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Gregorius stand vor dem Schaufenster einer Wohnungsagentur. In drei Stunden ging sein Zug nach Irún und Paris. Sein Gepäck lag am Bahnhof in einem Schließfach. Er stand fest auf dem Pflaster. Er las die Preise und dachte an seine Ersparnisse. Spanisch lernen, die Sprache, die er bisher Florence überlassen hatte. In der Stadt ihres heiligen Helden wohnen. Die Vorlesungen von Estefânia Espinhosa hören. Die Geschichte der vielen Klöster studieren. Prados Aufzeichnungen übersetzen. Die Sätze mit Estefânia durchsprechen, einen nach dem anderen.

In der Agentur arrangierten sie drei Besichtigungstermine innerhalb der nächsten zwei Stunden. Gregorius stand in leeren Wohnungen, die hallten. Er prüfte die Aussicht, den Verkehrslärm, er stellte sich den täglichen Gang durchs Treppenhaus vor. Er gab für zwei Wohnungen eine mündliche Zusage. Dann fuhr er mit dem Taxi kreuz und quer durch die Stadt. »¡Continue!« sagte er zum Fahrer. »¡Siempre derecho, más y más!«

Als er schließlich wieder am Bahnhof war, verwechselte er erst das Schließfach und mußte schließlich rennen, um den Zug zu erwischen.

Im Abteil nickte er ein und wachte erst wieder auf, als der Zug in Valladolid hielt. Eine junge Frau kam herein. Gregorius wuchtete ihren Koffer auf die Ablage. »Muito obrigada«, sagte sie, setzte sich neben die Tür und begann, in einem französischen Buch zu lesen. Wenn sie die Beine übereinanderschlug, gab es das Geräusch eines hellen, seidenen Reibens.

Gregorius betrachtete den versiegelten Umschlag, den Maria João nicht hatte öffnen wollen. Das darfst du erst nach meinem Tod lesen, hatte Prado gesagt. Und ich möchte nicht, daß es Adriana in die Hände fällt. Gregorius erbrach das Siegel, nahm die Blätter heraus und begann zu lesen.

 

PORQUÊ TU, ENTRE TODAS? WARUM VON ALLEN FRAUEN GERADE DU? Eine Frage, die sich irgendwann in einem jeden bildet. Warum scheint es gefährlich, sie zuzulassen, auch wenn es nur im Stillen geschieht? Was ist so erschreckend am Gedanken der Zufälligkeit, der in ihr ausgesprochen wird und der nicht derselbe Gedanke ist wie derjenige der Beliebigkeit und Austauschbarkeit? Warum kann man diese Zufälligkeit nicht anerkennen und darüber scherzen? Warum denken wir, daß sie die Zuneigung klein machen, ja eigentlich durchstreichen würde, wenn wir sie als etwas Selbstverständliches anerkennten?

Ich habe dich quer durch den Salon hindurch gesehen, an Köpfen und Champagnergläsern vorbei. ›Das ist Fátima, meine Tochter‹, sagte dein Vater. ›Ich könnte mir vorstellen, daß Sie durch meine Räume gingen‹, sagte ich im Garten zu dir. ›Kannst du dir immer noch vorstellen, daß ich durch deine Räume ginge?‹ fragtest du in England. Und auf dem Schiff: ›Glaubst du auch, daß wir füreinander bestimmt sind?‹

Niemand ist für einen anderen bestimmt. Nicht nur, weil es keine Vorsehung und auch sonst niemanden gibt, der das arrangieren könnte. Nein: weil es zwischen Menschen einfach keine Zwangsläufigkeit gibt, die über zufällige Bedürfnisse und die gewaltige Macht der Gewöhnung hinausginge. Ich hatte fünf Jahre Klinik hinter mir, fünf Jahre, in denen niemand durch meine Räume gegangen war. Ich stand ganz zufällig hier, du standest ganz zufällig dort, dazwischen die Champagnergläser. So war es. Nicht anders.

Es ist gut, daß du das nicht lesen wirst. Warum hast du gemeint, du müßtest dich mit Mamã gegen meine Gottlosigkeit verbünden? Ein Anwalt der Zufälligkeit liebt doch nicht weniger. Und weniger loyal ist er auch nicht. Eher mehr.

 

Die lesende Frau hatte die Brille abgenommen und putzte sie. Ihr Gesicht hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Gesicht der namenlosen Portugiesin auf der Kirchenfeldbrücke. Eines aber hatten sie gemeinsam: den ungleichen Abstand zwischen Augenbrauen und Nasenwurzel, die eine Braue hörte früher auf als die andere.

