Kapitel 6: Godrics Hollow

Das beständige Summen des Zuges lullte seine wenigen verstreuten Passagiere in den Schlaf, während sie in einer kühlen Sommernacht von England nach Wales reisten. Nach seinem unangekündigten Aufbruch vom Grimmauldplatz war Harry direkt zur Bahnstation gefahren. Während seines Aufenthaltes im Fuchsbau hatte er es fertiggebracht, etwas von seinem Gold in Pfund zu wechseln, was ihn befähigt hatte, ein Zugticket zu kaufen.
Er war noch immer minderjährig und deshalb nicht in der Lage, legal zu apparieren. Und er war ebenfalls besorgt gewesen, dass der Orden ihn hätten nachspüren können, wenn er Zauberei benutzte. Er war sicher, dass Ron und Hermine sich denken konnten, wohin er aufgebrochen war. Doch er hoffte, dass sie sein Ziel nicht aus Wut darüber, zurückgelassen worden zu sein, preisgeben würden.
Harry hatte ihnen den Zettel von Tante Petunia nie gezeigt. Aber er vermutete, dass Lupin die Adresse kennen würde, wenn sie Godrics Hollow erwähnten. Er konnte nichts dagegen tun. Es blieb ihm nur zu hoffen, dass sie Stillschweigen bewahren würden.
Harry hatte nicht vor, lange weg zu bleiben, und betete inständig, dass sie ihm gegenüber Verständnis aufbringen würde, wenn er zurückkehrte. Er war noch immer nicht sicher, was ihn zu dem Ort zog, an dem für ihn alles begonnen hatte. Er wusste nicht, wie er selbst reagieren würde, wenn er die Stelle sah, an der seine Eltern getötet worden waren und sich sein Leben unwiderruflich verändert hatte. Es fühlte sich unwirklich an, während er aus dem Zugfenster stierte.
Seit Dumbledores Beerdigung war er von der fixen Idee besessen, den letzten Ruheplatz seiner Eltern aufzusuchen. Er hatte zugestimmt, dass Ron und Hermine mit ihm kamen, doch je mehr er darüber nachdachte, desto mehr verspürte er das Verlangen, diese Reise allein zu unternehmen. Er wusste, dass seine Freunde sich um ihn sorgten und nur sein Bestes im Sinn hatten, aber er fühlte sich Hermines endloser Fragerei oder Rons Unbeholfenheit nicht gewachsen. Er musste diese Etappe allein durchschreiten.
Das Glück hatte auf seiner Seite gestanden, als er den Bahnhof erreicht hatte. Es war ihm gelungen, den letzten Zug des Abends nach Schwanensee mit lediglich zehn Minuten Wartezeit zu erwischen. Selbst wenn sie seine Abwesenheit auf der Stelle bemerkt hätten, hätte niemand ihn rechtzeitig einholen können. Er würde einmal umsteigen müssen, doch nur für eine kurze Strecke. Dann hoffte er, sich ein Taxi nehmen zu können, das ihn zur Hillside Lane brachte.
Harrys Magen rumorte bei dem Gedanken. Er hatte keine Ahnung, was er erwarten sollte, sobald er sein Ziel erreicht hatte. Mit welcher Kraft er sich auch anstrengte, er konnte sich an nichts von seinem Leben in Godrics Hollow entsinnen. Seine früheste Erinnerung bestand aus einem grünen Lichtblitz. Hagrid hatte ihm erzählt, dass das Haus zerstört worden war. Aber er hatte nie gehört, ob es vielleicht wiederaufgebaut oder verkauft worden war. Er wusste noch nicht einmal, ob es in einer Muggel- oder Zauberergegend stand. Harry wippte mit seinem Bein angespannt auf und ab, während der Zug sich beständig Wales näherte.
Er hielt seinen Zauberstab griffbereit und seine Augen musterten sorgfältig den Zugabteil, doch niemand hatte ihn belästigt, seit er an Bord geklettert war und seinen Sitz eingenommen hatte. Es war, als ob er endlich die Anonymität erlangt hatte, die er sich immer gewünscht hatte, wenn er unter Muggel reiste. Er war jedoch nicht bereit, seine Wachsamkeit sinken zu lassen. Das Prickeln in seinem Nacken ließ in ihm das Gefühl aufkommen, dass er beobachtet wurde.
Es stand kein Mond am Himmel, der die Landschaft beleuchtete. Deshalb blieb Harry nichts anderes übrig, als in die Dunkelheit zu starren und sich vorzustellen, wie sie am Fenster vorbeirauschte. Von der Karte, die er am Bahnhof studiert hatte, wusste er, dass Godre'r-graig am Meer lag. Er gestattete seinen Gedanken, Bilder von seinen Eltern bei einem Spaziergang am Strand hochsteigen zu lassen.
Harry presste seine Nase gegen das Fenster, als Gedanken an Ginny abermals seinen Geist fluteten. Sie hatte in ihren Hochzeitsroben reizend ausgesehen und er kostete jede Erinnerung an ihre Küsse aus. Er lächelte, als Gedanken an ihren gemeinsamen Tag ihn übermannten. Sie war ein Lichtfleck in der kalten, trostlosen Düsternis, die sein Leben im Moment darstellte. Wie hatte er jemals hoffen können, es ohne sie zu schaffen?
Als langsam das Tageslicht über den Horizont kroch, rieb Harry sich seine müden Augen. Er sammelte seine Tasche auf, während der Zug in den Bahnhof einfuhr, und trat hinaus nach Wales. Es dauerte eine Weile, bis er die Verbindung fand, die er gesucht hatte. Es gelang ihm ohne weitere Umstände und als die Morgensonne herabbrannte und in das schläfrige Dorf wieder Leben einkehrte, stand Harry auf der Hillside Lane.
