Kapitel 23: War ich nicht schon einmal hier?

Ginny saß auf der Kante des Astronomieturms, trat mürrisch gegen die Steinmauer und starrte finster auf die Straße hinunter, die nach Hogwarts führte. Die Straße, die Harry, Ron, Hermine und einige vom Orden nur vor wenigen Stunden entlang gewandert waren, bevor sie nach London zur Pressekonferenz des Ministeriums appariert waren. Die kühle Winterluft knabberte an ihrer freiliegenden Haut. Der Wind wirbelte ihr Haar um ihr Gesicht herum, doch es war ihr gleichgültig. Sie hasste es, zurückgelassen zu werden.
Es machte keinen Unterschied, dass ihre Eltern und die Zwillinge ebenfalls im Schloss geblieben waren. Sie war trotzdem in einer üblen Laune. Ihre Mutter war seit Percys Tod nicht mehr dieselbe gewesen. Ihre Sorge um ihre Kinder hatte alarmierend an neuen Höhen gewonnen und insbesonders Ginny bekam die Belastung zu spüren. Sie war die einzige, von der ihre Mutter das Gefühl hatte, noch immer Kontrolle zu haben, und ihr zwanghaftes Verlangen zu wissen, wo Ginny sich an jedem wachen Augenblick aufhielt, war erdrückend.
Seufzend trat Ginny wieder gegen die Brüstung, wissend, dass ihre Mum wahrscheinlich in Ohnmacht fallen würde, wenn sie sie dort oben sitzen sähe. Aber Ginny verspürte den Drang, etwas Rebellisches zu unternehmen. Auf der Kante des Astronomieturms zu sitzen war das Beste, was sie im Moment tun konnte. Erbärmlich.
Sie wusste, dass ihre Mum von dem Verlust Percys zerrüttet war, und hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie so ungeduldig mit ihr umsprang, doch sie konnte sich nicht helfen. Sie war sich bewusst, dass all ihre Brüder es satt hatten, wie ihre Mum jedes Mal die Köpfe von ihnen zählte. Doch irgendwie ließen sie nicht zu, sich Schuldgefühle machen zu lassen, wie Ginny es immer tat. Vielleicht war es bei Kerlen einfach anders.
Fred und George waren gerade hier oben gewesen – ohne Zweifel im Auftrag ihrer Mutter, um nach ihr zu sehen – und sie hatten versucht, sie aufzumuntern. Obwohl Ginny ihnen für ihre Bemühungen dankbar war, wollte sie einfach nur allein gelassen werden. Sie hatte erwogen, zu der Stelle zu gehen, die Harry ihr gezeigt hatte. Doch da sie wütend auf ihn war, hatte sie den Gedanken wieder verworfen.
Die Zwillinge waren ebenfalls nicht erfreut, zurückgelassen worden zu sein, aber Moody war der Meinung gewesen, sie würden zu sehr hervorstechen. Ginny schnaubte, als sie sich ihre Brüder bei dem Versuch vorstellte unauffällig zu sein. Ihr Dad hatte geplant, wie Bill und Moody Vielsafttrank einzunehmen, um mitzugehen, hatte aber in letzter Minute den Bitten ihrer Mutter nachgeben und war zurückgeblieben.
Ginny blickte in die untergehende Sonne und bewunderte die ruhige Schönheit, während der glühende Ball hinter die schottischen Hügel sank. Sie wünschte, sie wüsste, was im Ministerium vor sich ging. Sie vertraute Umbridge keine Sekunde lang und sie hatte das Unbehagen aller Ordensmitglieder gespürt, als sie still das Schloss verlassen hatten.
Es war vollkommen logisch, dass nicht alle der Pressekonferenz beiwohnen mussten, aber es enttäuschte Ginny, dass sie diejenige war, die zurückgelassen wurde ... schon wieder. Doch es war wohl beruhigend, dass Ron und Hermine Harry begleiteten. Hoffentlich würden sie in der Lage sein, ihn zu beruhigen, falls sein Zorn über Peter Pettigrews Freilassung überschäumte. Harry hatte mit Mühe gelernt, sein Temperament zu zügeln, aber wenn er gereizt wurde, konnte er sich nur bis zu einem bestimmten Punkt zusammenreißen.
Dennoch wünschte Ginny sich, dass sich einer von ihnen mehr für sie eingesetzt hätte. Sie hätte es für sie getan. Wieder mit finsterer Miene spähte sie in die Dämmerung in der Hoffnung, ein Zeichen von einem Rückkehrer zu sehen, bevor die Dunkelheit ihr gänzlich die Sicht nahm. Es war wahrscheinlich ohnehin an der Zeit, in den Gemeinschaftsraum zurückzukehren. Sie vermutete, dass sie wie die Prinzessin im Turm aussah, und genauso fühlte sie sich auch.
Sie zupfte an der Kette, die Harry ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie nahm sie nie ab und der Stein schien angenehme Wärme an ihrer Haut auszustrahlen. Früher an diesem Abend jedoch hatte der Stein etwas sehr Seltsames getan. Er hatte ... gelodert oder geleuchtet oder so etwas in der Art. Ginny war sicher, dass sie es sich eingebildet haben musste, aber für einen Moment hatte es sich angefühlt, als hätte es ihre Haut verbrannt.
Schließlich entscheidend, dass sie genug hatte, schwang sie ihre Beine zurück über die Kante und sprang auf den Astronomieturm. Bei einem letzten Blick hinunter glaubte sie, eine Bewegung an den Toren zu sehen. Sie kniff die Augen zusammen und spähte angestrengt zur Straße hinunter. Einen Augenblick später konnte sie das verräterische Rot auf dem Kopf des Größten in der Reisegruppe erkennen. Sicherlich war es Ron. Dann konnte sie Hermine, Harry und Charlie ausmachen, die alle neben ihm her trotteten, zusammen mit einigen anderen Leuten, die Ginny nicht erkannte. Zwei von ihnen waren ziemlich große Männer, die Mühe hatten, mit dem Rest der Gruppe mitzuhalten.
Erleichterung überkam sie – ihnen ging es gut. Als sie jedoch sah, dass Bill und Fleur nicht bei ihnen waren, lief ein Angstschauer über ihren Rücken. Irgendetwas an der Art, wie sie liefen – beinahe starr – verriet ihr, dass etwas nicht stimmte. Als sie näher am Schloss waren, konnte sie deutlich sehen, dass Ron und Hermine Harry an den Armen führten. Er ging hölzern, direkt nach vorne starrend und mit teilnahmsloser Miene. So wie immer, wenn er versuchte, seine Gefühle zu vergraben.
Etwas stimmte ganz und gar nicht.
Ginny wollte sich umdrehen und zum Gemeinschaftsraum sprinten. Sie konnte ihnen noch zuvorkommen, wenn sie jetzt aufbrach, aber sie konnte ihren Blick einfach nicht von Harrys steifem Gang wegreißen. Sicherlich würden Ron und Charlie aufgewühlter aussehen, wenn Bill oder Fleur verletzt wären ... richtig? Also was war geschehen? Erschüttert erkannte Ginny endlich die anderen drei Reisenden als Harrys abscheuliche Muggel-Verwandte. Was um Himmels willen taten die hier? Wenn sie auch nur irgendetwas damit zu tun hatten, dass Harry so reagierte, würde Ginny dafür sorgen, dass es ihnen Leid tat.
Ihre Wut übertraf schließlich ihre Sorge. Sie drehte sich um und stürzte zum Gryffindor-Gemeinschaftsraum. Sie rannte, so schnell ihre Beine sie trugen. Keuchend schlitterte sie um die Ecke und hielt vor der Fetten Lady.
»Nur weil kein Unterricht mehr stattfindet, heißt das nicht, dass in den Korridoren gerannt werden sollte, junge Dame.«, schalt das Portrait.
»Zuflucht.«, zischte Ginny, die Ermahnung ignorierend.
Die Fette Dame schmollte empört, doch das Portrait schwang zur Seite.
Mehrere Köpfe drehten sich in ihre Richtung, als sie eintrat, während sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, um nach irgendeinem Zeichen von der zurückgekehrten Gruppe zu suchen.
Iris und Mrs. Parkinson saßen am Fenster und lasen ihre Bücher, obwohl Iris immer wieder zu der Ecke hinüberspähte, in der Fred und George in ein hitziges Schachspiel vertieft waren. Shannon sah ihnen dabei zu. Alle blickten sie auf, als Ginny den Raum betrat.
