Kapitel 16: Chaos
Harry und Ginny standen Rücken an Rücken und
schwangen ihre Zauberstäbe in Richtung der Inferi, die sie von
allen Seiten umzingelten. Das Wasser im See um ihnen herum
blubberte und peitschte auf, als zahllose weiße Köpfe die
Oberfläche durchbrachen. Tote, leere Augen starrten sie aus
eingesunkenen Augenhöhlen an, während mehr und mehr Inferi sich aus
dem Wasser hievten. Harry konnte spüren, wie Ginnys Beine gegen
seine bebten und wünschte, er könnte ihr Trost spenden.
Ginny schrie, als ein Inferius seine klauenähnliche Hand um ihr
Handgelenk schloss und sie auf das Wasser zu zog.
»Incendio.«, rief Harry, worauf ein Feuerblitz aus seinem
Zauberspruch schoss. Auf der Stelle ließ der Inferius Ginny los und
wich vor den Flammen zurück. Ginny presste ihre Hand eng an ihren
Körper und wankte einige Schritte rückwärts.
Harry erschuf einen Feuerring um Ginny und sich selbst. Die Inferi
duckten sich und rückten zurück zum Wasser, ihre Gesichter
abschirmend, während sie vor den hellen, heißen Flammen flohen.
»Sie fürchten das Licht.«, rief Harry über dem Prasseln des Feuers
hinweg.
Ginny nickte, die Inferi wachsam beobachtend. »Wir können nicht
Ewigkeiten hier drin bleiben, Harry. Wie werden wir sie los?«,
fragte sie.
Sie hatte Recht. Harrys Feuerring hatte bereits angefangen zu
flackern und auszubrennen. Mehrere Inferi kehrten bereits wieder um
und näherten sich ihnen. Harry rückte näher an Ginny heran,
rutschte jedoch aus, als eine eisige Hand seinen Fuß packte und ihn
zum Rand des Felsen zu reißen begann. Er landete hart auf seiner
Seite, wobei er den Horkrux fallen ließ. Dieser schlitterte weg und
landete am Fuß des Steinbeckens. Harry riss sich los und krabbelte
vom Rand.
»Harry!«, rief Ginny und ergriff ihn an der Schulter. »Incendio.«,
schrie sie, als ein weiterer Inferius Anstalten machte, nach ihm zu
greifen.
Er konnte Schreie vom Ufer herüberdröhnen hören und wusste, dass
die Inferi auch auf der anderen Seite des Sees aufgetaucht sein
mussten. Nach den Rufen zu urteilen, griffen die Inferi ihre Opfer
wahllos an.
Harry streckte den Arm aus und packte das Medaillon, gerade als
eine knochige weiße Hand ebenfalls danach griff. Er spürte einen
Ausbruch eiskalter Energie von dem Medaillon ausgehen, der seinen
Arm durchströmte und ihn für einen Augenblick erstarren ließ.
Überrascht ließ Harry das Medaillon los, während der Inferius
dasselbe tat. Dessen Arm hing nutzlos an seiner Seite, pendelnd,
als wäre es nicht länger Teil seines Körpers. Ohne einen weiteren
Blick wandte er sich um und kroch wie ein verwundetes Tier zurück
ins Wasser.
»Harry, steh auf.«, kreischte Ginny, ihre Augen blickten ihn wild
an. Er sah, dass sie ihren Zauberstab wie eine Art
Muggel-Maschinengewehr abfeuerte. Feuerstöße schossen heraus, als
sie auf alles zielte, das sich auch nur bewegte. Wäre die Situation
nicht so düster gewesen, hätte Harry über ihre Rambo-Imitation
gelacht, wohl wissend, dass sie nicht die geringte Ahnung hatte,
wer Rambo war.
»Ginny, zurück zum Boot.«, brüllte Harry, während er eine
Flammenmauer auf der anderen Seite des Steinbeckens heraufbeschwor,
so dass die Anzahl der Inferi, die sie erreichen konnten, zumindest
auf die Hälfte reduziert wurde.
»Was ist mit dem Medaillons?«, fragte Ginny.
»Vertrau mir. Wir müssen zum Boot.« Harry drängte sie zurück,
während er eine weitere Hand mit einem Fußtritt entfernte.
»Aber das Boot besteht aus Holz. Wir werden kein Feuer benutzen
können, um sie fernzuhalten.«, entgegnete Ginny und starrte ihn an,
als hätte er den Verstand verloren.
Harry, der sich verzweifelt darum bemühte, seine Gliedmaßen außer
Reichweite der Inferi zu halten, knirschte die Zähne. »Können wir
später darüber streiten, Ginny? Steig einfach ins Boot.«
»Na schön.«, keifte Ginny. »Reducto.«, rief sie, wodurch sie einen
besonders kühnen Inferius durch die Luft fliegen und mit einem
lauten Platsch im Wasser landen ließ.
Sobald Ginny das Boot erreicht hatte, hob Harry die Feuerwand auf
und stürzte zu ihr. Er sprang über mehrere Inferi und kletterte
neben sie ins Boot.
»Was nun?«, erkundigte sich Ginny. Sie bückte sich, als ein langer
weißer Arm nach ihr griff. »Petrificus Totalis.«
Harry konnte Hände am Boden des Bootes entlang schaben hören. Es
begann zu kippen, als einige der Kreaturen versuchten, sich an
einer Seite hochzuziehen.
»Harry!«, schrie Ginny panisch. Sie packte die andere Seite, um das
Boot wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Harry zog das Medaillon aus seiner Tasche und hielt es an der Kette
in die Höhe. Er hatte nur eine Chance. Wenn er das Medaillon
verfehlte, würde es auf den Grund des Sees sinken. Er glaubte
nicht, dass er es würde finden können, bevor er von all den Inferi
ertränkt würde.
Ein Inferius versetzte dem Boot einen heftigen Stoß, der Ginny in
Harry taumeln und ihn beinahe über Bord fallen ließ. Harry
versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden und zog sich unter
Ginny hervor. Doch es war nutzlos. Es gab zu viele von ihnen und
das Boot konnte das Gewicht nicht verkraften. Es neigte sich zur
Seite und begann zu kippen.
Harry und Ginny versuchten, ihre Körper auf die andere Seite zu
drücken, doch es war hoffnungslos. Die Inferi zogen weiter, bis das
Boot umkippte und Harry und Ginny ins schwarze Wasser warf.
Harry trat mit aller Kraft, um seinen Körper zurück zur Oberfläche
zu bringen. Er hielt das Medaillon so fest in der Hand gepackt,
dass es einen Abdruck auf seiner Haut hinterließ. Das Wasser fühlte
sich schleimig und lebendig an. Harry wollte nicht einmal daran
denken, was noch in seinen Tiefen lauerte. Er keuchte, als er nach
dem umgedrehten Boot langte.
Eine Hand schloss sich im kalten Wasser um seinen Fuß und zog ihn
nach unten. Er trat um sich, versuchte, sich loszureißen. Er konnte
Ginny in seiner Nähe strampeln sehen.
»Ginny!«, keuchte er, als ihr Kopf unterging. Er streckte seine
Hand aus und ergriff sie beim Arm. Er zog mit all seiner Kraft. Als
sie wieder auftauchte, zerrte er sie von dem Inferi weg und schob
sie zum Boot.
»Warte.«, sagte er und half ihr, auf den gekenterten Bootsbauch zu
klettern. Die Inferi versuchten noch immer, ihn unter Wasser zu
ziehen, doch er wehrte sich beharrlich. Als ihm ein Inferius
schließlich nahe genug war, schlang Harry der Kreatur die Kette des
Medaillons um den Hals.
Der Inferius warf den Kopf zurück, krümmte sich in einem lautlosen
Schrei und wand seinen Körper, als wäre er von Schmerzen erfüllt.
