2.02 Biologie und Geist
Also von Anfang an...
Hamburg hatte weder die Thailänderinnen, noch mich erwartet. Niemand stand dort auf dem Bahnsteig und empfing uns. Niemand nahm mich beiseite und erklärte mir, was hier gespielt wurde.
Ich suchte nach der Wohnung auf der Visitenkarte und fand sie keine fünf Minuten von der Reeperbahn entfernt. Der Schlüssel auf der Rückseite der Karte passte. Die Wohnung hatte alles, was man brauchte, in einer schlichten schmucklosen Ausführung. Nicht ohne Geschmack, doch mit Betonung auf Raum und Neutralität. Es gab ein Telefon, und es gab einen Fernseher. Die Küche war in gutem Zustand. Entweder überragend gut gereinigt oder einfach nur kaum benutzt. Das Badezimmer war einfach, doch es hatte fast die Größe meiner gesamten Münchner Wohnung. Ich schätzte Dr. Mårtenssons Appartement auf mindestens hundertfünfzig Quadratmeter. Hier hätten sich meine Comic-Sammlungen gut verstauen lassen.
Die vier Mädchen zogen sich schnatternd im Schlafzimmer zurück und besetzten das große Bett, und so machte ich es mir im Wohnzimmer auf dem Sofa bequem.
Dort hatte ich auf dem Boden einen kleinen Bücherstapel gefunden. CDs oder Filme gab es hier nicht. Keine Nachricht oder weitere Anweisungen. Ich sah mir die Buchrücken an und fand, dass sie nahtlos zu jenen Kopfschmerzschinken gehörten, die ich bereits im Zug angelesen hatte. Wirklich prächtig, dachte ich damals und setzte meine beste Dirty-Harry-Miene auf.
Aus einem der Bücher ragte ein Lesezeichen heraus. Ich schlug das Buch an dieser Stelle auf. Ein Absatz war mit einem Bleistift markiert. Ich las den Anfang.
»WIR SIND PTOLEMÄER...«
Ich sah auf den Einband. Es war ein Buch aus dem Jahr 1956 und trug den Titel Biologie und Geist. Der Autor hieß Adolf Portmann. Es war mir gänzlich unklar, was jemanden motiviert haben könnte, gerade diesen Absatz zu markieren. Ich legte das Buch beiseite und musterte das Lesezeichen. Es war in Wirklichkeit ein Handzettel, der in den Eingängen von Nachtclubs ausgeteilt wird. Kein billiger Flyer, sondern auf teurem Hochglanzpapier gedruckte Werbung für ein Lokal mit dem Namen Danglars. Dem Foto nach zu urteilen, musste es sich um einen dieser Lack-und-Leder-Clubs handeln, von den es in Großstädten immer mehr gab. Unter der Wegbeschreibung stand die Zeile: »Dienstag: kein Dresscode, offener Einlass.«
Ich legte das Lesezeichen auf den Tisch und sah nach den vier Mädchen. Sie lümmelten sich auf dem großen Bett und wirkten sichtlich entspannt. Das mutete irgendwie unwirklich an, doch ich ahnte, dass ich mich an diese neue Tonart in meinem Leben gewöhnen musste. Ich hatte den ausgetretenen Pfad verlassen und nichts würde so sein, wie es bisher war. Wieder einmal.
Wir blieben, denn wir hatten sonst keinen Platz, an dem wir uns hätten verstecken können. Die meiste Zeit saß ich mit den Frauen vor dem Fernseher, schlang roboterhaft Popcorn in mich hinein, stets in der Erwartung, dass jemand einen zweiten Schlüssel in das Haustürschloss schob, hineintrat und mich dann entweder tötete oder aufklärte. Aber nichts geschah. Weder der Tod noch die Wahrheit ereilten mich.