»Ginny! Da bist du ja.«, sagte ihre Mutter ärgerlich und sprang von ihrem Sessel am Feuer auf, wo sie gehäkelt hatte. »Geht es dir gut? Du wirst dir bei der langen Zeit in der Kälte draußen wahrscheinlich eine Erkältung einfangen.«
Das Theater ihrer Mutter ignorierend, berichtete Ginny: »Sie sind zurück. Ich habe eine Gruppe auf der Straße von Hogsmeade gesehen.«
»Sie sind schon zurück?«, fragte ihre Dad mit gerunzelter Stirn. »Das scheint schrecklich früh.«
Ginny nickte. Sie wollte die offensichtliche Besorgnis ihres Vaters nicht noch mehr verstärken, indem sie ihre Sorgen kundtat. »Ich bin sicher, dass ich Ron, Harry und Hermine in der Gruppe gesehen habe.«
»Was ist mit den anderen?«, wollte ihre Mum wissen. »Bill und Charlie?«
Bevor Ginny antworten konnte, schwang das Portrait zur Seite und eine grimmig blickende Professor McGonagall führte die erschöpfte Gruppe herein.
Harrys Gesicht war eine steife Maske, die nichts enthüllte. Hermine nahm seinen Arm, um ihn zu einem Sessel zu führen, aber er riss sich grob los. Ron und Charlies Gesichter waren verkniffen und Hermine sah aus, als hätte sie geweint. Die Dursleys wirkten alle wie verängstigte Hasen. Sie drängten sich zusammen und nahmen wachsam ihre Umgebung auf.
Besorgt rückte Ginny näher an Harry, aber er wandte sich ab. Offensichtlich wollte er nicht berührt werden.
Etwas stimmte ganz und gar nicht.
»Merlin sei Dank, ihr seid wieder da.«, rief ihre Mum und warf die Arme um Charlie. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wo sind Bill und Fleur?«
Ron wich schnell zurück, bevor sie ihn erdrücken konnte. Er schlang seinen Arm um Hermines Schultern und führte sie zu einem Sessel. Sie sank darauf nieder, schniefte und lehnte sich gegen ihn. Keiner von ihnen nahm den Blick von Harry.
»Warum erzählt ihr uns nicht, was passiert ist?«, fragte ihr Vater. Seine Augen verengten sich, als sein Blick auf die Dursleys fiel. »Ich würde außerdem gerne wissen, wie es kommt, dass Harrys Verwandte zu uns gestoßen sind.« Obwohl seine Stimme nach außen hin freundlich klang, konnte Ginny einen harten Tonfall ausmachen. Ob Muggel oder nicht, ihr Dad mochte die Dursleys nicht mehr, als der Rest von ihnen.
Mrs. Dursley umklammerte den Arm ihres Sohnes und zog ihn an sich, als wäre sie bereit, jegliche Magie von ihm abzuhalten.
»Ich würde selbst gerne eine Antwort darauf haben.«, schaltete Vernon Dursley sich ein. »Ich weiß nicht, wie wir in dieser verflixten Schule gelandet sind. Ich weiß nicht einmal, wie all das innerhalb dieses Ruinenhaufens existieren kann, den wir draußen gesehen haben.«
»Magie, Dad.«, sagte Dudley, die Augen verdrehend. »Es sah für mich nicht wie Ruinen aus.«
Mr. Dursley war sprachlos, anscheinend nicht an solch einen Tonfall von Dudley gewöhnt.
Ginny fuhr fort, Harry zu beobachten. Sein Gesicht und seine Arme waren mit Kratzern und Schnitten übersät und er stand steif von den anderen entfernt, die Arme um sich geschlungen, als wäre ihm kalt. Der versteinerte Ausdruck hatte sein Gesicht nicht verlassen und seine Augen waren matt und leblos. Ginny bekam es immer mehr mit der Angst zu tun. Sie sehnte sich danach, ihn zu trösten, wusste aber nicht genau wie. Sie versuchte, Ron und Hermines Blick aufzufangen, doch sie wichen ihr absichtlich aus. Auch sie trugen kleine Schürfwunden.
Ginnys Magen krampfte sich zusammen.
»Setzt euch dort drüben hin und seid still, bis ich sie auf den neuesten Stand gebracht habe.«, bellte Charlie und dirigierte die Dursleys zu dem Tisch im hinteren Teil des Gemeinschaftsraums. Der barsche Tonfall seiner Stimme ließ alle drei Dursleys zusammenzucken und schnell die angebotenen Sitze einnehmen. Ginny vermutete, dass es sich um denselben kommandierenden Tonfall handelte, den Charlie bei dickköpfigen Drachen anwandte.
Mr. Dursleys Gesicht färbte sich erschreckend rot, aber es gelang ihm, seine Zunge im Zaum zu halten.
»Charlie, wo ist dein Bruder?«, wollte ihre Mum wissen.
»Ich weiß es nicht.«, erwiderte Charlie mit verzogenem Gesicht.
»Was meinst du damit, du weißt es nicht? Er war bei dir, oder nicht? Warum haben er und Fleur sich von euch anderen getrennt? Was ist passiert?«, fragte sie. Mit jeder Frage wurde ihre Stimme schriller.
»Molly, warum setzt du dich nicht und trinkst eine Tasse Tee.«, schlug Professor McGonagall vor und reichte ihr brüsk Tasse und Untersatz. »Ich denke, wir wollen alle hören, was Charlie zu sagen hat. Ich bin sicher, Bill und die anderen werden bald vom Ministerium zurückkommen.«
»Das Ministerium steht unter der Kontrolle von Du-weißt-schon-wem.«, sagte Charlie leise. Plötzlich wirkte er sehr ausgelaugt.
Erschüttertes Aufkeuchen ging durch den Raum, während alle die Köpfe drehten und einander anstarrten. Nur Ron, Harry und Hermine blieben unberührt und schauten unentwegt geradeaus.
»Ich denke, du solltest besser von vorn anfangen, Charlie.«, sagte Mr. Weasley, während er seiner Frau über den Rücken strich.
»Umbridge hat den Abend damit angefangen, allen zu sagen, dass Harry nicht der Auserwählte ist, sondern Dudley Dursley.«, begann Charlie. Dankbar nahm er den Drink entgegen, den Fred ihm anbot.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Professor McGonagall verständnislos. Ihr Blick flackerte zu dem bebenden Haufen, der Dudley darstellte.
»Dass Dudley der Auserwählte ist.«, wiederholte Charlie und nahm einen Schluck vom Feuerwhiskey.
Aus dem Augenwinkel sah Ginny, wie Dudley sich gerader aufsetzte und die Brust herausstreckte, während Mrs. Dursley seinen Arm umklammerte und drauf und dran schien, ihn zu packen und aus dem Raum zu flüchten.
»Sie hat behauptet, dass die Prophezeiung Harry nie erwähnt habe, nur seine Blutslinie, und dass die Dursleys Dudley die ganze Zeit vor dem Ministerium versteckt haben.«, spie Charlie.
»Wie kommt es, dass Sie mit Dolores Umbridge in Kontakt getreten sind, Mr. Dursley?«, erkundigte sich Professor McGonagall, die Augen fest auf Dudley gerichtet.
»Ähm.«, machte Dudley. »Sie ist eines Tages einfach an unserem Haus aufgetaucht. Sie hat gesagt, eine ihrer Auffindungsmaschinen habe ihr verraten, dass ich Zauberei ausgeführt habe.«
»Maschinen sagst du?«, warf Mr. Weasley ein. Trotz der gespannten Atmosphäre hellte sich seine Miene auf.
»Nicht jetzt, Arthur.«, meckerte seine Frau. Sie wandte sich an Mrs. Dursley. »Haben Sie sie ins Haus eingeladen? Haben Sie sie aus irgendeinem Grund kontaktiert?«
Mrs. Dursley blinzelte. »Sie kontaktiert? Warum hätte ich das tun sollen?«, fragte sie entgeistert.
