Ginny stieß einen entnervten Atemzug aus und blies
sich die Haare aus dem Gesicht. Sie blickte durch das große, mit
schweren Vorhängen umrahmte Fenster, um nach näherkommenden
Regenwolken Ausschau zu halten. Die Krankenhausangestellten und
Beamten hatten die Organisation wieder in der Hand und hatten Harry
in die Ministersuite verlegt. Anscheinend hatte Cornelius Fudge in
seiner Amtszeit regelmäßig Behandlungen für ein immer
wiederkehrendes Geschwür an seinem Fuß gehabt und während seiner
Aufenthalte den anspruchsvollen Raum arrangiert.
Ginny wusste, dass Harry es verabscheuen würde, wenn er es sah,
doch sie musste allen zustimmen, dass es sicherer war, ihn von der
Öffentlichkeit abzuschirmen. Die Reporter waren umbarmherzig
gewesen und selbst die Belegschaft und die Öffentlichkeit hatten
sich unermüdlich hereingeschlichen, um Blicke auf ihn werfen zu
können.
Während sie wartete, saß Ginny an ihren Endjahresprüfungen, wobei
Hagrid als ihr Aufpasser diente, obwohl er im Augenblick schlief
und laut auf der roten Samtcouch vor Harrys Bett schnarchte.
Beinahe jeder Knochen in seinem Körper war gebrochen gewesen, doch
er beharrte, dass er zu robust war, als dass er sich lange damit
aufhalten würde. Er würde am nächsten Tag entlassen werden und
Ginny wusste, dass sie seine optimistische Anwesenheit schrecklich
vermissen würde.
Ihre Augen schweiften durch den sorgfältig ausgestatteten Raum und
blieben am Seelengleichgewicht haften, das Hermine aus Hogwarts
mitgebracht hatte. Das seltsame silberne Instrument ruhte auf dem
Tisch neben Harrys Bett. Hermine bestand darauf, dass es Harry gut
tun würde, den Beweis zu sehen, dass Voldemort wirklich aus seiner
Seele verschwunden war. Professor Dumbledores Porträt hatte
erklärt, wie es zu benutzen war, doch Hermine hatte keine Schlüsse
draus ziehen können, als sie es an Harry anwandte. Es war, als
befände sich überhaupt keine Seele in ihm. Hermine hatte vor, es
nochmals zu versuchen, wenn er wieder wach war.
Ginny schauderte und wandte den Blick ab, um den Gedanken aus ihrem
Geist zu verbannen. Sie wollte einfach, dass er seine Augen öffnete
und jenes bezaubernde Lächeln zeigte, doch langsam stieg in ihr die
Angst auf, dass es nicht geschehen würde.
Sie beendete die letzte ihrer Prüfungen und schob das Pergament mit
einem Seufzen von sich. Ihre Mum würde ohnehin glücklich sein.
Hagrid, Draco und Harry waren die letzten ihrer Gruppe, die immer
noch im Krankenhaus lagen. George war vor zwei Tagen zum Fuchsbau
zurückgekehrt. Ginny war noch nie so glücklich gewesen, dass sie
nach Hause zu ihrer Familie gezogen war. Die Schutzzauber am
Fuchsbau waren wieder aktiviert worden, untersucht und nochmals
überprüft, und da es keine Anzeichen von irgendwelchen
Todesseraktivitäten gab, hatten ihre Eltern entschieden, dass es an
der Zeit war, nach Hause zurückzukehren.
Sie war jeden Tag mit dem Flohnetzwerk zum St. Mungos gereist, um
bei Harry zu sitzen. Ron und Hermine waren ebenfalls dort gewesen,
obwohl sie mehr Freiheit hatten, da sie apparieren konnten. Hermine
war zum ersten Mal seit ihrem sechsten Schuljahr bei ihren Eltern
zu Hause gewesen.
George kam bemerkenswert gut mit dem Verlust seines Beines zurecht.
Er hatte einen Termin zum Anmontieren eines künstlichen Ersatzes,
doch er musste warten, bis das Gewebe vollständig geheilt war. Er
riss wiederholt Witze darüber, dass es viel besser war als wenn er
eine Hand verloren hätte. So konnte er immer noch arbeiten und
andere mussten ihm sein Zeug bringen.
Es war der Rest der Familie, dem es größeren Kummer bereitete.
Ginny hatte bemerkt, wie sie alle – sie selbst eingeschlossen – ihn
wie ein rohes Ei behandelten, unsicher, was sie sagen oder tun
sollten. Fred war es, der sich am schnellsten daran gewöhnt hatte.