Er hatte den Taxifahrer gebeten, ihn am Ende der ruhigen Straße hinauszulassen, da er es vorzog zu dem Haus zu laufen, um sich seelisch einzustellen. Das nervöse Flattern in seinem Bauch blieb weiter bestehen und schien sich noch zu verstärken, je näher er seinem Ziel kam. Es war ein strahlender Morgen und Harry war erfreut, zu bemerken, dass die Straße mit seinen umschlossenen Landhäusern einzigartig und so anders als der Ligusterweg aussah. Das allein bestärkte ihn irgendwie.
Godre's-graig war ein ruhiges Muggel-Dorf mit malerischen baumgesäumten Straßen mit alten Steinvillen und Vogelgezwitscher füllte die Luft. Das Dorf war nicht direkt am Meer gelegen, wie Harry gedacht hatte, sondern stand zurückgezogen und war bewaldeter, als er erwartet hatte. Dennoch konnte er Salz in der Luft riechen und wusste, dass er nicht weit von der Küste entfernt war. Als er die Straße hinauftrottete, hämmerte sein Herz in der Brust. Er ballte die Fäuste um den gefälschten Horkrux in seiner Tasche. Er stellte fest, dass seine Hände plötzlich schwitzten, trotz der kühlen Brise am Morgen.
Als Harry um die Biegung der Straße lief, stockte ihm der Atem. Die Häuser auf beiden Seiten von Nummer sechzehn waren verlassen, so dass es schien, als wäre es allein im Wald. Die Natur hatte sich das meiste des Landes zurückgeholt. Es war mit Unkraut und Weinranken überwachsen. In der Mitte von allem konnte Harry die Überreste einer Steinstruktur erkennen. Nur eine Mauer stand aufrecht zwischen dem Geröll und Steinschutt.
Harry bemerkte, dass etwas seine Kehle verstopfte. Er schluckte schmerzhaft. Er musste seine unwilligen Füße vorwärtsschleppen, während sein Geist mit den widerstreitenden Begehren kämpfte, die Zerstörung zu sehen und gleichzeitig davon wegzurennen. Er hatte das seltsame Gefühl von Vertrautheit, auch wenn er wusste, dass es unmöglich war. Er war gerade einmal ein Jahr alt gewesen, als er hier zurückgelassen worden war. Es gab keine Möglichkeit, dass er sich an diesen Ort erinnern konnte. Dennoch blieb das Gefühl bestehen, als er näher kam.
Abermals spürte er das Prickeln im Nacken und wandte sich angespannt um. Der Wind rauschte leicht durch die Bäume. Aber außer dem dröhnenden Summen von Insekten und gelegentlichem Vögelgezwitscher störte nichts die Ruhe der Umgebung. Harry hielt den Zauberstab bereit in der Hand, während er sich dem Haus näherte.
Es sind nur die Nerven.
Dicke Bündel von Lilien wuchsen am Rand des Hausgrundrisses und Harry fragte sich, ob sein Dad sie für seine Mum angepflanzt hatte. Er schluckte erneute und merkte zum hundertsten Mal, wie wenig er tatsächlich über seine Eltern und ihr gemeinsames Leben wusste.
Während er näher und näher an die Ruine kam, fragte er sich, ob sein Dad – wenn alles anders gekommen wäre – an einem tief hängenden Ast eines Baumes im Garten eine Schaukel befestigt hätte. Im Fuchsbau gab es eine Schaukel, die abgenutzt erschien, und es war für ihn zu einem Symbol für eine glückliche Familie geworden. Er hätte auf seinem eigenen Grundstück gern eine Schaukel gesehen.
Harry fragte sich, ob er jüngere Brüder oder Schwestern gehabt hätte, die mit ihm geschaukelt wären oder vielleicht verlangt hätten, angeschubst zu werden. Er kam zu dem Schluss, dass es ihm gefallen hätte, ein großer Bruder zu sein.
Der beharrliche Kloß in seinem Hals wuchs, als er sich vorstellte, wie seine Eltern ihn an seinem ersten Tag in Hogwarts zum Kings Cross genommen und ihn auf die Plattform begleitet hätten. Alles hätte so anders werden können...
Wut und Trauer erfüllten Harrys Herz, während er die Zerstörung anstarrte. Voldemort hatte ihm das angetan. Er hatte ihm jegliche Chance auf Glück und eine normale Kindheit gestohlen, die er hatte. Es war nicht fair!
Es bringt nichts, Träumen nachzuhängen...
Dumbledores Stimme echote in Harry Kopf, während er über die Türschwelle ins Haus schritt, das einst das Zuhause seiner Familie gewesen war. Harry erschauderte. Es hatte schon zu viele Tote gegeben.
Er konnte ein prickelndes Gefühl unter seiner Haut spüren, das ihn unbehaglich werden ließ. Er blickte abermals sorgsam auf die Straße.
Nichts durchbrach den Frieden des Morgens und Harry schalt sich selbst dafür, dass er die Nerven verloren hatte. Hier zu sein, machte ihn nervös. In seinem Geist konnte er sich vage vorstellen, wie das Haus aussehen würde, wenn die Wände heil geblieben wären. Dank der Erinnerungen, die die Dementoren in ihm hervorgerufen hatten, konnte er das Echo der Stimmen seiner Eltern hören.
Ein überwältigendes Gefühl von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit übermannte ihn, während er auf die Knie sank und zwischen den Trümmern hockte, unsicher wohin er gehen sollte oder was er als nächstes tun sollte.
Was tue ich hier?
Auf einmal erinnerte Harry sich an seine Unterhaltung mit Moody am vergangenen Morgen und zog den Zauberdetektor aus seinem Rucksack, um ihn sich auf die Nase zu setzen. Er sog einen scharfen Atem ein, als blasse Gestalten von blauem, pinken und grünen Licht aus jeder Richtung ausgingen. Harry runzelte verwirrt die Stirn.
