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Mit der hundert Jahre alten Straßenbahn von Lissabon fuhr Gregorius zurück in das Bern seiner Kindheit. Der Tramwagen, der ihn holpernd, schüttelnd und klingelnd durchs Bairro Alto fuhr, schien sich in nichts von den alten Tramwagen zu unterscheiden, mit denen er, als er noch nichts zu zahlen brauchte, stundenlang durch die Straßen und Gassen Berns gefahren war. Die gleichen Bänke aus lackierten Holzleisten, die gleiche Klingelschnur neben den Haltegriffen, die von der Decke herunterhingen, der gleiche Metallarm, den der Fahrer für das Bremsen und Beschleunigen betätigte und dessen Wirkungsweise Gregorius heute genausowenig verstand wie damals. Irgendwann, als er schon die Mütze des Progymnasiums trug, waren die alten Tramwagen durch neue ersetzt worden. Ihre Fahrt war leiser und fließender, die anderen Schüler rissen sich darum, in den neuen Wagen fahren zu dürfen, und nicht wenige erschienen zu spät zum Unterricht, weil sie auf einen der neuen Wagen gewartet hatten. Gregorius hatte sich nicht getraut, es zu sagen, aber es störte ihn, daß sich die Welt veränderte. Er nahm all seinen Mut zusammen, fuhr zum Tramdepot und fragte einen Mann im Arbeitskittel, was mit den alten Wagen geschehe. Sie würden nach Jugoslawien verkauft, sagte der Mann. Er mußte ihm das Unglück angesehen haben, denn er ging ins Büro und kam mit einem Modell der alten Wagen zurück. Gregorius besaß es noch heute und hütete es wie einen kostbaren, unersetzlichen Fund aus vorgeschichtlicher Zeit. Es stand ihm vor Augen, als die Lissaboner Staßenbahn in der Endschleife ratternd und quietschend zum Stillstand kam.
Daran, daß der Portugiese mit dem unerschrockenen Blick tot sein könnte, hatte Gregorius bisher nicht gedacht. Der Gedanke kam ihm erst jetzt, als er vor dem Friedhof stand. Langsam und beklommen ging er durch die Gassen der Totenstadt, die von lauter kleinen Mausoleen gesäumt wurden.
Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, da blieb er vor einer hohen Grabkammer aus weißem Marmor stehen, der von der Witterung fleckig geworden war. Zwei Tafeln mit verzierten Ecken und Rändern waren in den Stein gehauen worden. AQUI JAZ ALEXANDRE HOR·CIO DE ALMEIDA PRADO QUE NASCEU EM 28 DE MAIO DE 1890 E FALECEU EM 9 DE JUNHO DE 1954, WAR AUF DER OBEREN TAFEL ZU LESEN, UND AQUI JAZ MARIA PIEDADE REIS DE PRADO QUE NASCEU EM 12 DE JANEIRO DE 1899 E FALECEU EM 24 DE OUTUBRO DE 1960. Auf der unteren Tafel, die deutlich heller war und weniger bemoost, las Gregorius: AQUI JAZ F·TIMA AMÉLIA CLEMÍNCIA GALHARDO DE PRADO QUE NASCEU EM 1 DE JANEIRO DE 1926 E FALECEU EM 3 DE FEVEREIRO DE 1961, und darunter, mit weniger Patina auf den Buchstaben, AQUI JAZ AMADEU IN·CIO DE ALMEIDA PRADO QUE NASCEU EM 20 DE DEZEMBRO DE 1920 E FALECEU EM 20 DE JUNHO DE 1973.
Gregorius starrte auf die letzte Zahl. Das Buch in seiner Tasche war 1975 erschienen. Wenn es sich bei diesem Amadeu de Prado um den Arzt handelte, der das strenge Liceu von Senhor Cortês besucht und später immer wieder auf dem warmen Moos seiner Treppenstufen gesessen hatte, weil er sich fragte, wie es gewesen wäre, ein anderer zu werden – dann hatte er seine Aufzeichnungen nicht mehr selbst veröffentlicht. Jemand anderes hatte es getan, wahrscheinlich im Selbstverlag. Ein Freund, ein Bruder, eine Schwester. Wenn es diese Person neunundzwanzig Jahre danach noch gab: Sie war es, die er finden mußte.