»Woher soll ich wissen, warum Sie tun, was Sie tun? Sie haben das einzige Kind Ihrer eigenen Schwester misshandelt – ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals verstehen werde, wie Sie denken, und ich hoffe auch, das ich es niemals tun werden.«, keifte Mrs. Weasley. »Wie hat Dolores Umbridge sie gefunden?«
»Das weiß ich nicht.«, schnappte Mrs. Dursley zurück. »Nach den Sommerferien war Dudley in einer wundervollen Stimmung. All der Unsinn hat aufgehört und wir haben in Betracht gezogen, ihn nach den Weihnachtsferien wieder zur Schule zu schicken. Dann, ganz plötzlich, hat er wieder angefangen, seltsame Dinge geschehen zu lassen, sobald er aufgebracht war.«
»Harry hat mir ein Buch mit Zaubersprüchen zu Weihnachten geschickt.«, sagte Dudley und sah zu Harry, der nicht antwortete. »Ich habe ein paar von den Sprüchen ausprobiert, aber ich hatte keinen von diesen Stab-Dingern und nichts hat geklappt. Ich war echt frustriert und dann weiß ich nicht mehr, was passiert ist. Die Playstation, an der ich den Schwebezauber versucht habe, ist explodiert und etwas später hat die Umbridge-Tussi an der Tür geklopft.«
»Sie hat uns gesagt, wie besonders unser Dudders ist – etwas, das wir schon immer gewusst haben – und wie großartig er werden würde. Sie hat Dinge in ihm gesehen, die Smeltings einfach entgangen sind. Ich weiß nicht, wie sie es übersehen konnten. Ich wollte meinen Dudley niemals in dieser Welt, aber sie hat zumindest erkannt, wie außergewöhnlich er ist.«, jammerte Mrs. Dursley.
»Ich habe es auf einen Versuch ankommen lassen, Petunia.«, sagte Mr. Dursley. Die Vene an seiner Schläfe schien jeden Moment zu explodieren. »Ich dachte, wenn sie all das Potential in Dudders sehen können, könnten sie nicht alle böse sein, aber genug ist genug. Wir werden alle nach Hause fahren und uns von diesem Wahnsinn fernhalten.«
»Umbridge hat behauptet, dass ihre Erkenntnis darüber, wie falsch alle bei Harry gelegen haben und dass das Unrecht, das Dudley widerfahren ist, sie zu der Meinung gebracht hat, dass wir auch in Bezug auf Du-weißt-schon-wen falsch gelegen haben.«, stieß Charlie hervor, sein Glas fest umklammert.
»Der Grad der Groteskheit bei dieser Frau ist wirklich verblüffend.«, kommentierte Professor McGonagall.
»Sie hat verkündet, dass sie ein Abkommen zur Beendung der Gewalt und zur Kooperation mit den Todessern unterzeichnet habe.«, fuhr Charlie fort.
Harry, die Arme vor der Brust verschränkt, grub sich die Fingernägel in die Haut. Ohne nachzudenken griff Ginny nach seiner Hand, um ihn davon abzuhalten, sich weiter zu verletzen. Harry zuckte wieder zusammen, aber dieses Mal erhaschte Ginny einen flüchtigen Schatten, der seine Augen durchquerte. Er wirkte so verloren und verletzlich, dass sie weinen wollte, ihn in ihre Arme schließen und lindern, was auch immer für ein Schmerz ihn quälte.
Offensichtlich war er entschlossen, allein damit fertig zu werden, was auch immer es war. Doch seine Augen erzählten eine andere Geschichte. Seine schönen, traurigen Augen flehten um Hilfe. Sie schlang ihre Arme um seine Hüfte und drückte ihn sanft. Er versteifte sich, aber dass er nicht vor ihr zurückwich, ermutigte sie.
»Wie haben die Leute darauf reagiert?«, fragte ihr Dad.
Charlie fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. »Ich kann es wirklich nicht sagen. Es war offensichtlich, dass sie es glauben wollten, aber ich habe trotzdem viel Misstrauen im Raum gespürt. Sie waren gewillt, alle Schwierigkeiten zu ignorieren, daran zu glauben, dass Dudley der Auserwählte ist. Aber als es zum Abkommen kam – war die Hoffnung im Raum greifbar. Ich konnte es in den Augen aller um mich herum sehen. Genau wie Moody vorhergesagt hatte, waren sie bereit, alle Vernunft in den Wind zu schlagen, weil sie ihnen gesagt hatte, was sie hören wollten.«
»Sie haben Angst.«, sagte ihr Dad und zwirbelte sich an der Nase. »Es geschieht die ganze Zeit.«
»Sie hätten mehr Angst haben sollen.«, entgegnete Charlie grimmig. »Sie hat angefangen, einige Einschränkungen gegen Muggelgeborene aufzulisten. Darunter war, sie getrennt von Hogwarts-Schülern zu unterrichten und ihnen den Zugang zu hohen Posten zu verweigern.«
»Das ist wahrscheinlich die beste Idee, die ich seit langer Zeit gehört habe.«, ertönte die Stimme von Draco Malfoy, der sich von der Treppe des Jungenschlafsaals ins Zimmer geschlichen hatte. »Insbesonders die Position des Ministers sollte von jemandem besetzt sein, der nach den Traditionen der Zaubererwelt aufgezogen worden ist.«
Narzissa nickte ihrem Sohn billigend zu.
»Ja, das klingt genau wie das, was sie gesagt hat, bevor sie die Tür geöffnet und den Todessern Zutritt gewährt hat.«, schnauzte Ron.
»Sie hat was?«, kreischte Mrs. Weasley.
»Die Todesser sind hereingestürmt und Umbridge hat allen Auroren befohlen, beiseitezutreten.«, erklärte Charlie kopfschüttelnd. »Snape hat sie ins Gebäude geführt.«
»Severus?«, fragte Professor McGonagall. Ihre Hand umklammerte ihren Hals.
»Er hat im Grunde den Weg freigemacht, damit Voldemort hereinrauschen und sich zum neuen Minister ernennen konnte.«, berichtete Ron, während er Hermine den Rücken tätschelte, als diese schniefte. »Voldemort hat alle Ausgänge versperrt, so dass alle drinnen festsaßen. Er hat Pettigrews Kopf auf einem Tablett an Umbridge zurückgegeben, bevor er sie selbst an Greyback und die anderen Werwölfe ausgeliefert hat. Sie waren nicht besonders zufrieden mit ihr.«
Während die anderen die Ereignisse im Ministerium diskutierten, blendete Ginny die Worte aus. Ihre Aufmerksamkeit war allein auf Harry gerichtet. Was war geschehen, das die dumpfe Leere wieder in seine Augen gebracht hatte? Sie hatte diesen Ausdruck schon mehrmals zuvor gesehen. Das erste Mal war nach der Dritten Aufgabe des Trimagischen Turniers gewesen und die Geschehnisse auf jenem Friedhof hatten alles begonnen. Damals hatte sie vorgegeben, ihm keine Beachtung zu schenken. Sie war mit Michael zusammen und zu der Zeit eigentlich ganz glücklich gewesen. Aber es hatte sie weder davon abgehalten, Harry zu bemerken, noch dass ihr Herz sich bei dem traurigen, benommenen Ausdruck in seinen Augen zusammenzog.
Das nächste Mal, als sie diese Miene gesehen hatte, war nach Sirius Tod gewesen. Nach dem tragischen Ereignis jener Nacht konnte jeder Narr den verzweifelten Schmerz in Harrys Augen brennen sehen. Er hatte einen unsichtbaren Schild um sich aufgezogen und keiner hatte gewagt, sich ihm in den ersten Tagen zu nähern.
Das letzte Mal war nach Professor Dumbledores Tod. Harry war abermals gezwungen gewesen, ihn mitanzusehen. Er hatte es diesmal besser verkraftet – vielleicht wegen seiner neu gefundenen Reife, vielleicht einfach, weil er es bereits durchstanden hatte.
Und jetzt ... was konnte im Ministerium geschehen sein, das diesen schmerzvollen Blick wieder in seine schönen grünen Augen gebracht hatte? Sie fand, seine Augen waren das Schönste an ihm – so ausdrucksstark, voller Leben und stets mehr von seinen Gefühlen widerspiegelnd, als er selbst realisierte.
»Es war schrecklich.«, rief Hermine und riss Ginny damit zurück in die Gegenwart. »Menschen wurden im Rücken getroffen, als sie versuchten zu fliehen, und andere wurden zertrampelt, nachdem sie gefallen waren. Überall lagen Leichen.« Hermine schauderte.
Ginny spürte, wie Harrys Körper bebte, als er endlich begann, seine Steifheit zu verlieren, und sich hilfesuchend gegen sie lehnte.