Zuerst hatte er eine große Show daraus gemacht, sich Georges
sämtlichen Wünschen und Verlangen zu beugen, doch schon bald hatte
er es aufgegeben und George erwidert, dass er es gefälligst selbst
erledigen solle.
Ihre Mum war entsetzt gewesen und hatte Fred für seine
Unsensibilität angeschrien. Irgendwie vermutete Ginny jedoch, dass
George genau darauf gewartet hatte. Er genoss es immer noch, sich
bei jeder Gelegenheit über sie lustig zu machen, doch zum größten
Teil wurde er bereits wieder selbstgefällig, sogar ohne künstliche
Gliedmaße.
Alle wussten, wie bemerkenswert ähnlich Fred und George sich waren,
doch Ginny wusste, dass es auch einige grundlegende Unterschiede
gab. Sie nahm an, dass, wenn schon einer von ihnen sein Bein
verlieren musste, George die bessere Wahl war.
Sie errötete und fühlte sich furchtbar für diesen Gedanken, selbst
wenn es der Wahrheit entsprach. Fred war immer bei weitem der
Überschwänglichere der Zwillinge gewesen. Er konnte einfach nicht
stillsitzen. Fred war der Mann für die Ideen, während George sie
tatsächlich verwirklichte. Fred dachte sich ein Produkt oder
alberne neue Erfindungen aus und George war derjenige, der sie ins
Rollen brachte. Sie waren schon ein tolles Team, ihre Brüder.
Obwohl Shannon nach Hause gezogen war, war sie eine regelmäßige
Besucherin des Fuchsbaus und arbeitete immer noch im Geschäft der
Zwillinge. Die Winkelgasse wurde für eine grandiose Wiedereröffnung
in der nächsten Woche vorbeireitet und die Vorräte im Laden mussten
neu aufgefüllt werden. Tatsächlich würde es Ginny nicht
überraschen, wenn George der nächste war, der seine Verlobung
ankündigte.
Ginny hatte nicht viel von Iris gesehen. Mrs. Parkinson hatte
Pansys Tod sehr schwer genommen und Iris bemühte sich, ihr zu
helfen, es zu verarbeiten. Die beiden waren in ihr eigenes Zuhause
zurückgekehrt, doch Fred hatte Ginny erzählt, dass Mrs. Parkinson
vorhatte, es zu verkaufen und woanders einen Neuanfang zu starten.
Das zumindest ließ Ginny wissen, dass Fred immer noch in Kontakt
mit Iris stand.
Draco Malfoy lag ebenfalls nach wie vor im Krankenhaus. Obwohl die
Heiler ihn retten konnten, sagten sie, dass es einige Zeit dauern
würde, bis seine Eingeweide wieder richtig funktionierten. Nachdem
er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war er sehr mürrisch und
bitter durch den Verlust seiner Mutter geworden. Ginny hatte ihn
einmal besucht, aber er hatte sie deutlich spüren lassen, dass sie
nicht willkommen war, und sie hatte es nicht nochmals versucht.
Sie hatte mehrmals gesehen, dass Dudley sein Zimmer besucht hatte.
Die Dursleys waren nach Surry zurückgekehrt, doch Dudley hielt
offensichtlich seine Verbindungen zur Zaubererwelt aufrecht. Dudley
hatte einmal bei Harry vorbeigeschaut, aber seine Faszination für
die Zaubersprüche, die er während des Kampfes benutzt hatte und wie
Harry die Macht erlangt hatte, Tom zu besiegen, nervten sie. Etwas
an Dudley Dursley erzeugte ein sehr unbehagliches Gefühl in
ihr.
Ginny blickte auf, als die ersten Regentropfen gegen das Fenster
schlugen. Sie sah zu, wie winzige Bäche an der Scheibe
heruntertropften, eingelullt von dem beruhigenden Klang. Ein Teil
ihrer Anspannung fiel von ihr ab und ihr wurde nicht sofort
bewusst, dass Harry sich zu rühren begann. Ein leichtes Stöhnen
erregte schließlich ihre Aufmerksamkeit. Als sie es völlig begriff,
weiteten sich ihre Augen.
Sie sah, wie seine Augenlider flatterten – etwas, das die ganze
letzte Woche nicht vorgekommen war.
Kaum zum Atmen fähig, ließ sie ihre Finger durch sein Haar
streifen. »Harry.«, flüsterte sie.
Sein Kopf bewegte sich leicht. »Mum.«, stöhnte er.