Er lief zurück zu der versengten Stelle und starrte durch den Zauberdetektor. Das Licht, das er erkannte, war leuchtend rot und schien zu pulsieren. Harry riss sich den Detektor von der Nase und wich zurück, als ob er etwas Unanständiges gesehen hätte. Dieser Ort – sein vertrautes Heim – war geradezu lebendig von Magie.
Plötzlich ging Harry auf, dass das gesamte Viertel unter einem Verbergungszauber stehen musste. Andernfalls hätten die Muggel es wahrscheinlich wieder aufgebaut oder noch schlimmer: die Zaubererbevölkerung hätte es in eine Touristenattraktion verwandelt. Er hatte den Ort sehr leicht gefunden, doch er hatte gewusst, wohin er gehen musste. Oder vielleicht war es nicht vor ihm verborgen, da es seine Familie war. All diese Ungewissheiten brachten seinen Kopf zum Pochen.
Harry setzte den Zauberdetektor wieder auf und fuhr fort, sich umzuschauen. Er brauchte einige Minuten, bevor er noch mehr rote Spuren erspähte. Sie kamen von einer Stelle in der Nähe des Hauses, wo Haufen von Geröll aufgetürmt waren. Er fragte sich, ob es vielleicht ein oberes Stockwerk gegeben hatte. Er rückte einige Steine und Schmutz beiseite, bis er dieselbe abgestorbene schwarze Markierung sah. Das war die Stelle, wo seine Mutter gestorben war, wo er sich die Narbe an der Stirn zugezogen hatte. Abwesend ließ Harry einen Finger über die versengte Erde fahren, während die Schreie seiner Mutter in seinem Kopf widerhallten.
Er ließ seinen Gedanken freien Lauf, um zu versuchen, selbst die Magie zu identifizieren. Er spürte dasselbe Frösteln, das er von der Höhle her kannte, in jener schicksalhaften Nacht mit Dumbledore. Dennoch wusste er nicht, ob es schlichtweg von dem Strudel der Gefühle herrührte, den dieser Ort in ihm erweckte.
Harry seufzte schwer und stand auf. Es gab hier nun nichts außer Erinnerungen und er musste seine Fähigkeiten erproben, die Magie an einem weniger traumatischen Ort zu erfühlen. Es war nutzlos, es hier zu versuchen. Als er sich umdrehte und einen einzelnen Atemzug nahm, sah er einen langen, drahtigen Schwanz hinter Felsen hervorblitzen. Harry zückte seinen Zauberstab und zielte auf die Felsgruppe.
»Reducto!«, zischte er, worauf die Felsen auseinanderbrachen.
Die Ratte quiekte auf und huschte zu einem weiteren Schutthaufen. Während er lief, entblößte er seine verräterische Silberpfote.
»Reducto!«, knurrte Harry wieder und sandte Staub und Steine in die Luft. »Versteckst du dich wieder in Spalten und Löchern, Wurmschwanz? Ich vermute, eine Ratte kann niemals seine Lieblingsorte ändern, was? Komm raus und tritt mir von Mann zu Mann gegenüber.«
Als sich der Staub von seinem zweiten Stoß gelegt hatte, blickte Harry sich sorgsam um. Er konnte nirgendwo ein Zeichen von der Ratte entdecken.
»Komm raus, Wurmschwanz. Ich habe keine Zeit für deine erbärmlichen kleinen Spielchen. Du hast mich jetzt schon eine ganze Zeit lang verfolgt. Du musst etwas zu sagen haben. Spuck es aus, bevor ich tue, was ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen.«, sagte Harry. Seine Hand bebte. Alle Wut, Furcht und aufgestauten Emotionen darüber, die Zerstörung seines Zuhauses zu sehen, hatten nun ein Ziel und Harry schien Wut förmlich auszustrahlen. Hier vor ihm befand sich die stinkende, kleine Ratte, die seine Eltern verraten hatte und direkt verantwortlich für alles war, das hier geschehen war. Der Gedanke, dass Wurmschwanz noch immer seinen Weg hierher finden konnte, da er der Beschützer dieses Zuhauses hätte sein sollen, brachte sein Blut zum Kochen.
Harry würde zusehen, dass er endlich dafür bezahlte.
»Wo bist du?«, schnarrte er zornig. Ein leises Geräusch ließ ihn herumwirbeln und er sprengte ein Loch in den Boden. Doch noch immer erschien Wurmschwanz nicht.
»Du Feigling. Du bist schon immer ein Feigling gewesen. Du hast ihre Freundschaft nie verdient.«, keuchte Harry.
Niemand antwortete ihm. Er lief in der Gegend umher, brustbebend und die Zähne zusammenbeißend, um seine Wut zu bändigen.
Nach mehreren Augenblicken ertönte eine kratzige Stimme von der anderen Seite der einzig übrig gebliebenen Mauer. »Willst du deinen Zauberstab senken und mir für einen Moment zuhören? Wenn du nicht zuhören willst, kann ich einfach wieder verschwinden.«
»Was hast du wohl zu sagen, das ich möglicherweise hören will?«, fragte Harry, während er an der Mauer entlang rückte und sich darauf vorbereitete zuzuschlagen, sobald er das Ende erreicht hatte.
»Ich will einen gemeinsamen Feind erörtern.«, erwiderte Wurmschwanz. Seine Stimme zitterte.
»Jetzt ist es also ein gemeinsamer Feind?«, fragte Harry. Er hatte das Ende beinahe erreicht, nur noch ein paar Schritte. »Hast du Voldemorts Missfallen erregt, Wurmschwanz? Er ist jetzt dein Feind?«
»Nein! Ich meine nicht den Dunklen Lord.«, quiekte Wurmschwanz panisch. »Ich spreche von Snape.«
»Snape?« Harry hielt in Schritt inne. »Was ist mit ihm?« Für einen Moment vergaß er seinen Zorn und Hass auf Wurmschwanz, als er den Namen des Mannes hörte, den er über alles andere verachtete, Voldemort eingeschlossen. Snape hatte Dumbledore kaltblütig ermordet und mitgeholfen, Sirius umzubringen. Es gab für Harry keinen Zweifel und er würde dafür sorgen, dass ihm das teuer zu stehen kam.