Das Amulett glühte in einem unheimlichen Rot, der an Voldemorts
Augen erinnerte. Als der Inferius unter Wasser sank, zielte Harry
mit seinem Zauberstab auf das Medaillon.
»Apertum.«, rief er. Das Medaillon sprang auf. Plötzlich zerriss
ein unterirdisches Kreischen die Luft, während das Innere des
Medaillons in einem Gewitter von Farben und Licht explodierte.
Harry spürte eine Hitzewelle auf sich einstürmen. Er warf sich über
Ginny, fühlte, wie die knisternde Hitze seinen Rücken
versengte.
Für einen Moment bewegte sich keiner von ihnen. Sie klammerten sich
an den Boden des umgekippten Boots, keuchend und auf den nächsten
Schlag wartend.
Harry Rücken fühlte sich an, als hätte er zu viel Zeit in der Sonne
verbracht, war jedoch sonst unversehrt. Er rückte von Ginny
herunter und hob vorsichtig den Kopf. Ein ernüchternder Anblick
traf seine Augen: Überall lagen Körper verstreut. Sie waren über
der Felseninsel ausgebreitet und trieben ziellos im Wasser. Genau
das waren sie – Körper. Kein Zeichen von Leben war geblieben.
»Was ist passiert?«, flüsterte Ginny schreckerfüllt. Sie rückte
näher zu Harry und vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter, so dass
sie den grotesken Anblick nicht mehr ertragen musste.
»Ich weiß es nicht.«, wisperte Harry verblüfft zurück. »Ich glaube,
der Splitter von Voldemorts Seele hat auf den kalten Tod der Inferi
reagiert. Ich habe es bemerkt, als einer von ihnen das Medaillon
berührt hat. Voldemort hat eine ungewöhnlich starke Angst vor dem
Tod.«
»Was machen wir jetzt? Wir müssen zurück zum Ufer, aber ich bin
nicht sicher, ob wir das Boot wieder umkippen können – und ich will
wirklich nicht noch einmal ins Wasser plumpsen.«, sagte Ginny. Ihre
Stimme brach leicht.
Harry schauderte, seine vollgesogene Kleidung kam ihm auf einmal
sehr schwer und kalt vor.
Das Boot zuckte und begann plötzlich, über das Wasser zu gleiten,
in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Harry und Ginny
klammerten sich am Boden fest. Ihre Finger schmerzten, während sie
versuchten, sich so weit wie möglich aus dem Wasser zu winden. Sie
trafen viele treibende Körper, wodurch das Boot schaukelte und
kippte. Ginny verbarg ihr Gesicht an Harrys Brust und hielt sich an
ihm fest, während er sie eng an sich drückte und seinen Blick fest
auf das Wasser gerichtet hielt. Die Dunkelheit und Stille am Ufer,
an dem sie Ron und Hermine zurückgelassen hatten, versetzte Harrys
Herz angsterfüllte Stiche. Er flehte innerlich, dass seine Freunde
es geschafft hatten, einige Todesser in ihre Gewalt zu bringen, und
gleichzeitig den Inferi entkommen waren.
Das Boot legte ein gutes Tempo vor, doch es kam Harry qualvoll
langsam vor, dessen einziger Gedanke war, zum Ufer zu gelangen und
seinen Freunden zu Hilfe zu kommen. Er strengte die Augen an, um zu
erkennen, was vor sich ging. Doch es war nutzlos. Die Dunkelheit
war undurchdringlich.
Als sie das Ufer des Sees erreichten, glitt Harry vom Boot ins
knietiefe Wasser und hob Ginny aufs Ufer. Sie nahmen sich bei den
Händen und rannten zum Durchgang.
Als sie näher kamen, verlangsamten sie ihre Schritte und duckten
sich, um nicht gesehen zu werden. Mehrere Leichen waren auf dem
Strand ausgebreitet und Harry glaubte, die regungslose Gestalt von
Crabbe halb im Wasser liegen zu sehen.
Ein quäkendes Geräusch zog Harrys Aufmerksamkeit auf sich. Er eilte
hastig zum nun versiegelten Durchgang. Ron ragte über Wurmschwanz
empor, der sich gegen den Stein drückte, die Hände flehendlich
ausgestreckt. Der Ärmel von Rons Jacke war blutbefleckt und
zerrissen. Sein Gesicht zeigte solch eine Wut, dass es Harry
überraschte, Wurmschwanz noch immer am Leben zu sehen.
Hermine kniete neben Wurmschwanz und versicherte sich, dass seine
Hände fest mit Seilen gefesselt waren. Sie erschien ebenfalls übel
zugerichtet, doch sie trug einen harten Ausdruck im Gesicht.
»Ron! Hermine!«, rief Harry. Erleichterung durchflutete ihn.
»Oh! Euch geht es gut.«, schrie Hermine. Sie sprang auf und schlang
Harry die Arme um den Hals. Dann bedachte sie Ginny mit derselben
Behandlung. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Wir konnten nicht
sehen, was mit euch passiert ist.«
»Die Inferi sind passiert.«, sagte Harry grimmig.
»Ja. Nachdem ihr aufgebrochen seid, sind Crabbe und ein paar andere
seiner Schlägertypen durch den Durchgang geplatzt.«, erwiderte Ron.
Er hielt seine Augen auf Wurmschwanz gerichtet. »Glücklichweise hat
er sich wieder verschlossen, als erst ein paar von ihnen
eingetreten sind. Wurmschwanz hier hat versucht, dem Kampf
auszuweichen und ist direkt in den See gelatscht, was die Inferi
auf den Plan gerufen hat. Er ist weggerannt, aber seine Kumpel
hatten nicht so viel Glück.«
»Es war schrecklich.«, übernahm Hermine das Wort. Ihre Lippen
zitterten. »Diese Dinger haben die anderen beiden Männer
einfach unter Wasser gezogen. Ron und ich haben uns hinter den
Felsen versteckt, aber sie standen direkt am Ufer.«
»Wie dachten schon, unser letztes Stündlein hätte geschlagen, als
wir ganz plötzlich diese Explosion über dem Wasser gesehen haben.
Dann sind sie einfach alle zusammengebrochen. Was ist geschehen?«,
fragte Ron.
»Ich habe den Horkrux zerstört und das hat die Inferi beseitigt.
Sie waren auf irgendeine Weise damit verbunden, wie der Drachen mit
dem Becher. Da frag ich mich, ob der Basilisk in der Kammer des
Schreckens auch gestorben wäre, wenn ich das Tagebuch einfach
zuerst zerstört hätte.«, berichtete Harry, achselzuckend.
»Wir haben Wurmschwanz dabei erwischt, wie er den Durchgang wieder
öffnen wollte. Deshalb hat Hermine das Seil heraufbeschworen. Ich
würde sagen, wir bringen ihn zum Vollmond ins Hauptquartier zurück
und lassen Remus freie Hand.«, schlug Ron vor.
»Wir haben noch ein Problem.«, schaltete sich Hermine ein. »Es sind
immer noch Todesser draußen und ich bin sicher, sie warten auf
uns.«
»Können wir von hier apparieren?«, fragte Ginny.
Harry schüttelte den Kopf. »Versuch es nicht einmal. Ich bin
sicher, Voldemort hat daran gedacht und nicht gewollt, dass ein
Opfer vor den Inferi flüchten kann. Es würde entweder gar nicht
funktionieren oder man zersplintert sich nur fürchterlich.«
»Toll. Vielleicht könnten wir ihn als Geisel benutzen.«, schlug Ron
vor und nickte in Richtung Wurmschwanz.
»Das würde sie keinen Dreck scheren.«, entgegnete Harry. Er
schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns durchkämpfen. Wir brauchen nur
die Öffnung der Höhle erreichen und zu den Felsen zurückkehren. Von
dort aus können wir apparieren. Das habe ich auch mit Professor
Dumbledore getan.«
»Dorthin zu kommen ist der schwere Teil.« Ginny holte mehrmals tief
Luft, als wappnete sie sich gegen das, was ihnen bevorstand.
