43

 

Es seien dreihunderttausend Bände, sagte die Fremdenführerin, und ihre Pfennigabsätze klackten auf dem Marmorboden der Biblioteca Joanina. Gregorius blieb zurück und sah sich um. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Mit Gold und Tropenhölzern verkleidete Räume, verbunden durch Bogen, die an Triumphbögen erinnerten, darüber das Wappen von König João V., der die Bibliothek Anfang des 18. Jahrhunderts gegründet hatte. Barocke Regale mit Emporen auf zierlichen Säulen. Ein Portrait von João V. Ein roter Läufer, der den Eindruck des Prunkvollen steigerte. Es war wie im Märchen.

Homer, Ilias und Odyssee, mehrere Ausgaben in prachtvollem Einband, der sie zu heiligen Texten machte. Gregorius ließ den Blick weitergleiten.

Nach einer Weile spürte er, daß sein Blick an den Regalen nur noch achtlos vorbeiglitt. Die Gedanken waren drüben bei Homer geblieben. Es mußten Gedanken sein, die ihm Herzklopfen machten, doch er kam nicht darauf, wovon sie handelten. Er ging in eine Ecke, nahm die Brille ab und schloß die Augen. Im nächsten Raum hörte er die grelle Stimme der Führerin. Er preßte die Handflächen auf die Ohren und konzentrierte sich in die dumpfe Stille hinein. Die Sekunden verrannen, er spürte das Blut pochen.

Ja. Was er, ohne es zu bemerken, gesucht hatte, war ein Wort, das bei Homer nur ein einziges Mal vorkam. Es war, als hätte etwas hinter seinem Rücken, verborgen in den Kulissen des Gedächtnisses, überprüfen wollen, ob sein Erinnerungsvermögen noch so gut war wie immer. Sein Atem ging rasch. Das Wort kam nicht. Es kam nicht.

Die Führerin mit der Gruppe zog durch den Raum, die Leute schnatterten. Gregorius schob sich an ihnen vorbei in den hintersten Teil. Er hörte, wie sich die Eingangstür zur Bibliothek schloß und der Schlüssel gedreht wurde.

Mit hämmerndem Herzen rannte er zum Regal und nahm die Odyssee heraus. Das alte, steif gewordene Leder schnitt ihm mit scharfen Kanten in die Handfläche. Hektisch blätterte er und blies den Staub in den Raum. Das Wort war nicht dort, wo er gedacht hatte. Es war nicht dort.

Er versuchte, ruhig zu atmen. Als zöge eine Bank von Schleierwolken durch ihn hindurch, spürte er einen Schwindel, der kam und ging. Methodisch ging er das ganze Epos in Gedanken durch. Keine andere Stelle kam in Frage. Doch das Exerzitium hatte zur Folge, daß nun auch die vermeintliche Gewißheit, mit der er die Suche begonnen hatte, bröckelte. Der Boden begann zu schwanken, und dieses Mal war es nicht der Schwindel. Sollte er sich auf gröbste Weise getäuscht haben, und es war die Ilias? Er nahm sie aus dem Regal und blätterte gedankenlos. Die Bewegungen der blätternden Hand wurden leer und mechanisch, das Ziel geriet in Vergessenheit, von Moment zu Moment mehr, Gregorius spürte, wie ihn das Luftkissen umfing, er versuchte aufzustampfen, ruderte mit den Armen, das Buch fiel ihm aus der Hand, die Knie gaben nach, und er glitt in einer sanften, kraftlosen Bewegung zu Boden.

Als er aufwachte, suchte er mühsam nach der Brille, die eine Armlänge entfernt lag. Er sah auf die Uhr. Es konnte nicht mehr als eine Viertelstunde vergangen sein. Sitzend lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand. Minuten vergingen, in denen er nur atmete, froh darüber, daß er sich nicht verletzt hatte und die Brille heil geblieben war.

