5

 

Die Wucht der Erinnerung traf ihn unvorbereitet. Er hatte nicht vergessen, daß dies ihr erster Bahnhof gewesen war, ihre erste gemeinsame Ankunft in einer fremden Stadt. Natürlich hatte er das nicht vergessen. Aber er hatte nicht damit gerechnet, daß es, wenn er hier stünde, sein würde, als sei überhaupt keine Zeit verstrichen. Die grünen Eisenträger und die roten Rohre. Die Rundbogen. Das lichtdurchlässige Dach.

»Laß uns nach Paris fahren!« hatte Florence beim ersten Frühstück in seiner Küche plötzlich gesagt, die Arme um das angezogene Bein geschlungen.

»Du meinst…«

»Ja, jetzt. Jetzt gleich!«

Sie war seine Schülerin gewesen, ein hübsches, meist ungekämmtes Mädchen, das durch seine aufreizende Launenhaftigkeit allen den Kopf verdrehte. Von einem Quartal auf das nächste war sie dann ein As in Latein und Griechisch geworden, und als er die freiwillige Hebräischklasse jenes Jahres zum erstenmal betrat, saß sie in der ersten Reihe. Doch Gregorius wäre nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, daß das etwas mit ihm zu tun haben könnte.

Es kam die Maturitätsprüfung, und danach verging noch einmal ein Jahr, bevor sie sich in der Cafeteria der Universität begegneten und sitzen blieben, bis man sie hinauswarf.

»Was bist du für eine Blindschleiche!« hatte sie gesagt, als sie ihm die Brille abnahm. »Hast damals nichts gemerkt! Dabei hat jeder es gewußt! Jeder

Richtig war, dachte Gregorius, als er jetzt im Taxi zum Gare Montparnasse saß, daß er einer war, der so etwas nicht bemerkte – einer, der sogar vor sich selbst so unscheinbar war, daß er nicht daran glauben mochte, jemand könnte ihm – ihm! – ein starkes Gefühl entgegenbringen. Doch bei Florence hatte er damit recht behalten.

»Du hast nie wirklich mich gemeint«, hatte er am Ende ihrer fünfjährigen Ehe zu ihr gesagt.

Es waren die einzigen anklagenden Worte, die er während der ganzen Zeit zu ihr gesagt hatte. Sie hatten gebrannt wie Feuer, und es war gewesen, als zerfiele alles zu Asche.

Sie hatte zu Boden gesehen. Trotz allem hatte er auf Widerspruch gehofft. Er war nicht gekommen.

la coupole. Gregorius hatte nicht damit gerechnet, daß er den Boulevard du Montparnasse entlangfahren und das Restaurant sehen würde, in dem ihre Trennung besiegelt worden war, ohne daß sie darüber jemals ein Wort gesprochen hätten. Er ließ den Fahrer anhalten und blickte eine Weile schweigend hinüber zu der roten Markise mit den gelben Buchstaben und den drei Sternen links und rechts. Es war eine Auszeichnung gewesen, daß man Florence, eine Doktorandin, hierher zu dieser Romanistenkonferenz eingeladen hatte. Am Telefon hatte sie aufgekratzt geklungen, beinahe hysterisch, wie er fand, so daß er zögerte, sie am Wochenende wie verabredet abzuholen. Doch dann war er doch gefahren und hatte sich mit ihren neuen Freunden in diesem berühmten Lokal getroffen, dessen Geruch nach exquisitem Essen und teuersten Weinen ihm schon beim Eintreten bewiesen hatte, daß er nicht hierher gehörte.

»Einen Moment noch«, sagte er jetzt zum Fahrer und ging hinüber.

Es hatte sich nichts verändert, und er sah den Tisch sofort, an dem er, denkbar unpassend angezogen, diesen literaturwissenschaftlichen Schwadroneuren die Stirn geboten hatte. Um Horaz war es gegangen und um Sappho, daran erinnerte er sich, als er jetzt den eiligen und gereizten Kellnern im Weg stand. Keiner hatte mithalten können, als er Vers nach Vers zitierte und die geistreichen Aperçus der gutgekleideten Herren von der Sorbonne mit seinem Berner Akzent zu Staub zerstampfte, einen nach dem anderen, bis es am Tisch still wurde.