Ginny zog sich zurück, ihr Herz raste. Mum? Harry kannte
seine Mutter nicht einmal, der arme Kerl. Es schien seltsam, dass
er nach ihr rief. Furcht über einen Schaden, der seinem Gehirn
möglicherweise zugefügt worden war, brach durch. Sie flehte, dass
er nur träumte. Ihr Herz machte einen Satz und sie spürte Trauer in
sich aufsteigen, dass Harry von seiner toten Mum träumte.
Hilflosigkeit drang auf sie ein.
»Harry, kannst du mich hören?«, keuchte sie und sank auf den Boden
neben seinem Bett, da ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten.
»Mach die Augen auf, Liebling.«
Seine Augen flatterten wieder, bevor er sie langsam öffnete. Er
kniff sie bei der Helligkeit im Raum wieder zusammen.
»Nox.«, wisperte Ginny, den Tränen nahe, und die Deckenbeleuchtung
wurde dämmrig.
Harry öffnete wieder langsam die Augen. Die normalerweise grüne
Farbe war trüb und vor Schmerz verdunkelt. Er runzelte die Stirn,
während er gegen die Verwirrung ankämpfte, die ihn übermannte.
»Es ist alles in Ordnung, Harry. Wir sind im St. Mungos.«,
flüsterte sie.
Er war immer noch mit tieflila Ergüssen bedeckt. Die Heiler sagten,
dass der Trank der Lebenden Toten all seine inneren Organe einfach
verlangsamte und seine Fähigkeit zum Heilen behinderte. Nun da er
wach war, würde alles endlich besser werden.
Seine Augen rollten leicht in den Kopf zurück, doch er blinzelte
und versuchte, seinen Blick zu fokussieren. Ein dünner Schweißfilm
brach auf seiner Stirn und Unterlippe aus, als er sich bemühte, die
Orientierung zu finden.
»Entspann dich, Harry. Alles wird wieder gut.«, sagte Ginny
beruhigend.
Seine Atemzüge wurden immer angestrengter und seine Augen weiteten
sich vor Panik. Sie konnte spüren, wie sein Körper leicht zitterte,
obwohl er zu schwach war, um zu ringen. Seine Lippen waren trocken
und spröde und er versuchte wiederholt, sie zu befeuchten.
»Hagrid!«, zischte sie, den schlafenden Halbriesen weckend.
»Was? Was'n los?«, murmelte er schläfrig.
»Hagrid, Harry ist wach.«, sagte Ginny in dem Versuch, ihm ihre
Dringlichkeit zu vermitteln, ohne Harry aufzuregen. »Geh bitte
einen der Heiler holen. Beeil dich.«
»Harry?«, dröhnte Hagrid, sprang von der Couch auf und polterte auf
sie zu. »Meine Güte, Harry! Tut gut, dich wiederzusehn.«
Hagrids Erscheinen schien Harry mehr zu alarmieren als zu trösten
und er begann, nach Luft zu schnappen.
»Geh jetzt, Hagrid.«, drängte Ginny. Sie nahm Harrys beide Hände in
ihre. »Es ist alles in Ordnung, Harry. Alles ist okay. Du bist hier
bei mir und du wirst wieder in Ordnung kommen. Ron und Hermine geht
es auch gut.«, sagte sie in der Hoffnung, dass es ihn beruhigen
würde.
Er packte ihre Hand fest mit seiner rechten, doch seine linke blieb
schlaff und unbeweglich in ihrer Hand. Sein linker Arm hatte den
tiefen Schlitzfluch erhalten und die Heiler hatten sich Sorgen um
einen Nervenschaden gemacht.
»Sieh mich an, Harry. Sieh mir in die Augen und atme mit mir.«,
sagte sie, den Blick auf seine panischen grünen Augen gerichtet.
»Ich werde dich nicht verlassen. Ich bin hier.«
Sie war nicht einmal sicher, ob er sie hören konnte, doch sein
Körper entspannte sich leicht, während er den Augenkontakt immer
beibehielt. Sie konnte ihr eigenes Gesicht in seinen weiten,
vertrauensvollen Augen gespiegelt sehen.
Ein Team von Heilern platzte in den Raum, schob sie aus dem Weg und
versammelte sich um sein Bett. Sobald sie zurückgedrängt war,
konnte sie hören, wie seine Atemzüge wieder angestrengter
wurden.
Der Oberheiler wedelte seinen Zauberstab über ihn, während die
anderen beiden Harry zu beruhigen versuchten.
»Nein.«, keuchte er und versuchte schwach, den Zauberstab
wegzuschieben.
Ein vierter Heiler brachte mehrere Zaubertränke und versuchte, sie
in Harrys Kehle zu gießen. Er spuckte den ersten aus und warf den
Kopf von einer Seite auf die andere. Seine Stimme war heiser und
kratzig und sie konnte seine Worte nicht verstehen.