»Ja, ich habe schon gedacht, dass dich das interessieren würde.«, sagte Wurmschwanz, als er langsam hinter der Mauer hervorkam und Harry Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Beide zielten mit den Zauberstäben aufeinander, obwohl keiner Anstalten machten, einen Fluch loszulassen. Wurmschwanz' Augen schossen umher und er schien bereit, beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten davonzusausen.
Für einen Moment war Harry in Versuchung geführt, ihn einfach aus dem Weg zu fluchen, doch seine Neugierde wegen Snape war mächtiger als dieser Impuls. Dennoch erhoben sich Rons Worte aus lang vergangener Zeit in seinem Geist.
Wirf deinen Zauberstab weg und hau ihm eins auf die Nase.
Harry holte aus und tat genau das. Wurmschwanz' Kopf schnappte zurück und er stürzte zu Boden, seine blutende Nase umklammernd, während er von Harry wegkroch.
»Du kannst froh sein, dass das alles ist, was ich getan habe.«, spie Harry und schüttelte seine Faust.
»Ich dachte, du wolltest über Snape sprechen.«, sagte Wurmschwanz schniefend.
»Was ist mit ihm?«, wiederholte Harry.
»Er hat die Gunst des Dunklen Lords erlangt, weil er Albus Dumbledore getötet hat. Es gibt keinen Plan, an dem er nicht beteiligt ist oder von dem er nicht wenigstens weiß. Wo der Dunkle Lord einst vielen vertraut hat, vertraut er jetzt nur einem.«, spuckte Wurmschwanz mit unfehlbarer Bitterkeit in der Stimme, während er seine noch immer blutende Nase abtupfte und sich erhob.
Harry beobachtete ihn sorgsam. Er sah rot, als Wurmschwanz so beiläufig Professor Dumbledores Ableben erwähnte. »Voldemort vertraut niemandem. Du bist ein Narr, wenn du das glaubst, und Snape ist ein Narr, wenn er denkt, dass sein Meister sich nicht gegen ihn wenden wird, sobald sein Nutzen ausgeschöpft ist. Du bist nicht sein Freund sondern sein Sklave. Nichts sonst!«
»Du unterschätzt die Vorteile von der Gunst des Dunklen Lords.«, erwiderte Wurmschwanz ehrerbietig.
»Ich unterschätze gar nichts. Ich weiß genau, was er im Sinn hat.«, sagte Harry kalt.
»Ich habe einst in der Stellung hoher Gunst gestanden.« Wurmschwanz streckte die Brust heraus und hob trotzig das Kinn.
»Ja, ich erinnere mich. Dabei ist deine Hand draufgegangen. Na und? Jetzt bist du von dieser Stellung heruntergestoßen worden, Wurmschwanz? Ersetzt zu werden gefällt dir wohl nicht? Was soll ich dagegen machen?«, fragte Harry.
»Ich weiß, dass du Snape genauso verachtest wie ich. Ich weiß, dass du ihn zur Rechenschaft gezogen haben willst. Ich könnte dir vielleicht dabei behilflich sein.«, sagte Wurmschwanz, die Stimme verschwörerisch gesenkt.
»Und ihn gleichzeitig aus dem Weg räumen?«, wollte Harry wissen, Wurmschwanz' Absichten auf die Schliche gekommen.
Wurmschwanz zuckte die Achseln. »In der Tat. Snapes Ergreifung könnte für unsere beiden Seiten von Vorteil sein.«
»Und nach Voldemorts Fall kann die Tatsache, dass du Snape hinter Gittern gebracht hast, deiner eigenen Verurteilung vorbeugen. Oder etwa nicht?«, fragte Harry.
»Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das passieren wird, Harry. Aber es schadet nicht, alle Optionen zu bedenken.«, sagte Wurmschwanz.
»Wie slytherin-mäßig von dir.«, sagte Harry trocken.
»Manche würden das als Kompliment auffassen.«
»Also, ist es das, warum du mit mir sprechen wolltest? Du hast mich den ganzen Weg vom Bahnhof hier her dafür verfolgt? Moment mal. Warum warst du überhaupt am Bahnhof? Woher wusstest du, dass ich hierher kommen würde?« Harry hob seinen Zauberstab.
»Eigentlich habe ich dich gestern erwartet.«, quiekte Wurmschwanz. Seine Knopfaugen schossen hin und her. »Am Fuchsbau hast du gesagt, dass du am Tag nach der Hochzeit hier sein würdest. Ich vermute, die unerwarteten Gäste haben deine Ankunft verzögert. Mein Meister war außer sich vor Wut, dass du geschafft hast, dich von dort wegzustehlen. Snape hat ihm genau gesagt, wie die Schutzzauber am Fuchsbau konstruiert sind. Er hat nicht erwartet, dass es den Leuten gelingen würde, sie gegen die Dementoren zu stärken.«
Harrys Gedanken rasten. Wurmschwanz hatte ihn am Fuchsbau belauscht? Wie? Aber natürlich! Als Krätze kannte Wurmschwanz sicherlich alle Wege in und aus dem Fuchsbau. Und als Ratte konnte er wahrscheinlich die Zauber durchbrechen, so wie Sirius es in Hogwarts in Harrys drittem Schuljahr getan hatte. Wurmschwanz kannte alles, was es über den Fuchsbau zu wissen gab, bis hin zu den Gnomen im Garten.
Verdammt! Ginny war dort niemals sicher gewesen und er hatte sie allein und unverteidigt zurückgelassen.