Der Kühlschrank beinhaltete einige Lebensmittel — alles Sachen mit langer Haltbarkeitsdauer. Nur in dem Gefrierfach steckte eine steinharte Stange Toastbrot. Immerhin. In meinem Gefrierfach in München gab es nur die eisgefrorenen Schalen von einer Wassermelone. Ich war irgendwann zu faul, sie in eine Mülltonne zu werfen — eine faulende Wassermelonenschale inmitten eines heißen Sommertags kann das Leben zur Hölle machen.
Als ich einige Tage später loszog, um neue Fressalien einzukaufen, erwartete mich nach meiner Rückkehr eine Überraschung. Die Wohnung war leer und die vier Frauen weg. Ich stand im Schlafzimmer und konnte sie noch immer riechen. Diese eigentümliche Mischung aus Lavendel, Gewürzen und Mottenkugeln.
Mit ausdrucksloser Miene ging ich in die Küche, öffnete das Gefrierfach und nahm den kleinen Plastikbeutel heraus. Er fühlte sich deutlich leichter an. Ich griff nach dem Geldbündel. Es waren nur noch fünf Tausendmarkscheine. Auf ihnen klebte ein gelbes Post-it mit der krakeligen Aufschrift:
Sorry!
We love You!
So fühlt es sich also an, wenn man gerade um dreiundzwanzigtausend Mark erleichtert wurde. Ich steckte das restliche Geld wieder zurück und klappte die Tür des Gefrierfachs zu. Mit einem Bier setzte ich mich vor den Fernseher.
Ich kannte nicht einmal ihre Namen. Sie hatten sie mir einmal gesagt, doch in der Aufregung der letzten Tage hatte ich sie alle wieder vergessen. Sie klangen irgendwie ähnlich.
Die Mädchen hatten keine Papiere, sie sprachen kein Deutsch, sie waren nicht einmal volljährig, doch sie hatten dreiundzwanzigtausend Mäuse und Schöße, die nicht verwöhnt waren. Vermutlich würden sie morgen schon an Bord eines russischen Frachters sitzen und in einigen Wochen bereits das Chinesische Meer riechen... Zwar starrte ich ausdruckslos auf die Glotze, doch innerlich war ich aufgewühlt. Ich wünschte, sie hätten mich mitgenommen, auf ihre Heimreise. Doch der bloße Gedanke war unsinnig. Ich war ein Produkt des schlechten Wetters und sollte für immer hier bleiben, im Reich des kalten Regens. Die vier Frauen kamen mir plötzlich wie eine Fata Morgana vor. Eine vorübergehende Erscheinung, von der wenig mehr bleibt, als Bruchstücke einer Erinnerung, die sich unaufhaltsam zersetzte und verblasste.
Ich beschloss bald, dass es an der Zeit war, etwas mehr von der Stadt zu sehen. Den kleinen Lebensmittelladen unweit meiner Wohnung kannte ich nach einigen Tagen schon ganz gut. Und so begann ich auszugehen. Zuerst nur abends und nie ohne einen gewissen Hauch von Vorsicht walten zu lassen. Ich sah mich ständig um, da ich nie die Möglichkeit vergaß, dass man mich während dieser seltsamen Zeit, während dieses gesamten befremdlichen Intermezzos, nicht aus den Augen ließ. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich nichts von meinem Gefrierfachgeld dazu verwendete, mir etwas von dem falschen Gold in der Herbertstraße zu kaufen. Ich wollte nicht beschattet werden, während ich mit Dirnen Preise aushandelte. Dabei hatte ich nicht etwa das Gefühl, dass ich direkt beobachtet wurde. Ich spürte kein unheimliches Paar Augen in meinem Nacken. Es war eher eine logische Annahme, für die ich nur keine Bestätigung fand. Denn niemand kam und kontaktierte mich. Niemand verhielt sich verdächtig. Es gab auch keine Kameras in der Wohnung. Keine Wanzen. Und ich hatte sehr gründlich gesucht, mit allem Wissen, das mir englischsprachige Agentenfilme zur Verfügung stellten. Ich untersuchte sogar das WC nach Kameras, was man eindeutig als eitle Selbstüberschätzung deuten kann. Es gab jedoch keinen Grund, der mir für komplexe Observierungen einfiel. Keinen Grund, mich wochenlang wie eine Maus im Versuchslabyrinth zu beobachten.
