1.04 Roman
Ich habe meinen Bruder seit Jahren nicht gesehen. Und doch ist er in meinem trüben Rückblick auf ein Familienleben eine Ausnahme. Mein kleiner Bruder. Ich liebe ihn. Es ist schade, dass wir so unterschiedlich sind und das Leben uns beide in verschiedene Richtungen treibt. Ich hoffe, er behält stets die Zügel in der Hand und bezahlt keinen zu hohen Preis für seine Eskapaden. Ich habe meinem Bruder viel zu verdanken. Allem voran, dass er nach mir kam und somit die Aufmerksamkeit meiner Eltern auf sich lenkte. So konnte ich leichter und unbehelligt in meiner eigenen Welt leben.
Im Gegensatz zu mir hatte Roman einen wesentlicher ausgeprägten Familiensinn. Er fand stets, dass wir alle zusammengehörten und dass man gemeinsam in den Zoo gehen sollte. Er war es stets, der meine Eltern am Freitag an den Ärmeln zog und fragte, ob wir am Wochenende einen Ausflug in die Natur unternahmen. Ich dagegen war der Eskapist, der Otaku — er war der Sportler und Daddys große Hoffnung.
Das Bild bekam seine ersten Risse, als ich fünfzehn war und Roman dreizehn. Mein Bruder zeigte großes Interesse an meinen Comics. Mir war ganz klar, dass nun auch er entdeckt hatte, dass Supergirl einen so kurzen Rock besaß, dass man ganz leicht ihre Unterwäsche sehen konnte, und dass das Kostüm von Halo und Black Canary keinen Wunsch offenließ. Also erklärte ich Roman, dass ich ihn kaltblütig töten würde, wenn er jemals eine Seite knicken, zerschneiden oder beschmieren sollte. Nachdem das geklärt war, ließ ich ihn an meiner damals noch kleinen, wertvollen Sammlung teilhaben. Ich war überrascht, dass er schon bald einen Papierblock in die Hand nahm und viele der Bilder recht überzeugend nachzeichnen konnte. Perspektiven und Größenverhältnisse waren ihm damals noch fremd, und viele der Skizzen wirkten am Anfang misslungen, doch schnell wurde mir sein Talent bewusst. Auch unser Vater erkannte es und sprach zufrieden davon, dass Roman technische Zeichnungen leichtfallen würden, sollte er ebenfalls die Laufbahn eines Ingenieurs einschlagen.
Ich empfand keinen Neid wegen seines Talents. Statt dessen träumten wir von jetzt an davon, Comic-Autoren zu werden. Ich sollte die Storys schreiben, er würde sie zeichnen. Doch obwohl Romans Fähigkeiten zu zeichnen wuchsen und reiften, wurde ich immer unzufriedener mit den Resultaten, da er immer weniger Power Woman und Batgirl zeichnete, sondern sich auf Green Lantern, den roten Blitz, Batman oder den Hawkman spezialisierte. Die Wand über seinem Bett war geschmückt mit Bleistift- und Pastellzeichnungen von muskulösen Superhelden in den verschiedensten Verrenkungen und Sprüngen.
Pubertär, getränkt im eigenen Testosteron, stand ich davor und spürte noch den Geruch von Desinfektionswasser auf den Pickeln in meinem Gesicht — und es fiel mir wie Schuppen von den Augen.
»Roman ist schwul. Haha — ha. So geil. Schwul. Haha — ha«, begann ich lachend zu schreien. Ich dachte damals, wie phantastisch das wäre, wenn der Lichtkegel all der väterlichen Aufmerksamkeit komplett auf das neue Sorgenkind abwandern würde. Das Auge Saurons soll sich doch mal mit Roman beschäftigen. Wenn er nicht so perfekt wäre, würde meine Schafswolle nicht mehr so schwarz anmuten.
»Ruhe!« donnerte es erwartungsgemäß aus dem Wohnzimmer. Nun, es donnerte nicht unbedingt. Mein Vater war eher ein stiller Mann, dessen Stimme sogar dann recht dünn und emotionslos klang, wenn er schrie.