»Wir haben versucht, einen Ausweg zu finden, aber der Raum war zu fest versperrt. Ich habe noch nie so etwas gesehen.«, sagte Charlie, gegen seinen Willen beeindruckt. »Nichts hat funktioniert.«
»Da hat Voldemort bemerkt, dass Harry dort war.«, fuhr Hermine mit einem Blick zu Harry fort. »Sie haben ein paar Worte gewechselt und dann hat Voldemort den Cruciatus auf ihn gelegt.«
»Merlins Bart!«, keuchte Mrs. Weasley. Ihre Augen flogen zu Harry, der zusammensank.
Ginny spürte, wie sein Zittern sich verstärkte, und dankte ihrem Dad im Stillen, dass er ihre Mum zurückhielt. Sie glaubte nicht, dass sie sie Harry im Augenblick zumuten konnte.
»Harry und Voldemort haben sich duelliert und es sah aus, als könnte Harry in Schwierigkeiten stecken.«, sagte Ron. Er schluckte schwer und warf Harry vorsichtig einen Blick zu.
Ginny bemerkte, dass Ron und Hermine beide sehr langsam sprachen, als wollten sie die Geschichte hinauszögern. Was auch immer als nächstes geschehen war, offensichtlich wollten sie es nicht aussprechen und Ginny spürte eine Welle der Angst.
Schwere Schatten fielen über Harrys Augen, so dass das Grün beinahe schwarz erschien. Ginny hielt ihre Hand fest an seiner Hüfte und plötzlich langte er danach und umklammerte sie beinahe verzweifelt.
»Dann sind Remus und Tonks gekommen und haben sich geopfert, um uns die Flucht zu ermöglichen.«, sagte Charlie sehr schnell, als wolle er es schnell hinter sich bringen. »Sie waren umwerfend.«
Im gesamten Raum brachen Schreie der Bestürzung aus. Selbst Malfoys Augenbrauen hoben sich bis zum Haaransatz.
»Der Werwolf ist tot?«, fragte er verständnislos. Seine Augen huschten zu Harry.
Harry starrte fest geradeaus, um den Blicken aller auszuweichen. Ginnys Sichtfeld verschwamm, als ihre Augen sich mit Tränen füllten.
Remus – der liebe, sanfte Remus. Er war so freundlich zu ihr in ihrem zweiten Schuljahr gewesen. Sie hatte so viel Arbeit nachzuholen nach ihrem verheerenden ersten Jahr und er hatte sich so geduldig und verständnisvoll gezeigt. Und Tonks! Die ungeschickte, Spaß liebende Tonks. Sie war mehr Freundin als eine weitere Erwachsene gewesen. Ihre Mutter wäre entsetzt, wüsste sie nur die Hälfte der Dinge, die Tonks Ginny beigebracht hatte. Ginny erinnerte sich an eine kichernde Tonks, die etwas gesagt hatte von wegen, ihre Mum sei vielleicht nicht die weltbeste Expertin in Sachen Verhütungszauber...
Sie und Remus hatten einander endlich ihre Liebe gestanden. Sie wollten heiraten und danach glücklich zusammenleben. So hätte es sein sollen.
Tränen strömten Ginnys Wangen herunter und sie wischte sie still weg. Sie fühlte sich leer, als könnte es nicht wirklich sein. Sie konnte nicht einmal die Energie aufbringen, sich gründlich auszuweinen.
»Halt die Fresse, Malfoy.«, schnauzte Ron, die Augen verdächtig glänzend. »Wenn Remus nicht gewesen wäre, wären wir nie dort rausgekommen.«
Ginny sah Harrys Unterlippe einen Moment lang zittern, bevor er sich wieder die emotionslose Maske über sein Gesicht stülpte. Er umklammerte ihre Hand so fest, dass Ginny sicher war, dass die Blutzirkulation abgeschnürt war.
»Wie seid ihr weggekommen?«, fragte ihr Dad mit gebrochener Stimme. Leidenschaftslos sah Ginny zu, wie ihre Mutter an seiner Brust weinte. »Was ist mit den Zaubern passiert, die die Türen versperrt haben?«
Rons Blick wanderte wieder zu Harry. »Ich weiß es nicht wirklich.«, sagte er leise.
»Harry war es.«, übernahm Hermine schniefend das Wort. »Es war schockierend. Klar war er aufgewühlt, aber er hat etwas mit den Glastüren getan, an denen wir gestanden haben, und der ganze Raum hat gebebt. Alle Türen sind plötzlich aufgesprungen und die ganzen Menschen sind rausgestürmt.«
Alle Augen im Zimmer richteten sich auf Harry und Ginny spürte, wie sein Körper sich verspannte. Sie war sicher, dass er hinausgestürzt wäre, wenn ihre Arme nicht um ihn geschlungen wären. Bevor er Zeit hatte zu sprechen, schwang das Porträt zur Seite und ein erschöpfter Bill, Fleur und Moody taumelten hinein. Alle drei hatten Vielsafttrank zur Pressekonferenz eingenommen, doch ihr übliches Aussehen war schon zurückgekehrt. Bill blutete im Gesicht und Fleur humpelte neben ihm her.
»Bill.«, rief seine Mum. Sie sprang von ihrem Sessel auf und warf die Arme um ihn. Dann wandte sie sich um und schloss Fleur in dieselbe knochenzerschmetternde Umarmung. »Oh, Fleur. Merlin sei Dank, euch geht es gut.«
Bill und Charlie schüttelten sich die Hände, bevor sie einander in eine schroffe Umarmung zogen. »Schön, dich zu sehen, Kumpel.«, sagte Charlie mit belegter Stimme.
»Ja. Wir haben gesehen, wir ihr rausgekommen seid, nachdem die Türen aufgesprungen waren. Wir sind geblieben, um Leute ins St. Mungos zu bringen, aber als die Todesser sich wieder gesammelt haben, mussten wir fliehen.«, erwiderte Bill.
»Was ist mit den Türen passiert?«, fragte Fleur. »Isch 'abe so etwas noch nie gese'en.«
»Das war Harry.«, klärte Charlie auf. Er warf einen zögerlichen Blick in Harrys Richtung.
»Verdammt feine Magie.«, kommentierte Moody schroff, während er sich in einen Sessel fallen ließ. »Wir hätten noch mehr Unglücksfälle gehabt als ohnehin schon, wenn es nicht passiert wäre. Die meisten der Auroren sind stark geschwächt, aber ich habe die mitgebracht, die überlebt haben.«
»Sie sind hier?«, fragte Professor McGonagall mit erhobenen Augenbrauen.
Moody nickte. »Sie sind in der Großen Halle. Das Ministerium ist fort – vollkommen unter Voldemorts Kontrolle.«
Ginny blickte scharf auf. Es war das erste Mal, dass sie den Auroren jemals den Namen hatte benutzen hören. Sie konnte einen stählernen Ausdruck in seinen Augen sehen – er würde sich nicht weiter reizen lassen.
»Sie wollen dem Orden beitreten.«, sagte Moody. »Wir sind jetzt die letzte Möglichkeit der Verteidigung. Wir werden Kingsley aus Askaban rausholen. Er gehört nicht dorthin und er kann helfen, sie anzuführen. Sie vertrauen ihm.«
Professor McGonagall nickte. Sie wirkte sehr blass.
»Ich will mit ihnen trainieren.«, meldete Harry sich zum ersten Mal zu Wort. Seine Stimme klang hart – unversöhnlich.
»Harry.«, begann Mrs. Weasley. Doch er gab ihr nicht die Zeit, ihren Satz zu beenden.
»Wenn ich derjenige bin, der ihn aufhalten muss, brauche ich jemanden, der mir zeigt wie. Ich muss lernen, wie ich ihn töten kann.«, sagte Harry mit blitzenden Augen. »Können Sie mich unterrichten?«
Moody nickte feierlich.
»Potter...«, wand Professor McGonagall ein, anscheinend sprachlos.
»Was?«, rief Harry und wirbelte zu ihr herum. »Soll ich mich weiter zurücklehnen und zulassen, dass er sich euch einen nach dem anderen schnappt? Nichts ändert sich am Ende – es liegt immer noch bei mir. Ich ziehe es vor zu handeln, solange noch ein paar von euch übrig sind.«
Harry drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Raum, wobei er sich hart die Schulter am Porträtloch anschlug. Hermine und Ginny machten beide Anstalten, ihm zu folgen. Aber Mr. Weasleys sanfte Stimme hielt sie auf.
»Lasst ihn gehen. Er muss etwas Dampf ablassen.«
Sie starrten alle einen Moment lang das leere Loch an, selbst Draco – blass und ausgelaugt – war ungewöhnlich schweigsam. Professor McGonagall durchbrach die Stille.