Und dann, ganz plötzlich, flammte Panik in ihm auf. War dieses Vergessen der Beginn von etwas? Eine erste, winzige Insel des Vergessens? Würde sie wachsen, und würden andere dazukommen? Wir sind Geröllhalden des Vergessens, hatte Prado irgendwo geschrieben. Und wenn nun eine Geröllawine über ihn käme und die kostbaren Wörter alle mit sich fortrisse? Er umfaßte den Kopf mit seinen großen Händen und drückte, als könne er damit verhindern, daß weitere Wörter verschwänden. Gegenstand für Gegenstand suchte er das Blickfeld ab und gab jedem Ding seinen Namen, erst den mundartlichen, dann den hochdeutschen, den französischen und englischen und schließlich den portugiesischen. Keiner fehlte, und langsam wurde er ruhiger.

Als die Tür für die nächste Gruppe aufgeschlossen wurde, wartete er in der Ecke, mischte sich einen Moment unter die Leute und verschwand dann durch die Tür. Ein tiefblauer Himmel wölbte sich über Coimbra. Vor einem Café trank er in kleinen, langsamen Schlucken einen Kamillentee. Der Magen entspannte sich, und er konnte etwas essen.

Die Studenten lagen in der warmen Märzsonne. Ein Mann und eine Frau, ineinander verschlungen, brachen plötzlich in lautes Lachen aus, warfen die Zigaretten weg, erhoben sich mit flüssigen, geschmeidigen Bewegungen und begannen zu tanzen, so leicht und locker, als gäbe es die Schwerkraft nicht. Gregorius spürte den Sog des Erinnerns und überließ sich ihm. Und plötzlich war sie da, die Szene, an die er seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht hatte.

Fehlerlos, aber ein bißchen schwerfällig, hatte der Professor für Latein gesagt, als Gregorius im Hörsaal aus den Metamorphosen von Ovid übersetzte. Ein Dezembernachmittag, Schneeflocken, elektrisches Licht. Mädchen, die grinsten. Ein bißchen mehr tanzen!, hatte der Mann mit der Fliege und dem roten Halstuch über dem Blazer hinzugefügt. Gregorius hatte das ganze Gewicht seines Körpers in der Bank gespürt. Die Bank hatte geknarrt, als er sich bewegte. Die verbleibende Zeit, in der andere drankamen, hatte er in dumpfer Betäubung dagesessen. Die Betäubung hatte angedauert, als er durch die weihnachtlich geschmückten Lauben ging.

Nach den Feiertagen war er nicht mehr in diese Veranstaltung gegangen. Dem Mann mit dem roten Halstuch war er ausgewichen, und auch den anderen Professoren ging er aus dem Weg. Von da an hatte er nur noch zu Hause studiert.

Jetzt zahlte er und ging über den Mondego, den sie O Rio dos Poetas nannten, zurück zum Hotel. Findest du mich einen Langweiler? Wie? Aber Mundus, so etwas kannst du mich doch nicht fragen! Warum taten all diese Dinge so weh, auch jetzt noch? Warum war es ihm in zwanzig, dreißig Jahren nicht gelungen, sie abzuschütteln?

Als Gregorius zwei Stunden später im Hotel aufwachte, ging gerade die Sonne unter. Natalie Rubin war mit klackenden Pfennigabsätzen über den Marmor der Korridore in der Universität Bern gegangen. Vorne in einem leeren Hörsaal stehend, hatte er ihr einen Vortrag über Wörter gehalten, die in der griechischen Literatur nur ein einziges Mal vorkamen. Er wollte die Wörter anschreiben, doch die Tafel war so seifig, daß die Kreide abglitt, und als er die Wörter aussprechen wollte, hatte er sie vergessen. Auch Estefânia Espinhosa war durch seinen unruhigen Schlaf gegeistert, eine Gestalt mit leuchtenden Augen und olivfarbenem Teint, tonlos zuerst, dann als Dozentin, die unter einer riesigen, goldverkleideten Kuppel Vorlesungen über Themen hielt, die es nicht gab. Doxiades hatte sie unterbrochen. Kommen Sie nach Hause, hatte er gesagt, wir untersuchen Sie am Bubenbergplatz.