Er nahm die anachronistische Pfeife aus dem Mund und sah mich tadelnd an. Jetzt, in diesem Moment, in dem ich daran denke, spüre ich diesen unangenehmen Geruch, der uns die gesamte Kindheit begleitete. Heute noch empfinde ich ein unangenehmes Stechen im Hinterkopf, wenn ich im Vorbeigehen brennenden Pfeifentabak rieche.
Er trug eine altmodische graue Strickjacke, die ihn stets bieder und streng aussehen ließ, und hielt noch die gefaltete Zeitung in der Hand, die er offensichtlich gerade gelesen hatte.
»Bist du nicht zu alt, um hier herumzubrüllen und Unsinn zu erzählen?« herrschte er mich an. Er war kein Mann langer Sätze und großer Worte, und so war das hier für seine Verhältnisse bereits eine halbe Ansprache. Ich grinste schuldbewusst und sah auf den Boden.
»Hast du sonst nichts zu tun?!«
Ich sah Vater kurz an. Etwas in seinen Augen war anders als sonst. Natürlich verstand ich sehr wohl das Tabu, das ich hier berührt hatte. Zumindest soweit ein pubertierender Knabe es verstehen konnte. Was war es nur, das ich in seinen Augen sah? Ohne Zweifel, es war Angst.
Damals verkroch ich mich lieber in meine Ecke und starrte mechanisch in ein Biologiebuch. Meine Mundwinkel zuckten noch immer, während ich mir auf die Unterlippe biss.
Als ich kurz hochsah, stand Vater noch immer da und blickte meinen Bruder lange schweigend an. Roman saß ratlos auf seinem Bett, umgeben von den eigenen Bildern und Plakaten. Er hatte ein unschlüssiges Lächeln auf den Lippen, schien jedoch nicht zu verstehen, worum es ging. Mein Vater starrte ihn an, die Bilder. Damals begriff ich nicht, wie fassungslos er über die Büchse der Pandora war, die hier jemand geöffnet hatte. Welcome To The Pleasuredome!
Dann verließ er wortlos das Zimmer.
Erst Minuten später fiel mir auf, dass er die Zeitung nicht einfach in seiner Hand gehalten hatte, sondern sie geradezu mit einem verkrampften Griff zusammengeknüllt hatte.
Es war sicher kein Zufall, dass ich einige Wochen später in der Nacht einen Streit meiner Eltern mithörte. Während Roman am anderen Ende des Zimmers ruhig atmete, hatte ich nicht selten Schwierigkeiten einzuschlafen. Mein insomnisches Leben zeichnete sich damals bereits ab. Ich hörte nur die Spitzen des Gespräches und deshalb drückte ich mein Ohr an die Wand, um den aggressiven Dialog im Schlafzimmer meiner Eltern besser zu verstehen.
»Der erste ist ein verschlagener Schwächling und Bettnässer. Und der andere... Aus dem wird noch etwas Schlimmeres, wenn ich es zulasse. Sag mir also, worüber ich mich freuen soll.«
»Du beurteilst sie falsch«, erwiderte meine Mutter mit brüchiger Stimme. Sie war bekannt für ihr sauberes Tschechisch, das sie ohne Umgangsworte und ohne Dialekt sprach. Bevor ich zur Welt kam, war sie Lehrerin an einer Hauptschule in Prag gewesen. Ihr Deutsch dagegen klang ordinär. Vielleicht deshalb, weil sie es zumeist nur betrunken sprach.
»Sauf dir die Wahrheit nur schön«, brummte mein Vater. »Du hast sie schließlich zur Welt gebracht.«
Männer haben diese Gabe, nicht wahr? Diese Sätze, die ihnen so rausrutschen und sich in die Herzen der Mütter, der Ehefrauen, der Gefährtinnen bohren. Als wären sie erschaffen, um zu verletzen. Dornige Wesen mit scharfen Kanten, dazu bestimmt, sich an weichen, zerbrechlichen Gegenstücken zu reiben.
Ich starrte in die Dunkelheit. Um wirklich bestürzt zu sein, war ich bereits zu alt. Es war mehr ein Gefühl von Wut, das mich überkam. Der Zorn darüber, dass Menschen die Macht haben, andere Menschen in die Welt zu bringen.
