweise nur bedeuten, dass ich recht habe und alles was ich sage die Wahrheit ist. Dann musst du aber keine Angst vor dem Tod haben. Bist du bei mir?«
Ich sehe ihn an. Sein Gesicht erinnert mich nun an ein altes, ausgefranstes Plüschtier. Wie hieß dieser Bär noch mal?
»So was hätten Sie mir erzählen sollen, bevor Sie mir ein Ticket verpasst haben.«
»Ja, ich komme mit der Reihenfolge leicht durcheinander«, entgegnet Lichtmann mit einer entschuldigenden Geste.
»Hey, Sie«, rufe ich ihm zu, da mir der Wind hier inzwischen wie ein Tornado vorkommt. Er hat eine Möglichkeit unerwähnt gelassen. Dass er einfach nur geisteskrank ist und seine eigenen Psychosen für bare Münze nimmt. Aber da waren noch Laura und Rufus Mahr und Patrice. Wie passten die ins Bild? »Sie müssen mich nicht mehr überzeugen. Diesen ganzen Logikscheiß habe ich mir schon unten im Bett überlegt. Aber deshalb ist es trotzdem ein beschissenes Gefühl, über die Klippen zu gehen.«
Der Salamander lächelt.
»Deswegen werde ich mitgehen... Über die Klippen. Das allein macht es doch denkwürdig. Was für ein großartiger Tag!«
Er zieht wieder die Metallschachtel hervor und kramt darin. Dann ahne ich entfernt einen Stich und sehe, wie eine blaue Flüssigkeit in meinem Arm verschwindet. Lichtmann wirft die Injektionsspritze von sich.
»Das Thanatol. Der zweite Schritt.« Der Wind weht durch sein lichtes, graues Haar. Er steht auf, zieht den Trenchcoat aus und wirft ihn fort.
»Was ist, wenn jemand die Spritze findet und analysiert?« Ich kichere über meine eigene Schlauheit.
»Wenn schon«, holt mich Lichtmann wieder zum ursprünglichen Gedanken zurück. »Die Kerygma-Gruppe hat die Formel schon längst. Sie nützt ihnen nichts. Denn sie glauben nicht.«
Dann fährt er meinen Rollstuhl an den Rand des Dachs. Vor mir öffnet sich das gewaltige Panorama der Straßen und Häuserschluchten. Vielleicht geht es hundert Meter tief, es könnten aber auch zehn Kilometer sein. Auf LSD sind Entfernungen und Maße nicht immer gut abschätzbar.
»Zerstreu dich nicht«, weist mich Lichtmann zurecht. »Verwickle dich nicht in Gedanken. Lass den Trip durch dich fließen und ignoriere all die komplexen Seitengassen. Der Trip ist hier, um dich an den Pforten zu beschützen. An den Pforten in die andere Welt. Lass dich also nicht ablenken. Du musst bewusst sterben und nicht zerstreut. Hörst du?«
Da sitzen wird also. Am Rand eines Dachs.
Ich höre hinter mir einen Knall. Gerne würde ich mich umdrehen und nachsehen, aber ich merke, dass an meinem Körper nicht mehr viel ist, das mir gehorcht. Ich werde von Licht erfasst und von Schreien. Ich sehe Lichtkegel über meine Oberschenkel tanzen. Aus der Tiefe des Großstadtcanyons taucht dröhnend ein dunkler Hubschrauber auf. Von links und von rechts vernehme ich Stimmen. Alles fühlt sich an, als wäre mein Schädel hohl und darin rotierende Geräusche und Lichter wie Kugeln aus leuchtendem Stein. Da bin ich, denke ich mir, gedrechselt wie Pinocchio, genannt Jan-Marek Kámen — mit schweren Gedanken wie Kugeln, gehauen aus Stein.
Der vollkommene Reim.
Zumindest wenn man auf Acid ist.
»Die Polizei ist da.« Lichtmann sitzt an der Dachkante, beinahe lässig und ohne Hast. Er hatte mich auf die Brüstung gezerrt, ohne dass ich es richtig gemerkt habe und nun sitzen wir dort zusammen wie ein Liebespaar und lassen unsere Beine über dem Abgrund baumeln. Er zeigt nonchalant auf den Hubschrauber, als würde er mir auf einer Party eine hübsche Frau vorstellen. »Und das Oktagon.«
Ich zucke leicht zusammen und dann gleich noch mal. Aber ich scheine das nicht mit Absicht zu machen.
»Das Leben war noch einfach, als uns nur das Kerygma jagte«, sinniert Lichtmann vor sich, während jemand durch ein Megaphon schreit. Dann klatscht er entschlossen auf seine Oberschenkel, als wäre die kleine Rast am Wegesrand wieder vorbei. »Es ist Zeit für den letzten Schritt. Wir haben nur noch Sekunden, bis das große Biest wieder dein Leben steuert...«
»Es ist so wunderschön.« Die Stadt erinnert mich an eine Galaxie. Alles dreht sich. Alles bewegt sich. Alles hat eine Bestimmung.
Ich höre Lichtmanns Stimme ganz nah an meinem Ohr. »Jetzt musst du die letzte Hürde nehmen. Die Schwerste. Das unbekannte Land. Denn du musst es wollen. Nur wenn du es willst, wird der Geist sich frei machen und die Seele begleiten. Komm! Komm mit mir... In das Aion!«
Plötzlich schält sich ein neuer Gedanke in meinem Kopf, der noch nicht da war.
»Warte, Salamander«, sage ich, während ich mich an ihm festklammere. »Wenn wir das alles zusammen machen, wieso nimmst du dann kein LSD und spritzt dir blaues Zeug unter die Haut?«
Er lacht auf. Ich sehe plötzlich, dass nur wenige Schritte hinter ihm sich dunkle Gestalten nähern.
»Na endlich denkst du mit!« Er klopft mir auf die Schulter. Sie fühlt sich hundert Meter entfernt an. »Profis brauchen für die Aschewerdung kein LSD. Sie brauchen es nicht, um ihren Glauben an das Übernatürliche zu stärken. Und was das Thanatol betrifft... Ich bin die Anomalie. Ich brauche das Thanatol nicht. Es wird aus meinem Blut hergestellt.«
Plötzlich ist er ganz nah an meinem Gesicht. Unter der Schicht der Abermillionen LSD-Kurzschlüsse in meinem Gehirn kommt er mir wie versteinert vor.
»Ich bin der Geist, der stets verneint...« spricht er in mein Ohr, und ich kann nicht sagen, ob er in einem humoristischen Anfall seine Stimme verstellt oder das Acid sie plötzlich tiefer klingen lässt, wie einen Dämon aus der Unterwelt. Die Schreie und der Lärm scheinen sich immer weiter zu entfernen, obwohl es auf dem Dach zunehmend lebhaft wird. »Und er rang mit dem Tode und betete heftiger! Und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen!«
Ich fühle seine Hand. Der Griff wird fester. Herausfordernder.
»Die Zeit ist um. Lass uns doch einfach drüben weiterquatschen, in Ordnung?«
»So eine Scheiße«, sage ich und folge seinem Zug. Ich spüre, wie wir von der Brüstung herab rutschen. Ich erblicke tief unten den glänzenden Asphalt des Parkplatzes. Und dann bäumt sich die Schlange der Angst und der Ohnmacht noch einmal in mir auf, wie ein Tier, das mit einer Gabel an die Wand genagelt wurde. Doch inmitten der vorbeirasenden Lichter und Stockwerke gewinnt etwas anderes die Oberhand. Aber ich kann darüber nicht nachdenken, denn im nächsten Augenblick ist alles vorbei.