Gregorius saß auf der Bettkante. Das homerische Wort kam auch jetzt nicht. Und die Unsicherheit über die Stelle, wo es zu finden wäre, begann ihn wieder zu quälen. Es hatte keinen Sinn gehabt, die Ilias in die Hand zu nehmen. Es war in der Odyssee. Es war dort. Er wußte es. Aber wo?

Der nächste Zug nach Lissabon, das hatten sie beim Empfang unten festgestellt, ging erst morgen früh. Er griff nach dem großen Buch über das finstere Meer und las weiter, was El Edrisí, der muselmanische Geograph, geschrieben hatte: Niemand weiß – sagt man uns –, was es in diesem Meer gibt, und man kann es auch nicht untersuchen, denn es gibt zu viele Hindernisse, die sich der Schiffahrt entgegenstellen: die tiefe Finsternis, die hohen Wellen, die häufigen Stürme, die zahllosen Ungeheuer, die es bevölkern, und die heftigen Winde. Er hätte sich gern eine Fotokopie der beiden Aufsätze von Estefânia Espinhosa über Finisterre machen lassen, war aber beim Bibliothekspersonal gescheitert, weil ihm die Worte fehlten.

Er blieb noch eine Weile sitzen. Es müssen Tests gemacht werden, hatte Doxiades gesagt. Und auch die Stimme von Maria João hörte er: Sie sollten es nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Er duschte, packte und ließ von der verdutzten Frau am Empfang ein Taxi rufen. Der Autoverleih am Bahnhof hatte noch offen. Sie müßten ihm aber den heutigen Tag auch berechnen, sagte der Mann. Gregorius nickte, unterschrieb für zwei weitere Tage und ging zum Parkplatz.

Den Führerschein hatte er als Student gemacht, mit dem Geld, das er mit dem Unterrichten verdiente. Das war vor vierunddreißig Jahren gewesen. Seither war er nicht mehr gefahren, der vergilbte Schein mit dem jugendlichen Foto und der fettgedruckten Vorschrift, eine Brille zu tragen und nachts nicht zu fahren, hatte unbenutzt in der Mappe seiner Reisedokumente gelegen. Der Mann beim Verleih hatte die Stirn gerunzelt, sein Blick war zwischen dem Foto und dem wirklichen Gesicht hin und her gegangen, aber er hatte nichts gesagt.

Hinter dem Steuer des großen Wagens wartete Gregorius, bis sich sein Atem beruhigt hatte. Langsam probierte er alle Knöpfe und Schalter. Mit kalten Händen startete er den Motor, legte den Rückwärtsgang ein, ließ die Kupplung los und würgte den Wagen ab. Erschrocken ob des heftigen Rucks schloß er die Augen und wartete von neuem, bis der Atem ruhig wurde. Beim zweiten Versuch hoppelte der Wagen, lief aber weiter, und Gregorius fuhr rückwärts aus der Parklücke. Die Schleifen zur Ausfahrt fuhr er im Schrittempo. Bei einer Ampel an der Stadtausfahrt ging der Wagen noch einmal aus. Danach wurde es immer besser.

Die Autobahn bis Viana do Castelo brachte er in zwei Stunden hinter sich. Ruhig saß er hinter dem Steuer und hielt sich auf der rechten Spur. Er begann, die Fahrt zu genießen. Es gelang ihm, die Sache mit dem Homerischen Wort so weit in den Hintergrund zu schieben, daß man es beinahe ein Vergessen nennen konnte. Übermütig geworden, drückte er das Gaspedal durch und hielt das Steuer mit gestreckten Armen.

Ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern kam auf der Gegenfahrbahn entgegen. Die Dinge begannen sich zu drehen, Gregorius nahm das Gas weg, schlitterte nach rechts auf die Standspur, nahm die Grasnarbe mit und kam Zentimeter von der Leitplanke entfernt zum Stehen. Rasende Lichtkegel fluteten über ihn hinweg. Später, auf dem nächsten Parkplatz, stieg er aus und atmete vorsichtig die kühle Nachtluft ein. Sie sollten nach Hause kommen. Mit den Ärzten in der Muttersprache reden.