»Wir viele sind es?«, wollte Harry wissen. »Habt ihr es
gesehen?«
Hermine schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Gelegenheit zu
zählen, aber ich würde sagen, vielleicht ein halbes Dutzend.« Sie
knabberte auf ihrer Lippe herum, während sie Harry ansah. »Harry,
da ist noch etwas.«
»Und was?«, fragte Harry, wissend, dass ihm die Antwort keinesfalls
gefallen würde.
»Snape hat sie angeführt.«, spie Ron.
Harry kniff seinen Mund zu einem dünnen Strich zusammen. Eine kalte
Wut ballte sein Herz zusammen, wann immer der Name seines
ehemaligen Zaubertränkeprofessors erwähnt wurde. Der Gedanke daran,
dass er nun hier war – genau auf der anderen Seite des Durchgangs –
erfüllte Harry mit dem brennenden Verlangen nach Rache.
»Harry.«, beschwichtigte Hermine mit erhobenen Armen. »Tu nichts
Unüberlegtes. Du hast den Horkrux zerstört, aber wir haben noch
einen vor uns. Wir müssen hier so schnell wie möglich raus. Es ist
der andere Horkrux, der von Bedeutung ist, nicht Professor
Snape.«
Harry rief sich die Nacht in Erinnerung, als er Snape über das
Hogwarts-Gelände gejagt hatte, wut- und zornentbrannt. Er hatte
nichts mehr gewollt als Snape das Leben zu nehmen, im Austausch für
das Leben, das ihm gerade entrissen worden war. Nichts hatte ihn
gekümmert, nicht die Prophezeiung, nicht Voldemort, nichts. Er
hatte nur nach Rache gedürstet.
Nun, da einige Zeit vergangen war, spürte er noch immer die
brodelnde Wut über seinen ehemaligen Zaubertränkemeister. Doch er
war gefasst genug, sich darauf zu konzentrieren, dass er eine
Aufgabe zu erfüllen hatte. Dennoch, er hatte nicht die Absicht,
Snape fliehen zu lassen, wenn er es verhindern konnte.
»Ich werde nichts Unüberlegtes tun, Hermine.«, versicherte Harry.
Seine Stimme war ruhig. »Aber wenn ich ihn kriegen kann, dann werde
ich es tun.«
»Vergesst Snape erst mal.«, keifte Ginny. Sie packte seinen Arm und
drehte ihn zu sich um. »Wir haben keine Garantie, dass Voldemort
inzwischen nicht auch dort draußen lauert.«
Harrys Augen weiteten sich. Ginny hatte Recht. Der Grund dafür,
dass Voldemort Wurmschwanz, Crabbe und den anderen diesen Auftrag
erteilt hatte, war, weil sie nicht schlau genug waren, um Fragen zu
stellen. Warum war Snape dann hier? Voldemort würde sich mit jedem
persönlich befassen wollen, der sich in die Nähe seiner Horkruxe
gewagt hatte.
Aber ganz abgesehen davon, daß noch ein Horkrux fehlte, fühlte
Harry sich noch nicht bereit, Voldemort gegenüberzutreten. Er hatte
geglaubt, dass er noch mehr Zeit hätte – Zeit zu planen und
Strategien zu entwickeln und seine Angelegenheiten in Ordnung zu
bringen – Zeit sich zu verabschieden.
»Ginny hat Recht.«, bemerkte Hermine, die Augen weit aufgerissen.
»Harry, was ist, wenn Voldemort dort draußen ist?«
»Habt ihr ihn gesehen, bevor der Durchgang sich geschlossen hat?«,
erkundigte sic Harry. Sein Blick glitt über die feste Mauer, die
diesen verbarg.
»Ich weiß es nicht.«, antwortete Ron, allmählich in Panik
verfallend. »Ich war auf Snape fokussiert. Ich habe nicht auf die
anderen geachtet.«
Harry schüttelte den Kopf. »Wenn Voldemort da wäre, hättet ihr es
mitbekommen. Er ist nicht zu übersehen.«, sagte er grimmig.
»Das heißt aber nicht, dass er nicht inzwischen gekommen sein
könnte.«, entgegnete Hermine.
»Wir werden es so machen. Wenn ich den Durchgang öffne, stellt ihr
euch alle außerhalb der Schussbahn, für den Fall, dass sie zuerst
Flüche losfeuern. Falls sie das tun, haben wir hier zumindest eine
bessere Deckung. Falls nicht, müssen wir zusammenbleiben und so
schnell wie möglich rauskommen. Sobald ihr außerhalb des Bereichs
um die Höhle herum seid, appariert ins Hauptquartier. Ich nehme
Wurmschwanz mit mir.«, wies Harry an.
Wurmschwanz schaute ihn angsterfüllt an. »Harry, was willst du mit
mir? Du weißt, wie es enden muss. Ihr werdet beide sterben.« Seine
Stimme troff vor falschem Kummer.
»Nicht bevor ich bereit bin.«, widersprach Harry, »und du wirst
mein Schild sein, während ich durch diese Tür marschiere.«
»Was?!« Wurmschwanz' Gesicht erbleichte.
»Was ist los, Wurmschwanz? Hast du etwa Angst, dass deine neuen
Freunde dich opfern könnten? Dann hättest du dich an deine alten
halten sollen. Sie hätten dich niemals verraten.«, stieß Harry
hervor und riss Wurmschwanz grob auf die Füße.
Rasch führte er einen Schweigezauber aus, sodass Wurmschwanz sie
nicht verraten konnte. Er machte gerade Anstalten, seinen Arm
aufzuschlitzen, um den Durchgang zu öffnen, als Ron ihn
aufhielt.
»Harry, nicht! Crabbe hat mich mit einem Schlitzfluch erwischt.
Mein Arm blutet immer noch. Ich werde es tun.«
Harry nickte. Wurmschwanz zur Seite ziehend, beobachtete er, wie
Ron sein Blut auf dem Stein verrieb. Das weiße Licht, das den
Durchgang begleitete, schimmerte einen Moment, bevor es völlig
aufleuchtete. Das feste Gestein gab erneut nach und ließ eine
Öffnung zum Vorschein kommen.
Sie wurden nicht sofort angegriffen, obwohl Harry Stimmen streiten
hören konnte. Er wurde aufgeschreckt, als Wasser durch den nun
geöffneten Durchgang strömte. Der Wasserspiegel war am Ansteigen
und der Boden der äußeren Höhle war bereits überflutet.
Wurmschwanz vor sich herschiebend und seinen Zauberstab fest
umklammert, schritt Harry hinaus. Das Mondlicht draußen beleuchtete
die Vorderseite der Höhle, wo Snape mit mindestens vier anderen
Todessern stand. Die Rückseite der Höhle war dunkler und gestattete
Harry und den anderen, im Schatten verborgen zu bleiben.
Unmaskiert stritt Snape verächtlich mit einem weiteren Todesser.
Obwohl die kleinere Gestalt unter einer Maske verborgen war, war
die Stimme von Bellatrix Lestrange unverwechselbar.
Harry spürte eine brodelnde Wut in seinem Herzen aufsteigen. Das
war seine Gelegenheit, endlich gegen die beiden Menschen zu
kämpfen, die ihm jemand Teures beraubt hatten. Er umklammerte
seinen Zauberstab so fest, dass seine Handknöchel weiß
hervortraten. Er holte tief Luft und versuchte, ruhig zu bleiben.
Obwohl die Wut geblieben war, wusste er, dass er sich diesmal hüten
musste. Er musste es planen. Er durfte sich nicht einfach von
seinen Gefühlen mitreißen lassen, sonst wäre alle Hoffnung
verloren.