Den Rest der Nacht lag ich unter meiner Decke und plante meine Flucht, meinen Ausbruch aus dieser Familie, meine Freiheit.
Ich bin nie geflohen. Vielleicht hatte mein Vater recht und ich war ein Schwächling. Aber immer wenn ich Roman ansah, fühlte ich mich schuldig. Ich hatte meinen Vater auf einen technischen Defekt hingewiesen, der ihm sonst vielleicht gar nicht aufgefallen wäre. Und er hatte vor, den Fehler zu korrigieren.
Mit mir sprach er immer weniger, und es schien, als ob ich eine Art Waterloo für ihn darstellte. Doch Roman war nun gefordert. Er musste allein Bierkästen aus dem Auto in die Küche schleppen, noch härter Sport treiben und die Wochenenden mit Vater in der Garage verbringen. Dort machte er sich mit Sägen und Bohrmaschinen vertraut und lernte einen Reifen zu wechseln und Beton zu mischen.
Ich war inzwischen siebzehn und lebte in einem Universum, das niemand mehr verstand. Ich wollte mit achtzehn ausziehen. Und ich wusste, meine Eltern würden sich mir nicht in den Weg stellen.
Meine Mutter liebte mich bis zum letzten Augenblick. Aber ihre Welt und die meine hatten sich so sehr voneinander entfernt, dass es kaum eine Möglichkeit für uns gab zu kommunizieren. Denn ich lebte in Tagträumen und sie hinter einem Schleier aus Alkohol und Beruhigungstabletten. Sie konnte nur noch ihre positiven Gefühle für mich zum Ausdruck bringen. Für mehr reichte ihre Kraft nicht. Und in diesem Alter, an diesem Wegabschnitt, hatte ich nicht viel Interesse an Muttergefühlen.
Das Kartenhaus genannt Familie brach irgendwann endgültig zusammen. Vater hatte keine Chance. In Roman reifte etwas heran, das tausendmal stärker war als Vaters Wunschdenken. Und um uns herum, in den ausklingenden Achtzigern, entstand eine neue Welt, mit der es nicht schwerfiel in Resonanz zu treten. Mein Vater war machtlos gegen Frankie Goes To Hollywood und Bronski Beat. Er war machtlos gegen Oscar Wilde, der sich noch über Jahrhunderte hinweg wie ein Gespenst an allen homophoben Vätern rächen wird. Roman wollte kein Architekt oder Ingenieur werden, er liebte es zu tanzen. Er trieb gerne Sport, doch insgeheim träumte er nur davon, damit seinen Körper zu vervollkommnen und wie jene Helden auszusehen, die er in meinen Comics sah. Als er begriff, dass es in den Großstädten Orte gab, an denen niemals endende Partys stattfanden und Marc Almond wie ein Gott verehrt wurde, schmiedete auch er Fluchtpläne.
Irgendwann hatte er keine Lust mehr, Vaters Handwerksgeselle zu sein, und er sagte es ihm geradeheraus ins Gesicht. Ein intensiver Streit brach aus. Meine Mutter lallte in gebrochenem Deutsch etwas dazwischen, doch niemand nahm sie wahr. Ich stand abseits und beobachtete Roman. Sogar als Hetero konnte ich nicht übersehen, was für ein athletischer und zugleich charismatischer junger Mann aus ihm geworden war. Ich wirkte neben ihm wie ein verwahrloster Junkie.