Eine Stunde später, hinter Valença do Minho, kam die Grenze. Zwei Männer der Guardia Civil mit Maschinenpistolen winkten ihn durch. Von Tui nahm er die Autobahn über Vigo, Pontevedra und weiter nach Norden Richtung Santiago. Kurz vor Mitternacht machte er Halt und studierte beim Essen die Karte. Es gab keine andere Lösung: Wenn er nicht den riesigen Umweg über die Landzunge von Santa Eugenia fahren wollte, mußte er bei Padrón auf die Gebirgsstraße nach Noia hinüber, der Rest war klar, immer der Küste entlang bis Finisterre. Er war noch nie eine Gebirgsstraße gefahren, und es stiegen Bilder von Schweizerpässen in ihm auf, wo der Fahrer des Postautos unablässig das Steuerrad herumgewuchtet hatte, um es sofort wieder zurückzudrehen.

Die Leute um ihn herum redeten die Sprache Galiciens. Er verstand kein Wort. Er war müde. Er hatte das Wort vergessen. Er, Mundus, hatte ein Wort bei Homer vergessen. Unter dem Tisch preßte er die Füße auf den Boden, um das Luftkissen zu verscheuchen. Er hatte Angst. Angst und Fremdsprache, das paßt nicht zusammen.

Es war leichter, als er gedacht hatte. Bei spitzen, unübersichtlichen Kurven fuhr er Schrittempo, aber nachts wußte man wegen der Scheinwerfer entgegenkommender Autos ja besser Bescheid als am Tag. Die Autos wurden immer weniger, es war nach zwei Uhr. Wenn er daran dachte, daß er, wenn der Schwindel kam, auf der engen Straße nicht ohne weiteres anhalten konnte, erfaßte ihn Panik. Dann aber, als ein Schild die Nähe von Noia anzeigte, wurde er übermütig und schnitt die Kurven. Ein bißchen schwerfällig. Aber Mundus, so etwas kannst du mich doch nicht fragen! Warum hatte Florence nicht einfach gelogen! Du ein Langweiler? Aber überhaupt nicht!

Gab es das eigentlich: daß man Verletzendes einfach abschüttelte? Wir sind weit in die Vergangenheit hinein ausgebreitet, hatte Prado notiert. Das kommt durch unsere Gefühle, namentlich die tiefen, also diejenigen, die darüber bestimmen, wer wir sind und wie es ist, wir zu sein. Denn diese Gefühle kennen keine Zeit, sie kennen sie nicht, und sie anerkennen sie nicht.

Von Noia bis Finisterre waren es hundertfünfzig Kilometer guter Straße. Man sah das Meer nicht, doch man ahnte es. Es ging auf vier Uhr. Ab und zu hielt Gregorius. Es war kein Schwindel, entschied er jedesmal, es war einfach, daß das Gehirn vor Müdigkeit im Schädel zu schwimmen schien. Nach vielen dunklen Tankstellen fand er schließlich eine, die offen hatte. Wie Finisterre sei, fragte er den verschlafenen Tankwart. »Pues, el fin del mundo!« lachte er.

Als Gregorius in Finisterre einfuhr, begann es durch einen wolkenverhangenen Himmel hindurch zu dämmern. Als erster Gast trank er in einer Bar einen Kaffee. Ganz wach und ganz fest stand er auf dem Steinfußboden. Das Wort würde wiederkommen, dann, wenn er es am wenigsten erwartete, so war das Gedächtnis, das kannte man doch. Er genoß es, die verrückte Fahrt gemacht zu haben und jetzt hier zu sein, und nahm die Zigarette, die ihm der Wirt anbot. Nach dem zweiten Lungenzug überkam ihn leichter Schwindel. »Vértigo«, sagte er zum Wirt, »ich bin ein Experte für Schwindel, es gibt ganz viele Arten, und ich kenne sie alle.« Der Wirt verstand nicht und putzte energisch die Theke.