Doch der Name auf dem Grabmal konnte auch Zufall sein. Gregorius wollte, daß es eine zufällige Übereinstimmung sei; er wollte es mit aller Macht. Er spürte, wie enttäuscht er wäre und wie mutlos er würde, wenn er dem melancholischen Mann, der die portugiesische Sprache neu hatte setzen wollen, weil sie in der alten Form so abgegriffen war, nicht mehr begegnen könnte.
Trotzdem holte er sein Notizbuch hervor und schrieb alle Namen mit den Geburts- und Todesdaten auf. Dieser Amadeu de Prado war dreiundfünfzig geworden. Den Vater hatte er mit vierunddreißig Jahren verloren. War das der Vater gewesen, dem das Lächeln meistens mißlang? Die Mutter war gestorben, als er vierzig war. Fátima Galhardo – das konnte Amadeus Frau gewesen sein, eine Frau, die nur fünfunddreißig geworden und gestorben war, als er einundvierzig war.
Noch einmal ließ Gregorius den Blick über das Grabmal gleiten, und jetzt erst bemerkte er eine Inschrift auf dem Sockel, halb verdeckt von wildem Efeu: QUANDO A DITADURA É UM FACTO A REVOLUÇÃO É UM DEVER. Wenn die Diktatur eine Tatsache ist, ist die Revolution eine Pflicht. War der Tod dieses Prado ein politischer Tod gewesen? Die Nelkenrevolution in Portugal, das Ende der Diktatur, hatte im Frühjahr 1974 stattgefunden. Dieser Prado hatte sie also nicht mehr erlebt. Die Inschrift, sie klang, als sei er als Widerstandskämpfer gestorben. Gregorius holte das Buch hervor und betrachtete das Bildnis: Es könnte sein, dachte er, es würde zu dem Gesicht passen, und auch zu der verhaltenen Wut hinter allem, was er schrieb. Ein Poet und Sprachmystiker, der zur Waffe gegriffen und gegen Salazar gekämpft hatte.
Beim Ausgang versuchte er, den Mann in Uniform zu fragen, wie man herausfinden könne, wem ein Grab gehöre. Aber seine wenigen portugiesischen Wörter reichten nicht. Er holte den Zettel hervor, auf dem ihm Júlio Simões die Adresse seines Vorgängers aufgeschrieben hatte, und machte sich auf den Weg.
Vítor Coutinho wohnte in einem Haus, das aussah, als könnte es jeden Moment einstürzen. Es lag, von der Straße zurückgesetzt, hinter anderen Häusern verborgen und war im unteren Teil von Efeu überwachsen. Klingel gab es keine, und Gregorius stand eine Weile ratlos im Hof. Gerade als er sich anschickte wegzugehen, rief eine bellende Stimme aus einem der oberen Fenster:
»O que é que quer?« Was wollen Sie?
Der Kopf im Fensterrahmen war von weißen Locken umrahmt, die bruchlos in einen weißen Bart übergingen, und auf der Nase saß eine Brille mit breitem, dunklem Gestell.
»Pergunta sobre livro«, rief Gregorius so laut er konnte und hielt Prados Aufzeichnungen hoch.
»O quê?« fragte der Mann nach, und Gregorius wiederholte seine Worte.
Der Kopf verschwand, und der Türöffner summte. Gregorius trat in einen Flur mit deckenhohen, überfüllten Bücherregalen und einem abgetretenen orientalischen Teppich auf dem roten Steinboden. Es roch nach abgestandenem Essen, Staub und Pfeifentabak. Auf der knarrenden Treppe erschien der weißhaarige Mann, eine Pfeife zwischen dunklen Zähnen. Ein grobkariertes Hemd von ausgewaschener, undefinierbarer Farbe fiel über seine ausgebeulte Kordhose, die Füße steckten in Sandalen mit offenen Riemen.
»Quem é?« fragte er in der übertriebenen Lautstärke der Schwerhörigen. Die hellbraunen, an Bernstein erinnernden Augen unter den riesigen Augenbrauen blickten gereizt wie bei jemandem, den man in seiner Ruhe gestört hat.
Gregorius reichte ihm den Umschlag mit der Botschaft von Simões. Er sei Schweizer, sagte er auf portugiesisch und fügte auf französisch hinzu: Altphilologe und auf der Suche nach dem Autor dieses Buches. Als Coutinho nicht reagierte, setzte er zu einer lautstarken Wiederholung an.
Er sei nicht taub, unterbrach ihn der Alte auf französisch, und jetzt erschien ein schlaues Grinsen auf dem faltigen, wettergegerbten Gesicht. Der Taube – das sei eine gute Rolle bei all dem Geschwätz, das man zu hören bekomme.