»Du bist die ganze Zeit im Fuchsbau gewesen?«, fragte Harry.
»Ich bin dort postiert worden. Der Dunkle Lord weiß alles und zögert nicht, es sich zu Nutzen zu machen. Das solltest du besser im Hinterkopf behalten, junger Harry. Ihm ist meine Verbindung zur Weasley-Familie bewusst und er weiß von ihrer Bedeutung für dich.«, sagte er. Ein Anflug von Stolz huschte über sein teigiges Gesicht. »Dein Interesse am Weasley-Mädchen ist nicht unbemerkt geblieben vom Dunklen Lord. Severus hat extra erwähnt, wie vernarrt du in das Mädchen bist. Er hat Recht damit, dass du dein Herz auf der Zunge trägst.«
»Also hast du mich die ganze Zeit ausspioniert.«, sagte Harry mit versteinerter Miene.
»Du wärst überrascht von dem Wissen, das ich in meiner Animagus-Form ansammeln kann. Selbst die, die von meiner Fähigkeit wissen, vergessen es und sprechen offen, ohne daran zu denken, dass ich da bin. Ich weiß mehr über den Dunklen Lord und seine Pläne als alle anderen. Ich weiß mehr, als ihm selbst bewusst ist.«, antwortete Wurmschwanz. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, als er sprach.
»Was weißt du? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dir irgendetwas Wichtiges anvertraut hat.«, sagte Harry. Seine Gedanken rasten. Er stachelte ihn absichtlich an, denn er konnte in Wurmschwanz eine gewisse Ähnlichkeit zu Dudley erkennen. Dudley hatte stets zu viel gesagt, wenn Harry auch nur den geringsten Zweifel an seine eingebildete Größe äußerte. Harry hoffte, dass derselbe Plan bei Wurmschwanz funktionierte.
»Ich weiß viel. Ich war dort. Ich war derjenige, der das elende Wrack von ihm gepflegt hat. Ich habe ihm den Zaubertrank bereitet. Ich war derjenige, der ihm zur Rückkehr verholfen hat. Ich war sein treuster Diener.«, kreischte Wurmschwanz kläglich.
»Und er hat dich entlassen, als er es geschafft hatte.«, sagte Harry mit geheuchelter Langeweile.
»Ich weiß von den Horkruxen.«, wisperte Wurmschwanz triumphierend.
Harry gefror das Blut in den Adern. »Was?«, fragte er betäubt.
»Ich weiß von den Horkruxen. Es gibt sieben, von denen zwei schon zerstört worden sind.«, wiederholte Wurmschwanz. »Du hast den ersten zerstört.«
»Ich weiß nicht, wovon du da redest.«, wand Harry unüberzeugend ein.
»Ich glaube, du weißt es ganz genau. Ich glaube, den Teil, den du nicht kennst, kennen nur der Dunkle Lord, Severus und ich. Ich habe aber den Verdacht, dass Dumbledore es zumindest in Erwägung gezogen hat, bevor er gestorben ist.«, sagte Wurmschwanz geheimnisvoll, offensichtlich das Gefühl genießend, Harry in der Hand zu haben.
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Harry.
»Ich spreche von dem Grund, warum der Dunkle Lord am Ende siegen wird. Sein siebter Horkrux. Derjenige, den du nicht zerstören können wirst.«, erwiderte Wurmschwanz selbstgefällig.
Harry war perplex. Er wollte nichts bezüglich seines Wissens über die Horkruxe enthüllen, für den Fall, dass Wurmschwanz bluffte. Doch als ihm dieser Gedanke in den Sinn kam, verwarf er ihn sogleich wieder. Wurmschwanz war sich seiner Sache so sicher, wie Harry den Mann noch nie zuvor erlebt hatte. Er wusste etwas und Harry musste herausfinden, was es war, obwohl jeder Nerv und Instinkt in ihm schrieen, dass er es nicht würde wissen wollen.
»Nachdem die Horkruxe zerstört worden sind, wird er sterblich sein. Er kann wie jeder andere sterben.«, sagte Harry fest.
»Ich spreche nicht von dem Teil, der noch immer in ihm ist. Ich rede von dem Horkrux, über den er bis vor zwei Jahren noch nicht einmal selbst Bescheid gewusst hat. Der Horkrux, den er nie zu erschaffen geplant hat.«, sagte Wurmschwanz, während er Harry beäugte.
»Worauf willst du hinaus?«, wiederholte Harry frustriert.
»Weißt du es nicht, Harry? Ist es dir noch nie in den Sinn gekommen?«
Der Stein in Harrys Magen wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer. »Was sagst du da?«
»Hast du dich nie gefragt, warum er dich letztes Jahr verschont hat? Warum er nach dem Fiasko in der Mysteriumsabteilung nie versucht hat, dich zur Strecke zu bringen? Selbst beim Kampf in Hogwarts hatten alle Todesser den strikten Befehl, dich nicht anzurühren. Du sollst ihm überlassen werden, so hat er allen aufgetragen. Ich kenne den wahren Grund. Ich habe ihn bei einer Unterhaltung mit Severus belauscht.«, sagte Wurmschwanz und schnaubte.
Harry war wie vom Donner gerührt. Wurmschwanz hatte Recht. Es war im letzten Jahr ungewöhnlich ruhig gewesen um Voldemort. Er hätte an Harry Vergeltung üben müssen für all die Schwierigkeiten, die er ihm in Ministerium bereitet hatte.
Warum hatte er es nicht getan?
Sichtlich zitternd zwang sich Harry, die nächste Frage zu stellen: »Warum?«
»Er hat im Ministerium von dir Besitz ergriffen. Ich habe gehört, wie er Severus davon erzählt hat. Da ist ihm die Wahrheit klar geworden und es hat ihn erschüttert. Du bist es, Harry. Du bist sein siebter Horkrux.«, sagte Wurmschwanz. Er lächelte mit einem wahnsinnigen Glühen in den Augen.