Die wenigen Kilometer bis zum Kap fuhr Gregorius mit offenem Fenster. Die salzige Seeluft war wunderbar, und er fuhr ganz langsam wie jemand, der eine Vorfreude auskostet. Die Straße endete an einem Hafen mit Fischerbooten. Die Fischer waren vor kurzem zurückgekommen und standen rauchend beieinander. Er wußte später nicht mehr, wie es gekommen war, doch auf einmal stand er bei den Fischern und rauchte ihre Zigaretten, es war wie ein stehender Stammtisch unter freiem Himmel.

Ob sie mit ihrem Leben zufrieden seien, fragte er. Mundus, ein Berner Altphilologe, der galizische Fischer am Ende der Welt nach der Einstellung zu ihrem Leben fragte. Gregorius genoß es, er genoß es über alle Maßen, die Freude an der Absurdität mischte sich mit Müdigkeit, Euphorie und einem unbekannten Gefühl befreiender Entgrenzung.

Die Fischer verstanden die Frage nicht, und Gregorius mußte sie in seinem radebrechenden Spanisch zweimal wiederholen. »¿Contento?« rief einer von ihnen schließlich aus. »Wir kennen nichts anderes!« Sie lachten und lachten immer weiter, bis daraus ein brüllendes Gelächter wurde, in das Gregorius mit solcher Heftigkeit einstimmte, daß ihm die Augen zu tränen begannen.

Er legte einem der Männer die Hand auf die Schulter und drehte ihn zum Meer hin.

»¡Siempre derecho, más y más – nada!« rief er in eine Windböe hinein.

»¡America!« rief der Mann. »¡America!«

Er holte aus einer Innentasche seiner Jacke das Foto eines Mädchens in Bluejeans, Stiefeln und Cowboyhut.

»¡Mi hija!« Meine Tochter! Er gestikulierte in Richtung Meer.

Die anderen rissen ihm das Bild aus der Hand.

»¡Qué guapa es!« Wie hübsch sie ist!, riefen sie durcheinander.

Gregorius lachte und gestikulierte und lachte, die anderen schlugen ihm auf die Schultern, rechts und links und rechts, es waren derbe Schläge, Gregorius wankte, die Fischer drehten sich, das Meer drehte sich, das Sausen des Winds wurde zu Ohrensausen, es schwoll an und an, um ganz plötzlich in einer Stille zu verschwinden, die alles verschluckte.

Als er aufwachte, lag er in einem Boot auf der Bank, erschrockene Gesichter über sich. Er richtete sich auf. Der Kopf tat weh. Die Schnapsflasche lehnte er ab. Es gehe schon wieder, sagte er, und fügte hinzu: »¡El fin del mundo!« Sie lachten erleichtert. Er schüttelte schwielige, rissige Hände, balancierte langsam aus dem Boot und setzte sich hinters Steuer. Er war froh, daß der Motor sofort kam. Die Fischer, die Hände in den Taschen ihres Ölzeugs, sahen ihm nach.

Im Ort nahm er in einer Pension ein Zimmer und schlief bis in den Nachmittag hinein. Es hatte inzwischen aufgeklart, und es war wärmer geworden. Trotzdem fror er, als er in der Dämmerung zum Kap fuhr. Er setzte sich auf einen Felsblock und sah zu, wie der Lichtschein im Westen immer schwächer wurde, um schließlich ganz zu erlöschen. O mar tenebroso. Die schwarzen Wellen brachen krachend, der helle Schaum wischte mit bedrohlichem Rauschen über den Strand. Das Wort kam nicht. Es kam nicht.

