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Es gab zwei Maria João Flores, die im Campo de Ourique wohnten. Am nächsten Tag nach der Sprachschule fuhr Gregorius hin. Hinter der ersten Tür, an der er klingelte, wohnte eine jüngere Frau mit zwei Kindern, die an ihrem Rockzipfel hingen. Im anderen Haus bekam er die Auskunft, daß Senhora Flores für zwei Tage verreist sei.
Er holte im Hotel die persische Grammatik ab und fuhr hinaus ins Liceu. Zugvögel rauschten über das verlassene Gebäude. Er hatte gehofft, der heiße afrikanische Wind käme wieder, doch es blieb bei der milden Märzluft, in der noch ein Hauch winterlicher Schärfe zu spüren war.
In der Grammatik lag ein Zettel von Natalie Rubin: Ich hab’s bereits bis hierher geschafft! Die Schrift habe es in sich, hatte sie gesagt, als er sie anrief, um zu sagen, das Buch sei angekommen. Sie tue seit Tagen nichts anderes, die Eltern staunten über ihren Fleiß. Für wann er denn seine Reise in den Iran plane? Ob das heutzutage nicht ein bißchen gefährlich sei?
Im Jahr zuvor hatte Gregorius in der Zeitung eine Glosse über einen Mann gelesen, der mit neunzig angefangen hatte, Chinesisch zu lernen. Der Verfasser hatte sich über den Mann lustig gemacht. Sie haben keine Ahnung – mit diesem Satz hatte Gregorius seinen Entwurf zu einem Leserbrief begonnen. »Warum verderben Sie sich mit so etwas die Tage?« hatte Doxiades gesagt, als er sah, wie ihn der Ärger auffraß. Er hatte den Brief nicht abgeschickt. Doch Doxiades’ hemdsärmlige Art hatte ihn gestört.
Als er vor ein paar Tagen in Bern ausprobiert hatte, wie weit er sich noch an die persischen Zeichen erinnerte, war es wenig gewesen, was zurückgekommen war. Doch jetzt, mit dem Buch vor Augen, ging es schnell. Ich bin immer noch dort, an jenem entfernten Ort in der Zeit, ich bin dort nie weggegangen, sondern lebe ausgebreitet in die Vergangenheit hinein, oder aus ihr heraus, hatte Prado notiert. Die tausend Veränderungen, welche die Zeit vorangetrieben haben – sie sind, gemessen an dieser zeitlosen Gegenwart des Fühlens, flüchtig und unwirklich wie ein Traum.
Der Lichtkegel im Büro von Senhor Cortês wanderte. Gregorius dachte an das unwiderruflich stille Gesicht seines toten Vaters. Er wäre mit seiner Angst vor dem persischen Sandsturm damals gern zu ihm gegangen. Doch so ein Vater war er nicht gewesen.
Den langen Weg nach Belém ging er zu Fuß und richtete es so ein, daß er an dem Haus vorbeikam, wo der Richter mit seiner Stummheit, seinen Schmerzen und seiner Angst vor dem Urteil des Sohns gelebt hatte. Die Zedern ragten in den schwarzen Nachthimmel. Gregorius dachte an die Narbe unter dem Samtband an Adrianas Hals. Hinter den erleuchteten Fenstern ging Mélodie von Raum zu Raum. Sie wußte, ob dieses die roten Zedern waren. Und was sie mit der Tat zu tun hatten, die ein Gericht Amadeu als Körperverletzung hätte vorwerfen können.
Es war bereits der dritte Abend in Silveiras Haus. Vivo aqui. Gregorius ging durch das Haus, durch den dunklen Garten, auf die Straße. Er machte einen Spaziergang durchs Viertel und sah den Leuten beim Kochen, Essen und Fernsehen zu. Als er wieder am Ausgangspunkt war, betrachtete er die blaßgelbe Fassade und den beleuchteten Säulenvorbau. Ein vornehmes Haus in einem wohlhabenden Viertel. Hier lebe ich jetzt. Im Salon setzte er sich in einen Sessel. Was konnte das heißen? Den Bubenbergplatz hatte er nicht mehr berühren können. Würde er auf die Dauer den Boden Lissabons berühren können? Was für eine Berührung würde es sein? Und wie würden seine Schritte auf diesem Boden aussehen?