Harry bewegte sich ins Innere der Höhle, Wurmschwanz mit seinem
Zauberstab vor sich herschiebend. Der Boden war feucht und
glitschig, während Bäche von Wasser über seine Füße strömten,
getrieben von der hereindringenden Flut. Er konnte spüren, wie das
Wasser schnell durch seine Turnschuhe sickerte, und hoffte, dass
die Geräusche sie nicht verrieten. Er wollte es nicht riskieren,
einen Trocknungszauber auszusprechen.
Es gab keine Möglichkeit, unbemerkt an Snape und den anderen
vorbeizukommen, doch Harry hoffte, dass der Überraschungseffekt auf
ihrer Seite stehen würde.
Wurmschwanz ruinierte diese Chance, indem er mit dem Fuß
aufstampfte, worauf ein lautes Platschen durch die Kammer schallte.
Die Todesser wirbelten herum, überrascht, bevor sie begannen, einen
Hagel von Flüchen abzufeuern.
Harry riss Wurmschwanz vor sich und rammte ihn gegen die Wand. Er
zielte mit seinem Zauberstab auf den nächsten Todesser, der mit
einem unheilverkündenden Ausdruck auf dem eingefallenen Gesicht auf
ihn zugestürmt kam, und schoss ihm einen Brennfluch direkt in die
Augen. Der Todesser brüllte auf und schlug sich eine Hand über sein
Auge, während er wie verrückt umhersprang. Hastig belegte Harry ihn
mit einem Lähmfluch, worauf er zu Boden sank.
Harry ließ seinen Blick durch die Höhle schweifen, um nach einem
Fluchtweg zu suchen. Er zählte nun insgesamt fünf Todesser,
einschließlich desjenigen, den er gerade gelähmt hatte. Ginny und
Hermine waren jeweils mit anderen Todessern beschäftigt. Von dem,
was Harry sehen konnte, leisteten sie gute Arbeit. Seine Augen
verharrten regungslos, als sie auf Snapes kalten schwarzen Blick
trafen.
Snape funkelte ihn finster an, während er mit flatterndem Umhang in
die Höhle rauschte. »Potter.«, sagte er höhnisch. »Ich hätte wissen
müssen, dass du es bist. Du hast schon immer dazu geneigt, deine
Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen.«
»Und ich hätte wissen müssen, dass du es bist, der Voldemorts
Dreckarbeit verrichtet. Wie fühlt es sich an, noch immer der Lakai
zu sein, Snivellus?«, fragte Harry mit knirschenden Zähnen.
Snapes Gesicht verzerrte sich vor Hass und blanker Wut. Er hob den
Zauberstab und feuerte in rascher Abfolge mehrere Flüche ab. Dank
seiner schnellen Quidditch-Reflexe gelang es Harry, den meisten
auszuweichen, und er zog rechtzeitig einen Schild hoch, um den
letzten zu blocken. Wurmschwanz versuchte, während dieser Ablenkung
von ihm wegzukriechen, doch Harrys Arm schoss vor und zwang den
kleinen Mann gegen die Höhlenwand.
»Petrificus Totalis.«, knurrte Harry und Wurmschwanz erstarrte auf
der Stelle.
»Es scheint, dass dir immer noch eine Lektion dafür erteilt werden
muss, dass du in anderer Leute Privatangelegenheiten
herumschnüffelst, Potter.« Snapes Augen blitzten boshaft. »Du bist
nicht besser. als dein erbärmlicher Feigling von einem Vater. Er
hat es ebenfalls nie gelernt, auf welchen Platz er gehört.
Natürlich wissen wir alle, wohin ihn das gebracht hat.«
Knurrend ließ Harry seinen Hass aufschäumen, während er den
stärksten Knüppelfluch abfeuerte, zu dem er fähig war. Snape duckte
sich und rollte zur Seite, doch der Fluch traf einen anderen
Todesser, der gerade hinter ihm die Höhle betreten hatte. Der Mann
schrie vor Schmerz, sein Körper wurde durch die Luft geschleudert
und fiel in die See unter ihm.
Die Unterbrechung ignorierend, versuchte Harry abermals, Snape zu
verhexen. Er schoss einen Lähmfluch und dann einen Schlitzfluch ab,
als sein Zorn wuchs. Snape fuhr fort, Harrys Angriffen
auszuweichen. Mit Leichtigkeit ahnte er jede von Harrys Bewegungen
voraus.
»Sectumsempra.«, bellte Harry. Doch wieder zog Snape rechtzeitig
einen Schild hoch.
»Du wirst es nie mit mir aufnehmen können, bevor du nicht lernst,
deinen Geist zu verschließen, Potter. Offensichtlich bist du nicht
diszipliniert genug dazu.«, höhnte Snape. »Diffindo.«
Harry rollte sich zur Seite. Seine Frustration wuchs beständig, als
seine Flüche immer wieder abgeblockt wurden. Er hörte einen Schrei
und sah, wie Ginny ihren Federwichtfluch an dem Todesser ausübte,
der sie in die Enge getrieben hatte. In diesem kurzen Moment der
Ablenkung versetzte Snape Harrys Schulter mit einem Fluch einen
tiefen Schnitt. Es fühlte sich wie eine unsichtbare Peitsche an,
die sich um seinen Arm wickelte und seine Zauberstabhand nach vorn
riss.
Hastig wechselte Harry seinen Zauberstab in die andere Hand und
duckte sich hinter einen Felsen. Vor Anstrengung keuchend konnte er
das Zischen von Flüchen um sich herum hören und wusste, dass die
anderen noch auf den Beinen waren.
Er umrundete den Felsen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Snape
sich auf ihn zu bewegte.
»Relashio.«, rief er, worauf ein Schauer von Funken auf Snape
zusprühte und ihn zum Rückzug zwang. Harry verfeuerte Fluch auf
Fluch, während er sich langsam vorbewegte. Snape blockte seine
Angriffe, sah sich jedoch gezwungen, selbst in Deckung zu
gehen.
In der Zwischenzeit war es Hermine gelungen, ihren Angreifer zu
besiegen. Sie rannte zu Harry und kauerte sich neben ihn. Sie legte
einen Heilzauber auf seine Schulter.
»Hermine, schnapp dir Wurmschwanz. Der Durchgang ist groß genug, um
dich durchzulassen, wenn ich Snape beschäftige.«, raunte Harry.
»Harry – .«
»Tu es einfach, Hermine.«, blaffte er, entschlossen, Wurmschwanz
mitzunehmen. »Sirius wird dann endlich von dem freigesprochen
werden, das Wurmschwanz verbrochen hat. Also hilf mir.«
»Okay, Harry.«, sagte sie. Sie nickte entschlossen.
Sie hob den Zauber von Wurmschwanz auf und ließ ihn mit ihrem
Zauberstab vor sich laufen. Snape hatte jedoch keine Hemmungen, auf
Wurmschwanz zu feuern, und lähmte ihn, bevor er auf Hermine
zielte.
»Stupor.«, brüllte Harry, um Snapes Aufmerksamkeit auf sich zu
lenken.
»Spielst wohl immer den Helden, was, Potter? Du bist genauso
arrogant wie dein Vater und du wirst nicht umhinkommen, das selbe
Schicksal zu erleiden.«, sagte Snape. In seinen schwarzen Augen
spiegelte sich die Verachtung wider, während er sich Harry
näherte.
»Du bist nicht einmal halb so Mann wie mein Vater und wirst es auch
niemals sein. Daher kommt all deine Bitterkeit, nicht wahr, Snape?
Du weißt, dass du ihm nie das Wasser reichen wirst. Du hast ein
wenig Minderwertigkeitsprobleme, glaube ich.«, provozierte Harry.
Es befriedigte ihn, den Anflug von Ärger auf Snapes Gesicht zu
sehen.