Es vergingen Monate ohne die geringste Veränderung meiner Situation. Ich absolvierte einsame Weihnachten, doch das war ich gewöhnt. Meine Verwandten waren wie stets jenseits meines Ereignishorizonts und weder wusste ich, wo sie waren, noch hatte ich vor, ihnen meinen Aufenthaltsort zu offenbaren.
Nur einmal hatte ich in einer öffentlichen Telefonkabine die Nummer meines Vaters gewählt. Es war früher Abend und ich nahm an, dass er zuhause saß. Vermutlich las er die Zeitung und blickte über ihren Rand auf die Tagesschau im Fernseher. Es klingelte fünfmal, und dann knackte es kurz in der Leitung. Ich hörte ein kurzangebundenes, karges »Ja?« und erkannte seine Stimme. Vermutlich stand er neben dem Telefon, verärgert über die Störung, mit der schnell gefalteten Zeitung in der Hand. Im Hintergrund hörte ich den Fernseher. Ich legte auf.
Ich musste nur das Geheimnis akzeptieren, dann mochte es ewig so weitergehen.
Ich begann, mich in der Künstlerszene herumzutreiben und in Ausstellungen zu gehen. Ich fing an, House- und Technoparties zu besuchen. Ich kaufte mir ein paar CDs. Läden mit schräger Bückware gab es in Hamburg ungefähr zweitausendmal mehr als in München. Ich rauchte wieder gelegentlich einen Joint, aber ich empfand für eine gewisse Zeit nicht mehr die Notwendigkeit, es ständig zu tun. Die Welt hatte einen anderen Grad an Bedeutung und Tiefenschärfe gewonnen. Und so sehr ich davon überzeugt war, dass dieser Zustand nicht ewig halten konnte, gab es in meinem Leben für die Drogen keine banalen Lücken zu schließen. Denn alles war nun rätselhaft.
Ich hatte Zeit. Ich hatte nicht mehr so viel Geld, doch ich besaß dieses unbeschreibliche Gefühl eines neuen Lebens. Mein Leben war eine neue, leere Leinwand, die zu bemalen ich begann.
* * *
Und dann sah ich sie.
An einem Abend hatte ich beschlossen, Danglars einen Besuch abzustatten. Von dem Handzettel, den ich in dem Buch gefunden hatte, wusste ich, dass Dienstag ein Tag ohne Uniform- und sonstigem Kleiderzwang war. Das Plakat am Eingang versprach »Aurea« und ich beschloss, mir die »Goldene« anzusehen. Vor dem Podium versammelt, befand sich anscheinend das Stammpublikum. Als plötzlich blaue und grüne Scheinwerfer die Bühne in ein unwirkliches Licht eintauchten und der DJ die erste Platte auflegte, begannen sie alle zu schreien, zu pfeifen und zu applaudieren. Sie schien in diesem Club eine feste Größe zu sein. Ein lokaler Kult. Ein kleines Phänomen. Wie eine Jungfrau, die Bluttränen vergießt. Nachdem sich die Bühne in einem dichten Trockennebel auflöste, kam Aurea aus dem Nichts und stand plötzlich vor uns. Sie ver neigte sich zurückhaltend vor dem Publikum. Sie legte die Hände auf die Oberschenkel und wog ihren zerzausten Kopf auf und ab. Ihr Oberkörper steckte in einem Harnisch aus Leder und Metall. An den Füßen trug sie hohe Lederboots, deren Schienbeine mit Aluminium verkleidet waren, in dem sich unentwegt das Licht der Scheinwerfer reflektierte.