Florence hatte auf der Rückfahrt allein im Speisewagen gesessen, während das Nachbeben seiner Wut langsam verebbte und einer Trauer darüber wich, daß er es nötig gehabt hatte, sich auf diese Weise gegen Florence zu behaupten; denn darum war es natürlich gegangen.

Verloren an jene fernen Geschehnisse, hatte Gregorius die Zeit vergessen, und nun mußte der Taxifahrer all sein halsbrecherisches Können aufbieten, um den Gare Montparnasse noch rechtzeitig zu erreichen. Als er schließlich außer Atem auf seinem Platz saß und sich der Zug nach Irún in Bewegung setzte, wiederholte sich eine Empfindung, die ihn schon in Genf überfallen hatte: daß es der Zug war und nicht er, der darüber entschied, daß diese sehr wache und sehr wirkliche Reise, die ihn von Stunde zu Stunde, von Station zu Station weiter aus seinem bisherigen Leben hinaustrug, weiterging. Drei Stunden lang, bis Bordeaux, würde es nun keinen Halt mehr geben, keine Möglichkeit umzukehren.

Er sah auf die Uhr. In der Schule ging der erste Tag ohne ihn zu Ende. In diesen Minuten warteten die sechs Hebräischschüler auf ihn. Um sechs, nach der Doppelstunde, war er manchmal mit ihnen ins Café gegangen, und dann hatte er ihnen von der geschichtlichen Gewachsenheit und Zufälligkeit der biblischen Texte gesprochen. Ruth Gautschi und David Lehmann, die Theologie studieren wollten und am härtesten arbeiteten, hatten immer öfter einen Grund gefunden, nicht mitzugehen. Vor einem Monat hatte er sie darauf angesprochen. Sie hätten das Gefühl, daß er ihnen etwas wegnehme, hatten sie ausweichend geantwortet. Natürlich, man könne auch diese Texte philologisch untersuchen. Aber es sei doch die Heilige Schrift.

Hinter geschlossenen Lidern empfahl Gregorius dem Rektor, für das Hebräische eine Theologiestudentin einzustellen, eine ehemalige Schülerin von ihm. Sie hatte mit ihrem kupferfarbenen Haar auf demselben Platz gesessen wie seinerzeit Florence. Aber seine Hoffnung, das möge kein Zufall sein, hatte sich nicht erfüllt.

Für einige Augenblicke war vollständige Leere in seinem Kopf, dann sah Gregorius das Gesicht der Portugiesin vor sich, wie es weiß, fast durchscheinend, hinter dem frottierenden Handtuch aufgetaucht war. Noch einmal stand er in der Schultoilette vor dem Spiegel und spürte, daß er die Telefonnummer, die ihm die rätselhafte Frau auf die Stirn gemalt hatte, nicht abwischen wollte. Noch einmal stand er von seinem Pult auf, nahm den feuchten Mantel vom Haken und ging aus dem Klassenzimmer.

Português. Gregorius fuhr zusammen, schlug die Augen auf und blickte in die flache französische Landschaft hinaus, über der sich die Sonne dem Horizont zuneigte. Das Wort, das wie eine Melodie gewesen war, die sich in traumgleicher Weite verlor, trug mit einemmal nicht mehr. Er versuchte, den verzaubernden Klang zurückzuholen, den die Stimme gehabt hatte, doch was er zu fassen bekam, war nur ein rasch verblassendes Echo, und die vergebliche Anstrengung verstärkte nur das Gefühl, daß ihm das kostbare Wort, auf dem diese ganze verrückte Reise aufgebaut war, entglitt. Und es nützte nichts, daß er noch genau wußte, wie die Sprecherin auf der Platte des Sprachkurses das Wort ausgesprochen hatte.

Er ging auf die Toilette und hielt das Gesicht lange unter das Wasser, das nach Chlor schmeckte. Wieder auf seinem Platz, holte er das Buch des adligen Portugiesen aus dem Gepäck und begann, den nächsten Abschnitt zu übersetzen. Zuerst war es vor allem eine Flucht nach vorn, der krampfhafte Versuch, trotz des Schreckens von eben weiterhin an diese Reise zu glauben. Doch nach dem ersten Satz schon nahm ihn der Text wieder so gefangen, wie er es zu Hause in der nächtlichen Küche getan hatte.