»Alastor, wir werden die Auroren im Ravenclaw-Schlafsaal unterbringen. Du kannst Filius holen, damit er dir dabei hilft. Molly, kannst du bitte die Dursleys in eins der leeren Schlafsäle hier bringen? Dobby kann den Raum zurechtmachen. Dudley kann sich zu Mr. Malfoy gesellen. Ich glaube, er ist im Moment allein auf seinem Stockwerk.«
»Ich werde nicht einen Raum mit einem Schlamm... äh ... einem Muggelgeborenen teilen.«, rief Malfoy, der sich unter Professor McGonagalls Blick gerade noch gefangen hatte. Er schüttelte den Kopf, als wollte er ihn klären.
»Sie werden dort schlafen, wo wir noch Raum übrig haben, Mr. Malfoy.«, erwiderte Professor McGonagall brüsk.
»Malfoy?«, sagte Dudley. Zum ersten Mal starrte er den Blondschopf an. »Ich habe Potter von dir reden hören.«
Draco verdrehte die Augen. »Reizend.«

Nachdem die Bettzuteilungen geregelt waren und Madam Pomfrey alle Verletzungen behandelt hatte, schlüpfte Ginny leise aus dem Gryffindor-Turm, um nach Harry zu suchen. Sie wusste, dass ihm gerade das Herz brach, aber sie war nicht sicher, was sie anderes tun konnte als mit ihm zu trauern. Zumindest konnte sie sicherstellen, dass er es nicht allein durchstehen musste.
Sie wusste instinktiv, wo sie zu suchen hatte. Sie stieß die Vordertüren auf und konnte eine einsame Gestalt um die Ringe auf dem Quidditchfeld sausen sehen. Statt nach dem Schnatz zu suchen hielt er einen Schläger der Treiber in seiner Hand. Sie sah zu, wie er ihn auf einen näherkommenden Klatscher schlug, voller Bewunderung, wie seine Muskeln sich verspannten, wenn er sich bewegte. Sie konnte verstehen, wie er sich fühlte – der Gedanke daran, einem Gegenstand die Seele aus dem Leib zu prügeln war unheimlich reizvoll im Moment.
Plötzlich wandte Harry sich um, als wüsste er, dass er beobachtet wurde. Sein Körper entspannte sich wieder, als er sie erkannte. Er flog herunter und landete neben ihr im Gras. Trotz der Kühle bedeckte eine leichte Schweißschicht seine Haut. Seine Augen trugen noch immer denselben toten Ausdruck.
»Hey.«, sagte er und scharrte mit dem Zeh auf dem Boden herum.
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«, flüsterte sie und ließ ihre Hand in seine behandschuhte Faust gleiten.
»Mir geht's gut – hab so was schon mal erlebt.«, tat er achselzuckend ab.
»Ich weiß.«, erwiderte sie und strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn. »Es tut mir leid, Harry.«
Er nickte wortlos und sie sah, wie sein Adamsapfel auf und abhüpfte, als er schwer schluckte. Er zog sie in seine Arme und legte sein Kinn auf ihren Kopf. Er flüsterte: »Warum er? Warum passiert mir das immer wieder? Gerade wenn ich denke, dass es nicht mehr wehtun kann, nimmt er... Warum tut er das?«
Harry brach ab und Ginnys Hals schmerzte. Es fiel ihr schwer, nicht zusammenzubrechen und zu schluchzen, doch sie kämpfte dagegen an. Es war nun an ihr, für ihn stark zu sein. Trotz ihrer Entschlossenheit konnte sie nicht verhindern, dass Tränen ihr Gesicht entlangliefen. Sie musste ihm Trost spenden, aber sie wusste auch, dass er bei der kleinsten Spur von Mitleid in ihrer Stimme davonstürzen würde.
»Weil er dich geliebt hat.«, antwortete sie. »Und er hat deine Eltern geliebt und das ist, was Menschen, die sich lieben, tun.«
»Tonks wusste, dass seine Macht allein nicht ausreicht. Sie hat sich geopfert, um ihm zusätzliche Kraft zu verleihen, so dass wir alle entkommen konnten.«, sagte er mit heiserer Stimme.
»Weil sie ihn geliebt hat.«, erwiderte Ginny. Während seine Stimme schwächer wurde, wuchs ihre an.
»Liebe ist beängstigend, wenn sie die Menschen dazu bringt, so etwas zu tun.«, sagte Harry leise.
»Sie ist mächtig und du bist so erfüllt von ihr.«, entgegnete Ginny und legte ihre Hände auf seine Brust über sein Herz. Wie konnte sie jemandem die Liebe erklären, der sich nicht einmal daran erinnern konnte, sie jemals besessen zu haben? Plötzlich fühlte sie sich schuldig dafür, solch einen Überfluss von der einen Sache erlebt zu haben, die ihm immer gefehlt hatte. Sie musste versuchen, es ihm verständlich zu machen. »Etwas sowohl Wundervolleres als auch Schrecklicheres als der Tod, weil Menschen alles dafür in Kauf nehmen würden.«
Harry zog sich zurück und starrte sie an. »Dumbledore hat etwas Ähnliches zu mir gesagt. Er hat von dem verschlossenen Raum in der Mysteriumsabteilung gesprochen.«
»Komm mit rein, Harry.«, sagte Ginny sanft. Sie nahm seine Hand. »Du frierst hier draußen. Das Feuer ist warm und du siehst furchtbar müde aus.«
»Das bin ich.«, flüsterte Harry und lehnte sich gegen sie, als hätte sie ihm den Wind aus den Segeln genommen.
»Ich werde Dobby bitten, uns etwas heiße Schokolade zu bringen, und wir machen es uns am Feuer bequem.«, schlug Ginny vor.
»Ich will mit Dumbledores Porträt reden. Vielleicht kann er mir bei ein paar Ideen helfen, wo wir nach dem letzten Horkrux suchen können.«, entgegnete Harry, während sie begannen, zum Schloss zurückzulaufen.
Ginny wusste, dass Harry es vor sich hingeschoben hatte, mit dem Porträt zu sprechen, und sich alle Ausreden hatte einfallen lassen, um nicht in McGonagalls Büro gehen zu müssen. Sie wusste es, weil Hermine mehrere Male dort gewesen war, um einen Weg zu finden, den Horkrux aus Harry zu holen. Vielleicht würde ein Gespräch mit Dumbledores Porträt ihm helfen, mit dem Verlust von Remus fertig zu werden. Das hoffte sie zumindest.
Als sie im Gemeinschaftsraum ankamen, fanden sie ihn überraschend verlassen vor. Ginny nahm an, dass es für alle eine lange Nacht gewesen war. Was auch immer der Grund war, sie war froh, ihn leer vorzufinden. Sie versetzte Harry einen sanften Schubs, worauf er müde auf die Couch am Feuer sank.
»Warum laufe ich nicht runter in die Küche und hol uns etwas heiße Schokolade und Kekse?«, schlug Ginny vor. Harrys Augenlider sackten so schwer herab, dass er mit Sicherheit eingeschlafen sein würde, bevor sie zurück war.
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger, danke. Setz dich einfach eine Weile zu mir.«
»Du siehst fix und fertig aus, Harry. Warum gehst du nicht direkt nach oben ins Bett?«, sagte Ginny leise.
Harry schüttelte abermals den Kopf. »Kann oben nicht schlafen. Deine Brüder schnarchen zu laut.«, antwortete er mit dem Versuch eines Lächelns.
Ginny konnte es gut verstehen. Ihre Brüder schnarchten schon allein ziemlich laut. Aber wenn sie alle zusammen im Fuchsbau waren, war es ohrenbetäubend. Ihre Mum hatte einen speziellen schalldämpfenden Zauber entwickelt, den sie auf die Wände gelegt hatte. Ginny konnte sich nicht vorstellen, wie Harry im gleichen Zimmer mit vier von den Weasley-Jungen festsaß. Ron allein war schon schlimm genug.
»Du könntest immer einen Schweigezauber benutzen.«, sagte sie. Ihre Mundwinkel zuckten.
»Das habe ich auch.« Harry seufzte. »Aber ich habe Angst, etwas Wichtiges zu verpassen.«
Ginny nickte gewichtig. »Okay. Dann werden wir sehen, ob sich etwas dagegen machen lässt.«
Sie setzte sich neben ihn auf die Couch und er drehte sich sofort herum, um seinen Rücken gegen ihre Brust zu schmiegen. Er kuschelte sich zwischen ihre Beine und benutzte sie als Kissen. Er wollte Trost.