»Wenn sich schon alles um mich drehen muss, wieso ist dann alles, was ich sage, immer nur Unsinn?« beschwerte sich Roman laut. »Wieso spielt es keine Rolle, was ich will? Wieso kannst du mich nicht verstehen?!«
»A co to má být? — Was soll das sein?!« In Vater brodelte es, während er ins Tschechische verfiel. Sein Zorn zeigte sich nicht durch lautes Brüllen. Stattdessen blickte er an einem vorbei und die Augen hinter der grauen Plastikbrille bekamen einen glasigen Ausdruck. »Was soll ich verstehen?« brummte er nervös. »Was soll ich verstehen? Du bist in einem schwierigen Alter. In Ordnung? Wie dein Bruder.« Er zeigte auf mich, als wäre ich eine Figur im Kabinett von Madame Tussauds. Ich sah nur auf Roman zurück und versuchte ihm mit meinem Blick zu sagen: »Warte nur einige Sekunden und du wirst genauso ein Unfall sein wie ich.«
»Du stehst an der gleichen Gabelung. Vor Entscheidungen! Ich werde nicht zulassen, dass du dir Chancen verbaust, die ich nie hatte.«
»Dann ist es meine Gabelung. Meine Entscheidung«, erwiderte Roman auf Deutsch. Er wollte nicht, dass die Auseinandersetzung in Tschechisch geführt wurde, da er viele Worte bereits vergessen hatte und das Sprechen in seiner alten Muttersprache ihm schwerfiel. »Ich will kein Architekt, Ingenieur oder Landvermesser sein. Das hat mit mir nichts zu tun. Ich will meinen eigenen Weg gehen.«
»Weg? Was für ein Weg?« Vater kam Roman bedrohlich nahe und zischte mit zittriger Stimme: »Sag´s mir. Was für ein Weg?«
»Ich will es einfach herausfinden, OK? Ich will nach München gehen und es herausfinden.«
Vater schlug sich auf die Stirn und starrte kurz zur Mutter hin. »Hörst du das? Hörst du das? Er redet schon wie der andere. Wir hätten sie schon vor Jahren trennen sollen.« Er wandte sich wieder Roman zu und dirigierte ihm mit seinem Zeigefinger unter der Nase. »Jeder kann es dir sagen. Jeder! Wenn du in diesem Alter die falsche Abzweigung nimmst. Das... Das wird dich dein ganzes Leben begleiten. Verstehst du? Dein ganzes Leben lang! Bewerbungen. Stets ein Problem. Geld. Stets ein Problem. Familie. Stets ein Problem...«
Roman zitterte am ganzen Körper und blickte durch den Raum. Er sah Mutter an, er sah mich an, er sah zurück zu Vater.
»Ich pfeife auf Familie«, bellte Roman los. »Ich pfeife auf Frauen.«
»Weil du jung bist«, erwiderte Vater. Seine Stimme glich beinahe einem konspirativen Flüstern. »Das wird nicht immer so sein.«
»Du kapierst es wirklich nicht, oder?« raunte ihm Roman zu. »Das Wort heißt schwul. Fang an, dich daran zu gewöhnen. Du wirst es immer öfter hören...«
Der Effekt war entsprechend. Mein Vater schwieg einige Augenblicke. Er sah sich um und suchte nach Orientierung.
»Ich will das nicht hören...«, brummte er schließlich und es war zu spüren, wie sich unter dem Topfdeckel Dampf sammelte. »Du hast keine Ahnung, wovon du redest! Schmink dir das ab, hörst du!«
»Abschminken?« Roman lachte hysterisch. »Das ist nichts, was man sich abschminkt. Das bin ich!«
»Nimmst du Drogen, Junge?!«
Die Mundwinkel unsers Vaters waren tief nach unten gezogen und er stieß mit seinem Zeigefinger gegen Romans Brustkorb. »Was für Drogen nimmst du? Sicher etwas, das deinen Verstand kaputt macht...«
Unsere Mutter war inzwischen an die Wohnzimmerkommode getreten, zog aus einer der Schubladen einen Blister und drückte sich zwei Tabletten in die Hand. Sie warf sie entgeistert in ihren Mund und blickte uns starr an.
»Es ist nur eine Phase«, äußerte sie aus dem Hintergrund mit kratziger Stimme.
»Wenn´s eine Phase ist, werde ich ihm schon nachhelfen, dass sie umso schneller vorbeigeht«, zischte Vater ohne sie anzusehen.
Roman zog in der Eskalation nach. Er begann Vater zu verhöhnen. Als älterer Bruder hätte ich ihm bescheinigen können, dass das ein Fehler war. Doch dafür blieb keine Zeit.