 

NOBREZA SILENCIOSA. LAUTLOSER ADEL. Es ist ein Irrtum zu glauben, die entscheidenden Momente eines Lebens, in denen sich seine gewohnte Richtung für immer ändert, müßten von lauter und greller Dramatik sein, unterspült von heftigen inneren Aufwallungen. Das ist ein kitschiges Märchen, das saufende Journalisten, blitzlichtsüchtige Filmemacher und Schriftsteller, in deren Köpfen es aussieht wie in einem Boulevardblatt, in die Welt gesetzt haben. In Wahrheit ist die Dramatik einer lebensbestimmenden Erfahrung oft von unglaublich leiser Art. Sie ist dem Knall, der Stichflamme und dem Vulkanausbruch so wenig verwandt, daß die Erfahrung im Augenblick, wo sie gemacht wird, oft gar nicht bemerkt wird. Wenn sie ihre revolutionäre Wirkung entfaltet und dafür sorgt, daß ein Leben in ein ganz neues Licht getaucht wird und eine vollkommen neue Melodie bekommt, so tut sie das lautlos, und in dieser wundervollen Lautlosigkeit liegt ihr besonderer Adel.

 

Von Zeit zu Zeit blickte Gregorius vom Text auf und sah hinaus nach Westen. In der restlichen Helligkeit des dämmrigen Himmels, so schien ihm, konnte man jetzt schon das Meer ahnen. Er legte das Wörterbuch weg und schloß die Augen.

Wenn ich nur noch einmal das Meer sehen könnte, hatte seine Mutter ein halbes Jahr vor ihrem Tod gesagt, als sie spürte, daß es zu Ende ging, aber das können wir uns einfach nicht leisten.

Welche Bank gibt mir denn schon einen Kredit, hörte Gregorius den Vater sagen, und dann für so etwas.

Gregorius hatte ihm diese kampflose Resignation übelgenommen. Und dann hatte er, damals Schüler im Kirchenfeld, etwas getan, das ihn selbst so sehr überraschte, daß er später das Gefühl nie ganz los wurde, es sei vielleicht gar nicht wirklich geschehen.

Es war Ende März und der erste Frühlingstag. Die Leute trugen den Mantel über dem Arm, und durch die offenen Fenster der Baracke strömte milde Luft herein. Man hatte die Baracke vor einigen Jahren hingestellt, weil im Hauptgebäude des Gymnasiums Raumnot herrschte, und es war Tradition geworden, dort die Oberprimaner unterzubringen. Der Wechsel in die Baracke erschien dadurch wie der erste Schritt in der Reifeprüfung. Dabei hielten sich Empfindungen der Befreiung und der Angst die Waage. Ein Jahr noch, dann war endlich Schluß mit… Ein Jahr noch, dann mußte man… Diese schwankenden Empfindungen fanden ihren Ausdruck in der Art und Weise, wie die Schüler zur Baracke hinüberschlenderten, nonchalant und schreckhaft zugleich. Noch jetzt, vierzig Jahre später im Zug nach Irún, konnte Gregorius spüren, wie es damals gewesen war, in seinem Körper zu stecken.

Der Nachmittag begann mit Griechisch. Es war der Rektor, der unterrichtete, der Vorgänger von Kägi. Er hatte die schönste griechische Handschrift, die man sich denken konnte, er malte die Buchstaben förmlich, und besonders die Rundungen – etwa im Omega oder Theta, oder wenn er das Eta nach unten zog – waren die reinste Kalligraphie. Er liebte das Griechische. Aber er liebt es auf die falsche Art, dachte Gregorius hinten im Klassenzimmer. Seine Art, es zu lieben, war eine eitle Art. Es lag nicht daran, daß er die Wörter zelebrierte. Wenn es das gewesen wäre – es hätte Gregorius gefallen. Doch wenn dieser Mann virtuos die entlegensten und schwierigsten Verbformen hinschrieb, so zelebrierte er nicht die Wörter, sondern sich selbst als einen, der sie konnte. Die Wörter wurden dadurch zu Ornamenten an ihm, mit denen er sich schmückte, sie verwandelten sich in etwas, das seiner gepunkteten Fliege verwandt war, die er jahraus, jahrein trug. Sie flossen aus seiner schreibenden Hand mit dem Siegelring, als seien auch sie von der Art der Siegelringe, eitler Schmuck also und ebenso überflüssig. Und damit hörten die griechischen Wörter auf, wirklich griechische Wörter zu sein. Es war, als zersetzte der Goldstaub aus dem Siegelring ihr griechisches Wesen, das sich nur demjenigen erschloß, der sie um ihrer selbst willen liebte. Dichtung war für den Rektor etwas wie ein erlesenes Möbelstück, ein exquisiter Wein oder eine elegante Abendgarderobe. Gregorius hatte das Gefühl, daß er ihm mit dieser Selbstgefälligkeit die Verse von Aischylos und Sophokles stahl. Er schien nichts zu wissen von den griechischen Theatern. Oder nein, er wußte alles über sie, war oft dort, leitete Bildungsreisen, von denen er braungebrannt zurückkam. Aber er verstand nichts davon – auch wenn Gregorius nicht hätte sagen können, was er damit meinte.