Das war zumindest etwas, das sie ihm geben konnte. Sie schlang ihre Arme um ihn und lehnte sich an den Coucharm, während sie die Hitze vom Feuer auf ihrem Gesicht genoss.
»Er hat mir beigebracht, einen Patronus auszuführen, wusstest du das?«, fragte er leise.
Das wusste sie, aber sie vermutete, dass er nicht wirklich nach einer Unterhaltung suchte – er wollte es sich nur schlichtweg von der Seele reden.
»Er ist zu ein paar von meinen Quidditch-Spielen in meinem dritten Schuljahr gekommen. Er war dort, als wir den Pokal gewonnen haben.«, flüsterte er.
Sie küsste ihn auf den Kopf und drückte ihn fester an sich. Er machte einige leise, kaum hörbare Schniefgeräusche und sie nahm an, dass er weinte. Sie glaubte, dass es ihm leichter fiel, wenn er sein Gesicht von ihr abwandte. Sie sagte nichts, sondern strich ihm nur zärtlich über seinen Arm und Rücken, um ihm allen Trost zu spenden, den sie konnte. Harry gestattete sich so selten, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Sie war der Meinung, dass es ihm gut tun würde, ausgiebig zu weinen.
Sie spürte, wie er mehrmals keuchte, bevor der Damm schließlich brach und er ernsthaft zu schluchzen begann. Sie umarmte ihn fest, flüsterte beruhigend auf ihn ein und hielt ihr Gesicht dicht an seinen Kopf gedrückt. Mehrere Tropfen warmer Flüssigkeit trafen ihre Hand, während er endlich seine Trauer herausließ und sich an sie klammerte. Er schien körperlichen Trost zu verlangen.
Es hatte sie überrascht, festzustellen, wie anhänglich Harry sein konnte. Es war etwas, das sie nie von ihm erwartet hätte, bevor sie zusammengekommen waren. Besonders während sie in Albanien gewesen waren, hatte sie bemerkt, wie sehr er es mochte, ihre Hand zu halten, ihr Gesicht zu berühren und jegliche noch so einfache Liebkosung von ihr zu erhalten. Sie nahm an, dass ihm das alles neu war. Sie glaubte nicht, dass seine furchtbare Familie sich jemals bemüht hatte, ihm Zuneigung entgegenzubringen.
Dieser Gedanke gepaart mit Harrys offensichtlicher Freude über ihre Berührung erweckte in Ginny umso mehr das Verlangen, ihn zu trösten. Natürlich schadete auch nicht die Befriedigung, zu wissen, dass sie diejenige war, die diese Wirkung auf ihn hatte. Absichtlich hatte sie seine Finger mit ihren gestreift, wenn sie ihm etwas reichte, oder ihre Hand über seine Schulter gleiten lassen, wenn sie ein Zimmer verließ oder betrat. Und er erwiderte ihre Berührung stets.
Mit diesem Gedanken ließ Ginny nun ihre Hand durch sein zerzaustes Haar fahren und zwirbelte es zwischen ihren Fingern. Harry schmiegte sich an sie. Seine Atemzüge wurden endlich tief und regelmäßig. Er war schneller eingeschlafen, als sie gedacht hatte. Gerade während sie sich fragte, ob sie ihn auf der Couch lassen oder versuchen sollte, ihn hoch auf sein Bett schweben zu lassen, hörte sie, wie das Porträt aufschwang.
Über den Rücken der Couch lugend, sah sie Draco und Pansy auf Zehenspitzen hereinkommen.
»Die Luft ist rein.«, zischte Draco. »Sie müssen schon alle zu Bett gegangen sein.«
»Merlin sei Dank.«, flüsterte Pansy.
Ginny duckte sich, damit sie sie nicht sehen konnten. Sie fuhr sich mit einer Hand über die Augen und lauschte aufmerksam.
»Also.«, schnurrte Pansy, »was würdest du gerne machen, jetzt da wir diesen großen Raum ganz für uns allein haben?«
Ginny konnte gerade noch ein Würgen unterdrücken.
»Schlags dir aus dem Kopf, Pansy.«, sagte Draco überraschend barsch. »Das wird diesmal nicht funktionieren. Ich will wissen, wo du warst.«
»Das habe ich dir doch schon gesagt.«, erwiderte Pansy mit einem theatralischen Seufzen. »Ich habe etwas Luft gebraucht. Die ganze Zeit bei diesen Gryffindors zu sein, ist erstickend.«
»Du warst eine lange Zeit fort und ich konnte dich nirgends finden.«, entgegnete Draco gereizt.
»Also ehrlich, Draco. Meinst du wirklich, dass ich hinter deinem Rücken mit Potter oder einem Weasley vögle? Wie wär's mit Filch? Er scheint immer verfügbar zu sein.«, kreischte Pansy.
»Nicht so laut.«, zischte Draco. »Ich habe dir gar nichts vorgeworfen, Pansy. Ich will einfach wissen, was du die ganze Zeit treibst. Potter und Weasley waren sowieso hier. Sie haben Neuigkeiten gebracht, dass der Dunkle Lord das Ministerium in seine Gewalt gebracht hat.«
»Heh, ich hätte zu gern ihre Gesichter gesehen, als sie die Neuigkeiten gehört haben.«, sagte Pansy. Ginnys Miene verfinsterte sich.
»Während ich es vielleicht auch genossen hätte, wenn die Umstände anders wären, sind es keine guten Neuigkeiten, Pansy. Je mehr Macht der Dunkle Lord hat, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass ich dieses Schlamassel überlebe.«, wand Draco ein. Plötzlich klang er sehr jung und ängstlich.
»Sag das nicht, Draco.« Pansy sog einen scharfen Atem ein.
»Es ist wahr. Ich will Potter nicht helfen, aber mir gefällt der Gedanke zu sterben noch weniger. Er wird mich töten, wenn Potter ihn nicht bald aufhält.«, sagte Draco.
»Du machst mir Angst, Draco.«, entgegnete Pansy schniefend.
»Ich habe Angst, Pansy. Ich will nicht sterben.«, sagte Draco. Seine Stimme brach.
Ginny wand sich unbehaglich.
»Das wirst du nicht. Das lasse ich nicht zu.«, rief Pansy heftig.
Ginny versuchte, die plötzlich leidenschaftlichen Geräusche hinter der Couch zu ignorieren, während sie sich tiefer in die Kissen drückte und den schlafenden Harry näher an sich zog. Sie mochte Draco oder Pansy zwar nicht leiden können, aber plötzlich traf sie die Ähnlichkeit ihrer Situationen. Dieses neuentdeckte Gefühl von Solidarität mit den Slytherins war erschütternd und Ginny war nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte. Die vernünftige Seite in ihr schrie immer wieder, ihnen nicht zu vertrauen. Schließlich waren sie immer noch Slytherins. Ihr Herz jedoch schmerzte von ihren Worten.
Sie wusste, wie Pansy sich fühlte. Sie würde ebenfalls alles tun, um Harrys Überleben zu sichern. Sie wusste auch, dass sie niemals darüber hinwegkommen würde, falls Harry – was Merlin verhüten möge – sterben sollte. Sie würde ihr Leben weiterführen, weil er das von ihr verlangte, aber sie würde sich nie wieder verlieben. Er war der einzige Mann für sie. Wenn es so etwas wie Seelenverwandte gab, wusste sie, dass sie ihren gefunden hatte. Sie fragte sich, ob Pansy Draco gegenüber dasselbe empfand.
Zu Ginnys Glück trennten Draco und Pansy sich voneinander und verabschiedeten sich, bevor sie Zeugin von etwas werden musste, das sie wirklich nicht hören wollte. Sie eilten die Treppe hinauf, ohne auch nur einen Blick in Ginnys Richtung zu werfen. Sie lag einige Zeit lang auf der Couch und ließ sich ihre Unterhaltung durch den Kopf gehen.
Schließlich entschied sie, dass sie etwas Schlaf gebrauchen konnte. Am nächsten Morgen würden sie sich dem Ernst des Lebens zuwenden. Für Jugendträume war einfach keine Zeit übrig, aber in dieser Nacht sollte sie und Harry das eifach nicht kümmern. Sie küsste ihn auf den Kopf und legte ihren Kopf auf den Arm der Couch, worauf sie einschlummerte.