Er würde sie gern etwas fragen, sagte Gregorius. Ob das portugiesische Wort glória neben Ruhm auch Seligkeit im religiösen Sinne bedeuten könne?

Sie dachte nach, dann nickte sie.

Und ob ein Ungläubiger es benützen könnte, wenn er von demjenigen sprechen möchte, das übrigbleibe, wenn man von der religiösen Seligkeit die religiöse Seligkeit abziehe?

Sie lachte. »Que c’est drôle! Mais… oui. Oui.«

Der Zug verließ Burgos. Gregorius las weiter.

 

UM MOZART DO FUTURO ABERTO. EIN MOZART DER OFFENEN ZUKUNFT. Du kamst die Treppe herunter. Wie Tausende von Malen zuvor sah ich zu, wie immer mehr von dir sichtbar wurde, während der Kopf bis zuletzt hinter der Gegentreppe verborgen blieb. Stets hatte ich das noch Verdeckte in Gedanken ergänzt. Und immer gleich. Es stand fest, wer da herunterkam.

An diesem Morgen war es mit einemmal anders. Spielende Kinder hatten am Vortag den Ball gegen das farbige Fenster geworfen und die Scheibe zerbrochen. Das Licht auf der Treppe war anders als sonst – statt des goldenen, verschleierten Lichts, das an die Beleuchtung in einer Kirche erinnerte, flutete das ungebrochene Tageslicht herein. Es war, als schlüge dieses neue Licht eine Bresche in meine gewohnten Erwartungen, als risse etwas auf, das mir neue Gedanken abverlangte. Ich war plötzlich neugierig darauf, wie dein Gesicht aussehen würde. Die plötzliche Neugierde machte mich glücklich und ließ mich doch auch zusammenfahren. Es war Jahre her, daß die Zeit der werbenden Neugier zu Ende gegangen war und die Tür sich hinter unserem gemeinsamen Leben geschlossen hatte. Warum, Fátima, hatte ein Fenster zerbrechen müssen, damit ich dir wieder mit offenem Blick begegnen konnte?

Ich habe es dann auch mit dir versucht, Adriana. Doch unsere Vertrautheit war bleiern geworden.

Warum bloß ist der offene Blick so schwer? Wir sind träge Wesen, des Vertrauten bedürftig. Neugierde als seltener Luxus auf gewohntem Grund. Fest stehen und mit dem Offenen spielen können, in jedem Augenblick, es wäre eine Kunst. Man müßte Mozart sein. Ein Mozart der offenen Zukunft.

 

San Sebastián. Gregorius sah in den Fahrplan. Bald würde er in Irún in den Zug nach Paris umsteigen müssen. Die Frau schlug die Beine übereinander und las weiter. Er nahm die letzte Aufzeichnung aus dem versiegelten Umschlag zur Hand.

 

MINHA QUERIDA ARTISTA NA AUTO-ILUSÃO. MEINE GELIEBTE VIRTUOSIN DES SELBSTBETRUGS. Viele unserer Wünsche und Gedanken lägen für uns selbst im dunkeln, und die anderen wüßten darüber manchmal besser Bescheid als wir selbst? Wer hat jemals etwas anderes geglaubt?

Niemand. Niemand, der mit einem anderen lebt und atmet. Wir kennen einander bis in die kleinsten Zuckungen des Körpers und der Worte hinein. Wir wissen und wollen oft nicht wissen, was wir wissen. Besonders dann, wenn die Lücke zwischen dem, was wir sehen, und dem, was der andere glaubt, unerträglich groß wird. Es bedürfte göttlichen Muts und göttlicher Stärke, um mit sich in vollkommener Wahrhaftigkeit zu leben. So viel wissen wir, auch von uns selbst. Kein Grund zur Selbstgerechtigkeit.

Und wenn sie eine wahre Virtuosin des Selbstbetrugs ist, mir immer eine Finte voraus? Hätte ich dir entgegentreten und sagen müssen: Nein, du machst dir etwas vor, so bist du nicht? Das bin ich dir schuldig geblieben. Wenn ich es dir denn schuldig war.

Woher weiß einer, was er dem anderen in diesem Sinne schuldig ist?

 

Irún. Isto ainda não é Irún, das ist noch nicht Irún. Das waren die ersten portugiesischen Worte gewesen, die er zu jemandem gesagt hatte. Vor fünf Wochen, und auch im Zug. Gregorius wuchtete den Koffer der Frau herunter.