»Sectumsempra.«, zischte dieser. Die Intensität von Flüchen, die
Snape auf Harry losschickte, verstärkte sich, und Harry wusste,
dass er einen empfindlichen Nerv getroffen hatte.
»Deine Unfähigkeit, deinen Geist zu verschließen, wird dein
Verderben sein. Deine Frustration lässt dich schlampig werden und
der Dunkle Lord wird leichtes Spiel mit dir haben.«, höhnte Snape.
Harry war sich bewusst, dass Snape die Vorfreude auf die
Endkonfrontation genoss.
»Ich weiß nicht.«, erwiderte Harry keuchend. »Er hat sich
sicherlich Mühe gegeben, aber bisher nicht viel Glück gehabt.«
»Verwechsle nicht dein ungeheures Glück mit Fähigkeit oder
Talent.«, spie Snape.
»Dumbledore hat dir alles gegeben. Er gab dir eine Chance und
glaubte an dich, als kein anderer dich auch nur als der Mühe wert
betrachtet hat. Und du hast ihn verraten.« Harry sandte einen Fluch
in Snapes Richtung.
Snape blockte ihn. »Ich habe ihm die besten Jahre meines Lebens
geopfert.«, blaffte er. »Er hat meine Talente verschwendet, indem
er mich darauf angesetzt hat, auf einen Haufen plärrender Idioten
aufzupassen. Ich hätte so viel mehr sein sollen. Ich war der
Held des ersten Krieges, aber du hast all den Ruhm
eingeheimst. Und dann wurde von mir erwartet, dich zu beschützen.
Den Auserwählten! Wenn du die einzige Hoffnung der Zaubererwelt
bist, Potter, war es nicht schwer zu erkennen, welche Seite
gewinnen wird. Es ist keiner mehr übrig, der dich beschützen
kann.«
Außer sich vor Wut und Frustration schoss Harry eine Folge von
Flüchen auf den näher kommenden Snape ab. Doch der war ihm stets
einen Schritt voraus, konnte Harrys Gedanken lesen und seine
Gegenangriffe planen.
Harry taumelte und stürzte zu Boden. Während Snape auf ihn zukam,
war sein Gesicht in unbändiger Abscheu verzerrt. Für Harry stand
fest, dass Snape ihn demütigen und leiden lassen würde für das, was
er war. Doch Harry sah gleichzeitig seinen Vorteil. Snape würde
nichts unternehmen, das ihm ernsthaft schaden würde – er befolgte
immer noch Voldemorts Befehle.
»Das stimmt, Potter. Der Dunkle Lord beansprucht das Vergnügen,
dich zu töten, für sich selbst, aber das heißt nicht, dass es ihm
etwas ausmachen wird, wenn ich vorher etwas mit dir spiele.«,
antwortete Snape Harrys stummen Gedanken. »Das ist schließlich, wie
dein lieber toter Vater es zu handhaben pflegte. Er hat nie ohne
seine kleine Gang gekämpft, die ihm den Rücken stärkte und die
schmutzige Arbeit für ihn erledigte. Nicht ein einziges Mal ist er
mir in einem fairen Kampf gegenübergetreten. Oh nein, er war viel
zu feige dafür.«
Harry hatte genug gehört. Er hatte sich zwischen Drangsalen
durchkämpfen müssen, bevor er überhaupt den Gebrauch eines
Zauberstabs erlernt hatte. In einer geschmeidigen Bewegung sprang
er auf die Füße, stürzte sich nach vorne und versetzte dem Kiefer
seines ehemaligen Zaubertränkemeisters einen harten rechten Haken.
Er spürte, wie mehrere Zähne von Snape locker wurden.
Die Überraschung auf Snapes Gesicht kaum wahrnehmend, ließ Harry
seine Fäuste fliegen. Snape mochte selbst als Halbblut geboren
sein, doch er hatte offensichtlich seine Muggel-Wurzeln vergessen,
da er unvorbereitet auf den körperlichen Angriff war. Harry hatte
sechs Jahre Beleidigungen und Missbrauch durch diesen Mannes
unterdrückt und nun hatte er einen Auslass seiner aufgestauten
Wut.
Blut spritzte aus Snapes aufgeplatzter Lippe, während er gegen die
Wand stürzte.
»Nicht so flink, wenn es um Muggel-Duelle geht, was, Snape?«,
schnauzte Harry. »Du bist wohl nicht so wortgewandt, wenn deine
Schüler sich tatsächlich wehren können.«
Harry wurde unterbrochen, als ein gellender Schrei die ruhige Luft
zerriss. Er wandte rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie Bellatrix
Lestrange einen zuckenden Ron unter dem Cruciatus-Fluch hielt. Rons
Schreie klärten den von Wut angefachten Nebel aus Harrys Gehirn. Er
entfernte sich von Snape und zielte mit seinem Zauberstab auf
Lestrange. Sie schaffte es, mehreren Flüchen auszuweichen, während
sie Ron die ganze Zeit unter dem stechenden Schmerz ihres Zaubers
hielt.
Hermine kehrte von der Öffnung der Höhle um und machte Anstalten,
zu Ron zu eilen.
»Nein!«, brüllte Harry. »Geh, solange du noch kannst.«
Ginny, die zu Hermine gestoßen war, packte sie fest am Arm und zog
sie weiter. Sie stieß einen immer noch gelähmten Wurmschwanz ins
Wasser und sprang ihm nach, Hermine immer noch umklammernd.
Harry zielte mit seinem Zauberstab und steckte all seine Kraft in
einen Lähmfluch. Das rote Licht traf Bellatrix mitten in die Brust
und sie brach zusammen.
Harry ließ einen bewusstlosen Ron auf die Öffnung zu schweben. Dort
hob er den Zauber auf und sah zu, wie sein Freund in das kalte
Wasser unter ihnen plumpste.
Snape regte sich und aus dem Augenwinkel sah Harry, wie er nach
seinem Zauberstab langte. Fluchend trat Harry hart nach seiner
Hand, so dass der Zauberstab wegsegelte. Es verlangte ihn
sehnlichst danach, Snape ebenfalls zu fassen, doch es kümmerte ihn
mehr, dass Ron in seiner Bewusstlosigkeit ertrinken könnte. Harry
sprang über Snape hinüber, während der Mann seinen Zauberstab zu
erreichen versuchte. Mit einem Anlauf tauchte er ins eisige Wasser.
Er spürte, wie sein ganzer Atem seine Lungen mit dem Kälteschock
verließ.
Schnell schwamm er an die Wasseroberfläche und suchte wie
wahnsinnig nach Ron. Der Rotschopf lag mit dem Gesicht nach unten
im Wasser. Harry packte ihn an der Schulter und zog mit aller
Kraft, bis sie die Felsen erreicht hatten. Er sah Snape aus der
Höhle hervortreten – das Gesicht zerschrammt und blutig, doch immer
noch fahl vor Wut – einen Moment, bevor er mit Ron Seit-an-Seit
apparierte.
Er tauchte vorm Grimmauldplatz auf, wo er Remus und Mr. Weasley
hinter Ginny die Treppe heruntereilen sah. Hermine hielt ihren
Zauberstab fest auf den immer noch gelähmten Wurmschwanz
gerichtet.
»Ron!«, schrie sie. Sie ließ ihren Zauberstab fallen und stürzte
auf sie zu.
Sanft ließ Harry Ron zu Boden gleiten, panisch und vollkommen außer
Atem. Ron hatte sehr lange Zeit unter dem Cruciatus-Fluch
gestanden. Er schüttelte den Kopf, versuchte, die Bilder von
Nevilles Eltern abzuwerfen, die sich in seine Gedanken
drängten.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Mr. Weasley. Er fiel neben
seinem Sohn auf die Knie und zielte mit seinem Zauberstab auf Rons
Schläfe. »Ennervate.«
Ron regte sich nicht.