Mehrere Tage nach dem Anschlag auf das Ministerium hatte sich das Leben in Hogwarts zu einer Art Routine eingependelt. Moody hatte die überlebenden Auroren unter sein Kommando gestellt und sie taten ihr Bestes, die Ordnung aufrecht zu halten und sich mit der panischen Öffentlichkeit auseinanderzusetzen. Harry vermutete, dass Voldemort genau wusste, wo sie sich versteckten. Aber er schien viel mehr darauf auszusein, das Ministerium auseinanderzunehmen und ein Königreich unter sich aufzubauen, als sich mit ihnen abzugeben.
Harry glaubte nicht, dass es lange so bleiben würde, obwohl er wusste, dass Voldemort ihn nicht wirklich als Bedrohung ansah. Das hatte Harry vor zu ändern – aber zuerst musste er diesen verbliebenen Horkrux finden. Die Recherche brachte ihn nirgendwohin und er hatte das nagende Gefühl, dass er etwas in diesen Denkarium-Erinnerungen übersehen hatte.
Das Sonderbarste, das während ihrer gemeinsamen Zeit geschehen war, war die seltsame »Kameradschaft«, die sich zwischen Draco und Dudley entwickelt hatte. Sie waren mit Sicherheit keine Freunde, aber Dudley war zum neuen »Crabbe« oder »Goyle« für Draco geworden. Sie hatten ihre Abneigung gegen Harry gemeinsam und schienen sich darüber verbündet zu haben.
Dudley hatte nach einigen Nächten nach ihrer Ankunft einen gewaltigen Streit mit seinen Eltern gehabt. Draco hatte ihm offensichtlich erzählt, wie viel besser die magische Welt war, denn Harry war sicher, dass er einen höhnischen Klang in Dudleys Worten ausmachen konnte, den es noch nicht gegeben hatte, bevor sein Cousin dem Slytherin begegnet war. Dudley war wütend auf seine Eltern, dass sie ihn so lange von der Magie ferngehalten hatten.
Harry störte Dudleys Faszination für Voldemort und allem, was im Ministerium geschehen war – seine Neugier dazu, wie die Todesser getan hatten, was sie getan hatten. Allerdings hatte sich Dudley schon immer zu Tyrannen hingezogen gefühlt. Harry war nicht sicher, warum er überhaupt erwartete, dass es sich in der Zaubererwelt anders verhalten würde.
Seine Tante und sein Onkel waren hin- und herrissen. Ihr starker Hass gegen alles Magische kämpfte gegen ihre ständige Gewohnheit an, Dudley alles zu gewähren, was er verlangte. Sie wollten, dass Dudley den Ruhm und die Größe erhielt, die die Zaubererwelt ihm versprochen hatte – nur wollten sie, dass er es erhielt ohne den magischen Teil. Und sie wussten nicht, welchen Weg sie einschlagen sollten.
Tante Petunia brach immer wieder in Tränen aus, während sie Dudley beinahe anflehte, sie schlichtweg nur anzuschauen. Seine standhaften Weigerungen zerrissen sie innerlich. Selbstverständlich gaben beide Dursleys Harry die Schuld an ihrer Situation. Sie schienen vollkommen aus ihrem Element, nun da sie gezwungen waren, sich zu ihrem Wohlsein auf ihn zu verlassen.
Harry fand die ganze Situation ziemlich skurril.
Er wusste, dass es für Mrs. Weasley eine riesige Freude war, Tante Petunia das Leben schwer zu machen. Tante Petunia graute es vor Hauselfen und er hatte bemerkt, dass Mrs. Weasley sie für alle möglichen Gründe angewiesen hatte, das Zimmer seiner Tante zu betreten. Jedes Mal wallte sein Herz vor Zuneigung zu Mrs. Weasley.
Er hatte auch gehört, wie die Zwillinge eine Wette darauf abgeschlossen hatten, welcher der Weasley-Brüder es tatsächlich schaffte, die Vene in Onkel Vernons Schläfe endlich zum Platzen zu bringen. Harry war ihnen dankbar und setzte sein Geld darauf, dass es Fred gelingen würde.
Er war am Morgen nach Remus' Tod auf der Couch im Gemeinschaftsraum aufgewacht. Ginny war während der Nacht in ihr eigenes Zimmer geschlüpft und er hatte eine gute Mütze Schlaf bekommen können. Tatsächlich hatte er seitdem mehrere Nächte auf dieser Couch verbracht, wenn das Schnarchen in seinem Schlafsaal zu unerträglich wurde.
Sonderbarerweise hatte er Draco mehrmals über Dudleys Schnarchen klagen hören. Aber er hatte nicht vor, anzubieten, mit Dudley das Zimmer zu tauschen. Harry schauderte bei dem Gedanken, mit Draco Malfoy ein Zimmer zu teilen. Lieber ertrug er die Erschöpfung.
An diesem Nachmittag rannte Harry schnell die Treppe hinunter in die Große Halle. Er hatte geplant, sich nach dem Mittagessen mit Moody zu treffen, und er hoffte, dass seine Freunde es nicht mitbekamen. Er musste Moody eine Frage stellen und wollte nicht die Gesichtsausdrücke der anderen sehen, wenn er es tat.
Moody gesellte sich umgehend zu ihm. Sein hölzernes Bein klackerte auf dem Boden, während er näher kam. Harry musste zugeben, dass es ihm gefiel, die Auroren in Hogwarts zu haben. Die Schule war ihm verlassen und tot vorgekommen vor ihrer Ankunft, als wäre das gesamte Gebäude noch immer in Trauer über den Verlust Dumbledores.
»Guten Tag.«, sagte Moody und sank gegenüber von Harry nieder. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich will alle Flüche wissen, die töten können.«, platzte Harry hervor.
»Du kennst den Wichtigsten.«, erwiderte Moody ohne auch nur mit den Augen zu zucken. »Der Tötungsfluch ist deine beste Waffe gegen den Dunklen Lord und ich denke, du hast die Macht, ihn auszuführen.«
Harry schauderte. Dieser Fluch hatte ihm schon so viel genommen. Er glaubte wirklich nicht, dass es in ihm steckte. »Was ist, wenn ich diesen Fluch nicht ausführen kann? Ich weiß nicht einmal, wie man es macht. Gibt es noch etwas anderes?«
Moody zuckte die Achseln. »Andere Flüche können auch töten. Diffindo kann eine Arterie aufschlitzen. Inflammare kann jemanden bei lebendigem Leibe verbrennen. Bei diesen Flüchen gibt es aber eine größere Chance zum Überleben. Avada Kedavra wird benutzt, wenn der Zweck das Töten ist. Der einzige Zweck.«
»Ich kann den Cruciatus nicht ausführen.«, sagte Harry behutsam. Er leckte sich über die Lippen, während er den alten Auroren sorgfältig beobachtete, unsicher wie der es aufnehmen würde. »Ich habe es versucht – es hat nicht funktioniert.«
Wieder verzog Moody nicht einmal das Gesicht. »Der Tötungsfluch funktioniert zwar ähnlich, aber trotzdem ist die Sache bei den beiden Flüchen nicht vollkommen gleich. Beim Cruciatus musst du es genießen, Schmerz zuzufügen. Du musst es wollen. Wenn du den Tötungsfluch benutzt, willst du einfach nur töten, aus welchem Grund auch immer. Der Grund dafür, dass er ein Unverzeihlicher ist, ist, dass er nicht rückgängig gemacht oder abgeblockt werden kann, und es gibt keinen Schild, der ihm widersteht. Er ist deine größte Hoffnung.«, sagte Moody leise.
Harry lehnte sich zurück, ein übles Gefühl im Magen. Er hatte es bereits vermutet, es aber tatsächlich zu hören, war schwer. Er würde denselben Fluch ausführen müssen, der ihm seine Eltern genommen hatte – der ihm Dumbledore und Remus genommen hatte. Wenn er ein Unverzeihlicher war, wie könnte ihm dann jemals verziehen werden?
Nicht dass es überhaupt eine Rolle spielte. Er hatte keine Chance, am Ende zu überleben. Er hatte sich damit abgefunden. Irgendwie musste er zur Mysteriumsabteilung gehen und Voldemorts Aufmerksamkeit auf seine Anwesenheit ziehen. Vielleicht könnte er Bilder von dieser verdammten verschlossenen Tür durch ihre Verbindung schicken. Das wäre ausgegleichende Gerechtigkeit.