Dem Augenblick leben: Es klingt so richtig und auch so schön, hatte Prado in einer seiner kurzen Aufzeichnungen notiert, aber je mehr ich es mir wünsche, desto weniger verstehe ich, was es heißt.
Gregorius hatte sich in seinem Leben noch nie gelangweilt. Daß einer nicht wußte, was er mit der Zeit seines Lebens anfangen sollte: Es gab weniges, was er so unverständlich fand wie das. Auch jetzt langweilte er sich nicht. Was er in dem stillen, viel zu großen Haus empfand, war etwas anderes: Die Zeit stand still, oder nein, sie stand nicht still, aber sie zog ihn nicht mit sich fort, trug ihn keiner Zukunft entgegen, floß an ihm unbeteiligt und berührungslos vorbei.
Er ging in das Zimmer des Jungen und betrachtete die Titel von Simenons Romanen. L’homme qui regardait passer les trains. Das war der Roman, von dem Filmbilder im Fenster des Kinos Bubenberg gehangen hatten, Schwarzweißbilder mit Jeanne Moreau. Das war gestern vor drei Wochen gewesen, am Montag, als er davongelaufen war. Gedreht haben mußten sie den Film in den sechziger Jahren. Vor vierzig Jahren. Wie lange war das?
Gregorius zögerte, Prados Buch aufzuschlagen. Die Lektüre der Briefe hatte etwas verändert. Der Brief des Vaters noch mehr als der des Sohns. Schließlich begann er doch zu blättern. Allzu viele Seiten, die er noch nicht kannte, waren nicht mehr übrig. Wie würde es nach dem letzten Satz sein? Den letzten Satz hatte er stets gefürchtet, und von der Mitte eines Buches weg quälte ihn regelmäßig der Gedanke, daß es unweigerlich einen letzten Satz geben würde. Doch dieses Mal würde es mit dem letzten Satz noch viel schwieriger sein als sonst. Es würde sein, als risse der unsichtbare Faden, der ihn bis dahin mit der spanischen Buchhandlung am Hirschengraben verbunden hatte. Er würde das Wenden der letzten Seite verzögern und den Blick verlangsamen, so gut es ging, denn ganz hatte man es ja nicht in der Hand. Der letzte Blick ins Wörterbuch, ausführlicher als nötig. Das letzte Wort. Der letzte Punkt. Dann würde er in Lissabon ankommen. In Lissabon, Portugal.
TEMPO ENIGMÁTICO. RÄTSELHAFTE ZEIT. Ich habe ein Jahr gebraucht, um herauszufinden, wie lang ein Monat ist. Es war im Oktober des vergangenen Jahres, am letzten Tag des Monats. Es geschah, was jedes Jahr geschieht und was mich trotzdem jedes Jahr aus der Fassung bringt, als hätte ich es noch nie zuvor erlebt: Das neue, ausgeblichene Morgenlicht kündigte den Winter an. Kein brennendes Leuchten mehr, kein schmerzhaftes Blenden, kein Gluthauch, vor dem man sich in den Schatten flüchten möchte. Ein mildes, versöhnliches Licht, das die kommende Kürze der Tage sichtbar in sich trug. Nicht, daß ich dem neuen Licht als Feind begegnet wäre, als einer, der es in hilfloser Komik ablehnt und bekämpft. Es schont die Kräfte, wenn die Welt die scharfen Kanten des Sommers verliert und uns verwischtere Umrisse zeigt, die zu weniger Entschiedenheit zwingen.