»Bellatrix Lestrange hat ihn mit dem Cruciatus belegt. Er hat das
Bewusstsein verloren, bevor ich sie von ihm weglenken konnte.«,
erwiderte Harry. Seine Stimme brach.
»Ginny, geh rein und sorg dafür, dass man Madam Pomfrey Bescheid
gibt. Weck nicht deine Mutter, wenn es sich vermeiden lässt. Ich
werde sie selbst davon unterrichten.«, wies Mr. Weasley an.
Ginny, bleich und die Augen weit aufgerissen, nickte und sprintete
hinein.
»Ron, wach auf.«, wimmerte Hermine. Ihre Tränen hinterließen helle
Streifen auf ihrem schmutzverschmierten Gesicht. »Hörst du mich,
Ron? Du musst durchhalten.«
Mr. Weasley tätschelte Hermine den Rücken. »Rück einen Moment zur
Seite, Hermine. Dann kann ich ihn hineinbringen.«
Harry half Mr. Weasley, Rons bewusstlosen Körper hochzuheben, doch
es erwies sich als unnötig. Mr. Weasley ließ Ron sanft ins Haus
schweben. Hermine blieb an derselben Stelle hocken und starrte wie
betäubt auf den Boden, wo Ron gerade noch gelegen hatte.
Harry schlang seinen Arm um sie und zog sie auf die Füße. »Komm,
Hermine. Er wird wieder gesund.«, flüsterte er in ihr Haar. Die
Farbe und Struktur ihrer Perücke überraschte ihn bisweilen noch
immer.
Hermine drehte sich um und vergrub ihr Gesicht in Harrys Brust. »Er
muss, Harry. Ich habe es nicht kommen sehen. Ich war so darauf
konzentriert, Wurmschwanz nach draußen zu bringen.«
»Ihr habt ihn gefangen.«, erhob Remus das erste Mal die Stimme.
Seine Stimme trug einen stumpfen, hohlen Klang, der die Haare auf
Harrys Unterarmen zu Berge stehen ließ.
Remus stand bewegungslos über seinem einstigen Freund. Eine
Mischung aus Verachtung, Zorn und Abscheu zeigte sich auf seinem
Gesicht. Mit dem Fuß wendete er die bewusstlose Gestalt auf den
Rücken und starrte sie weiter an.
»Was machen wir mit ihm?«, fragte Harry nervös. Remus' Verhalten
beruhigte ihm. Er war sich nicht sicher, wozu sich sein ehemaliger
Professor hinreißen lassen könnte.
»Bring Hermine rein und schau nach Ron. Ich werde ein Auge auf ihn
halten, bis wir dafür sorgen können, dass jemand ihn ins
Ministerium bringt. Ich bin da nicht gerade willkommen.«, sagte
Remus. Die Bitterkeit, die er üblicherweise so erfolgreich verbarg,
schwang deutlich in seiner Stimme mit.
»Remus.«, sagte Harry, zwischen dem alten Freund seines Vaters und
der Haustür hin und her blickend. Ihm wurde die Entscheidung
zwischen Remus und Ron abgenommen, als Mad-Eye Moody auf sie zu
humpelte.
»Gute Arbeit, Junge.«, sagte er schroff.
»Hier ist Peter Pettigrew.«, wies Harry hin. »Er muss in Haft
genommen werden, um Sirius' Unschuld ein für alle Mal zu
beweisen.«
Obwohl Fudge zugegeben hatte, dass Sirius unschuldig war, hatte er
niemals eine öffentliche Bekanntgabe zum Irrtum des Ministeriums
gemacht. Alles war unter den Teppich gekehrt worden, als die
Neuigkeit ans Licht gekommen war, dass Voldemort in der Tat
zurückgekehrt war.
Sirius hatte Besseres verdient.
»Ich muss nach Ron sehen.«, schniefte Hermine. Sie zog an Harrys
Arm, um ihn ins Haus zu bringen.
»Geht schon. Madam Pomfrey ist jetzt bei Ron. Es wird mir eine
Freude sein, auf ihn aufzupassen.«, versicherte Moody und
packte Wurmschwanz grob am Kragen.
Im Inneren des Hauptquartiers fanden Harry und Hermine Ginny vor
einer geschlossenen Tür der Eingangshalle auf und ab laufend. Sie
rannte auf sie zu und warf die Arme um sie beide. Harry konnte ihr
Zittern spüren und umarmte sie fest.
»Wie geht es ihm?«, erkundigte sich Hermine.
»Ich weiß es nicht. Madam Pomfrey untersucht ihn gerade, aber sie
hat Dad und mich aus dem Zimmer geworfen. Dad ist nach oben
gegangen, um Mum zu holen.«, berichtete Ginny.
»Alastor hat Peter ins Ministerium gebracht.«, erklang Remus' leise
Stimme, während er hinter ihnen den Raum betrat. Harry fand, dass
er älter denn je aussah. »Wie geht es Ron?«
»Das wissen wir noch nicht.«, antwortete Ginny und rückte näher zu
Harry.
»Kommt und setzt euch wenigstens.« Remus führte Harry zu einigen
Sesseln. Harry ließ seine Arme um beide Mädchen geschlungen,
während er sie von der Tür wegführte. Sie hatten sich gerade
niedergelassen, als Mrs. Weasley die Treppe herabstürmte, gefolgt
von Mr. Weasley.
Mr. Weasley führte sie zu der geschlossenen Tür und die beiden
schlüpften hinein. Hermine stand auf, als wolle sie ihnen folgen.
Doch stattdessen rang sie ihre Hände und setzte sich wieder. Ginny
langte über Harry hinüber und drückte Hermines Hand.
Hermine wandte dem jüngeren Mädchen ihren tränenverschleierten
Blick zu und lächelte zittrig. Sie holte tief Luft und Harry
spürte, wie sie sich neben seinem Arm entspannte.
»Er kommt wieder in Ordnung.«, flüsterte Ginny. »Er muss. Er ist
Ron.«
Sie warteten einige Augenblicke in Schweigen, die Luft war mit
Spannung erfüllt. Remus saß in einem Sessel ihnen gegenüber. Seine
Augen musterten jeden von ihnen.
»Habt ihr es zerstört?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.
»Ja.« Harry nickte. »Wir haben es geschafft. Wir wurden aber
angegriffen ... von Snape und ein paar anderen.«
»Severus war dort?«, stieß Remus hervor. Sein Blick schnellte
empor.
»Ja. Es war aber eigenartig. Crabbe hat offensichtlich Verstärkung
bestellt, als er unsere Anwesenheit bemerkt hat, aber ich hätte
erwartet, dass Voldemort aufgetaucht wäre. Ich frage mich, warum er
es nicht getan hat.«, sagte Harry. Er spürte seine Unbehaglichkeit
zurückkehren.
»Das ist seltsam.«, stimmte Remus zu und rieb sich das Kinn. »Wir
hatten keine Meldung über Todesser-Aktivitäten an diesem Abend,
obwohl wir heutzutage ja nur noch selten etwas im Voraus erfahren.
Wie hat Severus reagiert, als er euch gesehen hat?«
»Hat viel gehöhnt, dann angefangen, mit Flüchen um sich zu
schleudern.«, antwortete Harry.
»Er hat versucht, euch zu verfluchen?« Hitze stieg in Remus'
Gesicht.
»Ja. Ich habe ihn auch versucht, zu verfluchen, habe mich aber
nicht besonders gut gemacht. Er kann in mir wie in einem Buch
lesen.«, antwortete Harry. Er ballte die Fäuste. Es verärgerte ihn
zutiefst, mit welcher Leichtigkeit Snape seine Bewegungen
voraussehen konnte. Wenn er sich noch nicht einmal gegen Snape
behaupten konnte, wie sollte er jemals Voldemort bekämpfen?