Zuerst hatte Harry an dem Gedanken festgehalten, den Horkrux in seinem Körper in Godrics Hollow zerstören zu müssen, da er dort erschaffen worden war. Er wollte wirklich nicht dorthin zurückkehren und mit Sicherheit nicht töten. Er glaubte nicht, dass er sich konzentrieren könnte. Etwas, das Hermine gesagt hatte, hatte ihn davon abgebracht. Er war anders als die anderen Horkruxe, weil er lebte. Er war ein Lebewesen mit einem eigenen Geist und freiem Willen. Der Horkrux konnte nicht dort geblieben sein und außerdem hatte Voldemort nie die Zeit gehabt, eine Art von Schutzzauber zu errichten, um den Horkrux in Harry zu bewachen. Voldemort hatte nicht einmal gewusst, dass er existierte.
Nachdem Harry ihn zur Mysteriumsabteilung gelockt hatte, würde er versuchen, ihn durch den Bogen mit dem Schleier zu reißen. Es könnte sich als einfacher erweisen, hindurchzugehen, wenn er seine Konzentration darauf gerichtet hielt, Voldemort zu zwingen, mit ihm zu gehen. Andernfalls würde er den Tötungsfluch versuchen und gleich danach selbst hindurchspringen. Beide Wege sollten alle Probleme lösen.
Aber zuerst musste er den letzten Horkrux finden.
Das bedeutete ein Gespräch mit seinem ehemaligen Schulleiter.
Mit einem Nicken zu Moody seufzte Harry. Er stand vom Tisch auf und stieg langsam die Treppe zum Gryffindor-Turm hoch. Als er durch das Porträtloch trat, fand er die meisten der Bewohner in eine hitzige Diskussion verwickelt.
»Was ist passiert?«, erkundigte er sich, während sein Pulsschlag sich beschleunigte.
Er konnte Tante Petunia und Onkel Vernon in einer Ecke sitzen sehen, die Augen weit aufgerissen. Es kam selten vor, dass sie außerhalb ihrer Zimmer waren, geschweige denn in Gesellschaft von jemandem Magischen. Harry hatte keine Ahnung, was sie den ganzen Tag lang taten. Vor allem Onkel Vernon schien ohne Fernseher verloren und Tante Petunia schrubbte auf Händen und Knien, murmelnd, dass sie schon dafür sorgen würde, dass keine dieser widerlichen Kreaturen ihr Zimmer betreten mussten.
Wäre sein Herz nicht so schwer gewesen, hätte es ihn vielleicht belustigt.
»Voldemort hat St. Mungos geschlossen.«, sagte Ron grimmig. »Jeder, der eine medizinische Behandlung braucht, muss sich eine Genehmigung vom Ministerium holen – also von ihm selbst.«
»Das ist barbarisch.«, entgegnete Harry, wissend dass er sich nicht länger von irgendetwas überraschen lassen sollte.
»Er wird ihnen nicht gestatten, Muggelgeborene zu heilen.«, sagte Hermine. Sie hatte ihren Mund grimmig zusammengekniffen.
»Was wirst du unternehmen, Harry?«, wollte Bill wissen.
Harry hob langsam den Blick und sah, dass alle im Zimmer ihn anstarrten. Harry konnte beinahe spüren, wie ein Fehdehandschuh herumgereicht wurde, als hätten sie endlich alle akzeptiert, dass er der einzige war, der dem Wahnsinn ein Ende setzen konnte.
Tante Petunias Augen weiteten sich, als sie auf einmal verstand, dass es Harry war, zu dem sie sich alle umwandten.
»Ich werde ihn aufhalten.«, sagte Harry. Es fühlte sich gut an, es laut auszusprechen, und es stärkte seine Zuversicht. »Ich habe Moody schon um Unterstützung gebeten, aber ich habe noch eine Sache zu tun, bevor ich ihm gegenübertreten kann.«
»Warum? Was macht ihr so Wichtiges? Mit scheint, ihn aufzuhalten sollte das Wichtigste sein.«, entgegnete Bill.
»Bill!«, rief Mrs. Weasley. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Ich will auch nicht, dass das passiert. Ich wünschte, es müsste nicht Harry sein, aber wir alle wissen doch, dass es so ist, selbst wenn wir es nicht zugeben wollen. Harry hat gesagt, dass er es sein muss. Deshalb würde ich gerne wissen, was so viel wichtiger ist.«, rechtfertigte Bill sich.
»Es ist okay.«, sagte Harry leise. »Es ist eine vernünftige Frage. Ich kann euch noch immer keine Antwort geben, aber ich verspreche euch, dass das, was ich tue, sicherstellt, das ich ihn töten kann, wenn der Kampf beginnt.«
Harry beobachtete das Gesicht seiner Tante, unsicher, was hinter ihren Augen vorging.
»Woher wissen Sie überhaupt, wo Sie ihn finden?«, erkundigte sich Professor McGonagall.
»Machen Sie Witze?«, fragte Fred ungläubig. »Harry muss ihn nicht finden – alles, was er tun muss, ist rausgehen und eine Weile stillstehen. V-V-Voldemort scheint immer ihn zu finden.«
»Fred!«, schrie Mrs. Weasley.
Mr. Weasley tätschelte ihr den Rücken. »Es ist alles in Ordnung, Molly.«
»Es ist nicht alles in Ordnung. Nichts ist in Ordnung und ich kann den Gedanken nicht ertragen, Harry direkt da reinlaufen zu lassen.«, rief sie.
Harry kniete sich vor sie und nahm ihre Hände in seine. »Mrs. Weasley.«, sagte er, unsicher, was er sagen konnte, um sie zu trösten.
»Nicht, Harry.«, unterbrach sie ihn und drückte seine Finger, während Tränen aus ihren Augen strömten. »Ich weiß, was du sagen willst. Aber es zu verstehen und es zu akzeptieren sind zwei verschiedene Sachen. Du bist für mich wie eins meiner eigenen Kinder und ich kann es nicht ertragen, dabei zuzusehen. Ich sollte diejenige sein, die dich beschützt.«
»Ich will nicht, dass Sie mich beschützen, Mrs. Weasley.«, erwiderte Harry. Sein Hals fühlte sich eng an. »Die Menschen, die es schon versucht haben, haben sich nicht besonders gut gemacht.«
»Oh, Harry.« Mrs. Weasley warf sich in seine Arme.
Harry fühlte Panik in ihm aufsteigen und warf einen hilfesuchenden Blick zu Ginny. Bestürzt sah er auch in ihren Augen Tränen glitzern.
Schließlich kam ihm Mr. Weasley zu Hilfe. Er zog seine Frau zurück und ließ sie an seiner Schulter weinen.
»Da hat Fred Recht.«, bemerkte George, während er mit dem Fuß gegen den Tisch trat. »Ich meine ... Voldemort neigt tatsächlich dazu, Harry nachzustellen. Schau nur, was er alles unternommen hat, um Harry zum Friedhof zu holen.«
Tante Petunia legte den Kopf auf die Seite. Harry konnte erkennen, dass sie neugierig war, obwohl es um Harry ging. Wieder fragte er sich, wie viel sie wirklich von der Zaubererwelt wusste.
»Ja, und der Ort war nicht weit davon entfernt, wo er sich zu dieser Zeit versteckt hatte.«, sagte Ron. »Die meisten Menschen wissen es nicht.«
Plötzlich setzte Harry sich gerader auf. Die Unterhaltung dröhnte in seinen Ohren und Tante Petunia war vergessen. Ron hatte Recht. Warum hatte er nicht vorher daran gedacht? Voldemort hatte sich im Riddle-Haus versteckt. Harrys Vision von ihm, in der er einen alten Mann ermordet hatte, hatte im Riddle-Haus stattgefunden. Das Zuhause von Voldemorts Vater und seiner Großeltern, die er genau darin getötet hatte.
Harry wusste, dass Tom den Ring in Vorlost Gaunts Haus versteckt hatte, nachdem er sie getötet hatte. Aber es gab keinen Grund dafür, warum er zu der Zeit nicht zwei Horkruxe erschaffen haben konnte. Er hatte an jenem Tag drei Morde begangen. Warum konnte er nicht auch etwas im Riddle-Haus zurückgelassen haben?
Zittrig stand Harry auf. »Ron, Ginny, Hermine.«, sagte er. »Wir müssen mit Professor Dumbledores Porträt sprechen.«
»Jetzt?«, fragte Ron blinzelnd.
»Jetzt.«, erwiderte Harry. »Ich denke, ich habe vielleicht eine Idee, wohin wir als nächstes gehen müssen.«