Nein, es war nicht der blasse, milchige Schleier des neuen Lichts, der mich zusammenfahren ließ. Es war die Tatsache, daß das gebrochene, entkräftete Licht wieder einmal das unwiderrufliche Ende einer Periode in der Natur und eines zeitlichen Abschnitts in meinem Leben anzeigte. Was hatte ich seit Ende März gemacht, seit dem Tag, als die Tasse auf dem Tisch des Cafés in der Sonne wieder heiß geworden war, so daß ich beim Griff danach zurückzuckte? War es viel Zeit gewesen, die seither verflossen war, oder wenig? Sieben Monate – wie lang war das?
Gewöhnlich meide ich die Küche, sie ist Anas Reich, und es gibt etwas an ihrem energischen Jonglieren mit den Pfannen, das ich nicht mag. Doch an jenem Tag brauchte ich jemanden, dem gegenüber ich mein lautloses Erschrecken zum Ausdruck bringen konnte, auch wenn es geschehen mußte, ohne es zu nennen.
»Wie lang ist ein Monat?« fragte ich ohne jede Einleitung.
Ana, die gerade das Gas entzünden wollte, blies das Streichholz wieder aus.
»Sie meinen?«
Ihre Stirn lag in Falten wie bei jemandem, der sich einem unlösbaren Rätsel gegenübersieht.
»Was ich sage: Wie lang ist ein Monat?«
Den Blick zu Boden gesenkt, rieb sie sich verlegen die Hände.
»Nun, machmal sind es dreißig Tage, manchmal…«
»Das weiß ich doch«, sagte ich unwirsch, »die Frage aber ist: Wie lange ist das?«
Ana griff nach dem Kochlöffel, damit die Hände etwas zu tun hatten.
»Einmal, da habe ich meine Tochter fast einen Monat lang gepflegt«, sagte sie zögernd und mit der Behutsamkeit eines Seelenarztes, der fürchtet, seine Worte könnten im Patienten etwas zum Einsturz bringen, das sich danach nie wieder würde aufbauen lassen. »Viele Male am Tag die Treppe rauf und runter mit der Suppe, die nicht verschüttet werden durfte – das war lang.«
»Und wie war es danach, im Rückblick?«
Jetzt riskierte Ana ein Lächeln, in dem die Erleichterung zum Ausdruck kam, daß sie sich in der Antwort offenbar nicht völlig vergriffen hatte. »Immer noch lang. Aber irgendwie wurde es dann immer kürzer, ich weiß auch nicht.«
»Die Zeit mit all der Suppe – fehlt sie dir jetzt?«
Ana drehte den Kochlöffel hin und her, dann holte sie ein Taschentuch aus der Schürze und schneuzte sich. »Ich habe das Kind natürlich gerne gepflegt, es war in jener Zeit so überhaupt nicht trotzig. Trotzdem möchte ich’s nicht noch einmal erleben müssen, ich hatte ständig Angst, weil wir nicht wußten, was es war und ob es gefährlich war.«
»Ich meine etwas anderes: ob du es bedauerst, daß jener Monat verflossen ist; daß die Zeit abgelaufen ist; daß du nichts mehr aus ihr machen kannst.«
»Nun ja, sie ist vorbei«, sagte Ana, und nun sah sie nicht mehr wie ein nachdenklicher Arzt aus, sondern wie ein eingeschüchterter Prüfling.
»Ist ja gut«, sagte ich und wandte mich zur Tür. Im Hinausgehen hörte ich, wie sie ein neues Streichholz anriß. Warum war ich immer so knapp, so schroff, so undankbar für die Worte der anderen, wenn es um etwas ging, das mir wirklich wichtig war? Woher das Bedürfnis, das Wichtige rabiat gegen die anderen zu verteidigen, wo sie es mir doch gar nicht wegnehmen wollten?