»Einen Schritt nach dem anderen, Harry.«, beschwichtigte Remus, als
hätte er seine Gedanken erraten.
»Ich beherrsche keine Okklumentik, Remus. Wenn ich meinen Geist
nicht verschließen kann, werden sie beide immer wissen, welchen
Fluch ich als nächstes benutzen werde. Wie kann ich dagegen
ankommen?«, fragte Harry. »Selbst wenn ich versuchen würde, meine
Augen abzuschirmen, würde er mich immer noch abblocken.«
»Wie bist du dann weggekommen?«, erkundigte sich Remus milde.
»Glück.«, spie Harry verabscheut. »Ich war so frustriert, dass ich
durchgedreht bin und ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen habe.
Er hat es nicht erwartet und ich glaube nicht, dass er jemals
gelernt hat, auf die Muggel-Art zu kämpfen.«
»Also hast du nicht nachgedacht, sondern einfach reagiert.«, sagte
Remus, seine Schläfe reibend.
Harry zuckte die Achseln. »Ich denke schon.«
»Dann ist es das, was du gegen Voldemort benutzen musst, oder
nicht? Überraschungseffekt.«, meldete sich Hermine zu Wort. Ihre
Augen blieben auf die geschlossene Tür gerichtet, durch die Ron
verschwunden war. Doch sie hatte offenbar genau aufgepasst.
»Wie soll ich ihn überraschen, wenn er meine Gedanken lesen kann?«,
fragte Harry hilflos.
»Das hast du gerade mit Severus getan.«, erinnerte Remus.
»Also ... ihr sagt, ich muss gegen Voldemort ohne einen Plan
antreten. Oh, das ist einfach super. Wenigstens dauert es eine
Weile, Avada Kedavra zu sagen. Denn das ist genau die Zeit, die ich
durchhalten werde.«, stieß Harry hervor. Er warf sich zurück in die
Couch.
»Nein. Wir sagen, dass der Plan anpassungsfähig sein muss.«,
widersprach Hermine geduldig.
»Außerdem müssen wir immer noch die ande – .«, begann Ginny.
»Den nächsten Horkrux finden.«, fuhr Harry dazwischen. Er wollte
Remus nicht wissen lassen, dass nur einer verblieben war.
Ginnys Augen waren weit aufgerissen. »Richtig. Wir haben nicht
einmal einen Ort, an dem wir nach dem nächsten suchen können.«,
sagte sie mit bebender Stimme.
Remus' Augenbrauen hatten sich leicht gehoben, doch er schwieg.
»Das heißt nicht, dass wir nicht anfangen können, Pläne zu
schmieden.«, sagte Hermine, sofort in ihren Arbeitseifer
verfallend. Erinnerungen an ihre Vor-ZAG-Hysterie blitzte in Harrys
Geist auf. Sie wurden unterbrochen, als die Tür aufschwang und Mr.
und Mrs. Weasley heraustraten. Madam Pomfrey, die einen
bewusstlosen Ron herausschweben ließ, folgte ihnen auf den
Fersen.
»Wie geht es ihm?«, wollte Hermine wissen, während sie
hinüberstürzte und Rons schlaffe Hand in ihre nahm.
»Wir bringen ihn nach St. Mungos.«, schniefte Mrs. Weasley in ihr
Taschentuch.
Mr. Weasley legte ihr einen Arm um die Schultern. »Wir werden euch
Neuigkeiten zukommen lassen, sobald wir etwas wissen.«
»Ich will mitkommen.«, fuhr Hermine auf.
»Wir auch.«, fügte Ginny hinzu, während Harry nickte. Sie waren von
der Couch aufgesprungen und standen hinter Hermine. Alle drei
blickten mit einem flehenden Ausdruck in Mr. Weasleys Gesicht.
»Wir verschwenden Zeit.«, sagte Madam Pomfrey brüsk und befreite
Rons Hand aus Hermines Griff. »Er hat einige ernste Verletzungen,
die unverzügliche Behandlung erfordern. Mehr, als ich hier tun
kann. Lasst die Heiler ihre Arbeit tun und ihr könnt ihn hinterher
besuchen.«
Mit ihrem Zauberstab ließ sie Ron zur Eingangstür schweben, während
Mrs. Weasley ihr hinterher stürzte.
»Ich gebe euch mein Wort, dass wir euch holen, sobald wir etwas in
Erfahrung gebracht haben.«, versprach Mr. Weasley und sah jedem von
ihnen fest in die Augen. Dann richtete er seinen Blick auf
Remus.
Remus legte seine Hände auf Hermine und Ginnys Schulter. »Warum
mache ich uns nicht einen Tee, während wir warten?«, schlug er
ruhig vor. »Wir machen uns alle Sorgen, aber wir wollen doch keine
Störungen im St. Mungos verursachen. Wir wollen ihre Aufmerksamkeit
auf Ron konzentriert haben.«
Harry wusste, dass Remus Recht hatte. Harrys Erscheinen im St.
Mungos würde sicherlich einen Aufruhr hervorrufen – man siehe sich
nur an, was geschehen war, als er in der Winkelgasse aufgetaucht
war. Er beschloss, sich Remus anzuschließen, und zog die Mädchen an
den Händen.
»Kommt schon, Remus hat Recht. Wir können St. Mungos besuchen,
sobald sie Ron wachgekriegt haben.«, sagte er und führte die
Mädchen ins Zimmer, während Remus Tee zubereitete.
Die Nacht zog sich gnadenlos langsam dahin. Harry, Ginny und
Hermine saßen mit Remus in der Wohnstube und tranken Tee.
Gelegentlich dösten sie ein; die meiste Zeit starrten sie auf die
Uhr am Kamin, deren Ticken ungewöhnlich laut im stillen Haus
widerzuhallen schien. Gedankenversunken fragte Harry sich, was wohl
geschehen war, als Mad-Eye mit Wurmschwanz im Ministerium
angekommen war. Doch der Ex-Auror war noch nicht zurückgekehrt und
Harrys Gedanken drehten sich zu sehr um Ron, als dass er Remus
gebeten hätte, nachzusehen.
Remus hatte Hermine eine große, dampfende Tasse Tee gereicht. Harry
hatte den Verdacht, dass er es mit einem Beruhigungstrank versetzt
hatte, da Hermine sehr viel entspannter war, seitdem sie sie
ausgetrunken hatte. Sie hatte sich in ihrem Sessel zusammengerollt,
eine handgehäkelte Decke auf den Beinen, und starrte in die
flackernde Kerze vor ihr.
Remus saß neben ihr. Er hielt ein Buch in der Hand, das er noch
kein einziges Mal aufgeschlagen hatte. Er versuchte mehrmals, eine
Unterhaltung in Gang zu bringen. Nachdem er jedoch nur Grunzen und
einsilbige Antworten erhalten hatte, hatte er es schließlich
aufgegeben und war in angespanntes Schweigen versunken.
Harry und Ginny saßen Seite an Seite auf der Couch, die Hände fest
ineinander verschränkt. Ginny war blass, während sie ins Feuer
starrte und auf ihrer Lippe herumkaute. Harry bemühte sich
krampfhaft, nicht an die Möglichkeit zu denken, dass Ron bleibende
Schäden zurückbehielt, merkte aber selbst, dass er jämmerlich darin
versagte. Seine Hände zitterten, sodass seine Tasse gegen den
Untersatz klirrte, wenn er einen Schluck Tee nahm.
Er musste irgendwann eingedöst sein, denn er schreckte hoch, als
Mrs. Weasley die Stube betrat und versuchte, ihn von Ginny zu
lösen.
Benommen schob Ginny die Hände ihrer Mutter beiseite und vergrub
ihr Gesicht wieder in Harrys Pullover.