Ich beobachtete die zornige Medusa und war fasziniert. Ich wünschte, jemand hätte mir in diesem Augenblick auf die Schulter geklopft und mir zugeflüstert, was mich schon bald mit dieser Frau erwarten sollte. Ich hätte es nicht geglaubt.
Sie hatte nicht diese entmythologisierende Art und Weise von Annie Sprinkle. Sie wollte nicht hier und jetzt den Beweis antreten, dass ihre Vagina keine Zähne hatte. Evelyn war das Gegenteil. Sie war gefährlich. Ihr Tanz war enigmatisch und verzichtete auf Antworten. Sie war auf der Bühne ein Vamp, eine Femme fatal. Madame Bathory. Die heimliche Bettfreundin von Camille Paglia. Aber auch ein wenig Mann. Wie eine Frau, die aus einem lebensgroßen Helmut-Newton-Plakat heruntersteigt. Sie wirkte so viel größer, als sie es in Wirklichkeit war.
Ich stellte mir vor, sie anzusprechen. Doch sie sah nicht aus wie eine Frau, die es schätzte, wenn man sich den Weg in ihre Umkleidekabine erschlich und ihr dort vorbrabbelte, dass sie einen an die Bilder von Hajime Sorayama erinnerte. Ich trank deshalb noch einen White Russian, stellte verärgert fest, dass der Club, nachdem Aurea die Bühne wieder verließ, all seinen Reiz verloren hatte, und beschloss in die Wohnung zu fahren, um die Sache mit der Herbertstraße noch einmal zu überdenken.
Ich versuchte ein Taxi herbeizuwinken. Von Altona war es zwar nicht weit zu mir, doch ich spürte die vier Drinks in meinen Blutbahnen und wollte mich lieber dem sanften Schaukeln eines Mercedes hingeben. Außerdem begann es sanft zu rieseln. Es war ein kühler Frühling 1999, und wenn es etwas gab, das man in Hamburg in Kauf nehmen musste, so war es dieses miese Faschowetter.
Als ich die hintere Tür des Taxis öffnete und einsteigen wollte, merkte ich, dass zu meiner linken eine Frau den Straßenrand betrat und ebenfalls Ausschau nach einem Taxi hielt. Über der Schulter stemmte sie eine wuchtige Sporttasche. Ich wusste sofort, dass es Aurea war, obwohl sie nun ganz anders, fast knabenhaft, aussah. Doch ich erkannte sie an diesen verfilzten, halblangen Haaren, deren Strähnen zum Teil blau gefärbt waren.
»Wo wollen Sie hin?« fragte ich sie.
Sie musste nach Ottensen. Nicht gerade mein Weg, aber wer würde in einer solchen Situation kleinkariert auf Details achten?
»Kommen Sie mit«, sagte ich zu ihr. Sie sah sich um, blickte zum nächtlichen Himmel. Die Wolken reflektierten matt den Glanz der Großstadt. Die Regentropfen landeten auf ihrer Stirn und ihren Wangen. Sie schaute wieder zu mir und nickte leicht.
Im Taxi roch es nach Leder und Eukalyptus-Pastillen. Doch mit ihr kam ein neuer Duft herein.
»Sun von Jil Sander«, sagte ich, möglichst lässig. Ich wusste es, weil ich mal aus Versehen ein Flakon mit Sun zerschlagen hatte. Das ist ein sehr guter Weg, um Düfte später unwiderruflich zu memorieren.
Sie lächelte. Ich konnte es spüren, auch wenn ich nicht hinsah.
»Evelyn.« Sie hielt mir ihre Hand hin.
»Jan-Marek, aber Marek reicht«, gab ich zurück und wir schüttelten uns die Hand.
Nun sah ich sie lange und genau an, mit einem faszinierten Lächeln auf den Lippen. Sie gefiel mir. Es war kein Verlieben. Es war mehr wie Theologie. Sie war nun vollkommen abgeschminkt und erinnerte an eine Sportlerin, die gerade vom Training kommt. Würde sie so aussehen, wenn sie morgens neben mir aufwachte? Ohne die Regentropfen natürlich. Mein Leben war wirklich ein seltsames Abenteuer geworden.