Kurz nachdem er im Zug nach Paris Platz genommen hatte, ging die Frau an seinem Abteil vorbei. Sie war fast wieder verschwunden, da hielt sie inne, beugte sich zurück, sah ihn, zögerte einen Moment und kam dann herein. Er tat ihren Koffer auf die Ablage.

Sie habe diesen langsamen Zug gewählt, sagte sie auf seine Frage, weil sie dieses Buch lesen wolle. LE SILENCE DU MONDE AVANT LES MOTS. Sie lese nirgendwo so gut wie im Zug. Nirgendwo sei sie so offen für Neues. So sei sie zur Expertin für langsame Züge geworden. Sie fahre auch in die Schweiz, nach Lausanne. Ja, genau, Ankunft morgen früh in Genf. Offenbar hätten sie sich beide denselben Zug ausgesucht.

Gregorius zog den Mantel vors Gesicht. Sein Grund für den langsamen Zug war ein anderer gewesen. Er wollte nicht in Bern ankommen. Er wollte nicht, daß Doxiades den Hörer nahm und ein Klinikbett reservierte. Bis Genf waren es vierundzwanzig Stationen. Vierundzwanzig Gelegenheiten auszusteigen.

Er tauchte, immer steil nach unten. Die Fischer lachten, als er mit Estefânia Espinhosa durch Silveiras Küche tanzte. All diese Klöster, von denen aus man in all diese leeren, hallenden Wohnungen trat. Ihre hallende Leere hatte das Homerische Wort ausgelöscht.

Er schreckte auf. Λίοтϱον. Er ging auf die Toilette und wusch sich das Gesicht.

Während er schlief, hatte die Frau die Deckenbeleuchtung gelöscht und ihr Leselämpchen angemacht. Sie las und las. Als Gregorius von der Toilette zurückkam, blickte sie einen kurzen Moment lang hoch und lächelte abwesend.

Gregorius zog den Mantel vors Gesicht und stellte sich die lesende Frau vor. Ich stand ganz zufällig hier, Du standest ganz zufällig dort, dazwischen die Champagnergläser. So war es. Nicht anders.

Sie könnten zusammen ein Taxi zum Gare de Lyon nehmen, sagte die Frau, als sie kurz nach Mitternacht in Paris einfuhren. LA COUPOLE. Gregorius atmete das Parfum der Frau neben sich. Er wollte nicht in die Klinik. Er wollte nicht Klinikluft riechen. Die Luft, durch die er sich hindurchgekämpft hatte, wenn er die sterbenden Eltern in den stickigen, überheizten Dreierzimmern besucht hatte, wo es nach dem Lüften immer noch nach Urin roch.

Als er gegen vier Uhr früh hinter seinem Mantel aufwachte, war die Frau mit dem offenen Buch im Schoß eingeschlafen. Er löschte das Leselämpchen über ihrem Kopf. Sie drehte sich zur Seite und zog den Mantel vors Gesicht.

Es wurde hell. Gregorius wollte nicht, daß es hell wurde.

Der Kellner des Speisewagens kam mit dem Getränkewagen vorbei. Die Frau wachte auf. Gregorius reichte ihr einen Becher Kaffee. Schweigend sahen sie zu, wie die Sonne hinter einem feinen Wolkenschleier aufging. Es sei sonderbar, sagte die Frau plötzlich, daß glória für zwei so ganz unterschiedliche Dinge stehe: den äußeren, lärmigen Ruhm und die innere, stille Seligkeit. Und nach einer Pause: »Seligkeit – wovon reden wir eigentlich?«

Gregorius trug ihr den schweren Koffer durch den Genfer Bahnhof. Die Leute im Großraumwagen der Schweizer Bahn redeten laut und lachten. Die Frau sah seinen Ärger, zeigte auf den Titel ihres Buches und lachte. Jetzt lachte auch er. Mitten in seinem Lachen kündigte die Lautsprecherstimme Lausanne an. Die Frau stand auf, er holte den Koffer herunter. Sie sah ihn an. »C’était bien, ça«, sagte sie. Dann stieg sie aus.

Fribourg. Es würgte Gregorius. Er stieg auf die Burg und sah aufs nächtliche Lissabon hinunter. Er war auf der Fähre über den Tejo. Er saß bei Maria João in der Küche. Er ging durch die Klöster von Salamanca und setzte sich in die Vorlesung von Estefânia Espinhosa.

Bern. Gregorius stieg aus. Er setzte den Koffer ab und wartete. Als er ihn nahm und weiterging, war ihm, als wate er durch Blei.

Nachtzug nach Lissabon: Roman
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