Harrys Hals war trocken und ihm war plötzlich kalt. »Das kann nicht stimmen.«, flüsterte er heiser.
Nein. Nein, nein, nein.
»Aber es ist wahr und ich sehe dir an deinem Gesichtsausdruck an, dass du das weißt. Er hat in der Nacht, in der er hierher gekommen ist, beabsichtigt, einen Horkrux zu erschaffen.«, erklärte Wurmschwanz. »Es war sein Plan. Er hat Severus erzählt, dass der Zauber für einen Horkrux wortlos ausgeführt wird. Es erfordert einen Mord und eine geraume Portion von Konzentration, aber es gibt keinen Zauberspruch. Die bloße Willenskraft vollführt den Zauber.«
Wurmschwanz' beiläufige Diskussion über Mord brachte Harrys Magen in Aufruhr.
»Er glaubt, dass er in jener Nacht überaufgeregt gewesen ist. Er hat gedacht, dass er das einzige Hindernis aus dem Weg räumen würde. Er hat an sein letztes Ziel gedacht, bereits geplant, dich zu töten, als deine Mutter sich ihm in den Weg gestellt hat.«, sagte Wurmschwanz und nun bebte seine Stimme leicht.
Harrys Herz pochte so laut in seiner Brust, dass er kaum hören konnte, was Wurmschwanz sagte. Das kann nicht sein.
»Es war ihr Tod, der die Erschaffung eines Horkruxes verursacht hatte. Und als er den Todesfluch auf dich gefeuert hat, prallte er auf ihn zurück, sandte aber den Teil seiner Seele in dich. Du bist der siebte Horkrux, Harry.«, fuhr Wurmschwanz ungnädig fort.
Harry wich wie vom Donner gerührt zurück. Natürlich! Es ergab alles einen Sinn. Warum hatte er es nicht vorher gesehen? Harry war übel. Weshalb hatte Dumbledore ihn nicht darauf vorbereitet? Hatte er wieder einmal versucht, ihn vor der Wahrheit zu beschützen? Im Inneren seines Herzen wusste Harry, dass das stimmte. Es war, als ob das letzte Puzzleteil endlich an seinen angestammten Platz gerückt war.
»Deshalb wird er am Ende gewinnen, Harry, weil dein einziger Weg, ihn zu besiegen, darin besteht, dich selbst zu zerstören.«, sagte Wurmschwanz, während er seinen Kopf in gespielter Trauer schüttelte.
»Und was lässt dich denken, dass ich dazu nicht bereit bin?«, fragte Harry, selbst davon überrascht, wie kräftig seine Stimme klang.
Wurmschwanz runzelte die Stirn. »Mach dich nicht lächerlich. Ich spreche vom Sterben. Warum solltest du dich selbst aufopfern? Das würde für dich keinen Sinn haben.«
»Natürlich würde das für dich keinen Sinn haben. Du bist schließlich derjenige, der seine besten Freunde verraten hat, um seinen eigenen Hals zu retten. Du wärst nie gestorben, damit sie leben können.«, brüllte Harry und deutete an die Stelle der geschwärzten Erde. »Schau dir das an! Hier ist mein Vater wegen dir gestorben. Er wurde gleich hier ermordet und an dieser Stelle wird nie wieder etwas wachsen. Das ist alles dein Werk.«
Wurmschwanz zuckte zusammen und wich zurück, den Blick entschlossen von der Stelle abgewandt.
Harrys Kopf begann sich zu drehen. Nein. Nein. Nein.
»Er will an dich herankommen, Harry. Er will dich fangen und dorthin sperren, wo er dich sicher aufbewahrt weiß. Er wird dich nicht töten. Aber er wird dir das Leben auch nicht leicht machen. Snape wird schon dafür sorgen. Snape hasst dich und verlangt danach, dich leiden zu sehen.«, sagte Wurmschwanz schnaufend. Er schwitzte und erschien plötzlich erregt. Seine Knopfaugen rollten in alle Richtungen umher.
»Wenn du den Dunklen Lord nicht besiegen kannst, kannst du zumindest Severus ruinieren.«, lockte Wurmschwanz und trat einen Schritt näher an Harry heran.
Harry zitterte jetzt so stark, dass er kaum seinen Zauberstab halten konnte. Er konnte nicht verstehen, warum es plötzlich so kalt geworden war. Sein Sichtfeld verschwamm leicht und er blinzelte, um es wieder zu klären.
Wurmschwanz rückte wieder näher, doch in seiner Verwirrung schien es Harry nichts auszumachen.
»Geh weg von ihm, Peter.« Plötzlich ertönte Remus' scharfe Stimme vom anderen Ende des Gartens.
Harry blinzelte benommen, unsicher, wie Remus gerade jetzt hierher kam. Wurmschwanz reagierte sehr viel schneller. Er quiekte und duckte sich hinter Harry, um ihn als einen Schild zwischen Remus und sich selbst zu benutzen.
Harry war zu erschüttert sich zu bewegen und starrte nur verständnislos die beiden Männer an.
Remus warf Harry einen besorgten Blick zu. »Was hast du getan, Peter? Was hast du ihm erzählt? Harry, geh zur Seite.«
Harry wandte sich um, um zu Wurmschwanz zu schauen, und blinzelte. In diesem Moment verwandelte Wurmschwanz sich wieder in seine Animagus-Form und sauste zu einem Schutthaufen.
Remus jagte ihm auf der Stelle hinterher und zersprengte die Stelle, an der die Ratte verschwunden war.