Am nächsten Morgen, dem ersten Novembertag, ging ich in der Dämmerung zum Bogen am Ende der Rua Augusta, der schönsten Straße der Welt. Das Meer war im fahlen Licht der Frühe wie eine glatte Fläche aus mattem Silber. Mit besonderer Wachheit erleben, wie lang ein Monat ist – das war die Idee, die mich aus dem Bett getrieben hatte. Im Café war ich der erste. Als in der Tasse nur noch wenige Schlucke waren, verlangsamte ich den gewohnten Rhythmus des Trinkens. Ich war unsicher, was ich tun sollte, wenn die Tasse leer wäre. Er würde sehr lang sein, dieser erste Tag, wenn ich einfach sitzen bliebe. Und was ich wissen wollte, war nicht: wie lange ein Monat für den vollkommen Untätigen ist. Doch was war es dann, was ich wissen wollte?
Manchmal bin ich so langsam. Erst heute, wo das Licht des frühen Novembers wieder bricht, merke ich, daß die Frage, die ich Ana stellte – nach der Unwiderruflichkeit, der Vergänglichkeit, dem Bedauern, der Trauer – gar nicht die Frage war, die mich beschäftigt hatte. Die Frage, die ich hatte stellen wollen, war eine ganz andere: Wovon hängt es ab, wenn wir einen Monat als eine erfüllte Zeit, unsere Zeit erlebt haben statt einer Zeit, die an uns vorbeigeflossen ist, die wir nur erlitten haben, die uns durch die Finger geronnen ist, so daß sie uns wie eine verlorene, verpaßte Zeit vorkommt, über die wir nicht traurig sind, weil sie vorbei ist, sondern weil wir aus ihr nichts haben machen können? Die Frage war also nicht: Wie lange ist ein Monat?, sondern: Was könnte man für sich aus der Zeit eines Monats machen? Wann ist es so, daß ich den Eindruck habe, daß dieser Monat ganz meiner gewesen ist?
Es ist also falsch, wenn ich sage: Ich habe ein Jahr gebraucht, um herauszufinden, wie lange ein Monat ist. Es ist anders gewesen: Ich habe ein Jahr gebraucht, um herauszufinden, was ich wissen wollte, als ich die irreführende Frage nach der Länge eines Monats stellte.
Am frühen Nachmittag des nächsten Tages, als er von der Sprachschule kam, traf Gregorius Mariana Eça. Als er sie um die Ecke biegen und auf sich zukommen sah, wußte er auf einmal, warum er sich gescheut hatte, sie anzurufen: Er würde ihr von den Schwindelanfällen erzählen, sie würde laut darüber nachdenken, was es sein könnte, und das wollte er nicht hören.
Sie schlug vor, einen Kaffee zu trinken, und erzählte dann von João. »Ich warte den ganzen Sonntag vormittag auf ihn«, habe er über Gregorius gesagt. »Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich kann mir bei ihm die Dinge von der Seele reden. Nicht, daß sie dann weg wären, aber für ein paar Stunden wird es leichter.« Gregorius erzählte von Adriana und der Uhr, von Jorge und dem Schachclub, und von Silveiras Haus. Er war kurz davor, auch die Reise nach Bern zu erwähnen, doch dann spürte er: Das ließ sich nicht erzählen.
Als er fertig war, fragte sie ihn nach der neuen Brille, und dann verengten sich die Augen zu einem prüfenden Blick. »Sie schlafen zu wenig«, sagte sie. Er dachte an den Morgen, als sie ihn untersucht hatte und er aus dem Sessel vor ihrem Schreibtisch nicht mehr hatte aufstehen wollen. An die ausführliche Untersuchung. An die gemeinsame Schiffahrt nach Cacilhas und den rotgoldenen Assam, den er später bei ihr getrunken hatte.
»Es wird mir in letzter Zeit manchmal schwindlig«, sagte er. Und nach einer Pause: »Ich habe Angst«.