»Hey, akzeptier´s einfach, OK! Wenn du an einer Baustelle vorbeigehst, siehst du nur den Job, den du drüben hattest und hier in Deutschland nicht mehr haben kannst. Aber wenn ich an einer Baustelle vorbei gehe, suche ich nur nach gutgebauten Kerlen mit Schutzhelmen.«
Das waren halt die Achtziger. Geschmacklich vollkommen wirr. Das Klischee des muskulösen Bauarbeiters in engen Jeans hatte es mir angetan und ich brach am Ende von Romans Satz in Gelächter aus. Mein Vater sah mich einen Sekundenbruchteil an und seine Augen verengten sich. Als hätte er nun alle Zusammenhänge verstanden und erkannt, dass die Schuld an der ganzen Misere bei mir zu finden sei. Bei mir, dem Satan. Er stürzte sich auf mich, was dazu führte, dass Roman sich auf Vater stürzte und unsere Mutter kreischend um diesen Tumult herumlief.
»Ich will, dass ihr mein Haus verlasst!« röchelte er. »Ich will, dass ihr mein Haus verlasst!«
»Das hier ist keine Familie, das ist die SS!« schrie Roman und fuhr wütend herum.
»Du kannst sie nicht rauswerfen«, krakeelte Mutter. »Sie sind noch nicht volljährig...«
»Das werden wir sehen«, schnauzte ich zurück und verschwand in meinem Zimmer.
Ich habe Probleme mit der Annahme, dass diese Tage die »Ursache «, der »Grund« dafür sind, dass ich bin, wie ich bin. Ich glaube, die geschilderten Ereignisse waren einfach nur Indikatoren, Taxameter eines Prozesses, der nicht aufzuhalten war. Roman ging schließlich nach München und Hamburg und Sydney und Los Angeles und cruiste durch jeden Darkroom und Gayclub, der ihm in den Weg kam. Das fiel ihm leicht. Er war schließlich Eros und Adonis in einer Person. Diese Entwicklung hätte man niemals aufhalten können, und in dem Augenblick, als Roman das Licht der Welt erblickt hatte, standen diese Dinge unabwendbar fest. Vielleicht war nur das exzessive Schmecken des Lebens, die Sucht nach Erfahrungen, dem schnellen Sex, der Szene, der Droge und dem neuen Kick, etwas, das unmittelbar mit seiner Kindheit zu tun hatte. Der Versuch, so andersartig wie nur möglich zu werden. Sich von der Welt der Eltern soweit wie möglich zu entfernen. Ohne den Konflikt mit unserem Vater hätte er es sicherlich etwas sanfter angehen lassen.
Es war bedauerlich, dass ich Roman so schnell aus den Augen verlor. Ab und zu bekam ich von ihm provokante Postkarten. Irgendwann wurde es still, und ich wusste nicht mehr wo er war.
Mein Vater war kein schlechter Mensch. Er war ein Ingenieur und ein Städteplaner, der sich aus Gründen, die sich mir stets entzogen, dafür entschied, in den Westen zu emigrieren, was für ihn nur mit Nachteilen verbunden war. Direkt aus dem Asylheim in Murnau zogen wir nach Rosenheim. Vaters Qualifikation schien niemanden zu interessieren. Obwohl er nicht lange gebraucht hatte, um auf Oberbayerns Baustellen zu einem Vorarbeiter aufzusteigen, konnte sich seine Arbeit nicht mit dem messen, was er in Prag hatte.
Es war eine seltsame symmetrische Ironie. In Prag hatte es Wissenschaftler und Akademiker gegeben, die für meinen Vater Beton mischten und hier war er es, der die Anordnungen der Baumeister und Ingenieure entgegen nahm.
Er mochte die Dinge einfach und ordentlich. Seine Pantoffeln standen nachts aufgeräumt neben dem Bett, und er las jeden Tag zur selben Zeit die Zeitung. Wenn er Nachrichten im Fernsehen sah, schnaubte er fast unhörbar vor sich hin. Am Sonntag ging er hinaus und wusch sein Auto, auch dann, wenn es nicht nötig war. In allen Dingen war er ein Kleinbürger, der letzte seiner Art, im Zeitalter der Loveparade. Es wäre mir leichter gefallen, einen Außerirdischen zu begreifen, der nur aus Versehen auf der Erde gelandet war, als meinen Vater. Aber ich vermute, er stand unter dem Eindruck, dass Roman und ich keine sehr angemessene Gegenleistung des Schicksals waren, für die Opfer die er erbracht hat. Durch uns erschien ihm das Leben unfair und machte ihn zu einem zynischen, verbitterten Mann, der diese Empfindungen hinter minutiösen Alltagsritualen verbarg.