Sein Französisch hatte einen abenteuerlichen Akzent, aber die Worte kamen, wenngleich langsam, in sicherer Ordnung. Er überflog die Zeilen von Simões, deutete dann auf die Küche am Ende des Flurs und ging voran. Auf dem Küchentisch lag neben einer offenen Sardinendose und einem halbvollen Rotweinglas ein aufgeschlagenes Buch. Gregorius ging zum Stuhl am anderen Ende des Tischs und setzte sich. Da trat der Alte zu ihm und tat etwas Überraschendes: Er nahm ihm die Brille ab und setzte sie auf. Er blinzelte, sah dahin und dorthin, während er die eigene Brille in der Hand schwenkte.
»Das haben wir also gemeinsam«, sagte er schließlich und gab Gregorius die Brille zurück.
Die Solidarität derer, die mit dicken Gläsern durch die Welt gingen. Mit einemmal war alle Gereiztheit und Abwehr aus Coutinhos Gesicht verschwunden, und er griff nach Prados Buch.
Ohne ein Wort betrachtete er minutenlang das Portrait des Arztes. Zwischendurch stand er, abwesend wie ein Schlafwandler, auf und schenkte Gregorius ein Glas Wein ein. Eine Katze kam hereingeschlichen und strich ihm um die Beine. Er beachtete sie nicht, nahm die Brille ab und faßte sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel, eine Geste, die Gregorius an Doxiades erinnerte. Aus dem Nebenzimmer war das Ticken einer Standuhr zu hören. Jetzt klopfte er die Pfeife aus, nahm vom Regal eine andere und stopfte sie. Noch einmal verrannen Minuten, bevor er zu sprechen begann, leise und in der Tonlage der fernen Erinnerung.
»Es wäre falsch, wenn ich sagte: Ich kannte ihn. Nicht einmal von einer Begegnung kann man sprechen. Aber ich habe ihn gesehen, zweimal, in der Tür seines Behandlungszimmers, im weißen Mantel, die Brauen hochgezogen in Erwartung des nächsten Patienten. Ich war mit meiner Schwester dort, die er behandelte. Gelbsucht. Bluthochdruck. Sie schwor auf ihn. War, glaube ich, ein bißchen verliebt in ihn. Kein Wunder, ein Bild von einem Mann, dazu eine Ausstrahlung, von der die Leute wie hypnotisiert waren. Er war der Sohn des berühmten Richters Prado, der sich das Leben nahm, manche sagten, weil er die Schmerzen des gekrümmten Rückens nicht mehr aushielt, andere mutmaßten, daß er sich nicht verzeihen konnte, unter der Diktatur im Amt geblieben zu sein.
Amadeu de Prado war ein beliebter Arzt, sogar ein verehrter. Bis er Rui Luís Mendes, dem Mann von der Geheimpolizei, den sie den Schlächter nannten, das Leben rettete. Das war Mitte der sechziger Jahre, kurz nach meinem fünfzigsten Geburtstag. Danach mieden ihn die Leute. Das hat ihm das Herz gebrochen. Von da an arbeitete er für den Widerstand, ohne daß die Leute es wußten; als ob er die rettende Tat sühnen wollte. Es kam erst nach seinem Tod heraus. Er starb, soweit ich mich erinnere, ganz überraschend an einer Hirnblutung, ein Jahr vor der Revolution. Lebte zuletzt mit Adriana zusammen, seiner Schwester, die ihn vergötterte.
Sie muß es gewesen sein, die das Buch hier drucken ließ, ich habe sogar eine Ahnung, bei wem, aber es gibt die Druckerei schon lange nicht mehr. Ein paar Jahre später tauchte es bei mir im Antiquariat auf. Ich habe es in irgendeine Ecke getan, nicht gelesen, hatte eine Abneigung gegen das Buch, weiß eigentlich nicht, warum. Vielleicht, weil ich Adriana nicht mochte, obwohl ich sie kaum kannte, aber sie assistierte ihm, und bei den beiden Malen, wo ich dort war, ging mir die herrische Art auf die Nerven, mit der sie Patienten behandelte. Vermutlich ungerecht von mir, aber so war ich immer schon.«
Coutinho blätterte. »Gute Sätze, wie es scheint. Und ein guter Titel. Ich wußte nicht, daß er schrieb. Wo haben Sie es her? Und warum sind Sie hinter ihm her?«
Die Geschichte, die Gregorius nun erzählte, klang anders als diejenige, die er José Antonio da Silveira im Nachtzug erzählt hatte. Vor allem, weil er jetzt auch von der rätselhaften Portugiesin auf der Kirchenfeldbrücke sprach und von der Telefonnummer auf der Stirn.