Eine Stunde später verließ er ihre Praxis. Sie hatte noch einmal die Sehschärfe überprüft und den Blutdruck gemessen, er hatte Kniebeugen und Gleichgewichtsübungen machen müssen, und sie hatte sich den Schwindel ganz genau beschreiben lassen. Dann hatte sie ihm die Adresse eines Neurologen aufgeschrieben.
»Es kommt mir nicht gefährlich vor«, hatte sie gesagt, »und verwunderlich ist es auch nicht, wenn man bedenkt, wieviel sich in der kurzen Zeit in Ihrem Leben verändert hat. Aber man muß die üblichen Dinge überprüfen.«
Er hatte das leere Viereck an der Wand von Prados Praxis vor sich gesehen, wo die Gehirnkarte gehangen hatte. Sie sah ihm die Panik an.
»Ein Tumor würde ganz andere Ausfälle mit sich bringen«, sagte sie und strich ihm über den Arm.
Zu Mélodies Haus war es nicht weit.
»Ich wußte, daß Sie noch einmal kommen würden«, sagte sie, als sie ihm öffnete. »Nach Ihrem Besuch war mir Amadeu für einige Tage sehr gegenwärtig.«
Gregorius gab ihr die Briefe an Vater und Sohn zu lesen.
»Das ist ungerecht«, sagte sie, als sie die letzten Worte im Brief des Vaters gelesen hatte. »Ungerecht. Unfair. Als habe Amadeu ihn in den Tod getrieben. Sein Arzt war ein hellsichtiger Mann. Er verschrieb ihm die Schlaftabletten nur in kleinen Mengen. Aber Papá konnte warten. Geduld war seine Stärke. Eine Geduld wie aus stummem Stein. Mamã sah es kommen. Sie sah immer alles kommen. Sie hat nichts getan, es zu verhindern. ›Jetzt tut es ihm nicht mehr weh‹, sagte sie, als wir am offenen Sarg standen. Ich habe sie für diese Worte geliebt. ›Und er braucht sich nicht mehr zu quälen‹, sagte ich. ›Ja‹, sagte sie, ›auch das.‹«
Gregorius erzählte von seinen Besuchen bei Adriana. Sie sei nach Amadeus Tod nicht mehr im blauen Haus gewesen, sagte Mélodie, aber es wundere sie nicht, daß Adriana es zu einem Museum und Tempel gemacht habe, in dem die Zeit zum Stillstand gekommen sei.
»Sie bewunderte ihn schon als kleines Mädchen. Er war der große Bruder, der alles konnte. Der wagte, Papá zu widersprechen. Papá! Ein Jahr, nachdem er zum Studium nach Coimbra gegangen war, wechselte sie in die Mädchenschule gegenüber vom Liceu. In die gleiche Schule, die auch Maria João besucht hatte. Dort war Amadeu der Held aus vergangenen Tagen, und sie genoß es, die Schwester des Helden zu sein. Trotzdem: Die Dinge hätten sich anders, normaler entwickelt, wenn es nicht das Drama gegeben hätte, in dem er ihr das Leben rettete.«
Es war geschehen, als Adriana neunzehn war. Amadeu, der kurz vor dem Staatsexamen stand, war zu Hause und saß Tag und Nacht hinter den Büchern. Er kam nur zum Essen herunter. Es war bei einem solchen Essen der Familie, daß Adriana sich verschluckte.
»Wir hatten alle das Essen auf dem Teller und merkten zunächst nichts. Plötzlich kam von Adriana ein sonderbares Geräusch, ein schreckliches Röcheln, sie hielt den Hals mit den Händen umklammert und stampfte mit den Füßen in rasendem Tempo auf den Boden. Amadeu saß neben mir, in Gedanken ganz bei seiner Vorbereitung aufs Examen, wir waren es gewohnt, daß er dasaß wie ein stummes Gespenst und das Essen blind in sich hineinschaufelte. Ich stieß ihn mit dem Ellbogen und zeigte auf Adriana. Verwirrt sah er auf. Adrianas Gesicht war violett angelaufen, sie bekam keine Luft mehr, und ihr hilfloser Blick ging zu Amadeu. Den Ausdruck, der auf seinem Gesicht erschien, kannten wir alle, es war der Ausdruck wütender Konzentration, den er stets hatte, wenn es etwas Schwieriges gab, das er nicht sofort verstand, er war es gewohnt, alles sofort zu verstehen.