Sie blickte wieder nach vorne, auf die verregnete Strasse, die in den Platz der Republik mündete. Ich wollte meine Augen nicht mehr abwenden.
»Kann ich Sie irgendwo wiedersehen?«
Sie sah erst mal auf ihre mit silbernem Lack bemalten, jedoch kurzgeschnittenen Fingernägel und dann auf das Taxameter.
»Ich denke nicht... Es mag vielleicht nicht so anmuten, aber so ganz schnell muss ich es nicht haben...«
Ich schluckte. Da war es, das mitschwingende Misstrauen. Ein weiterer Lüstling, der ihren Bühnenauftritt als eine Einladung zur Anmache begriff. Dann ging mir ein Licht auf.
»Ich glaube... Das ist ein Missverständnis. Die Frage war nicht, ob ich Sie wiedersehen kann, sondern wo ich sie wieder — Pause — sehen kann. Ihr Auftritt hat mir gefallen...«
Sie blickte mich an. Ihre Augen weiteten sich und lachten.
»OK... Nächste Woche im Escándalo. Am Dienstag.«
»Ist das nicht eine Galerie?«
Sie nickte.
»Ist anlässlich einer Ausstellung. Ich werde von einem Industrial-Künstler begleitet.«
Wir schwiegen wieder. Der Wagen durchschnitt die regnerische Nacht, die sich hinter uns wie ein Vorhang wieder schloss. In der Keplerstraße waren wir am Ziel.
»Wir sind da«, vermeldete der Taxifahrer. Der Motor wimmerte leise vor sich hin, und die Tropfen prasselten auf das Dach.
»Und was gefiel dir so daran?«
Ich hielt überrascht inne. Es schien mir eine Fangfrage zu sein. Im Grunde konnte ich sie nur falsch beantworten. Evelyn blickte mich durchdringend wie eine Sphinx an. Ob sie mich anschließend verspeisen wollte? Die ansonsten beliebten White Russians in meinem Kopf waren keine große Hilfe, doch sie schufen dieses lakonische Gefühl von Schicksalsergebenheit und gaben mir Mut. Ich rutsche etwas tiefer auf dem Ledersitz, lehne meinen Kopf zurück und blicke zur Decke des Wagens.
»Sie erinnern mich an weibliche Superhelden in DC-Comics. Als ich ein Kind war, war das mein erster Zugang zu... Zu den Ausprägungen des weiblichen Körpers...«
»Bei mir gibt es nicht viele Ausprägungen...«, unterbrach sie mich mit der strengen Tonlage einer Gymnasiallehrerin. Sie wollte mich braten. Mich brutzeln sehen. Mich in der eigenen Soße weichkochen.
»Ich weiß... Das heißt, ich weiß nicht...« Oh, sie hatte mich, wo sie mich haben wollte. Tief in der Patsche. «Was ich meine, ist... Sie wissen schon... Diese Kostüme...«
»Wonder Woman«, hauchte sie halblaut, als erinnerte sie sich plötzlich an etwas aus ihrer Kindheit. »Doch für mich zu amerikanisch...«
»Katana...«
Sie blickte fragend auf.
»Yamashiro Tatsu...«, erklärte ich. »Sie wissen schon, Batman & The Outsiders.«
»Zu verschlossen...«
»Starfire...«
»Starfire?«, rief sie aus. »Hast du jemals auf ihre Riesentitten geschaut...?«
»Unentwegt...«, rutschte mir raus. »Wie wäre es mit Zatanna?«
»Zu.... zu irgendwas!« rief sie lachend aus. Sie wollte mir um jeden Preis beweisen, dass jeglicher Vergleich mit einer Comic-Heldin fehl am Platz war.