Gab es das Wort überhaupt? War es am Ende nicht das Gedächtnis, sondern der Verstand, der einen feinen Riß bekommen hatte? Wie konnte es geschehen, daß ein Mensch fast den Verstand verlor, weil ihm ein Wort, ein einziges Wort, das nur ein einziges Mal vorkam, entfallen war? Er mochte sich quälen, wenn er in einem Hörsaal saß, vor einer Klausur, in einem Examen. Aber im Angesicht der tosenden See? Mußten die schwarzen Wasser, die dort vorne bruchlos in den Nachthimmel übergingen, solche Sorgen nicht einfach wegwischen als etwas vollkommen Bedeutungsloses, Lächerliches, um das sich nur einer kümmern konnte, der jeglichen Sinn für die Proportionen verloren hatte?

Er hatte Heimweh. Er schloß die Augen. Er kam Viertel vor acht von der Bundesterrasse und betrat die Kirchenfeldbrücke. Durch die Lauben der Spitalgasse, Marktgasse und Kramgasse ging er hinunter zum Bärengraben. Im Münster hörte er das Weihnachtsoratorium. Er stieg in Bern aus dem Zug und betrat seine Wohnung. Er nahm die Platte des portugiesischen Sprachkurses vom Plattenteller und tat sie in die Besenkammer. Er legte sich aufs Bett und war froh zu wissen: Alles war wie früher.

Es war ganz unwahrscheinlich, daß Prado und Estefânia Espinhosa hierher gefahren waren. Mehr als unwahrscheinlich. Nichts sprach dafür, nicht das geringste.

Frierend und mit feuchter Jacke ging Gregorius zum Auto. Der Wagen sah in der Dunkelheit riesig aus. Wie ein Ungetüm, das niemand heil nach Coimbra zurückfahren konnte, am allerwenigsten er.

Später versuchte er gegenüber der Pension, etwas zu essen, doch es ging nicht. Am Empfang ließ er sich ein paar Bogen Papier geben. Dann setzte er sich im Zimmer an den winzigen Tisch und übersetzte, was der muselmanische Geograph geschrieben hatte, ins Latein, ins Griechische und Hebräische. Er hatte gehofft, daß das Schreiben griechischer Buchstaben das verlorene Wort zurückbringen würde. Doch es geschah nichts, der Raum des Erinnerns blieb stumm und leer.

Nein, es war nicht so, daß die rauschende Weite der See das Behalten und Vergessen von Worten bedeutungslos machte. Auch nicht das Behalten und Vergessen von Wörtern. Es war nicht so, es war überhaupt nicht so. Ein einziges Wort unter Worten, ein einziges Wort unter Wörtern: Sie waren unberührbar, ganz und gar unberührbar für die Massen des blinden, wortlosen Wassers, und das bliebe auch dann so, wenn das gesamte Universum von heute auf morgen zu einer Welt aus ungezählten Sintfluten würde, in der es unaufhörlich aus allen Himmeln tropfte. Wenn es im Universum nur ein Wort gäbe, ein einziges Wort, dann wäre es kein Wort, aber wenn es doch eines wäre, so wäre es mächtiger und leuchtender als alle Fluten hinter allen Horizonten.

Langsam wurde Gregorius ruhiger. Bevor er schlafen ging, sah er vom Fenster aus auf den geparkten Wagen hinunter. Morgen, bei Tage, würde es gehen.

Es ging. Erschöpft und ängstlich nach unruhigem Schlaf fuhr er die Strecke in kleinen Etappen. Während der Pausen suchten ihn regelmäßig die Traumbilder der Nacht heim. Er war in Isfahan gewesen, und es hatte am Meer gelegen. Die Stadt mit ihren Minaretten und Kuppeln, mit dem glänzenden Ultramarin und dem blitzenden Gold hatte sich gegen einen hellen Horizont abgehoben, und deshalb war er erschrocken, als er aufs Meer blickte und sah, daß es schwarz und brausend vor der Wüstenstadt tobte. Ein heißer, trockener Wind trieb ihm feuchte, schwere Luft ins Gesicht. Zum erstenmal hatte er von Prado geträumt. Der Goldschmied der Worte tat nichts, er war in der weiten Arena des Traums nur anwesend, wortlos und vornehm, und Gregorius suchte, das Ohr an Adrianas riesigem Tonbandgerät, nach dem Klang seiner Stimme.