»Mrs. Weasley!«, rief Harry, plötzlich hellwach. .«Was ist
passiert? Wie geht es Ron?«
Ginny sprang ebenfalls mit weit aufgerissenen Augen auf, während
Hermine und Remus steif in ihren Sesseln saßen.
»Er hat noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt. Sie haben ihn in
die Station für Fluchschäden gelegt.«, antwortete Mrs. Weasley.
Sorgenfalten umrahmten ihre Augen und ihren Mund. »Ich habe Fred
bei ihm gelassen, während ich zurückgekommen bin, um euch Bescheid
zu geben. Ich will euch alle auf der Stelle im Bett haben. Keiner
von euch wird ins St. Mungos gehen, bevor ihr ein Nickerchen
gehalten habt. Ist euer Vater zurück?«
»Dad? Ich dachte, er wäre bei dir.«, sagte Ginny stirnrunzelnd.
»Das war er auch, bevor wir eine dringende Eule von Percy erhalten
hatten, dass er ins Ministerium kommen soll.«, antwortete Mrs.
Weasley.
»Setz dich, Molly.«, sagte Remus und führte sie zu dem Sessel, den
er gerade geräumt hatte. »Lass mich dir eine Tasse Kräutertee
eingießen. Du musst dich auch ausruhen, bevor du wieder
aufbrichst.«
»Oh Remus.«, schluchzte Mrs. Weasley. .«Er ist so still. Ich kann
den Gedanken nicht ertragen, dass mein Ronnie vielleicht nie wieder
zu mir zurückkommt.«
»Das wird er, Molly. Du musst daran glauben.«, tröstete Remus und
goss ihr Tee ein.
Hermine war bei Mrs. Weasleys Worten sichtlich erblasst und sank
schweigend zurück auf die Couch. Harry ließ sich neben ihr nieder,
während Ginny zur ihrer Mum hinüberlief.
»Percy hat eine Eule geschickt? Was ist so wichtig, dass er Dad aus
dem Krankenhaus holen musste?«, verlangte sie hitzig zu wissen.
»Du willst es gar nicht wissen.«, erwiderte Mr. Weasley, der gerade
mit Mad-Eye das Zimmer betrat. Beide trugen müde grimmige Ausdrücke
auf den Gesichtern, die Harrys Magen vor Furcht zusammenkrampfen
ließen. Er hatte diesen Anblick zu viele Male gesehen und wusste,
dass es nichts Gutes verhieß.
Mr. Weasley durchschritt den Raum und küsste Mrs. Weasley auf den
Kopf. Er sank in einen Sessel neben ihr und lächelte matt, als
Remus ihm eine Tasse Tee anbot.
»Danke, Remus. Wie geht es Ron?«, fragte er.
»Es hat sich nichts geändert, seit du gegangen bist. Fred ist bei
ihm. Er hat gesagt, dass er uns Bescheid gibt, wenn Ron aufwacht.
Die Heiler erwarten es nicht in nächster Zeit wegen der ganzen
Zaubertränke in seinem Körper. Wir wissen nichts mit Sicherheit,
bis er bei Bewusstsein ist.«, antwortete Mrs. Weasley zitternd.
Mr. Weasley schloss die Augen, während er ihre Schulter
tätschelte.
»Was ist im Ministerium vorgefallen, Dad? Was hat Percy gesagt?«,
erkundigte sich Ginny. Ihr Gesicht war bleich. Sie klang jung und
ängstlich, trotz ihres entschlossen vorgeschobenen Kinns.
Mr. Weasley seufzte schwer und hob den anderen Arm, so dass seine
Tochter darunter gleiten konnte. Er zog Ginny eng an sich und
küsste sie auf den Scheitel.
»Das Ministerium befindet sich im Chaos.«, seufzte er.
»Warum? Was ist passiert?«, fragte Harry. Sein Blick wanderte
zwischen Mr. Weasley und Moody hin und her, der noch immer in der
Tür stand. Er hatte seine Arme vor der Brust verschränkt, während
er alle finster anstarrte.
»Rufus Scrimgeour ist tot.«, sagte Mr. Weasley leise.
»Was?« Ginny blinzelte.
»Ermordet.«, erklärte Moody schroff. »Das Dunkle Mal hing letzte
Mal über seinem Haus. Es geht das Gerücht um, dass
Du-weißt-schon-wer selbst derjenige war, der es getan hat.«
Harry und Remus wechselten einen bedeutungsvollen Blick.
»Das Ministerium ist im Chaos. Sie versuchen, es im Moment geheim
zu halten, um keine Panik zu verursachen, aber ich fürchte, der
Prophet weiß es bereits. Ich vermute, es wird morgen früh in den
Schlagzeilen stehen.«, sagte Mr. Weasley.
»Panik?«, wiederholte Ginny.
»Wenn Du-weißt-schon-wer den Zaubereiminister so leicht erwischt,
ist keiner mehr sicher. Und nichts, was das Ministerium sagt, wird
sie vom Gegenteil überzeugen können.«, erklärte Mr. Weasley,
während er sanft Ginnys Wange streichelte.
»Tja, das sind sie auch nicht.«, erwiderte Harry.
»Das weiß ich, Harry, und jeder, der diese Situation vernünftig
überdenkt, weiß es ebenfalls. Aber die Menschen machen sich gerne
selbst etwas vor und glauben, dass jemand anderes sich der Sache
schon annehmen wird. Dass jemand anderes alles wieder ins Lot
bringt. Jetzt ist die Person, auf die sie ihre Hoffnung gesetzt
hatten, ermordet worden. Ich fürchte, das wird dich noch mehr unter
Druck setzen, Harry.«, entgegnete Mr. Weasley.
»Das ist mir egal.«, stieß Harry hervor.
»Das sollte es nicht.«, schaltete sich Moody barsch ein. »Gerade
jetzt kannst du kein zusätzliches Rampenlicht gebrauchen.«
Das war wohl wahr. Er wollte sicher nicht noch stärker beobachtet
werden, als ohnehin schon, während er nach dem verbliebenen Horkrux
suchte.
»Da ist noch etwas.«, ergriff Mr. Weasley wieder das Wort. Er rieb
sich die Nase. »Und euch wird es nicht gefallen.«
»Was denn?«, wollte Remus wissen. Sein Griff auf Harrys Schulter
verstärkte sich.
»Der Zaubergamot hat einen neuen amtierenden Minister ernannt, bis
wir eine Wahl arrangieren können.«, berichtete Mr. Weasley.
»Ja.«, sagte Remus. »Das ist Standardprotokoll.«
»Die Atmosphäre im Ministerium ist im Augenblick angespannt und
furchtsam. Jeder blickt sich über die Schulter um. Keiner traut dem
anderen mehr.«, fuhr Mr. Weasley fort.
»So ziemlich dasselbe wie bei Voldemorts letzter
Schreckensherrschaft.« Remus warf Harry einen Blick zu.
»In der Tat. Der Zaubergamot hatte das Gefühl, dass sie jemanden
ernennen mussten, der die Ordnung wiederherstellen könnte – um die
Gesetze zu verstärken während dieser dunklen Zeit. Sie brauchten
jemanden, der einen systematischen, organisierten Ansatz beisteuern
kann – jemanden, der Ordnung und Gesetze durchsetzt.«
»Wen haben sie ernannt, Mr. Weasley?«, fragte Harry. Sein Magen
verkrampfte sich. Er konnte trotz der Kühle im Zimmer spüren, wie
ihm Schweiß den Rücken hinunterlief.
»Sie hatten das Gefühl, dass sie einen entschlossenen Bürokraten
brauchten.«, ergänzte Mr. Weasley entschuldigend.
»Wen haben sie ernannt?«, wiederholte Harry, diesmal
drängender.
Mr. Weasley seufzte schwer und schaute in den Raum. Es war
offensichtlich, dass er sich davor fürchtete, die Antwort
auszusprechen.
»Dolores Umbridge.«