Er hatte zum offenen Fenster der Baracke hinausgeblickt und an den Satz seiner Mutter gedacht, einen Satz, der seine Wut auf die Eitelkeit des Rektors zum Sieden gebracht hatte, obgleich er den Zusammenhang nicht hätte erklären können. Er spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Mit einem Blick zur Tafel vergewisserte er sich, daß der Rektor noch eine Weile brauchen würde, bis der angefangene Satz zu Ende war und er sich vielleicht erläuternd zu den Schülern umdrehte. Geräuschlos schob er den Stuhl zurück, während die anderen mit gebeugten Rücken weiterschrieben. Das aufgeschlagene Heft ließ er auf dem Pult liegen. Mit der angespannten Langsamkeit von einem, der einen Überraschungsangriff vorbereitet, machte er zwei Schritte zum offenen Fenster hin, setzte sich auf den Rahmen, schwang die Beine darüber und war draußen.

Das letzte, was er drinnen sah, war das erstaunte und amüsierte Gesicht von Eva, dem Mädchen mit dem roten Haar, den Sommersprossen und dem Silberblick, der zu seiner Verzweiflung noch nie anders als spöttisch auf ihm, dem Jungen mit den dicken Brillengläsern und dem häßlichen Kassengestell, geruht hatte. Sie drehte sich zu ihrer Banknachbarin um und flüsterte ihr etwas ins Haar. »Unglaublich!« würde sie sagen. Sie sagte es bei jeder Gelegenheit. Die Unglaubliche hieß sie deshalb. »Unglaublich!« hatte sie gesagt, als sie von dem Spitznamen erfuhr.

Gregorius war mit schnellen Schritten zum Bärenplatz gegangen. Es war Markt, ein Stand reihte sich an den anderen, und man kam nur langsam voran. Als die Menge ihn zwang, neben einem Stand stehenzubleiben, fiel sein Blick auf die offene Kasse, einen einfachen Metallkasten mit einem Fach für die Münzen und einem anderen für die Scheine, die einen dicken Stoß bildeten. Die Marktfrau bückte sich gerade und hantierte unter der Auslage, ihr breites Hinterteil im groben Stoff eines karierten Rocks ragte in die Luft. Gregorius hatte sich langsam an die Kasse herangeschoben, während sein Blick kreisend über die Leute strich. Mit zwei Schritten war er hinter dem Ladentisch, nahm das Bündel Scheine mit einem Griff aus der Kasse und tauchte in der Menge unter. Als er schwer atmend die Gasse zum Bahnhof hinaufging und sich zu ruhigen Schritten zwang, wartete er darauf, daß jemand hinter ihm herriefe oder daß man mit festem Griff nach ihm faßte. Doch nichts war geschehen.

Sie wohnten in der Länggasse, in einem grauen Mietshaus mit schmutziggewordenem Verputz, und als Gregorius den Hausflur betrat, in dem es von morgens bis abends nach Kohl roch, sah er sich das Zimmer der kranken Mutter betreten, die er mit der Ankündigung überraschen wollte, daß sie bald das Meer sehen werde. Erst auf dem letzten Treppenabsatz vor der Wohnungstür wurde ihm klar, daß die ganze Sache unmöglich war, geradezu aberwitzig. Wie sollte er ihr und später dem Vater erklären, woher er plötzlich das viele Geld hatte? Er, der keinerlei Übung im Lügen hatte?