Bei Viana do Castelo, kurz vor der Autobahn nach Porto und Coimbra, spürte Gregorius, daß ihm das verlorene Wort aus der Odyssee auf der Zunge lag. Er schloß hinter dem Steuer unwillkürlich die Augen und versuchte mit aller Kraft zu verhindern, daß es zurück ins Vergessen sänke. Wildes Hupen ließ ihn zusammenfahren. In letzter Sekunde konnte er den Wagen, der auf die Gegenfahrbahn geraten war, herumreißen und einen frontalen Zusammenstoß verhindern. Bei der nächsten Ausweichstelle hielt er und wartete, bis das schmerzhafte Pochen des Bluts im Gehirn abnahm. Danach fuhr er hinter einem langsamen Lastwagen bis nach Porto. Die Frau beim Autoverleih war nicht erbaut, daß er den Wagen hier und nicht in Coimbra zurückgeben wollte. Doch nach einem langen Blick auf sein Gesicht erklärte sie sich schließlich einverstanden.

Als sich der Zug in Richtung Coimbra und Lissabon in Bewegung setzte, lehnte Gregorius den Kopf erschöpft an die Stütze. Er dachte an die Abschiede in Lissabon, die vor ihm lagen. Das ist der Sinn eines Abschieds im vollen, gewichtigen Sinne des Worts: daß sich die beiden Menschen, bevor sie auseinandergehen, darüber verständigen, wie sie sich gesehen und erlebt haben, hatte Prado in seinem Brief an die Mutter geschrieben. Sich verabschieden, das ist auch etwas, das man mit sich selbst macht: zu sich selbst stehen unter dem Blick des Anderen. Der Zug nahm volle Fahrt auf. Der Schreck über den Unfall, den er um ein Haar verursacht hätte, begann zu weichen. Bis Lissabon wollte er an nichts mehr denken.

Genau in dem Augenblick, in dem es ihm, unterstützt vom monotonen Klopfen der Räder, gelang, die Dinge loszulassen, war das verlorene: λίοтϱον, ein Schurfeisen zum Reinigen des Saalbodens. Und jetzt wußte er auch wieder, wo es stand: in der Odyssee, gegen Ende des 22. Gesangs.

Die Abteiltür ging auf, und es nahm ein junger Mann Platz, der eine Boulevardzeitung mit riesigen Lettern entfaltete. Gregorius stand auf, nahm sein Gepäck und ging bis ans Ende des Zugs, wo er ein leeres Abteil fand. Λίοтϱον, sagte er vor sich hin, λίοтϱον.

Als der Zug im Bahnhof von Coimbra hielt, dachte er an den Hügel der Universität und an den Landvermesser, der in seiner Vorstellung mit einem altertümlichen Arztköfferchen über die Brücke ging, ein schmaler, nach vorne gebeugter Mann im grauen Arbeitskittel, der darüber nachdachte, wie er die Leute auf dem Schloßberg dazu bewegen konnte, ihm Einlaß zu gewähren.

Als Silveira am Abend aus der Firma nach Hause kam, ging ihm Gregorius in der Halle entgegen. Silveira stutzte und kniff die Augen zusammen.

»Du fährst nach Hause.«

Gregorius nickte.

»Erzähl!«

Nachtzug nach Lissabon: Roman
titlepage.xhtml
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_000.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_001.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_002.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_003.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_004.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_005.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_006.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_007.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_008.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_009.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_010.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_011.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_012.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_013.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_014.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_015.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_016.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_017.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_018.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_019.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_020.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_021.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_022.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_023.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_024.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_025.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_026.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_027.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_028.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_029.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_030.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_031.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_032.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_033.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_034.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_035.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_036.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_037.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_038.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_039.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_040.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_041.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_042.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_043.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_044.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_045.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_046.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_047.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_048.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_049.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_050.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_051.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_052.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_053.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_054.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_055.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_056.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_057.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_058.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_059.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_060.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_061.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_062.html