Unfähig die Lage zu erfassen, stand Harry unbewegt da, während die beiden Männer zwischen den Ruinen umherrasten. Er fühlte sich seltsam abwesend, als ob er nicht wirklich dort stand, sondern es nur über den Fernseher der Dursleys mitverfolgte. Erst als ein markerschütternder Schmerzensschrei von Remus ertönte, wurde Harry aus dem Nebel gerissen.
Er eilte zu seinem ehemaligen Professor, der am Boden kauerte und seine Hand umklammerte. Harry konnte eine dünne Blutspur zwischen Remus' Fingern entlangrinnen sehen.
»Verdammt, er ist weg. Er hat mich mit dieser verfluchten Silberhand erwischt.«, sagte Remus. »Es ist nur eine oberflächliche Wunde. Nichts, was Poppy nicht wieder hinkriegt. Was ist hier geschehen, Harry? Geht es dir gut?«
Harry schluckte, unfähig, Worte hervorzubringen. Sein Mund öffnete und schloss sich wieder.
Ich werde sowieso sterben.
Remus packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn leicht. »Bleib bei mir, Harry. Erzähl mir, was passiert ist.«
Keiner kann leben...
Harry versuchte zu schlucken, doch sein Hals war zu trocken. »Wie hast du mich gefunden?«, fragte er in einer krächzenden Stimme.
Remus starrte ihn einige Momente lang gedankenverloren an. Aber Harry konnte erkennen, dass er nachdachte. Schließlich legte er Harry einen Arm um die Schultern und führte ihn zu einem Stapel von zerbrochenen Steinen hinüber, der groß genug war, um sich darauf niederzulassen. Er drückte Harry hinunter und setzte sich neben ihn.
»Hermine hat heute Morgen als erste bemerkt, dass du verschwunden bist und hat deine Nachricht gefunden. Sie war ziemlich hysterisch. Du wirst sehr viel erklären müssen, wenn du zurückkehrst, Harry.«, sagte Remus mit einem Anflug von Belustigung. »Alle sind in Panik ausgebrochen und haben versucht, herauszufinden, wo du sein könntest. Ron hat hartnäckig Stillschweigen bewahrt, selbst unter den Tiraden seiner Mutter.«
Harry blinzelte. Er hörte Remus' Worte, doch er fühlte sich, als ob er über etwas Entferntes sprach, das nichts mit ihm zu tun hatte. Er konnte den Nebel nicht abschütteln, der sein Gehirn umhüllt hatte.
Ich werde sterben.
»Hermine hat unter dem Drängen von Molly schließlich klein beigegeben. Sie hat allen von deinen Plänen erzählt, Godrics Hollow zu besuchen. Sie wollte dir sofort folgen, aber Ron sagte, dass du es höchstwahrscheinlich allein tun wolltest.«, sagte Remus.
Harry blickte weg. Er wusste, dass Ron es verstehen würde, wenn auch nur aus eigenem Verlangen, unangenehme Gefühlsduseleien zu vermeiden. Er stellte fest, dass er nun wünschte, sie wären mit ihm gekommen, um seine Gedanken zumindest auf die Horkrux-Angelegenheit zu fokussieren. Hermine hätte gewusst, was zu tun war.
»Ginny war außer sich vor Wut. Offensichtlich empfand sie, dass du trotz deines Versprechens, sie nicht mehr auszuschließen, wieder in deine alte Gewohnheit verfallen bist. Sie ist erst besänftigt gewesen, als Ron deinen Wunsch erklärt hat, diesen Ort hier allein aufzusuchen. Mir ist aufgefallen, dass sie eine bemerkenswerte Mischung aus deinen beiden Freunden ist, deine Ginny.«, sagte Remus sanft.
Harry lächelte matt. Er hatte es nie so betrachtet, doch es stimmte wohl. Ginny wies viele Eigenschaften auf, die ihn zu Ron und Hermine hinzogen. Er schauderte abermals. Merlin, er würde alles dafür geben, Ginny zu sehen und sofort von hier wegzukommen. Warum war es nur so ungewöhnlich kalt?
Harry bemerkte, dass Remus auf eine Erwiderung wartete.
»Ron hat Recht.«, sagte er. »Ich musste es allein tun. Ich wollte ihre Gräber sehen, aber ich habe keine Spur von ihnen gefunden ... nur das hier.«, sagte er und deutete auf die Ruine.
»Ich verstehe. Ich kann dein Verlangen voll und ganz nachvollziehen, Harry. Aber ich wünschte, du hättest zumindest jemanden mitgenommen. Das hättest du nicht allein tun sollen.«, sagte Remus leise.
Harry zuckte die Achseln. »Das kann man jetzt auch nicht mehr ändern.«
»Willst du immer noch sehen, wo sie begraben liegen?« Remus' Stimme klang angespannt. Ein kurzer Ausdruck von Sorge huschte über sein Gesicht.
Harry nickte ernst.
Remus stand auf und Harry folgte ihm. Sie gingen einen Hügel hinauf zu dem Bereich hinter der Ruine des Landhauses, beinahe bis zum Waldrand. Harry meinte, ein Hauch von Blau erkennen zu können, das zeigte, wie nahe sie dem Meer waren. Es war eine ruhige, friedliche Ruhestätte. Das war, was Harry für sie ausgewählt hätte.
Remus legte Harry eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Ich werde dir ein paar Minuten alleine geben, aber ich bin gleich dort drüben, falls du mich brauchst.«, sagte er und wanderte den Hügel hinunter.
Harry blickte auf den kleinen Grabstein, der die beiden Namen seiner Eltern trugen. Es erschien ihm irgendwie passend, dass sie den gleichen Stein teilten. Harry schluckte schwer und sank neben dem Stein auf die Knie.