Auf dem Weg zurück zum Bärenplatz kaufte er einen Briefumschlag und steckte das Bündel Banknoten hinein. Die Frau im karierten Rock hatte ein verweintes Gesicht, als er wieder an ihrem Stand war. Er kaufte Früchte, und als sie in der anderen Ecke an der Waage hantierte, schob er den Umschlag unter das Gemüse. Kurz vor Ende der Pause war er wieder in der Schule, stieg durchs offene Fenster in die Baracke und setzte sich auf seinen Platz.

»Unglaublich!« sagte Eva, als sie ihn sah, und sie begann ihn respektvoller zu betrachten als bisher. Doch das war weniger wichtig, als er gedacht hätte. Wichtiger war, daß die Entdeckung über sich selbst, die ihm die letzte Stunde beschert hatte, kein Entsetzen in ihm hervorrief, sondern nur ein großes Erstaunen, das noch wochenlang nachhallte.

Der Zug verließ den Bahnhof von Bordeaux in Richtung Biarritz. Draußen war es fast Nacht, und Gregorius sah sich im Fenster. Was wäre aus ihm geworden, wenn derjenige, der damals das Geld aus der Kasse genommen hatte, über sein Leben bestimmt hätte, an der Stelle von demjenigen, der die alten, schweigsamen Wörter so zu lieben begann, daß er ihnen die Hoheit über alles weitere einräumte? Was hatten der damalige und der jetzige Ausbruch gemeinsam? Hatten sie überhaupt etwas gemeinsam?

Gregorius griff zu Prados Buch und suchte, bis er die lakonische Aufzeichnung gefunden hatte, die ihm der Buchhändler in der spanischen Buchhandlung am Hirschengraben übersetzt hatte:

 

Wenn es so ist, daß wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?

 

In Biarritz kamen ein Mann und eine Frau herein, die bei den Sitzen vor Gregorius stehenblieben und ihre Platzreservierung besprachen. Vinte e oito. Es dauerte, bis er die sich wiederholenden Laute als portugiesische Wörter identifiziert und seine Vermutung bestätigt hatte: achtundzwanzig. Er konzentrierte sich auf das, was die beiden sagten, und ab und zu gelang es ihm in der nächsten halben Stunde, ein Wort auszumachen, aber es waren wenige. Morgen vormittag würde er in einer Stadt aussteigen, wo das meiste, was die Menschen sagten, unverstanden an ihm vorbeirauschte. Er dachte an den Bubenbergplatz, den Bärenplatz, die Bundesterrasse, die Kirchenfeldbrücke. Inzwischen war es draußen stockdunkel. Gregorius tastete nach dem Geld, der Kreditkarte und der Ersatzbrille. Er hatte Angst.

Sie fuhren in den Bahnhof von Hendaye ein, dem französischen Grenzort. Der Wagen leerte sich. Als die Portugiesen es bemerkten, schreckten sie auf und griffen nach dem Gepäck auf der Ablage. »Isto ainda não é Irún«, sagte Gregorius: Das ist noch nicht Irún. Es war ein Satz von der Platte des Sprachkurses, nur der Ortsname war dort ein anderer. Die Portugiesen zögerten ob seiner unbeholfenen Aussprache und der Langsamkeit, mit der er die Wörter aneinanderreihte. Aber sie sahen hinaus, und nun erkannten sie das Bahnhofsschild. »Muito obrigada«, sagte die Frau. »De nada«, erwiderte Gregorius. Die Portugiesen setzten sich, der Zug fuhr an.

Gregorius sollte diese Szene nie vergessen. Es waren seine ersten portugiesischen Worte in der wirklichen Welt, und sie wirkten. Daß Worte etwas bewirkten, daß sie jemanden in Bewegung setzen oder aufhalten, zum Lachen oder Weinen bringen konnten: Schon als Kind hatte er es rätselhaft gefunden, und es hatte nie aufgehört, ihn zu beeindrucken. Wie machten die Worte das? War es nicht wie Magie? Doch in diesem Moment schien das Mysterium größer als sonst, denn es waren Worte, von denen er noch gestern morgen keine Ahnung gehabt hatte. Als er seinen Fuß ein paar Minuten später auf den Bahnsteig von Irún setzte, war alle Angst verflogen, und er ging mit sicheren Schritten auf den Schlafwagen zu.

Nachtzug nach Lissabon: Roman
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