Jetzt sprang er auf, der Stuhl kippte nach hinten, mit wenigen Schritten war er bei Adriana, faßte sie unter den Armen und stellte sie auf, drehte sie, so daß sie mit dem Rücken zu ihm stand, dann umfaßte er ihre Schultern, holte einen Augenblick Luft und riß ihren Oberkörper mit einem gewaltigen Ruck nach hinten. Aus Adrianas Kehle kam ein ersticktes Röcheln. Sonst änderte sich nichts. Amadeu riß noch zweimal auf die gleiche Weise, doch auch jetzt bewegte sich das Stück Fleisch, das ihr in die Luftröhre gerutscht war, nicht.
Was danach geschah, prägte sich uns allen für immer ein, Sekunde für Sekunde, Bewegung für Bewegung. Amadeu setzte Adriana zurück auf den Stuhl und befahl mich zu sich. Er beugte ihren Kopf nach hinten.
»Festhalten«, sagte er gepreßt, »ganz fest!«
Dann nahm er das scharfe Messer fürs Fleisch von seinem Platz und wischte es an der Serviette ab. Uns stockte der Atem.
»Nein!« rief Mamã. »Nein!«
Ich glaube, er hörte es gar nicht. Er setzte sich rittlings auf Adrianas Schoß und sah ihr in die Augen.
»Ich muß das tun«, sagte er, und noch heute staune ich über die Ruhe in seiner Stimme. »Sonst stirbst du. Nimm die Hände weg. Vertrau mir.«
Adriana nahm die Hände vom Hals. Er tastete mit dem Zeigefinger nach der Lücke zwischen Schildknorpel und Ringknorpel. Dann setzte er die Spitze des Messers mitten auf den Spalt. Ein tiefer Atemzug, ein kurzes Schließen der Augen, dann stieß er zu.
Ich konzentrierte mich darauf, Adrianas Kopf wie in einem Schraubstock festzuhalten. Ich sah das Blut nicht spritzen, sah es erst nachher auf seinem Hemd. Adrianas Körper bäumte sich auf. Daß Amadeu den Weg zur Luftröhre gefunden hatte, hörte man an dem Pfeifen, mit dem Adriana die Luft durch die neue Öffnung einsog. Ich öffnete die Augen und sah mit Entsetzen, daß Amadeu die Klinge des Messers in der Wunde drehte, es sah wie ein Akt besonderer Brutalität aus, ich habe erst nachher begriffen, daß er den Luftkanal offenhalten mußte. Nun nahm Amadeu aus der Hemdtasche einen Kugelschreiber, steckte ihn zwischen die Zähne, schraubte mit der freien Hand das obere Teil ab, riß die Mine heraus und führte das untere Teil als eine Kanüle in die Wunde. Langsam zog er die Klinge heraus und hielt den Kugelschreiber fest. Adrianas Atem ging ruckartig und pfeifend, aber sie lebte, und die Farbe des Erstickens wich langsam aus ihrem Gesicht.
»Die Ambulanz!« befahl Amadeu.
Papá schüttelte seine Erstarrung ab und ging zum Telefon. Wir trugen Adriana, aus deren Hals der Kugelschreiber ragte, aufs Sofa. Amadeu fuhr ihr übers Haar.
»Es ging nicht anders«, sagte er.