»Mum? Dad?«, flüsterte er. »Ich bin hier. Ich bin zurückgekommen.«
Er schluckte abermals. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Ich wünschte... Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
Er lauschte dem Gezwitscher der Vögel auf den Bäumen und fragte sich, wie sie so fröhlich klingen konnten, während seine eigene Welt auseinanderbrach. Es war ihm gelungen, einen der Horkruxe zu finden, doch besaß er die Stärke, sich selbst zu zerstören? Wie konnte er es Ron, Hermine und vor allem Ginny beibringen? Hoffnungslos starrte er auf die Gräber seiner Eltern.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«, wisperte er mit gebrochener Stimme. »Ich könnte wirklich einige Hilfe gebrauchen.«
Er wartete einen Augenblick, bis auf ein immer stärker werdendes Zittern seines Körpers unbeweglich. Er war sich nicht sicher, was er erwartet hatte. Doch nichts hatte sich verändert. Der Himmel hatte sich nicht mit Antworten geöffnet und keine Stimme der Weisheit gab ihm Anweisungen, wo er anzufangen hatte. Es gab nichts. Die Körper seiner Eltern waren vor langer Zeit beerdigt worden, doch das einzige, was von ihnen übrig geblieben war, war Harry. Er hatte sie die ganze Zeit bei ihm gehabt.
Zögernd streckte er eine Hand zu dem Grabstein aus und ließ sie über die Gravur der Namen seiner Eltern fahren. Der Druck seiner Finger traf auf nichts als kalten, unnachgiebigen Stein. Harry kniff die Augen zusammen und drängte die Tränen zurück.
Plötzlich war alles zu viel geworden. Harry schlang sich die Arme um den Körper und ließ seinen Kopf hängen, während die Wirklichkeit ihm zu entschlüpfen drohte.
Remus erschien wieder neben ihm. Harry wusste nicht, wie er dorthin gekommen war. Er war ohnehin nicht wirklich. Nichts war mehr wirklich.
Remus, der sehr besorgt zu sein schien, sprach auf ihn ein, doch Harry war kaum anwesend. Worte bedeuteten sowieso nichts, weil es alles nur eine Illusion war. Warum hörte Remus nicht auf, seinen Namen zu rufen?
Er würde niemandem antworten, der nicht wirklich da war.
Nun ging er. Remus führte ihn weg – er konnte nicht die Worte hervorbringen, ihm zu sagen, dass er nicht gefunden hatte, was er in erster Linie gesucht hatte. Seine Beine waren bleischwer und er konnte sie kaum von der Stelle heben. Das plötzliche Gefühl, eingeengt zu sein, traf Harry wie ein Schlag. Doch er schrie nicht auf, da es nicht wirklich passierte.
Harry blinzelte und realisierte, dass er sich nun an einem anderen Ort befand. Das Hauptquartier, so schien es. Aber er war nicht wirklich hier. Es war so kalt und er konnte nichts tun, um wieder Wärme in seinen Körper zu bekommen. Er taumelte, doch Remus fing ihn auf, bevor er zu Boden fiel.
»Harry!« Remus' Stimme klang barsch und leicht panisch. Harry schwieg.
Remus führte ihn in die Eingangshalle hinein. Eine große Menschenmenge befand sich dort. Gesichter, die er kannte, aber nicht einordnen konnte. Er wusste nicht, warum er es überhaupt erst versuchte. Der Raum begann sich zu drehen und verursachte Übelkeit in ihm. Stimmen ertönten, die ihn riefen. Doch er konnte die Worte nicht verstehen. Also ignorierte er sie.
Harry sah, wie Hermine auf ihn zukam. Tränen strömten ihr Gesicht herunter, während sie sprach. Er wich von ihr weg und Ron hielt sie zurück, ihr etwas ins Ohr flüsternd. Sie blickte ihn finster an, hörte aber auf zu schreien und starrte Harry stattdessen besorgt an. Harry drehte sich weg. Er wollte ihre Fragen nicht beantworten. Sein Blick glitt über die vielen Gesichter, suchend...
Als er sie erblickte, saß sie in einem Sessel in einer Ecke des Zimmers. Doch für ihn schien sie der Mittelpunkt aller Aktivität zu sein. Ihre braunen Augen waren mit Sorge gefüllt, als sie sich langsam erhob und ihm einfach die Arme entgegenstreckte. Es zog ihn zu ihr, als wäre sie ein Leuchtfeuer auf einer schroffen, stürmischen See. Er sank in ihre Umarmung, und obwohl sie einen guten Kopf kleiner war als er, beugte er sich hinunter und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich, während er sich an sie klammerte.
Harry konnte schlurfende Geräusche hinter ihm vernehmen und nahm an, dass Remus die anderen aus dem Zimmer scheuchte, doch er schenkte dem keine Aufmerksamkeit. All seine Energie war darauf gebündelt, seine Haltung zu bewahren und nicht zusammenzubrechen. Ginny half ihm dabei.
Erinnerungen an den Tag, an Wurmschwanz' Worte und daran, was sie bedeuteten, blitzten durch seinen Kopf und er begann zu zittern. Ginny verstärkte ihre Umarmung und fing an, ihm sanfte und zärtliche Worte zuzuflüstern, um ihn zu beruhigen. Harry fühlte sich schlecht in dem Wissen, dass er ihr das Herz brechen würde.
Er kniff die Augen zusammen und verwünschte die Welt. »Ginny.«, krächzte er. »Ich werde sterben.«
»Sag so etwas nicht, Harry. Natürlich wirst du nicht sterben. Wir stecken alle zusammen darin und ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.«, erwiderte sie heftig.
Harry war nicht imstande, weitere Worte hervorzubringen. Er würde ihr alles erzählen müssen, doch nicht jetzt. In diesem Augenblick wollte er sie nur festhalten und von ihr gehalten werden, sich zum ersten Mal an diesem Tag geborgen fühlen.
So wie er dort stand, von der Wärme ihrer Umarmung umhüllt und den blumigen Duft ihrer Haare einatmend, konnte er, für einen kurzen Moment, beinahe glauben, dass es wirklich war.