Meine Mutter starb schließlich an Krebs. Da war ich schon längst ausgezogen und verschwunden. Niemand rechnete damit, dass ich zur Beerdigung kommen würde, und niemand vermisste mich auf dem Friedhof. Denn ich war das ultimativ schwarze Schaf. Sogar Roman hatte seine Tanzgruppe in Berlin verlassen, um zu erscheinen.
Doch ich war dort. Aus sicherer Entfernung wohnte ich heimlich der Beerdigung bei. Bis heute weiß ich nicht, weshalb ich es getan hatte, denn schließlich hatte ich mich nur geärgert. Die Ansprache des Priesters, der meine Mutter nie im Leben getroffen hatte, war gespickt mit Peinlichkeiten und demonstrierte die Notwendigkeit, monotheistische Kulte endgültig abzuschaffen.
Während diese erbärmliche Zeremonie voranging, dachte ich an ihre alten, teilweise schwarzweißen Fotos. Sie war auf diesen Bildern eine ausgelassene, zwanzigjährige Frau, mit langen Haaren und hohen Plateauschuhen. In einigen Aufnahmen posierte sie, andere entstanden als Schnappschuss während einer Party. Mit Weingläsern in der Hand und nackten Knien, die unter den knappen Röcken hervorschauten. Auf fast allen Bildern lachte diese Frau, manchmal beinahe hysterisch. Auf anderen blickte sie mit den Augen eines angehenden Fotomodels kokett in die Kamera. Ich hatte nie verstanden, was diese Frau mit meiner Mutter zu tun hatte, die ich als eine vollbusige, leicht korpulente Hausfrau kannte, die in jeder Schublade und jeder Handtasche genügend Tabletten auf Vorrat hatte und mit einem steifen, trockenen Spießer verheiratet war. Ich hätte gerne die Frau auf den Fotos kennengelernt.
Langsam dämmerte mir, dass die Kluft zwischen dieser unbekannten und irgendwie geheimnisvollen Frau aus den Sechzigern und meiner Mutter meinen Namen trug.
Abgesehen von den üblichen Grübeleien, die unentwegt durch meinen Kopf spuken, berührte mich die Beisetzung nicht besonders. Es war eine einmalige Chance, diese breite, schwarze Sonnenbrille aus Plastik, die aussah, als hätte Jean Gabin sie in einem Umkleideraum vergessen, auszuprobieren.
Ich hatte stets wenig Respekt vor dem Leben. Die Resultate des Lebens zeigten mir nur, dass die Menschen Heuchler sind und die Welt ein zu verrückter Ort, um sich als Gast hier allzu wichtig zu nehmen. Heiliges Leben? Dass ich nicht lache. Ist das Leben denn heilig in einem chinesischen Straflager inmitten von Tibet? War das Leben heilig, als wir in Ruanda zugesehen haben? Ich spucke auf die Heiligkeit eures Lebens. Wenn es Gründe gab, weshalb ich nicht bereit war, Selbstmord zu begehen — so war es vor allem das Unbehagen, eine verwesende Leiche zu hinterlassen, auf deren schleichenden, alles durchdringenden Gestank schließlich die Nachbarn aufmerksam würden. Genauso wenig gefiel mir die Idee, dass Possen reißende Polizisten und mir beinahe unbekannte Verwandte über meinen obskuren Besitz herfielen und sich anmaßten, daraus ein Psychogramm zu stricken, um dann neunmalklug so zu tun, als wäre ihnen alles klar. Nein, danke!
Doch das änderte nichts daran, dass die Planeten sich nicht schneller oder langsamer drehten, wenn der nackte Affe irgendwo schwer atmend verendete.