»Haben Sie die Nummer noch?« fragte der Alte, dem die Geschichte so gut gefiel, daß er eine neue Flasche Wein aufmachte.
Einen Moment lang war Gregorius versucht, das Notizbuch hervorzuholen. Doch dann spürte er, daß ihm das zu weit ging; nach der Episode mit der Brille war dem Alten zuzutrauen, daß er dort anrief. Simões hatte ihn als verrückt bezeichnet. Das konnte nicht heißen, daß Coutinho verwirrt war; davon konnte keine Rede sein. Was er in seinem einsamen Leben mit der Katze verloren zu haben schien, war das Gefühl für Distanz und Nähe.
Nein, sagte Gregorius jetzt, die Nummer habe er nicht mehr. Schade, sagte der Alte. Er glaubte ihm kein Wort, und plötzlich saßen sie sich wieder gegenüber wie zwei vollständig Fremde.
Es gebe im Telefonbuch keine Adriana de Almeida Prado, sagte Gregorius nach einer verlegenen Pause.
Das brauche nichts zu heißen, sagte Coutinho mürrisch, Adriana müsse, wenn sie noch lebe, an die achtzig sein, und alte Leute meldeten das Telefon manchmal ab, das habe er vor kurzem auch getan. Und wenn sie gestorben wäre, stünde doch auch ihr Name auf dem Grabmal. Die Adresse, wo der Arzt gewohnt und gearbeitet hatte, nein, die wisse er nach vierzig Jahren nicht mehr. Irgendwo im Bairro Alto. Allzu schwer könne es für ihn nicht sein, das Haus zu finden, denn es sei ein Haus mit vielen blauen Kacheln an der Fassade und weit und breit das einzige blaue Haus. Damals jedenfalls. O consultório azul, die blaue Praxis, hätten es die Leute genannt.
Als Gregorius den alten Mann eine Stunde später verließ, waren sie sich wieder nähergekommen. Ruppige Distanz und überraschende Komplizenschaft wechselten sich in Coutinhos Verhalten in unregelmäßiger Folge ab, ohne daß ein Grund für den abrupten Wechsel zu erkennen war. Staunend ging Gregorius durch das Haus, das bis in den letzten Winkel hinein eine einzige Bibliothek war. Der Alte war ungemein belesen und besaß eine Unzahl von Erstausgaben.
Er kannte sich in portugiesischen Namen aus. Die Prados, so erfuhr Gregorius, waren ein sehr altes Geschlecht, das auf João Nunes do Prado zurückging, einen Enkel von Alfonso III, König von Portugal. Eça? Ging zurück auf Pedro I und Inês de Castro und war einer der vornehmsten Namen von ganz Portugal.
»Mein Name freilich ist noch älter und auch mit dem Königshaus verbunden«, sagte Coutinho, und durch die ironische Brechung hindurch konnte man den Stolz erkennen.
Er beneidete Gregorius um die Kenntnis der alten Sprachen, und auf dem Weg zur Tür zog er mit einemmal eine griechisch-portugiesische Ausgabe des Neuen Testaments aus dem Regal.
»Keine Ahnung, warum ich dir das gebe«, sagte er, »aber so ist es nun.«
Als Gregorius über den Hof ging, wußte er, daß er diesen Satz nie vergessen würde. Und auch nicht die Hand des Alten auf seinem Rücken, die ihn sanft hinausgeschoben hatte.
Die Straßenbahn ratterte durch die frühe Dämmerung. Nachts würde er das blaue Haus nie finden, dachte Gregorius. Der Tag hatte eine Ewigkeit gedauert, und jetzt lehnte er den Kopf erschöpft gegen die beschlagene Wagenscheibe. War es möglich, daß er erst zwei Tage in dieser Stadt war? Und daß erst vier Tage, also noch nicht einmal hundert Stunden, vergangen waren, seit er seine Lateinbücher auf dem Lehrerpult zurückgelassen hatte? Am Rossio, dem bekanntesten Platz Lissabons, stieg er aus und schleppte sich mit der schweren Tüte aus dem Antiquariat von Simões zum Hotel.