»Black Canary...?«
»Nein... Zu tussig!«
Meine Zeit lief aus!
»Stargirl«, stieß ich aus.
Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Courtney Whitmore...?«
Ich war schockiert, denn sie war ein echter Insider. Jeder Trottel kennt Spiderman, aber nur Gourmets kennen Stargirl. Und sie war auch noch eine Frau — nicht gerade die Mehrheit unter den DC-Lesern. Die Planeten drehten sich möglicherweise bereits rückwärts. Oder ich hatte nur einige Veränderungen verschlafen.
»Ja, das gefällt mir. Das bin ich.« Sie lachte auf und warf den Kopf in den Nacken. Dann reichte sie mir erneut die Hand. »Stargirl. Hocherfreut.«
Evelyn stieg aus und holte vom Kofferraum des Taxis ihre große Sporttasche. Ich dachte mit einem abwesenden Blick daran, dass die Tasche randvoll war mit durchgeschwitzter Reizwäsche und feuchten Lederkorsetts, bis sie sich wieder ins Auto beugte und einen kleinen Notizblock in der Hand hielt. Das Papier war bereits nass vom Regen. Sie riss das oberste Blatt ab und gab es mir.
»Du bist nicht von hier, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das hört man. Allein das grässliche Siezen. Hör damit auf und ruf an. Wir schnacken mal.«
Mein wortloses Nicken bewies den Grad meiner Hilflosigkeit.
Sie war fort. Die Tür des Taxis war zu. Ich hörte das leise Metronom des Blinkers.
»Wohin nu‹?« wollte der Taxifahrer wissen. Ich sah im Rückspiegel nur seine Augen, doch er schien zu grinsen.
»Schnacken?« In Bayern hätte das recht missverständlich geklungen.
»Die Dame möchte reden«, dolmetschte für mich der Taxifahrer.
Meine Gedanken sortierten sich nur langsam.
Da war noch dieser Duft in der Luft. Sun von Jil Sander. Nicht gerade teuer, aber definitiv originell. Einzigartig. Wie sie.
Der Taxifahrer war geduldig.
»Simon-von-Utrecht-Straße«, sagte ich ausdruckslos.
* * *
Es dauerte nicht lange und ich sah sie wieder. Ich hielt es etwas weniger als achtundvierzig Stunden aus, ohne die Nummer zu wählen, die sie mir gegeben. Sie war nicht überrascht, meine Stimme zu hören. Durch das Telefon klang sie sachlich, als ob ich eine Bestellung aufgeben wollte. Das hemmte mich ein wenig. Als ich aufgelegt hatte, sah ich noch eine Weile auf das altmodische Telefon und überlegte, in wieweit ich von der ganzen Situation zu viel erwartete.
Sie verabredete sich mit mir. Im Cafe Flora saß sie mir plötzlich gegenüber. Sie trug ein schwarzes Sakko, darunter einen schwarzen Rollkragenpullover. Ihre punkigen Haare waren nun etwas gestylt und gaben ihr eine lesbische Note. Sie rauchte Pall Mall Deluxe, mit einem langen Zigarettenaufsatz, den ich zuletzt in Frühstück bei Tiffany´s gesehen hatte. Und das Parfum war nicht mehr Sun, sondern etwas wesentlich raueres. Passender zur Kleidung. Das sei Burberry, erklärte sie mir, als ich danach fragte. Ich hatte gehofft, dass mir das Interesse an ihrem Parfumspektrum einen satten Bonuspunkt einbringen würde, doch sie vermittelte den Eindruck, dass für sie eine solche Anteilnahme selbstverständlich war und einer Honorierung nicht würdig. Sie war undurchsichtig.
Wir plauderten ein wenig darüber, wer wir waren und was wir machten. Ich musste etwas improvisieren, um meiner Anwesenheit in Hamburg wenigstens teilweise einen gewissen Sinn zu geben. Evelyn hingegen war eine typische Hamburger Bohemienne. Morgens schlief sie lange, nachmittags hatte sie einen Halbtagsjob im »Dark Style«, einem Laden der Leder- und Fetischkostüme verkaufte — und abends tanzte sie je nach Wochentag in drei verschiedenen Clubs.