Der Arzt, der ein paar Minuten später erschien, legte Amadeu die Hand auf die Schulter. ›Das war knapp‹, sagte er. ›Diese Geistesgegenwart. Diese Courage. In Ihrem Alter.‹
Als der Krankenwagen mit Adriana abgefahren war, setzte sich Amadeu im blutbespritzten Hemd an seinen Platz am Tisch. Niemand sagte ein Wort. Ich glaube, das war das Schlimmste für ihn: daß niemand etwas sagte. Der Arzt hatte mit seinen wenigen Worten festgestellt, daß Amadeu das Richtige getan und Adriana das Leben gerettet hatte. Und trotzdem sagte jetzt niemand ein Wort, und die Stille, die das Eßzimmer füllte, war voll von entsetztem Erstaunen über seine Kaltblütigkeit. ›Die Stille ließ mich aussehen wie einen Schlächter‹, sagte er Jahre später beim einzigen Mal, wo wir darüber sprachen.
Daß wir ihn in diesem Moment so vollständig allein ließen, hat er nie verwunden, und es hat sein Verhältnis zur Familie für immer verändert. Er kam seltener nach Hause und dann nur noch als höflicher Gast.
Plötzlich zersprang die Stille, und Amadeu begann zu zittern. Er schlug die Hände vors Gesicht, und noch heute höre ich das trockene Schluchzen, das den Körper erschütterte. Und wieder haben wir ihn allein gelassen. Ich fuhr ihm mit der Hand über den Arm, aber das war viel zu wenig, ich war nur die achtjährige Schwester, er hätte etwas ganz anderes gebraucht.
Daß es nicht kam, brachte das Faß zum Überlaufen. Mit einemmal sprang er auf, raste nach oben in sein Zimmer, kam mit einem medizinischen Lehrbuch heruntergerannt und knallte das Buch mit aller Kraft auf den Tisch, das Besteck stieß gegen die Teller, die Gläser klirrten. ›Hier‹, schrie er, ›hier steht es drin. Koniotomie heißt der Eingriff. Was glotzt ihr mich so an? Ihr habt dagesessen wie Ölgötzen! Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten wir sie im Sarg hinaustragen müssen!‹
Sie operierten Adriana, und danach blieb sie zwei Wochen im Krankenhaus. Amadeu ging täglich hin, stets allein, er wollte nicht mit uns gehen. Adriana war von einer überwältigenden Dankbarkeit erfüllt, die beinahe religiöse Züge hatte. Mit verbundenem Hals lag sie weiß in den Kissen und durchlebte die dramatische Szene stets von neuem. Als ich allein bei ihr war, sprach sie darüber.
›Kurz bevor er zustieß, wurden die Zedern vor dem Fenster rot, blutrot‹ sagte sie. ›Dann wurde ich ohnmächtig.‹«
Sie sei mit der Überzeugung aus dem Krankenhaus gekommen, sagte Mélodie, daß sie ihr Leben dem Bruder widmen müsse, der es ihr gerettet habe. Amadeu war das unheimlich, und er versuchte alles, um ihr den Gedanken auszureden. Für eine Weile schien das gelungen zu sein, sie begegnete einem Franzosen, der sich in sie verliebte, und die dramatische Episode schien in ihr zu verblassen. Doch diese Liebe zerbrach in dem Augenblick, als Adriana schwanger wurde. Und wieder kam Amadeu, um einen Eingriff in ihren Körper zu begleiten. Er opferte dafür seine Reise mit Fátima und kehrte aus England zurück. Sie hatte nach der Schule Arzthelferin gelernt, und als er drei Jahre später die blaue Praxis eröffnete, war es klar, daß sie als seine Assistentin arbeiten würde. Fátima lehnte es ab, sie im Haus wohnen zu lassen. Es gab dramatische Szenen, wenn sie gehen mußte. Nach Fátimas Tod dauerte es keine Woche, und Adriana zog ein. Amadeu war vollständig verstört über den Verlust und unfähig zu Widerstand. Adriana hatte gewonnen.