»Ihr macht ihm Angst!«, keifte Ginny. Sie drängte sich zwischen
ihnen hindurch und nahm wieder ihren Platz an Harrys Seite ein.
Seine gesunde Hand in ihre nehmend, drückte sie sie an ihr
Gesicht.
»Bitte rücken Sie zur Seite, Miss. Wir müssen seine Verletzungen
behandeln.«, sagte ein junger Heiler arrogant.
»Ja, das haben Sie ja wirklich gut gemacht.«, antwortete sie
sarkastisch. »Das letzte, woran er sich erinnert, ist sein Kampf
mit Voldemort um sein Leben. Davor war er gefangengenommen worden
und hatte einen Trank verabreicht bekommen, der ihn zu einem Zombie
machen sollte. Natürlich kämpft er gegen Sie an! Er wird sich
beruhigen, wenn Sie ihn wissen lassen, dass Sie ihm keinen Schaden
zufügen wollen.«
Alle vier Heiler keuchten auf, als sie Voldemorts Namen aussprach.
Eine von ihnen trat sogar einen Schritt zurück und hob ihre Hände
schützend vor das Gesicht. Ginny war wütend.
»Oh, um Merlins willen. Er ist tot!«, schnappte sie. Wütend
wirbelte sie von den Heilern fort und wandte ihre Aufmerksamkeit
stattdessen auf Harry. »Hör mir zu, Harry. Es ist okay. Sie sind
hier, um dir zu helfen.«
Sein Blick huschte wild durch den Raum. Sie hielt seine gesunde
Hand fest umschlossen, während sie mit der anderen sein Gesicht
streichelte. Sie flüsterte ruhige, tröstende Worte und er begann,
die Kontrolle über seine Atemzüge wiederzufinden.
Er sah zu ihr auf – verzweifelt und verwirrt – und ihre Kehle
verengte sich bei dem Wunsch, seinem Zustand ein Ende zu setzen.
Sie wusste, dass ihre Anwesenheit ihn beruhigte, doch er hatte noch
immer kein Anzeichen gezeigt, dass er sie erkannt hatte. Sie wollte
ihn sehnlichst fragen, ob er sie kannte, wusste jedoch, dass es vor
all den anderen möglichen gesundheitlichen Sorgen, die ihm drohten,
seicht und nutzlos klingen würde. Sie konnte das Gefühl jedoch
nicht unterdrücken.
Sie wollte ihn zurück – und sie wollte ihn bei ihr.
Harry beruhigte sich etwas, sodass die Heiler ihm ihre Tränke
verabreichen konnten. Er nahm sie gehorsam ein, obwohl er Ginnys
Hand nie losließ. Die Heiler verließen den Raum. Einige von ihnen
trödelten unnötigerweise. Sie sagten, dass die Heiltränke endlich
zu wirken beginnen würden, nun da er bei Bewusstsein war, doch er
war sichtlich erschöpft.
Seine Augen begannen, schwer zuzufallen. Sie sah belustigt zu, wie
er sich bemühte, den Schlaf abzuhalten, der ihn zu ergreifen
versuchte.
»Schließ die Augen und ruh dich aus, Harry.«, flüsterte sie und
küsste ihn auf die schweißnasse Stirn. »Ich werde hier sein, wenn
du aufwachst.«
Sie hatte ihren Bären, Rotz, von Zuhause mitgebracht. Ursprünglich
hatte sie gehofft, er könnte Harry etwas Trost spenden, doch
stattdessen hatte er ihr selbst Gesellschaft geleistet, während sie
auf sein Aufwachen wartete. Sie legte den Bären auf das Kissen
neben ihn und flehte ihren alten, treuen Freund im Stillen an, über
Harry zu wachen.
Harry wandte seinen Kopf zu ihr und driftete schnell in den Schlaf,
während sein Gesicht auf Rotz ruhte. Ginny fuhr fort, sein Haar zu
streicheln, und fühlte sich besser, als sie es in den letzten
Tagen. Sie hatte noch immer die quälende Sorge im Herzen, doch es
gab etwas, das ihre Stimmung hob. Jedes Jahr in Harrys Schulleben
hatten sie ihn nach Hause in die fragwürdige Obhut der Dursleys
geschickt. Dieses Jahr – dieses Mal – würde es anders sein. Harry
würde nach Hause in den Fuchsbau kommen und sie alle würden dafür
sorgen, dass er endlich die positive Aufmerksamkeit erhielt, die er
so verdiente.