Ich hatte mir bereits überlegt, worüber wir sprechen könnten, um keine Kunstpausen entstehen zu lassen, die nur schlechtes Licht auf mich werfen würden. Wenn Mann und Frau sich treffen und das Gespräch stockt, ist das ein ganz schlechter Start, und schuld ist immer der Mann. Auf diesem Gebiet ist die Emanzipation nicht gefragt.
Aber leider zündeten die Themen nicht. Die meiste Zeit schwiegen wir, wechselten ein paar Worte, bestellten nach dem Kaffee einen Drink. Ich witterte die Katastrophe.
Definitiv eine Frau, deren Nummer du lieber nicht mehr wählen solltest.
Dachte ich.
Doch dann sah ich hoch von meinem Latte-Macchiato-Glas. Sie lächelte mich an. Einfach so. Als wäre alles in bester Ordnung.
»Ich finde es nett, dass du mich nicht belaberst«, sagte sie und zog an ihrer langen Zigarettenspitze. »Die meisten Männer probieren das bei mir... Aber reden ermüdet mich so...«
Betreten räusperte ich mich. »Für die meisten ist Schweigen peinlich. In Japan dagegen spricht man von haragei. Sprechen durch Schweigen...«
»Beredtes Schweigen«, meinte sie. »Das gefällt mir.«
»Die Kunst des leisen Zusammenseins...«
»Du kennst dich aus mit Japan?«
Ich spielte verlegen mit dem langen, schlanken Löffel. »Ich habe ziemlich viele Mangas gelesen.«
Ich wollte immer nach Japan, aber ich hatte kein Geld. Vielleicht hatte ich einfach nur keinen Willen dafür. Oder keinen Mut? Was es auch immer war, nichts davon war bei meinem ersten Date mit Aurea förderlich.
Auf meiner Unterlippe kauend, sammelte ich meinen Mut und legte den Löffel beiseite. »Evelyn. Ich...« Nicht das sagen, was dir durch den Kopf geht! Nicht gedankenlos plappern! Nicht alles vermasseln! »Ich kenne mich nicht so aus wie du. Du findest mich sicherlich langweilig. Ich habe in meinem ganzen Leben kaum mehr als zehn Bücher gelesen, und ich hänge bei all diesen Events rum, weil ich die Leute cool finde. Aber ich verstehe von dem meisten nur Bahnhof.«
Sie schob ihre Tasse etwas beiseite und beugte sich weit über die metallische Tischplatte vor. Unsere Gesichter waren einen halben Meter entfernt.
»Und ich bin vierundzwanzig, bisexuell, unabhängig, Künstlerin, single und nicht abgeneigt.«
»Ja?«, brachte ich heraus und versuchte das trockene Schlucken zu überspielen. In meinem Hinterkopf begann es wieder einmal zu schäumen. Anscheinend stieg meine Körpertemperatur binnen Sekunden um einige Grad an.
»Wollen wir ficken?« fragte sie und klang dabei wie eine Grenzbeamtin, die nach dem Reisepass verlangt.
Hatte sie gerade ficken gesagt? Das Effektgerät in meinem Gehirn war zu diesem Zeitpunkt auf Delay + 3000 Millisekunden eingestellt.
Nun, jetzt wo sie es ansprach... Mit dem Gehorsam eines Hundes, dem man hoch über dem Kopf mit einer Scheibe Salami zuwinkt, nickte ich kurz. Verdammter Darwin.
»Dann lass uns bezahlen«, sagte sie, lehnte sich wieder zurück und zog an ihrem Zigarettenmundstück, ohne dabei die Augen von mir zu lassen. Sie meinte natürlich, dass ich bezahlen sollte.